Mitternacht in Tschernobyl - Adam Higginbotham - E-Book

Mitternacht in Tschernobyl E-Book

Adam Higginbotham

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Beschreibung

In seinem Tschernobyl-Thriller deckt Adam Higginbotham auf, was wirklich geschah. Mit großer Erzählkunst und basierend auf intensiver Recherche zeichnet er nach, wie am frühen Morgen des 26. April 1986 der Reaktor 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl explodierte und die schlimmste Atomkatastrophe der Geschichte auslöste. Seither gehört Tschernobyl zu den kollektiven Albträumen der Welt: eine gefährliche Technologie, die aus den Rudern läuft, die ökologische Zerbrechlichkeit und ein ebenso verlogener wie unachtsamer Staat, der nicht nur seine eigenen Bürger, sondern die gesamte Menschheit gefährdet. Wie und warum es zu der Katastrophe kam, war lange unklar. Adam Higginbotham hat zahllose Interviews mit Augenzeugen geführt, Archive durchforstet, bislang nicht veröffentlichte Briefe und Dokumente gesichtet. So bringt er Licht in die Geschichte, die bislang im Sumpf von Propaganda, Geheimhaltung und Fehlinformationen verborgen lag. Erschütternd, packend: »Wie ein Thriller.« Luke Harding

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Seitenzahl: 906

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Adam Higginbotham

Mitternacht in Tschernobyl

Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophealler Zeiten

 

Aus dem Englischenvon Irmengard Gabler

 

Über dieses Buch

 

 

Am frühen Morgen des 26. April 1986 explodierte der Reaktor 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl und löste die schlimmste Atomkatastrophe der Geschichte aus. Seither gehört Tschernobyl zu den kollektiven Albträumen der Welt: eine gefährliche Technologie, die aus den Rudern läuft, die ökologische Zerbrechlichkeit und ein ebenso verlogener wie unachtsamer Staat, der nicht nur seine eigenen Bürger, sondern die gesamte Menschheit gefährdet.

Wie und warum es zu der Katastrophe kam, war bis jetzt unklar. Adam Higginbotham hat zahllose Intervies mit Augenzeugen geführt, Archive durchforstet, bislang nicht veröffentlichte Briefe und Dokumente gesichtet. So bringt er Licht in die Geschichte, die bislang im Sumpf von Propaganda, Geheimhaltung und Fehlinformationen verborgen lag. Erschütternd, packend: »Wie ein Thriller.« Luke Harding, New York Times Bestsellerautor

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Adam Higginbotham hat mit großer Hingabe und Genauigkeit über zehn Jahre zu dem Unfall in Tschernobyl geforscht. Er hat Zugang zu Archiven bekommen, die bisher verschlossen waren, und über hundert Stunden Interviews geführt mit Männern und Frauen, die die Katastrophe hautnah miterlebt haben. Adam Higginbotham schreibt für »The New Yorker«, »The New York Times Magazine«, »Wired«, »GQ«, und »Smithsonian«. Zuvor war er US-Korrespondent für »The Sunday Telegraph Magazine« sowie Chefredakteur von »The Face«. Er lebt mit seiner Familie in New York City.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

Karten

Beteiligte Personen

Prolog

Teil 1 Geburt einer Stadt

Kapitel 1 Der sowjetische Prometheus

Kapitel 2 Alpha, Beta, Gamma

Kapitel 3 Freitag, 25. April, 17:00 Uhr, Prypjat

Kapitel 4 Die Geheimnisse des friedlichen Atoms

Kapitel 5 Freitag, 25. April, 23:55 Uhr, Kontrollwarte des Vierten Reaktorblocks

Kapitel 6 Samstag, 26. April, 1:28 Uhr, Paramilitärische Feuerwache Nummer Zwei

Kapitel 7 Samstag, 1:30 Uhr, Kiew

Kapitel 8 Samstag, 6:15 Uhr, Prypjat

Kapitel 9 Sonntag, 27. April, Prypjat

Teil 2 Tod eines Imperiums

Kapitel 10 Die Wolke

Kapitel 11 Das Chinasyndrom

Kapitel 12 Die Schlacht von Tschernobyl

Kapitel 13 Im Krankenhaus Nummer Sechs

Kapitel 14 Die Liquidatoren

Kapitel 15 Die Ermittlungen

Kapitel 16 Der Sarkophag

Kapitel 17 Die verbotene Zone

Kapitel 18 Der Prozess

Kapitel 19 Der Elefantenfuß

Kapitel 20 Ein Grab für Waleri Chodemtschuk

Epilog

Anmerkung des Autors

Dank

Glossar

Maßeinheiten zur Radioaktivität

Bibliographie

Personen- und Ortsregister

[Tafelteil]

Für Vanessa

Karten

Beteiligte Personen

Atomkraftwerk Tschernobyl und Stadt Prypjat
Verwaltung

Wiktor Brjuchanow – Kraftwerksdirektor

Nikolai Fomin – Chefingenieur; stellvertretender Direktor

Anatoli Djatlow – stellvertretender Chefingenieur

Belegschaft

Alexander Akimow – Schichtleiter, fünfte Schicht in Block Vier

Leonid Toptunow – leitender Reaktorkontrollingenieur, fünfte Schicht in Block Vier

Boris Stoljartschuk – leitender Kontrollingenieur, fünfte Schicht, Block Vier

Juri Tregub – leitender Kontrollingenieur, Block Vier

Alexander Juwtschenko – leitender Maschinenbauingenieur, fünfte Schicht, Block Vier

Waleri Perewostschenko – Werkstattschichtleiter, fünfte Schicht, Block Vier

Serafim Worobjew – Chef des Werksstrahlenschutzes

Weniamin Prianitschnikow – Leiter technische Schulungsprogramme

Feuerwehrleute

Major Leonid Teljatnikow – Kommandant der Paramilitärischen Feuerwache Zwei (AKW Tschernobyl)

Leutnant Wladimir Prawik – Kommandant der dritten Wache, Paramilitärische Feuerwache Nummer Zwei (AKW Tschernobyl)

Leutnant Piotr Chmel – Kommandant der ersten Wache, Paramilitärische Feuerwache Nummer Zwei (AKW Tschernobyl)

Leutnant Wiktor Kibenok – Kommandant der dritten Wache, Paramilitärische Feuerwache Nummer Sechs (Prypjat)

Oberst Wassili Ignatenko – Mitglied der dritten Wache, Paramilitärische Feuerwache Nummer Sechs (Prypjat)

Prypjat

Alexander Esaulow – zweiter Vorsitzender des Ispolkom bzw. Stadtrats der Stadt Prypjat; zweiter Bürgermeister

Maria Protzenko – Chefarchitektin der Stadt Prypjat

Natalia Juwtschenko – Lehrerin für russische Sprache und Literatur in Schule Nummer Vier; Ehefrau von Alexander Juwtschenko

Die Regierung

Michail Gorbatschow – Generalsekretär der KPdSU; Staatschef der UdSSR

Nikolai Ryschkow – Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR

Jegor Ligatschow – Chefideologe der KPdSU und zweitmächtigster Mann im Politbüro

Wiktor Tschebrikow – Vorsitzender des Komitees für Staatssicherheit (KGB) der UdSSR

Wladimir Dolgich – Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, zuständig für die Schwerindustrie, einschließlich der Kernkraft

Wladimir Marin – Chef des atomaren Sektors der Abteilung Schwerindustrie und Energie des Zentralkomitees der KPdSU

Anatoli Majorez Sowjetischer – Minister für Energie und Elektrifizierung

Gennadi Schascharin – stellvertretender Minister für Energie, zuständig vor allem für die Kernenergie

Wladimir Schtscherbitzki – erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine und Mitglied im Politbüro der UdSSR; Staatsoberhaupt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik

Alexander Ljaschko – Vorsitzender des Ministerrats der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik

Wladimir Malomusch – zweiter Sekretär der Kommunistischen Partei der Oblast Kiew

Witali Skljarow – Ukrainischer Minister für Energie und Elektrifizierung

Boris Schtscherbina – stellvertretender Vorsitzender des sowjetischen Ministerrats; Vorsitzender der Regierungskommission in Tschernobyl

Iwan Silajew – stellvertretender Vorsitzender des sowjetischen Ministerrats, zuständig für die Maschinenbauindustrie; Mitglied im Zentralkomitee der KPdSU; zweiter Vorsitzender der Regierungskommission in Tschernobyl

Die Kernkraftexperten

Anatoli Alexandrow – Vorsitzender der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Kurtschatow-Instituts für Atomenergie, verantwortlich für die Entwicklung der Atomwissenschaft und -technik in der Sowjetunion

Efim Slawski – Minister für Mittleren Maschinenbau, verantwortlich für alle Aspekte des sowjetischen Atomwaffenprogramms

Nikolai Dolleschal – Direktor des sowjetischen Nuklearforschungsinstituts NIKIET

Waleri Legassow – Erster stellvertretender Direktor des Kurtschatow-Instituts und Stellvertreter von Anatoli Alexandrow

Jewgeni Welichow – stellvertretender Direktor des Kurtschatow-Instituts; wissenschaftlicher Berater von Michail Gorbatschow und Rivale von Waleri Legassow

Alexander Meschkow – stellvertretender Minister des Ministeriums für Mittleren Maschinenbau

Boris Pruschinski – Chefingenieur des Sojusatomenergo, die Kernkraftabteilung des Energieministeriums; Chef des OPAS, des Krisenteams des Energieministeriums bei atomaren Störfällen

Alexander Borowoi – Leiter des Neutrino-Labors am Kurtschatow-Institut und wissenschaftlicher Leiter der Komplexen Expedition Tschernobyl

Hans Blix – Direktor der Internationalen Atomenergie-Organisation mit Sitz in Wien, Österreich

Die Generäle

Generaloberst Boris Iwanow – stellvertretender Generalstabschef der sowjetischen Zivilschutztruppen

General Wladimir Pikalow – Kommandant der Chemischen Truppen der Sowjetarmee

Generalmajor Nikolai Antoschkin – Stabschef der 17. Luftlandearmee, Wehrbezirk Kiew

Generalmajor Nikolai Tarakanow – stellvertretender Kommandant der sowjetischen Streitkräfte

Die Ärzte

Dr. Angelina Guskowa – Leiterin der klinischen Abteilung von Krankenhaus Nummer Sechs in Moskau

Dr. Alexander Baranow – Leiter der Hämatologie, Krankenhaus Nummer Sechs, Moskau

Dr. Robert Gale – Hämatologe am UCLA Medical Center, Los Angeles

Prolog

Samstag, 26. April 1986: 16:16 Uhr[1]Kernkraftwerk Tschernobyl, Ukraine

Oberleutnant Alexander Logatschew liebte die Strahlung so wie andere Männer ihre Frauen lieben. Hoch aufgeschossen und gutaussehend, 26 Jahre alt, mit kurz geschorenen blonden Haaren und eisblauen Augen, war Logatschew in die Sowjetarmee eingetreten, als er noch ein Junge war. Er hatte ein gutes Training erhalten. Die Ausbilder an der Militärakademie vor den Toren Moskaus hatten ihm den Umgang mit tödlichen Giften und ungeschützter Strahlung beigebracht. Er war zum Atomwaffentestgelände Semipalatinsk in Kasachstan und zur trostlosen Osturalspur gereist, wo der Fallout eines geheim gehaltenen radioaktiven Unfalls noch heute die Landschaft vergiftet. Seine Ausbildung hatte ihn sogar zu der verbotenen Inselgruppe Nowaja Semlja hoch oben im Polarkreis geführt, auf der die schreckliche Zar-Bombe gezündet worden war, die größte Kernfusionswaffe in der Geschichte.[2]

Jetzt, als oberster Offizier der Aufklärungsdivision Strahlenschutz des 427. Mechanisierten Rotbanner-Regiments des Zivilschutzes in der Region Kiew, wusste Logatschew, wie er sich selbst und seine drei Untergebenen vor Nervengiften, biologischen Waffen, Gammastrahlen und heißen Teilchen schützen konnte: indem er sich genau an die Vorschriften hielt, seinem Dosimeter vertraute und nötigenfalls nach der Erste-Hilfe-Ausrüstung für atomare, biologische und chemische Kriegsführung griff, die sich im Cockpit des Panzerwagens befand. Der beste Schutz, so seine Überzeugung, war jedoch psychologischer Natur. Wer sich dazu hinreißen ließ, die Strahlung zu fürchten, der lebte gefährlich. Wer ihre gespenstische Gegenwart dagegen liebte und schätzte, ihre Launen verstand, der hielt sogar dem intensivsten Beschuss durch Gammastrahlen stand und war danach genauso gesund wie zuvor.[3]

Während er an diesem Morgen durch die Vororte von Kiew brauste, an der Spitze einer Kolonne aus über dreißig Fahrzeugen, die zu einem Zwischenfall im Kernkraftwerk Tschernobyl gerufen worden waren, hatte Logatschow allen Grund zur Zuversicht. Die Frühlingsluft, die durch die Luken seines Panzerspähwagens hereinwehte, duftete nach Bäumen und frisch gemähtem Gras. Seine Männer, die sich am Vorabend zur monatlichen Inspektion auf dem Paradeplatz eingefunden hatten, waren gut gedrillt und einsatzbereit. Die Strahlungsdetektoren zu seinen Füßen – darunter ein neu installiertes elektronisches Messgerät, das doppelt so empfindlich war wie das Vorgängermodell – raunten sanft. Sie nahmen offenbar nichts Ungewöhnliches wahr in der Atmosphäre ringsum.[4]

Als sie sich später jedoch dem Kraftwerk näherten, wurde klar, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Vor dem Betonschild, das den Eingang zum Kraftwerksgelände markierte, schlug das Dosimeter zum ersten Mal Alarm, und der Leutnant ließ anhalten, um den Wert zu erfassen: 51 Röntgen pro Stunde. Nur 60 Minuten an dieser Stelle, und sie würden alle die Höchstdosis für einen sowjetischen Soldaten während eines Kampfeinsatzes aufnehmen. Sie fuhren weiter, folgten den Hochspannungsmasten, deren Linie sich bis zum Horizont erstreckte, in Richtung Kernkraftwerk; die Messwerte stiegen noch weiter, ehe sie wieder abfielen.[5]

Als der Panzerspähwagen dann am betonierten Ufer des Kühlungskanals entlang polterte, kam schließlich die Silhouette von Reaktorblock Vier des Kernkraftwerks Tschernobyl in Sicht, und Logatschow und seine Männer betrachteten sie schweigend. Das Dach des 20-stöckigen Gebäudes war aufgerissen, die oberen Bereiche geschwärzt und eingestürzt. Sie sahen zertrümmerte Stahlbetonplatten, herabgestürzte Graphitblöcke und an manchen Stellen die schimmernden Metallgehäuse der Brennelemente aus dem Reaktorkern. Eine Dampfwolke trieb aus der Ruine in den sonnigen Himmel.

Doch ihr Befehl lautete, den Reaktor in Augenschein zu nehmen. Ihr gepanzerter Wagen kroch mit zehn Stundenkilometern entgegen dem Uhrzeigersinn über das Gelände.[6] Feldwebel Wlaskin las laut die Strahlungsmesswerte von den neuen Instrumenten ab, und Logatschow kritzelte sie auf eine Karte, die mit Kugelschreiber und farbigem Filzstift von Hand auf ein Blatt Pergamentpapier gezeichnet war: ein Röntgen pro Stunde; dann zwei, dann drei. Sie bogen nach links, und die Werte schnellten nach oben: zehn, dreißig, fünfzig, einhundert.

»250 Röntgen pro Stunde!«, rief der Feldwebel. Seine Augen weiteten sich.

»Genosse Leutnant«, stammelte er und deutete auf das Radiometer.

Logatschew warf einen Blick auf die Anzeige und spürte vor Schreck ein Kribbeln auf der Kopfhaut: 2080 Röntgen pro Stunde.[7] Eine unmögliche Zahl.

Logatschew hatte Mühe, ruhig zu bleiben und sich an das Lehrbuch zu erinnern, seine Angst zu besiegen. Doch sein Training griff nicht mehr, und der Leutnant hörte sich selbst, wie er in panischer Angst, das Fahrzeug könnte den Geist aufgeben, seinen Fahrer anbrüllte:

»Warum fährst du hier lang, du blöder Hund? Hast du sie noch alle? Wenn der Motor abstirbt, sind wir in fünfzehn Minuten tot!«

Teil 1Geburt einer Stadt

Kapitel 1Der sowjetische Prometheus

Das gemächliche Knattern herannahender Rotorblätter scheuchte Krähen auf. Sie stoben über die gefrorenen Wiesen und das perlige Geflecht von Bächen und Tümpeln, die das Flussbecken des Prypjat säumten. Weit unten, bis zu den Knien im Schnee, stand Wiktor Brjuchanow und wartete, schwere Dampfwolken in die Luft atmend, auf das Eintreffen der Nomenklatura aus Moskau.[1]

Als der Hubschrauber gelandet war, stapfte die Delegation von Ministern und kommunistischen Parteifunktionären gemeinsam über das Schneefeld. Die eisige Kälte nagte an ihren schweren Wollmänteln und kroch unter ihre hohen Pelzmützen. Der Vorsitzende des Ministeriums für Energie und Elektrifizierung der Sowjetunion sowie hochrangige Parteifunktionäre der Sowjetrepublik Ukraine stießen an der Stelle zu Brjuchanow, wo ihr kühnes neues Projekt seinen Anfang nehmen sollte. Brjuchanow, klug, ehrgeizig und ein überzeugter Parteimann, war mit nur vierunddreißig Jahren in die West-Ukraine gekommen mit dem Auftrag, ein Atomkraftwerk zu bauen, das – wenn es nach dem Willen der sowjetischen Zentralplaner ging – das größte der Welt werden sollte.[2]

Als sie sich unweit des Flussufers versammelten, begossen die zwölf Männer ihre Pläne mit Cognac. Ein Staatsfotograf ließ sie zwischen langstieligen Schaufeln und einem Theodoliten Aufstellung nehmen, während im Hintergrund gedrungen und unbeholfen der Hubschrauber wartete. Sie standen im Schnee und sahen zu, wie Minister Neporoschni einen feierlichen Pflock Zentimeter für Zentimeter in den stahlharten Boden trieb.

Es war der 20. Februar 1970. Nach monatelanger Überlegung hatten sich die Sowjetbehörden endlich auf einen Namen geeinigt für das neue Kraftwerk, das die Kerntechnik der Sowjetunion einmal auf der ganzen Welt berühmt machen würde. Sie hatten mehrere Optionen in Erwägung gezogen: Atomkraftwerk Nord-Kiew, Atomkraftwerk West-Ukraine oder vielleicht auch Atomkraftwerk Prypjat.[3] Doch schließlich unterzeichnete Wladimir Schtscherbitzki, der Respekt einflößende Parteivorsitzende der Ukraine, den Beschluss, dass der Bau den Namen der regionalen Hauptstadt erhalten sollte: eine kleine, aber geschichtsträchtige Stadt mit zweitausend Einwohnern, vierzehn Kilometer von der Stelle entfernt, an der Brjuchanow und seine Bosse im schneebedeckten Feld standen.[4]

Die Stadt Tschernobyl war im zwölften Jahrhundert errichtet worden. Achthundert Jahre lang beheimatete sie Bauern, die in den Flüssen fischten, ihre Kühe auf den Wiesen weiden ließen und in den dichten Wäldern im Nordwesten der Ukraine und im südlichen Weißrussland nach Pilzen suchten. Nachdem Tschernobyl wiederholt von Pogromen, Säuberungen, Hungersnöten und Krieg heimgesucht worden war, herrschte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts endlich Frieden. Die Stadt hatte sich zu einem ruhigen Provinzzentrum gemausert, mit einer Handvoll Fabriken, einem Krankenhaus, einer Bibliothek und einem Kulturpalast. Auf einer kleinen Schiffswerft wurden die Schleppkähne und Lastschiffe instandgesetzt, die den Prypjat und den Dnepr befuhren, die beiden Flüsse, die sich in der Nähe vereinten.[5] Wasser durchzog die umgebende Landschaft, eine unendlich flache Gegend aus Torfmooren, Sümpfen und Auwäldern, die einen Teil des Dnepr-Beckens ausmachten. Dieses Geflecht aus 32000 Flüssen und Strömen bedeckte fast die Hälfte der Ukraine. Nur fünfzehn Kilometer flussabwärts von der Stelle, an der das neue Kraftwerk entstehen sollte, vereinigten sich die Flüsse und strömten weiter zum Kiewer Meer, einem riesigen Stausee, der die zweieinhalb Millionen Einwohner der zwei Autostunden weiter südöstlich gelegenen ukrainischen Hauptstadt mit frischem Wasser versorgte.[6]

 

Wiktor Brjuchanow war zu Beginn des Winters in Tschernobyl angekommen. Er logierte im einzigen Hotel der Stadt, einem schmucklosen einstöckigen Gebäude in der Sowietskaja-Straße.[7] Er war schlank, aber athletisch, hatte ein schmales, ängstliches Gesicht, einen dunklen Teint und dichte dunkle Locken. Als ältestes von vier Kindern entstammte Brjuchanow einer russischen Familie, wuchs aber in Usbekistan auf, in den Bergen von Sowjetisch-Mittelasien.[8] Er sah exotisch aus: Als er ihm zum ersten Mal begegnet war, dachte der Divisionsmajor des KGB, der junge Direktor könne Grieche sein.[9]

Brjuchanow setzte sich auf sein Hotelbett und packte den Inhalt seines Aktenkoffers aus: ein Notizbuch, etliche Baupläne und einen hölzernen Rechenschieber. Obwohl er jetzt der Direktor und bislang einzige Angestellte des Atomkraftwerks Tschernobyl war, wusste Brjuchanow wenig über Atomkraft. Am Polytechnischen Institut in Taschkent hatte er Elektroingenieurswesen studiert. Er hatte zunächst einfache Tätigkeiten in der Turbinenwerkstatt eines usbekischen Wasserkraftwerks ausgeführt, war aber schnell aufgestiegen, um die Inbetriebnahme des größten Kohlekraftwerks der Ukraine in Slowjansk, im industriellen Osten der Republik, zu beaufsichtigen. Doch im Energie-Ministerium in Moskau galten Wissen und Erfahrung als weniger wichtige Qualifikationen für eine leitende Position als Loyalität und die Fähigkeit, Ideen in die Tat umzusetzen. Technische Angelegenheiten konnten den Experten überlassen werden.[10]

Anfang der siebziger Jahre begann die UdSSR im Schnellverfahren Reaktoren zu bauen, zum einen, um dem steigenden Energiebedarf im Land zu begegnen, zum anderen, um mit dem Westen Schritt zu halten. Sowjetische Wissenschaftler hatten einmal für sich in Anspruch genommen, weltweit führend im Bereich der Kerntechnik zu sein, und versetzten 1954 ihre kapitalistischen Gegenspieler in Erstaunen, indem sie den ersten Reaktor fertigstellten, der kommerziell Strom erzeugte. Doch seitdem waren sie hoffnungslos abgehängt worden. Im Juli 1969, als amerikanische Astronauten die letzten Vorbereitungen für die Mondlandung trafen, verlangte der sowjetische Minister für Energie und Elektrifizierung eine aggressive Ausweitung der Kernenergie.[11] Als ehrgeiziges Ziel plante er für den europäischen Teil der Sowjetunion, vom Finnischen Meerbusen bis zum Kaspischen Meer, ein Netz aus neuen Kernkraftanlagen mit riesigen Reaktoren aus Massenfertigung.

In diesem Winter, da die sechziger Jahre sich dem Ende zuneigten, bestellte der Energieminister Brjuchanow nach Moskau und wies ihm sein neues Aufgabengebiet zu. Es war ein äußerst prestigeträchtiges Projekt.[12] Es wäre nicht nur das erste Atomkraftwerk in der Ukraine, sondern auch Neuland für das Ministerium für Energie und Elektrifizierung, das noch nie ein Atomkraftwerk von Anfang an gebaut hatte.[13] Bis jetzt war jeder Reaktor in der UdSSR vom Ministerium für Mittleren Maschinenbau konstruiert worden, der geheimen Organisation hinter dem sowjetischen Atomwaffenprogramm, so geheim, dass sogar ihr Name eine Chiffre war, die jede Neugier entmutigen sollte. Doch Brjuchanow war mit Freuden bereit, sich jeder Herausforderung zu stellen, wie groß sie auch sei, und die Fahne des Roten Atoms hoch zu halten.

Allein auf seinem Hotelbett sitzend, stellte sich der junge Ingenieur seiner Verantwortung, auf einem leeren Feld ein Projekt hervorzuzaubern, das fast 400 Millionen Rubel kosten sollte.[14] Er erstellte Materiallisten, um mit den Bauarbeiten beginnen zu können, und errechnete mit Hilfe seines Rechenschiebers deren voraussichtliche Kosten. Dann sandte er seine Schätzungen an die Staatsbank in Kiew. Er fuhr fast täglich mit dem Bus in die Stadt; und wenn kein Bus verfügbar war, fuhr er per Anhalter. Da das Projekt keinen Buchhalter hatte, gab es auch keine Gehaltsabrechnung, und so erhielt er keinen Lohn.[15]

Bevor Brjuchanow mit dem Bau des Kraftwerks selbst beginnen konnte, musste er die nötige Infrastruktur schaffen, um Materialien und Ausrüstung an Ort und Stelle zu bringen: eine Gleisverbindung vom Bahnhof im nahegelegenen Yanow und eine neue Anlegestelle am Fluss, um Kies und armierten Beton in Empfang zu nehmen.[16] Er stellte Bauarbeiter ein, und schon bald begann ein stetig wachsendes Heer von Männern und Frauen an den Hebeln von Baggern und gewaltigen BelAZ-Kipplastern Wege durch den Wald zu ziehen und ein Plateau aus der graubraunen Landschaft zu schaben. Um für sich selbst, einen neu eingestellten Buchhalter und die Handvoll Arbeiter, die auf der Baustelle lebten, Unterkünfte zu schaffen, ließ Brjuchanow auf einer nahen Waldlichtung ein provisorisches Dorf errichten. Die neue Siedlung, eine Ansammlung von Holzhütten auf Rädern, eine jede mit einer kleinen Küche und einem Holzofen ausgestattet, wurde von ihren neuen Bewohnern schlicht Lesnoi – »vom Wald« – getauft.[17] Als es wärmer wurde, ließ Brjuchanow ein Schulhaus bauen, in dem Kinder bis zur vierten Klasse unterrichtet werden konnten. Im August 1970 kam seine junge Familie zu ihm nach Lesnoi: seine Frau Walentina, ihre sechsjährige Tochter Lilia und ihr kleiner Sohn Oleg.

Walentina und Wiktor Brjuchanow hatten die ersten zehn Jahre ihres gemeinsamen Lebens dabei geholfen, den sozialistischen Elektrifizierungstraum zu erfüllen. Tschernobyl war die dritte Kraftwerksgründung der Familie innerhalb von sechs Jahren. Walentina und Wiktor waren sich als junge Fachkräfte auf der Baustelle des Wasserkraftwerks in Angren begegnet, hundert Kilometer von der usbekischen Hauptstadt Taschkent entfernt. Walentina war die Assistentin eines Turbineningenieurs gewesen und Wiktor, frisch von der Universität, ein Praktikant. Er hatte eigentlich an die Universität zurückkehren und seinen Magister abschließen wollen, als der Leiter seiner Abteilung im Kraftwerk ihn überredete zu bleiben: »Warten Sie«, sagte er zu ihm, »hier werden Sie Ihrer zukünftigen Frau begegnen!« Gemeinsame Freunde machten Wiktor und Walentina im Winter 1959 miteinander bekannt: »Du wirst in ihren Augen ertrinken«, versprachen sie ihm. Die beiden waren erst ein knappes Jahr miteinander ausgegangen, als sie im Dezember 1960 in Taschkent heirateten. 1964 kam Lilia auf die Welt.

Für Walentina war Lesnoi ein magischer Ort, mit weniger als einem Dutzend Familien, die in provisorischen Behausungen lebten. Kaum war nachts das Gebrüll der Bulldozer und Schaufelbagger verebbt, breitete sich eine samtige Stille über die Lichtung, deren Dunkelheit von nur einer Laterne und den Rufen der Eulen durchdrungen wurde. Hin und wieder, um die Bauarbeiter zu inspirieren und ihnen dabei zu helfen, ihre vorgegebenen Ziele zu erreichen, sandte ihnen Moskau sowjetische Berühmtheiten, wie den Romani-Superstar Nikolai Slitschenko und seine Truppe, die Theateraufführungen und Konzerte zum Besten gaben. Die Familie blieb noch zwei Jahre in der Waldsiedlung, während sogenannte Stoßarbeiter-Brigaden die erste Reaktorgrube und einen gewaltigen Wasserspeicher aus dem sandigen Boden hoben – einen künstlichen See, elf Kilometer lang und 2,5 Kilometer breit, der die Millionen Kubikmeter Kühlwasser liefern würde, die unabdingbar waren, um vier gewaltige Reaktoren am Laufen zu halten.[18]

Unterdessen beaufsichtigte Wiktor am Ufer des Flusses die Entstehung einer neuen Siedlung – einer atomgrad oder »Atomstadt«. Diese Siedlung, die man schließlich Prypjat taufte, sollte die vielen Tausend Mitarbeiter samt ihren Familien aufnehmen, die künftig einmal den Atomreaktor betreiben würden. 1972 waren bereits mehrere Wohnheime und Apartmentblocks fertiggestellt. Die neue Stadt entstand so schnell, dass es zunächst weder gepflasterte Straßen noch ein kommunales Heizwerk gab, um die Gebäude zu versorgen. Doch ihre Bewohner waren jung und enthusiastisch. Die erste Gruppe von Nuklearexperten glaubte bei ihrer Ankunft idealistisch an eine atomare Zukunft und war erpicht darauf, die Heimat mit Hilfe der neuen Technologie grundlegend zu verändern. Für sie waren derartige Probleme Lappalien – um sich nachts warm zu halten, schliefen sie in ihren Mänteln.[19]

Walentina und Wiktor gehörten zu den ersten Bewohnern der neuen Stadt. Sie bezogen im Winter 1972 eine Vier-Zimmer-Wohnung am Lenin-Prospekt 6, direkt am Ortseingang. Während sie auf die Fertigstellung der ersten Schule warteten, fuhr ihre Tochter Lilia jeden Tag per Lastwagen oder Auto nach Lesnoi, wo sie im Waldschulhaus unterrichtet wurde.

Sowjetischen Planungsvorschriften zufolge wurde Pripyat vom eigentlichen Kraftwerk durch eine Sicherheitszone getrennt, in der das Bauen verboten war.[20] Auf diese Weise sollte gewährleistet sein, dass die Bevölkerung nicht etwa schwacher ionisierender Strahlung ausgesetzt war. Trotzdem war das Kraftwerk von Prypjat aus in weniger als zehn Autominuten zu erreichen – per Luftlinie waren es nur drei Kilometer. Und als die Stadt immer weiter wuchs, bauten sich ihre Bewohner Sommerhäuser auch innerhalb der Sicherheitszone.[21] Für eine provisorische Datscha und ein Gemüsegärtchen setzte man sich gern über geltende Regeln hinweg.

 

Wiktor Brjuchanows Instruktionen für das Atomkraftwerk Tschernobyl umfassten zunächst den Bau zweier Atomreaktoren – ein neues Modell, bekannt unter dem Akronym RBMK für Reaktor bolschoy moschnosti kanalnyy oder Siedewasser-Druckröhrenreaktor.[22] Entsprechend der sowjetischen Neigung zur Gigantomanie war der RBMK nicht nur größer, sondern auch leistungsstärker als fast alle Reaktoren im Westen und theoretisch in der Lage, 1000 Megawatt Strom zu erzeugen, für mindestens eine Million moderne Haushalte.[23] Der strenge Zeitplan, den ihm seine Bosse in Moskau und Kiew vorgegeben hatten, zwang Brjuchanow zu übermenschlicher Eile: Gemäß den Vorgaben des neunten Fünf-Jahresplans sollte der erste Reaktor bereits im Dezember 1975 ans Netz gehen, der zweite noch vor Ende des Jahres 1979. Brjuchanow erkannte schnell, dass dieser Zeitplan unmöglich einzuhalten war.[24]

Als der junge Direktor 1970 die Arbeit in Tschernobyl begann, schaltete das sozialistische Wirtschaftsexperiment allmählich in den Rückwärtsgang. Die UdSSR ächzte unter der Last jahrzehntelanger Planwirtschaft, törichter Bürokratie, gewaltiger Militärausgaben und wuchernder Korruption – der Beginn dessen, was man als Ära der Stagnation bezeichnen würde.[25] Kürzungen und Engpässe, Diebstahl und Unterschlagung zerstörten fast jede Industrie. Die Kernkraft war keine Ausnahme. Von Beginn an fehlte es Brjuchanow an Ausrüstung.[26] Maßgebliche mechanische Teile und Baumaterialien tauchten oft zu spät oder überhaupt nicht auf, und was ankam, war oft fehlerhaft.[27] Stahl und Zirkonium – wesentlich für die kilometerlangen Rohrleitungen und vielen hundert Brennelemente, die im Herzen des riesigen Reaktors verlegt werden sollten – waren Mangelware; Rohrleitungen und Stahlbeton, für den nuklearen Gebrauch bestimmt, erwiesen sich oft als dermaßen schäbig verarbeitet, dass man sie wegwerfen musste. Die handwerkliche Qualität sowjetischer Produkte war auf allen Ebenen derart miserabel, dass man bei Bauprojekten in der gesamten Energiewirtschaft des Landes stets eine zusätzliche Phase einplanen musste, die sogenannte »vorbetriebliche Instandsetzung«.[28] Jedes fabrikneue Gerät – ob Transformator, Turbine oder Schalteinheit – wurde vor Gebrauch bis zur letzten Schraube und Mutter auseinandergenommen, nach Fehlern untersucht, repariert und dann gemäß den Originalplänen wieder zusammengesetzt, genau so, wie es gleich zu Beginn hätte sein sollen. Erst jetzt konnte es sicher installiert werden. Diese verschwenderische Doppelarbeit bescherte jedem Bauprojekt monatelange Verzögerungen und Millionen Rubel an Mehrkosten.

Ende 1971 und Anfang 1972 hatte Brjuchanow mit Streitereien und Rangeleien zwischen seinen Bauleitern zu kämpfen und steckte von seinen kommunistischen Parteibossen in Kiew einen Rüffel nach dem anderen ein.[29] Die Arbeiter klagten über Lebensmittelkürzungen und die Schlangen vor der Baustellenkantine. Er hatte es versäumt, Kalkulationen und Planungen zu schicken, hielt Fristen nicht ein und konnte das von Moskau vorgegebene monatliche Arbeitssoll nicht annähernd erfüllen. Und doch gab es immer noch mehr zu tun: Prypjats neue Bürger brauchten eine Bäckerei, ein Krankenhaus, einen Kulturpalast und ein Einkaufszentrum. Außerdem mussten noch mehr Wohnungen gebaut werden.[30]

Im Juli 1972 fuhr Wiktor Brjuchanow schließlich erschöpft und desillusioniert nach Kiew, um mit seinem Vorgesetzten aus dem Ministerium für Energie und Elektrifizierung zu sprechen. Er war noch keine drei Jahre Direktor des Atomkraftwerks Tschernobyl, dessen Bau gerade erst begonnen hatte, und plante bereits seinen Rücktritt.[31]

 

Hinter all den katastrophalen Fehlschlägen der UdSSR während der Zeit der Stagnation – hinter der kleptokratischen Pfuscherei, der Vetternwirtschaft, der verdrießlichen Ineffizienz und der ruinösen Verschwendung der Planwirtschaft – stand die monolithische Macht der Kommunistischen Partei. Die Partei hatte sich als einzelne Fraktion unter all denen hervorgetan, die nach der Revolution von 1917 in Russland nach der Macht strebten, und vertrat vermeintlich den Willen der Arbeiter, etablierte jedoch schon bald die Kontrolle eines Einparteiensystems – mit dem das Proletariat dem »Wahren Kommunismus« zugeführt werden sollte.[32]

Im Gegensatz zum bloßen Sozialismus war der wahre Kommunismus die marxistische Utopie: »eine klassenlose Gesellschaft, die unbegrenzte Möglichkeiten für menschliche Errungenschaften beinhaltet«, ein egalitärer Traum von Selbstverwaltung durch das Volk.[33] Als an die Stelle der Revolution die politische Unterdrückung trat, wurde der Verwirklichungstermin für dieses meritokratische Shangri-la wiederholt in die Zukunft verschoben. Doch die Partei hielt an ihrer Rolle fest, indem sie die marxistisch-leninistischen Vorgaben durchsetzte und zu einem ideologischen Apparat hauptamtlicher Funktionäre erstarrte, der nominell zwar von der Regierung getrennt agierte, in Wahrheit aber auf fast jeder gesellschaftlichen Ebene die Entscheidungen traf.

Jahrzehnte später hatte die Partei ihre eigene starre Hierarchie persönlicher Vetternwirtschaft etabliert und verfügte über die Entscheidungsgewalt über eine ganze Klasse einflussreicher Positionen, bekannt als Nomenklatura.[34] Parteifunktionäre beaufsichtigten jede Werkstatt, jedes zivile oder militärische Unternehmen, jede Industrie und jedes Ministerium: die Apparatschiki, die im gesamten Reich eine Schattenbürokratie aus politischen Funktionären bildeten. Während offiziell jede der fünfzehn Sowjetrepubliken von ihrem eigenen Ministerrat regiert wurde, den ein Vorsitzender leitete, war es faktisch der nationale Anführer der jeweiligen Kommunistischen Partei – der erste Sekretär –, der das Sagen hatte. Über ihnen allen saß mit versteinerter Miene Leonid Breschnew, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Vorsitzender des Politbüros, gab Direktiven von Moskau an sie weiter und war de facto Herrscher über 242 Millionen Menschen. Diese institutionalisierte Einmischung erwies sich als verwirrend und kontraproduktiv für die geregelten Abläufe eines modernen Staates, und dennoch hatte die Partei stets das letzte Wort.[35]

Die Mitgliedschaft in der Partei stand nicht jedermann offen. Sie erforderte einen erschöpfenden Bewerbungs- und Zulassungsprozess, die Unterstützung durch andere Mitglieder und die Zahlung regelmäßiger Gebühren. 1970 war von fünfzehn Sowjetbürgern gerade einmal eine Person zugelassen worden.[36] Dabei brachte die Mitgliedschaft Vergünstigungen und Vorteile mit sich, die nur für die Elite verfügbar waren; den Einkauf in speziellen Geschäften, den Erwerb ausländischer Zeitungen, eine besondere medizinische Versorgung sowie die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Überdies war es ohne Parteibuch schwierig, einen verantwortungsvollen Posten zu ergattern. Ausnahmen waren selten. Als Wiktor Brjuchanow 1966 in die Partei eintrat, war diese allgegenwärtig.[37] Am Arbeitsplatz war er deshalb zwei Herren verpflichtet; seinen unmittelbaren Vorgesetzten und dem Komitee der lokalen Kommunistischen Partei. So war es auch, als er zum Direktor eines Atomkraftwerks befördert wurde. Er erhielt einerseits Anweisungen aus dem Energieministerium in Moskau, wurde aber auch von den Anforderungen des regionalen Komitees in Kiew tyrannisiert.

Obwohl zu Beginn der Siebzigerjahre viele Parteimitglieder noch immer an die marxistisch-leninistischen Prinzipien glaubten, war die Ideologie unter dem unheilvollen Blick Breschnews und seiner vergreisten Clique nur noch Augenwischerei. Die drei Jahrzehnte währende Stalinära mit ihren Massensäuberungen und willkürlichen Hinrichtungen war zwar vorbei, aber immer noch lenkten Parteiführer und Leiter großer Unternehmen – Kolchosen und Panzerfabriken, Kraftwerke und Krankenhäuser – ihre Belegschaft mit Tyrannei und Einschüchterung. Sie waren die gewalttätigen Bürokraten, die nach dem Schriftsteller und Historiker Piers Paul Read »das Gesicht eines Lastwagenfahrers, aber die Hände eines Pianisten« besaßen.[38] Einen laut hinausgebrüllten und mit Kraftausdrücken gespickten Rüffel einstecken zu müssen, war ein demütigendes Ritual, das sich in den Büros tagtäglich wiederholte.[39] Es erzeugte eine hierarchische Kultur kriecherischer Jasager, die lernten, die Launen ihrer Vorgesetzten vorherzusehen und jeder ihrer Äußerungen beizupflichten, während sie ihre eigenen Untergebenen einschüchterten. Wann immer der Vorgesetzte seine Vorschläge zur Disposition stellte, konnte er davon ausgehen, dass sie einstimmig angenommen wurden, ein Triumph der rohen Gewalt über die Vernunft.

In vielen politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen wurden nur diejenigen befördert, die ihre persönlichen Meinungen für sich behielten, Konflikten aus dem Weg gingen und ihren Vorgesetzten bedingungslos gehorchten. Mitte der Siebzigerjahre hatte dieser blinde Konformismus individuelle Entscheidungen auf allen Ebenen des Staates und des Parteiapparats erstickt, was nicht nur die Bürokratie, sondern auch technische und wirtschaftliche Bereiche verseuchte. Lug und Trug waren systeminhärent und wurden entlang der Befehlskette in beide Richtungen verkauft. So waren Berichte von Untergebenen an ihre Vorgesetzten mit gefälschten Statistiken und aufgeblähten Schätzungen gespickt, mit triumphal erreichten Zielen und weit übertroffenen Quoten. Um seine eigene Position zu schützen, gab jeder Verantwortliche, auf jeder Ebene, die Lügen nach oben weiter oder vergrößerte sie sogar noch.

An der Spitze einer schwankenden Pyramide der Falschheit saßen die Bonzen des Komitees für Wirtschaftsplanung – Gosplan – in Moskau und brüteten über Statistiken, die in Wirklichkeit jeder Grundlage entbehrten.[40] Als Gehirn der »Planwirtschaft« verwaltete Gosplan die zentralisierte Verteilung von Ressourcen in der gesamten UdSSR, von Zahnbürsten bis hin zu Traktoren, von Stahlbeton bis hin zu Plateaustiefeln. Doch die Wirtschaftsexperten in Moskau hatten keinerlei verlässliche Angaben darüber, was in dem riesigen Reich, das sie nominell verwalteten, wirklich vor sich ging. Die falsche Buchführung war so vorherrschend, dass das KGB irgendwann beschloss, die Kameras seiner Spionagesatelliten auf das sowjetische Usbekistan zu richten in dem Versuch, exakte Informationen über die Baumwollernte des Staates zu sammeln.

Mangelversorgung und dann wieder ein scheinbar unerklärliches Überangebot an Gütern und Materialien gehörten zur düsteren Alltagsroutine, und das Einkaufen wurde zum Glücksspiel, das mit einer Avoska gespielt wurde, einem »Was-wäre-wenn-Einkaufsnetz«, das man in der Hoffnung bei sich trug, auf ein Geschäft zu stoßen, das erst vor kurzem mit nützlichen Vorräten beliefert worden war – Zucker, Toilettenpapier oder Dosenratatouille aus der Tschechoslowakei.[41] Irgendwann wurden die Versorgungsprobleme der zentralen Planwirtschaft so chronisch, dass Nutzpflanzen auf den Feldern verrotteten und sowjetische Fischer zusehen mussten, wie die Fänge in ihren Netzen verfaulten, während zugleich die Regale in den Lebensmittelläden des Landes leer blieben.[42]

 

Wiktor Brjuchanow, selbstsicher, aber ein Mann der leisen Töne, war anders als die meisten Wirtschaftsführer in der Sowjetunion.[43] Er war freundlich und wurde von vielen seiner Untergebenen sehr gemocht. Mit seinem außerordentlichen Gedächtnis und seinem sicheren Finanzgespür sowie seiner exzellenten Auffassungsgabe, was die technischen Aspekte seiner Arbeit anbelangte – einschließlich Chemie und Physik – beeindruckte er seine Vorgesetzten. Vor allem aber war er in seinen Meinungen gefestigt genug, um ihnen offen zu widersprechen. Als ihm die Mammutaufgabe, mit der er sich in Tschernobyl konfrontiert sah, über den Kopf zu wachsen drohte, beschloss er ganz einfach, den Job zu kündigen.

Doch als Brjuchanow an jenem Julitag des Jahres 1972 in Kiew eintraf, nahm sein von der Partei ernannter Vorgesetzter aus dem Energieministerium sein Kündigungsschreiben entgegen, zerriss es vor seinen Augen und sagte ihm, er solle wieder an die Arbeit gehen.[44] Nach diesem Vorfall erkannte der junge Direktor, dass es kein Entrinnen gab. Was seine Aufgabe auch immer erfordern mochte, seine wichtigste Pflicht bestand schlicht darin, der Partei zu gehorchen – und ihren Plan mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln in die Tat umzusetzen. Im folgenden Monat gossen Bauarbeiter den ersten Kubikmeter Beton in die Fundamente der Fabrik.

 

Dreizehn Jahre später, am 7. November 1985, stand Brjuchanow schweigend auf der Tribüne vor dem neuen Kulturpalast in Prypjat, in dessen Fenstern handgemalte Porträts von Staats- und Parteiführern hingen.[45] Bauarbeiter und Kraftwerksangestellte paradierten mit Fahnen und Plakaten über den Platz. Und in Reden, die den Jahrestag der Großen Oktoberrevolution feierten, wurde der Direktor für seine herausragenden Leistungen gewürdigt; seine erfolgreiche Erfüllung der Jahrespläne, seine wohlwollende Führung der Stadt und des Kraftwerks, dem sie diente.[46]

Brjuchanow hatte nun die besten Jahre seines Lebens der Schaffung eines Reiches aus weißem Stahlbeton gewidmet, das eine Stadt von nahezu fünfzigtausend Menschen und vier gigantische 1000-Megawatt-Reaktoren umfasste. Überdies wurden zwei weitere Reaktoren gebaut, die innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt sein sollten.[47] Wenn 1988 die Reaktoren fünf und sechs des Atomkraftwerks Tschernobyl ans Netz gehen würden, hätte Brjuchanow die Verantwortung über den größten Atommeiler auf Erden.

Unter seiner Führung war das Kernkraftwerk Tschernobyl – offiziell bekannt als W.I. Lenin-Atomkraftwerk – zu einer Trophäe geworden, die Atomexperten aus der gesamten Sowjetunion anlockte. Viele von ihnen kamen direkt aus dem MEPhi, der Staatlichen Hochschule für Physik und Ingenieurwesen in Moskau, dem sowjetischen Pendant zum MIT.[48] Der UdSSR, hoffnungslos im Rückstand, was die Entwicklung von Computertechnologie anbelangte, fehlte es an Simulatoren, um ihre Atomkraftingenieure auszubilden. Daher wäre die Arbeit in Tschernobyl für die jungen Ingenieure die erste praktische Erfahrung mit Atomkraft.

Um die Wunder der Atomstadt Prypjat zu propagieren, hatte der Stadtrat – Ispolkom – eine Hochglanzbroschüre vorbereitet; auf lebhaften Farbfotografien sah man glückliche Bewohner ihre Freizeit genießen.[49] Das Durchschnittsalter der Bevölkerung war sechsundzwanzig, und mehr als ein Drittel davon waren Kinder.[50] Den jungen Familien standen fünf Schulen, drei Schwimmbäder, 35 Spielplätze sowie die Strände auf den sandigen Flussufern zur Verfügung. Die Stadtplaner hatten darauf geachtet, die Wälder der Umgebung zu erhalten, und jeder neue Wohnblock war von Bäumen umsäumt. Die Gebäude und öffentlichen Räume waren mit Skulpturen und spektakulären Mosaiken geschmückt, die Wissenschaft und Technik feierten. Trotz ihrer modernen, fortschrittlichen Anmutung blieb die Stadt von Wildnis umgeben und bot vielerorts eine zauberhafte Nähe zur Natur. Eines Sommertages beobachtete Brjuchanows Frau Walentina zwei Elche, die über den Prypjat schwammen und die Uferböschung hinaufstiegen, bevor sie, ohne auf die Badenden zu achten, die im Sand lagen und große Augen machten, im Wald verschwanden.[51]

Als Atomgrad galt die Stadt und alles in ihr – vom Krankenhaus bis zu den fünfzehn Kindergärten – als eine Erweiterung des Kernkraftwerks, dem sie diente, direkt durch das Energieministerium in Moskau finanziert.[52] Sie befand sich in einer ökonomischen Blase, einer Oase des Überflusses in einer Wüste von Knappheit und Entbehrung. Die Lebensmittelläden waren sogar besser bestückt als diejenigen in Kiew, mit Schweine- und Kalbfleisch, frischen Gurken und Tomaten, und mehr als fünf verschiedenen Wurstsorten. Im Kaufhaus Raduga – Regenbogen – gab es in Österreich hergestellte Esszimmergarnituren und sogar französisches Parfum zu kaufen, ohne dass man sich jahrelang in eine Warteliste eintragen musste. Es gab ein Kino, eine Musikschule, einen Schönheitssalon und einen Jachtclub.[53]

Prypjat war klein – wenige der Gebäude waren höher als zehn Stockwerke, und man konnte die gesamte Stadt zu Fuß in zwanzig Minuten durchqueren. Jeder kannte jeden, und es gab wenig zu tun für die Milizionäre – die Polizisten des Innenministeriums – oder den ortsansässigen KGB-Chef, der in der fünften Etage des Ispolkom sein Büro hatte.[54] Der Ärger beschränkte sich zumeist auf Lappalien wie Vandalismus und Trunkenheit in der Öffentlichkeit.[55] In jedem Frühling lieferte der Fluss seine grimmige Ernte ab, wenn die Schneeschmelze die Leichen der Alkoholisierten freigab, die im Winter im Eis eingebrochen und ertrunken waren.[56]

Dem Betrachter aus dem Westen wären die Defizite der Stadt ins Auge gefallen; das vergilbte Gras, das zwischen den Pflastersteinen aus Beton wucherte, oder die trostlose Einförmigkeit der mehrstöckigen Gebäude. Doch für Männer und Frauen, die im herben Hinterland sowjetischer Industriestädte geboren, auf den ausgedörrten Steppen Kasachstans oder in den Strafkolonien Sibiriens aufgewachsen waren, stellte die neue Atomstadt ein richtiges Arbeiterparadies dar. In Familienfilmen und Schnappschüssen hielten die Einwohner Prypjats einander nicht als trostlose Opfer des sozialistischen Experiments fest, sondern als sorglose junge Menschen: Kajak fahrend, segelnd, tanzend, oder in neuen Kleidern posierend; ihre Kinder amüsierten sich unterdessen auf einem großen, stählernen Elefanten oder einem bunt bemalten Spielzeugzug – fröhliche Optimisten in der Stadt der Zukunft.

 

Ende Dezember 1985 konnten Wiktor und Walentina Brjuchanow auf ein Jahr voller Triumphe und Meilensteine zurückblicken, sowohl privat als auch beruflich.[57] Im August heiratete ihre Tochter Lilia, worauf sie und ihr frisch gebackener Ehemann ihr Studium am medizinischen Institut in Kiew wieder aufnahmen; bald darauf erwartete Lilia ihr erstes Kind. Im Dezember feierte das Paar in seiner großzügigen Eckwohnung über dem Hauptplatz von Prypjat nicht nur Wiktors 50. Geburtstag, sondern auch silberne Hochzeit.

Gleichzeitig wurde Wiktor mit einer Einladung nach Moskau geehrt, als ein Mitglied der Delegation, die dem bevorstehenden 27. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beiwohnen würde; ein wichtiger Beweis politischen Wohlwollens von oben. Der Kongress sollte zudem ein bedeutsames Ereignis für die UdSSR als Ganzes werden. Er wäre der erste, bei dem Generalsekretär Michail Gorbatschow als Staatsoberhaupt der Sowjetunion den Vorsitz innehätte.

Gorbatschow war im März 1985 an die Macht gekommen. Damit endete die lange Abfolge greiser Apparatschiki, deren sich verschlechternde Gesundheit, Trunksucht und Senilität von Schwadronen zunehmend verzweifelter Aufpasser vor der Öffentlichkeit verborgen worden waren. Mit 54 wirkte Gorbatschow jung und dynamisch und fand im Westen begeisterten Anklang. Mit politischen Ansichten, die in den Sechzigerjahren entstanden waren, war er auch der erste Generalsekretär, der die Macht des Fernsehens für sich nutzte. Unbefangen mit seinem südlichen Akzent sprechend, sich auf scheinbar spontanen Spaziergängen, fein abgestimmt vom KGB, unter die Leute mischend, erschien Gorbatschow unentwegt in der Vorzeigenachrichtensendung Wremja, die allabendlich von fast zweihundert Millionen Menschen angeschaut wurde.[58] Er kündigte Pläne für eine wirtschaftliche Umstrukturierung an – Perestroika – und sprach auf dem Gipfel des Parteikongresses im März 1986 von der Notwendigkeit einer offenen Regierung – Glasnost. Als überzeugter Sozialist glaubte Gorbatschow, dass die UdSSR vom richtigen Weg abgekommen war, aber zur Utopie des wahren Kommunismus zurückfinden könne, wenn sie sich wieder auf die Gründungsprinzipien Lenins besann. Es wäre ein langer Weg. Die Wirtschaft wankte unter der finanziellen Last des Kalten Krieges. Sowjetische Truppen steckten in Afghanistan fest, und 1983 hatte der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan die Schlacht mit der strategischen Verteidigungsinitiative, dem »Star-Wars-Programm«, in den Weltraum ausgeweitet. Die Auslöschung durch einen Atomschlag schien so nahe wie nie zuvor. Und in der Heimat bestand man weiterhin auf den monolithischen alten Traditionen – die erstickende Bürokratie und Korruption aus der Zeit der Stagnation.

 

Nach 16 Jahren, in denen er auf einem entlegenen Streifen Marschland vier Atomreaktoren und eine ganze Stadt errichtet hatte, war Wiktor Brjuchanow mit den Realitäten des Systems bestens vertraut. Zurechtgehämmert auf dem Amboss der Partei, von Privilegien biegsam gemacht, hatte sich der gut informierte und eigensinnige junge Experte in ein fügsames Werkzeug der Nomenklatura verwandelt.[59] Er hatte seine Ziele erreicht und den Plan erfüllt und für sich und seine Männer Verdienstorden und Belohnungen erworben, weil sie Fristen eingehalten und Quoten übertroffen hatten.[60] Doch um dies zu bewerkstelligen, hatte Brjuchanow wie alle erfolgreichen Führungskräfte in der Sowjetunion gelernt, sich opportun zu verhalten und beschränkte Ressourcen hinzubiegen, um eine nicht enden wollende Liste unrealistischer Ziele zu erreichen. Er musste an allen Ecken und Enden sparen, Bilanzen fälschen und Vorschriften frisieren.

Immer wenn die von den Architekten des Atomkraftwerks Tschernobyl angegebenen Baumaterialien sich als nicht verfügbar herausstellten, musste Brjuchanow improvisieren. Die Pläne sahen feuerfeste Kabel vor, doch als sich keine auftreiben ließen, versuchten die Arbeiter, den Mangel auszugleichen.

Als das Energieministerium in Moskau erfuhr, dass das Dach der Turbinenhalle des Kraftwerks mit leicht entzündlichem Bitumen gedeckt worden war, erging an ihn die Anweisung, es zu ersetzen. Doch das schwer entflammbare Material, mit dem der Bau – fünfzig Meter breit und fast einen Kilometer lang – neu eingedeckt werden sollte, wurde noch nicht einmal in der UdSSR hergestellt, also machte das Ministerium eine Ausnahme, und das Bitumen blieb.[61] Als der Bezirksparteisekretär ihn anwies, in Prypjat ein Schwimmbecken olympischen Ausmaßes zu bauen, versuchte Brjuchanow einzuwenden, dass derartige Anlagen nur in sowjetischen Städten von über einer Million Einwohner üblich seien. Der Sekretär aber bestand darauf: »Sie sollen es bauen!«, sagte er, und Brjuchanow gehorchte.[62] Er trieb die zusätzlichen Mittel auf, indem er an den Ausgaben der Stadt herumtrickste und so die Staatsbank täuschte.[63]

Und als der vierte und fortschrittlichste Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl kurz vor der Fertigstellung stand, blieb ein zeitaufwändiger Sicherheitstest mit den Turbinen aus. Brjuchanow verschob ihn in aller Stille und konnte so die Frist einhalten, die Moskau ihm für die Fertigstellung gesetzt hatte, den 31. Dezember 1983.[64]

Doch genau wie eine verwöhnte Geliebte war das sowjetische Ministerium für Energie und Elektrifizierung trotzdem nicht zufrieden. Zu Beginn der achtziger Jahre war das hohe Tempo für die Errichtung von Kernkraftwerken noch mehr beschleunigt worden, mit atemberaubenden Plänen für weitere, immer gigantischere Anlagen in den westlichen Gebieten der Union.[65] Bis zur Jahrhundertwende, so die Vorstellung in Moskau, sollte Tschernobyl Teil eines dichten Netzwerks aus gewaltigen Atomkraftkomplexen sein, von denen ein jeder bis zu einem Dutzend Reaktoren beherbergen sollte.[66] 1984 wurde die Frist für die Fertigstellung des fünften Reaktors um ein Jahr verkürzt.[67] Probleme mit Arbeitskräften und Materiallieferungen blieben endemisch: Der Beton war fehlerhaft und die Männer hatten keine Elektrowerkzeuge.[68] Ein Team aus engagierten KGB-Agenten und deren Informantennetzwerk im Kraftwerk meldete eine anhaltende Serie alarmierender Baufehler.[69]

1985 erhielt Brjuchanow Instruktionen zum Bau von Tschernobyl Zwei, einem weiteren Kraftwerk, bestehend aus vier weiteren Reaktoren des Typs RBMK.[70] Der Entwurf dafür stammte direkt vom Reißbrett, und war sogar noch gigantischer als für das erste. Dieses neue Kraftwerk sollte einige hundert Meter vom bereits existierenden entfernt am anderen Flussufer errichtet werden, inklusive eines neuen Wohnviertels in Prypjat, um die Arbeiter zu beherbergen. Um es zu erreichen, wäre eine Brücke erforderlich, außerdem sollte ein neues zehnstöckiges Verwaltungsgebäude entstehen, von dessen Büro in der obersten Etage aus der Direktor sein ausgedehntes Atomlehen überblicken konnte.[71]

Brjuchanow arbeitete rund um die Uhr. Seine Vorgesetzten konnten normalerweise darauf zählen, ihn jederzeit irgendwo auf dem Werksgelände anzutreffen, bei Tag und bei Nacht.[72] Sobald etwas aus dem Ruder lief – was häufig der Fall war –, vergaß der Direktor zu essen und hielt sich stattdessen vierundzwanzig Stunden mit Kaffee und Zigaretten über Wasser.[73] Bei Besprechungen hüllte er sich in Schweigen und sagte niemals zwei Worte, wenn eines genügte. Er war vereinsamt und erschöpft, hatte kaum Freunde und teilte wenig mit, nicht einmal seiner Frau.

Auch Brjuchanows Belegschaft hatte sich verändert. Das begeisterte Team junger Spezialisten, die vor vielen Jahren die eiskalte Siedlung im Wald kolonisiert und dann mit vereinten Kräften die ersten Reaktoren ans Netz gebracht hatten, war weitergezogen. An ihrer Statt waren Tausende neuer Angestellter gekommen, und Brjuchanow hatte Schwierigkeiten, die Disziplin aufrechtzuerhalten. Trotz seiner technischen Begabung fehlte ihm die für eine Unternehmensführung im sowjetischen Maßstab notwendige Persönlichkeit.[74] Der Leiter der Baustelle, ein dominanter und gut vernetzter Parteimann, dessen Autorität die des Direktors ausstach, verhöhnte ihn als ein »Weichei«.[75]

Die Zeit der Stagnation hatte in der sowjetischen Arbeitswelt, sogar im Bereich der Atomindustrie, einen moralischen Verfall geschürt, eine mürrische Gleichgültigkeit gegen individuelle Verantwortung.[76] Im wirtschaftlichen Utopismus der UdSSR war Arbeitslosigkeit nicht vorgesehen, und so waren Überbesetzungen und Fehlzeiten an der Tagesordnung.[77] Als Direktor des Werks und der Atomstadt hatte Brjuchanow die Pflicht, allen Einwohnern Prypjats Arbeitsplätze zu verschaffen. Die unerbittlichen Bauarbeiten brachten fünfundzwanzigtausend von ihnen in Lohn und Brot, und er hatte bereits die Errichtung der Fabrik Jupiter arrangiert, die elektronische Halbleiter herstellen und weitere Frauen der Stadt beschäftigen sollte.[78] Doch das reichte nicht. Für jede Schicht im Kernkraftwerk Tschernobyl kamen jetzt Hunderte Männer und Frauen in Bussen aus Prypjat an, und viele von ihnen saßen dann nur tatenlos herum. Einige waren angehende Atomingenieure im Praktikum – mit dem Ziel, einmal zur hochqualifizierten Technikelite der Atomschtschiki zu gehören –, die den Experten über die Schulter schauten.[79] Andere jedoch waren Mechaniker und Elektriker, die aus anderen Bereichen der Energiebranche kamen – die »Strommänner« oder Energetiki – und selbstzufriedene Meinungen über Kernkraftwerke vertraten.[80] Strahlung sei so harmlos, hatte man ihnen erzählt, dass man sie »aufs Brot schmieren«[81] könne, und ein Reaktor funktioniere »wie ein Samowar … einfacher als ein Wärmekraftwerk«.[82] Zu Hause tranken einige aus Gläsern mit irisierenden Mustern, die entstanden, wie sie stolz erzählten, wenn man die Gläser in das radioaktive Wasser des Abklingbeckens tauche.[83] Andere saßen lustlos ihre Schicht im Kraftwerk ab, lasen Romane oder spielten Karten.[84] Diejenigen, die tatsächlich wichtige Arbeit zu leisten hatten, nannte man – mit fast schon satirisch anmutender Ehrlichkeit – die Gruppe Wirksamer Kontrolle.[85] Doch die Totlast überflüssiger Arbeitskräfte zerrte sogar an den Leuten mit verantwortungsvollen Pflichten und verseuchte das Kraftwerk mit einer gefährlichen Aura der Ineffizienz und Trägheit.

Das erfahrene Team eigenständig denkender Kerntechnikexperten an der Spitze, das die Inbetriebnahme der ersten vier Reaktoren des Kraftwerks beaufsichtigt hatte, war inzwischen weitergezogen, und so herrschte ein Mangel an erfahrenen Fachkräften.[86] Der Chefingenieur – Brjuchanows Stellvertreter und verantwortlich für die technischen Abläufe im Kraftwerk – war Nikolai Fomin, der ehemalige Parteisekretär der Anlage und ein arroganter, großsprecherischer Apparatschik alter Schule.[87] Mit der beginnenden Glatze und der breiten Brust, dem gewinnenden Lächeln und der selbstsicheren Baritonstimme, deren Tonhöhe schlagartig anstieg, sobald er sich aufregte, besaß Fomin all das anmaßende sowjetische Charisma, das Brjuchanow fehlte. Die Ernennung des Elektroingenieurs war von der Partei in Moskau trotz der Einwände des Energieministeriums durchgedrückt worden.[88] Er besaß keinerlei Erfahrung im Bereich der Kernenergie, war aber ideologisch über jede Kritik erhaben – und bemühte sich nach Kräften, sich über einen Fernlehrkurs Kenntnisse in Atomphysik anzueignen.[89]

 

Im Frühjahr 1986 galt Tschernobyl offiziell als eines der leistungsstärksten Atomkraftwerke der Sowjetunion, und so wurde gemunkelt, dass Brjuchanows Loyalität der Partei gegenüber bald belohnt werden würde. Aufgrund der Resultate des jüngsten Fünfjahresplans sollte das Kernkraftwerk mit der höchsten Ehrung des Staates ausgezeichnet werden: dem Leninorden. Die Belegschaft würde einen finanziellen Bonus erhalten und Brjuchanow den Stern des Helden der sozialistischen Arbeit überreicht bekommen. Im Energieministerium hatte man bereits entschieden, Brjuchanow nach Moskau zu berufen.[90] Seinen Posten als Unternehmensdirektor würde Fomin übernehmen. Die Neuigkeit sollte im Rahmen der Feierlichkeiten am 1. Mai verkündet werden, mit einem Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets.[91]

Brjuchanow hatte auch Prypjat aus dem Nichts entstehen lassen und damit eine wunderschöne Musterstadt geschaffen, die von ihren Bürgern geliebt wurde. Und trotz der Ernennung eines Stadtrats bedurfte fast jede Entscheidung bezüglich der Atomstadt – und sei sie noch so trivial – seiner Zustimmung. Die Architekten hatten von Anfang an für eine üppige Begrünung der Stadt gesorgt und diverse Baum- und Buschsorten gepflanzt – Birken, Ulmen und Rosskastanien sowie Jasmin, Flieder und Berberitzen.[92] Doch Blumen mochte Brjuchanow besonders gern und ließ sie daher überall anpflanzen.[93] Bei einer Versammlung des Ispolkom im Jahre 1985 äußerte er den Wunsch, dass an den Straßen fünfzigtausend Rosenbüsche blühen sollten; einer für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt, eine großartige Geste. Natürlich gab es Einwände. Wie sollte man so viele Blumen auftreiben? Und doch waren im darauffolgenden Frühling bereits dreißigtausend gute baltische Rosensträucher für teures Geld aus Litauen und Lettland gekauft worden und auf den langen, erhöhten Beeten unter den Pappeln am Lenin-Prospekt und rings um den zentralen Platz angepflanzt worden.

Hier, auf dem erhöhten Betonplatz an der Kurtschatow Straße, am Ende der malerischen Promenade in die Stadt, sollte Prypjat laut Plan eine eigene Leninstatue erhalten, eine architektonische Notwendigkeit für jede größere Stadt in der UdSSR.[94] Doch in seiner endgültigen Form war das Denkmal noch nicht errichtet worden. Der Stadtrat hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben, und der Sockel, auf dem es stehen sollte, wurde von einer hölzernen Kiste belegt, bemalt mit einem anregenden Porträt, Hammer und Sichel und einem Wahlspruch: »Lenins Name und Mission werden ewig leben!«

Unterdessen hatte Wiktor Brjuchanow auch einem Denkmal für einen antiken Gott zugestimmt – eine riesige realistische Statue vor dem städtischen Kino, sechs Meter hoch und in Bronze gegossen. Sie stellte einen Titanen dar, nackt unter dem Faltenwurf seines Umhangs, in der Hand züngelnde Flammen. Es war Prometheus, der mit dem gestohlenen Feuer vom Olymp gestiegen war. Mit seiner Gabe brachte er der Menschheit Licht, Wärme und Zivilisation – so wie die Fackelträger des Roten Atoms die umnachteten Haushalte der UdSSR erleuchtet hatten.

Doch der antike griechische Mythos hatte eine dunkle Seite. Zeus war so erzürnt über den Diebstahl des mächtigsten Geheimnisses der Götter, dass er Prometheus an einen Felsen kettete, zu dem jeden Tag bis in alle Ewigkeit ein riesiger Adler herabstieß, um ihm die Leber herauszuhacken.

Auch der Sterbliche, der die Gabe des Prometheus angenommen hatte, entging seiner Strafe nicht. Zeus schickte ihm Pandora, die erste Frau. Sie trug eine Büchse bei sich, welche, sobald sie geöffnet wurde, Übel entließ, die nicht mehr zu kontrollieren waren.

Kapitel 2Alpha, Beta, Gamma

Fast alles im Universum besteht aus Atomen; Fragmente aus Sternenstaub, aus denen sich die Materie zusammensetzt. Eine Million Mal dünner als ein menschliches Haar, bestehen Atome fast nur aus leerem Raum. Doch im Zentrum eines jeden Atoms befindet sich ein Nukleus – unvorstellbar dicht, als hätte man sechs Milliarden Autos in einen kleinen Koffer gepresst –, voll gebundener Energie.[1] Der Nukleus, aus Protonen und Neutronen gebildet, wird von einer Elektronenwolke umkreist und von dem zusammengehalten, was in der Physik als »starke Wechselwirkung« bezeichnet wird.[2]

Die starke Wechselwirkung ist wie die Schwerkraft eine der vier Grundkräfte im Universum, und Wissenschaftler glaubten einmal, sie sei so mächtig, dass Atome unzerstörbar und unteilbar wären. Sie glaubten außerdem, dass »weder Masse noch Energie erzeugt oder zerstört werden« könnte.[3] 1905 widerlegte Albert Einstein diese Theorien.[4] Falls es irgendwie gelänge, Atome auseinanderzureißen, so seine Meinung, würde der Prozess ihre winzige Masse in eine verhältnismäßig große Energiefreisetzung verwandeln. Er definierte die Theorie mit einer Gleichung: Die freigesetzte Energie wäre gleichzusetzen mit der Menge an verlorener Energie, multipliziert mit der Lichtgeschwindigkeit im Quadrat. E=mc2.

1938 machte ein Wissenschaftlertrio in Deutschland eine essentielle Entdeckung: Wurden die Atome des Schwermetalls Uran mit Neutronen beschossen, konnten ihre Kerne in der Tat aufgebrochen werden und setzten Kernenergie frei. Sobald die Kerne sich aufspalteten, flogen ihre Neutronen mit hoher Geschwindigkeit davon, trafen auf andere Atome in der Nähe, deren Kerne ebenfalls aufbrachen, sodass noch mehr Energie freigesetzt wurde. Waren genügend Uranatome in der richtigen Konfiguration versammelt, um eine kritische Masse zu bilden, wurde der Prozess selbsterhaltend. Dabei spalteten die Neutronen eines Atoms den Nukleus eines anderen, wobei weitere Neutronen auf Kollisionskurs mit anderen Nuklei entsandt wurden. Bei Kritikalität konnte die resultierende Kettenreaktion berstender Atome – die Kernspaltung – unvorstellbare Mengen an Energie freisetzen.

Am 6. August 1945 detonierte um 8:16 Uhr, 580 Meter über der japanischen Stadt Hiroshima, eine Atombombe, die vierundsechzig Kilogramm Uran enthielt, und Einsteins Gleichung erwies sich als erbarmungslos korrekt.[5] Die Bombe selbst war äußerst ineffizient: Nur ein Kilogramm des Urans wurde gespalten, und nur siebenhundert Milligramm Masse – das Gewicht eines Schmetterlings – wurden in Energie umgewandelt.[6] Diese genügte jedoch, um innerhalb eines Sekundenbruchteils eine ganze Stadt auszulöschen. Etwa achtundsiebzigtausend Menschen starben sofort oder unmittelbar danach – verdampft, zerschmettert oder verbrannt in der Feuersbrunst, die der Druckwelle folgte.[7] Bis zum Jahresende sollten weitere fünfundzwanzigtausend Männer, Frauen und Kinder erkranken und sterben, weil sie der Strahlung ausgesetzt waren, die der erste Atomschlag der Welt freigesetzt hatte.

 

Strahlung entsteht beim Zerfall instabiler Atome. Die Atome verschiedener Elemente sind unterschiedlich schwer, je nach Anzahl der Protonen und Neutronen in jedem Nukleus.[8] Jedes Element weist eine feste Anzahl von Protonen auf, die sich niemals ändert und seine »Kernladungszahl« sowie seine Position im Periodensystem bestimmt: Wasserstoff hat nie mehr als ein Proton, Sauerstoff stets acht Protonen, Gold neunundsiebzig. Doch Atome desselben Elements können unterschiedlich viele Neutronen aufweisen, woraus verschiedene Isotope resultieren, die vom Deuterium (Wasserstoff mit einem Neutron statt zwei) bis hin zum Uranisotop 235 (Uranmetall mit fünf zusätzlichen Neutronen) reichen.

Werden dem Kern eines stabilen Atoms Neutronen beigefügt oder entzogen, entsteht ein instabiles Isotop.[9] Doch instabile Isotope versuchen immer, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, indem sie Teile ihres Kerns abstoßen – wodurch entweder ein weiteres Isotop entsteht oder zuweilen auch ein völlig neues Element. Plutonium-239 zum Beispiel stößt zwei Protonen und zwei Neutronen seines Kerns ab, um zu Uran-235 zu werden. Dieser dynamische Prozess nuklearen Zerfalls ist Radioaktivität. Die Energie, die freigesetzt wird, wenn Atome Neutronen in Form von Wellen oder Teilchen abstoßen, ist Strahlung.

Strahlung ist überall um uns herum.[10] Sie entströmt der Sonne und dem Kosmos, daher weisen höher gelegene Städte eine größere Hintergrundstrahlung auf als solche, die auf Meereshöhe liegen. Unterirdische Thorium- und Uranvorkommen senden Strahlung aus, aber auch Gemäuer; Radioisotope sind in Steinen, Ziegeln und Lehm enthalten. Der Granit, der für die Errichtung des US-Kapitols benutzt wurde, ist dermaßen radioaktiv, dass das Gebäude gegen bundesstaatliche Sicherheitsvorschriften für Atomkraftwerke verstoßen würde. Jedes lebende Gewebe ist bis zu einem gewissen Grad radioaktiv; Menschen entsenden Strahlen, Bananen ebenso, weil beide kleine Mengen des Radioisotops Kalium-40 enthalten. Muskeln enthalten mehr Kalium-40 als anderes Gewebe, weshalb Männer im Allgemeinen radioaktiver sind als Frauen. Paranüsse, mit einer im Durchschnitt tausendmal höheren Radiumkonzentration als jedes andere organische Produkt, sind die radioaktivsten Nahrungsmittel der Welt.

Strahlung ist unsichtbar. Man kann sie weder schmecken noch riechen. Obwohl erst noch zu beweisen steht, dass schon geringste Strahlungsmengen Schäden verursachen, wird es eindeutig gefährlich, wenn die Teilchen und Wellen, die sie entsendet, stark genug sind, um die Atome umzuwandeln oder aufzubrechen, aus denen die Gewebe lebender Organismen bestehen. Diese energiereiche Radianz ist die ionisierende Strahlung.

Ionisierende Strahlung gibt es in drei Hauptformen: als Alphateilchen, Betateilchen und Gammastrahlen. Alphateilchen sind verhältnismäßig groß, schwer und langsam und können die Haut nicht durchdringen; selbst ein Blatt Papier könnte sich ihnen in den Weg stellen. Gelingt es ihnen aber, auf anderem Weg in unseren Körper zu gelangen – indem wir sie schlucken oder einatmen –, können Alphateilchen massive genetische Schäden herbeiführen und sogar tödlich sein. Radon-222, das sich als Gas in ungelüfteten Kellern anreichert, entsendet Alphateilchen in die Lunge und ruft dort Krebs hervor.[11] Polonium-210, ein starker Alphastrahler, ist eines der Karzinogene im Zigarettenrauch.[12] Es war auch das Gift in der Tasse Tee, die 2006 den früheren FSB-Agenten Alexander Litwinenko in London tötete.[13]

Betateilchen sind kleiner und schneller als Alphateilchen und können tiefer in lebendes Gewebe eindringen. Es entstehen sichtbare Verbrennungen auf der Haut und dauerhafte genetische Schäden. Ein Blatt Papier bietet keinen Schutz vor Betateilchen, Aluminiumfolie – oder genügend Abstand – jedoch schon. Jenseits einer Distanz von drei Metern können Betateilchen wenig Schaden anrichten. Gefährlich werden sie erst, wenn man sie in irgendeiner Weise zu sich nimmt. Weil der Körper sie für essentielle Elemente hält, können Betastrahler sich in bestimmten Organen in tödlicher Konzentration anreichern; Strontium-90, aus derselben chemischen Familie wie das Kalzium, wird in den Knochen eingelagert, Ruthenium vom Darm absorbiert; Jod 131 wird vor allem in der Schilddrüse von Kindern gespeichert, wo es Krebs auslösen kann.

Gammastrahlen – hochfrequente elektromagnetische Wellen, die mit Lichtgeschwindigkeit reisen – sind die dynamischsten von allen.[14] Sie können weite Strecken zurücklegen, durchdringen alles außer dicke Beton- oder Bleiplatten und zerstören Elektrogeräte. Gammastrahlen gehen direkt durch einen Menschen hindurch, ohne langsamer zu werden, wobei sie Zellen durchschlagen wie mikroskopisch kleine Gewehrkugeln.

Wer massiver ionisierender Strahlung ausgesetzt ist, entwickelt ein akutes Strahlensyndrom (ARS), bei dem das Gewebe des menschlichen Körpers auseinandergenommen, umgestaltet und bis ins Kleinste zerstört wird.[15] Zu den Symptomen zählen Übelkeit, Erbrechen, innere Blutungen und Haarausfall. Danach folgen der Zusammenbruch des Immunsystems, die Zerstörung des Knochenmarks, der Zerfall der inneren Organe und schließlich der Tod.

 

Für die Pioniere der Atomkraft, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit »strahlender Materie« befassten, waren die Wirkungen der Strahlung eine faszinierende Kuriosität.[16] Wilhelm Röntgen, der 1895 die Röntgenstrahlen entdeckte, sah während eines Experiments die Knochen seiner Hand an die Wand seines Labors projiziert und war begeistert. Doch als ihm kurz darauf das erste Röntgenbild der Welt gelang, von der linken Hand seiner Frau – samt Ehering – war letztere schockiert. »Ich habe meinen eigenen Tod gesehen!«, sagte sie.[17] Röntgen traf später Vorkehrungen, die ihn vor seiner Entdeckung schützten, aber andere waren weniger umsichtig. 1896 entwickelte Thomas Edison das Fluoroskop, das Röntgenstrahlen auf eine Mattscheibe projizierte und ihm ermöglichte, in feste Gegenstände hineinzusehen.[18] Edison brauchte für seine Experimente einen Assistenten, der seine Hände wiederholt auf eine Apparatur legte, auf der sie Röntgenstrahlen ausgesetzt waren. Als er sich an einer Hand Verbrennungen zuzog, benutzte er einfach die andere. Aber die Verbrennungen wollten nicht heilen. Am Ende mussten Ärzte dem Assistenten den linken Arm und vier Finger seiner rechten Hand amputieren. Als sich in seinem rechten Arm Krebs ausbreitete, wurde ihm auch dieser abgenommen. Die Krankheit griff auf seine Brust über, und im Oktober 1904 starb er schließlich – das erste bekannte Opfer der von Menschen verursachten Strahlung.

Selbst als offenkundig wurde, welchen Schaden der menschliche Körper nehmen konnte, wenn er äußerer Strahlung ausgesetzt war, blieben die schädlichen Auswirkungen einer inneren Exposition weitgehend unerforscht.[19] Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkauften Apotheken patentierte Medikamente, die Radium enthielten, als Gesundheitselixier an Menschen, die glaubten, Radioaktivität schenke ihnen Energie. 1903 hatten Marie und Pierre Curie für die Entdeckung von Polonium und Radium – ein Alphastrahler, ungefähr eine Million Mal radioaktiver als Uran –, das sie in ihrem Pariser Labor aus vielen Tonnen zähflüssigen, teerigen Erzes extrahierten, den Nobelpreis erhalten.[20] Pierre kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, Marie aber forschte weiter an den Eigenschaften radioaktiver Verbindungen, bis sie 1934, wahrscheinlich aufgrund einer strahlungsinduzierten Schädigung des Knochenmarks, schließlich starb. Über achtzig Jahre später sind Curies Laboraufzeichnungen noch immer dermaßen kontaminiert, dass sie in einer Kiste mit Bleieinlage aufbewahrt werden.

Weil Radium mit anderen Elementen vermischt werden kann, die dann in der Dunkelheit leuchten, haben Uhrenhersteller es für Leuchtziffern benutzt.[21] Die heikle Aufgabe, diese zu bestreichen, besorgten junge Frauen. In den Uhrenfabriken von New Jersey, Connecticut und Illinois brachte man den Radium Girls bei, ihre Pinsel mit Hilfe der Zunge möglichst fein anzuspitzen, bevor sie sie in die Töpfe mit Radiumfarbe tauchten. Als bei den ersten Mädchen Kiefer und Knochen faulten und brüchig wurden, waren ihre Arbeitgeber der Meinung, sie seien an Syphilis erkrankt. Ein erfolgreiches Gerichtsverfahren brachte ans Licht, dass die Vorgesetzten der Mädchen sich der Risiken des Radiums durchaus bewusst waren, jedoch alles daran gesetzt hatten, die Wahrheit vor den Angestellten zu verbergen.[22] Es war das erste Mal, dass die Öffentlichkeit erfuhr, wie gefährlich es war, radioaktives Material zu schlucken.

Die biologische Wirkung der Strahlung auf den menschlichen Körper sollte bald in Rem (Roentgen equivalent man) gemessen und von mehreren Faktoren bestimmt werden: Art der Strahlung, Gesamtdauer der Exposition, wieviel davon dringt wo in den Körper ein, wie empfindlich reagieren diese Körperteile auf schädliche Strahlung. Körperregionen, in denen die Zellen sich schnell teilen – das Knochenmark, die Haut, der Verdauungstrakt –, sind gefährdeter als andere Organe wie zum Beispiel das Herz, die Leber und das Gehirn. Einige Radionuklide – Radium und Strontium – strahlen stärker und sind deshalb gefährlicher als etwa Cäsium und Kalium.[23]

Am Beispiel der Überlebenden der Atombombenangriffe auf Hiroshima und drei Tage später auf Nagasaki ließen sich zum ersten Mal die Auswirkungen der akuten Strahlenkrankheit an einer großen Anzahl von Menschen erforschen.[24] Diese wurden schließlich Teil eines Projekts, das sich über eine Zeitspanne von mehr als 70 Jahren erstreckte. So entstand eine universelle Datenbank über die Langzeitwirkungen ionisierender Strahlung auf Menschen. Von den Betroffenen der Explosion in Nagasaki starben 35000 binnen 24 Stunden.[25] Wer an der Strahlenkrankheit litt, verlor innerhalb von ein oder zwei Wochen sämtliche Haare. Die Menschen litten an blutigen Durchfällen, bevor sie schließlich einer Infektion und hohem Fieber erlagen. Weitere 37000 starben innerhalb von drei Monaten. Eine ähnliche Anzahl von Personen überlebte länger, entwickelte aber nach drei Jahren Leukämie. Am Ende der Vierzigerjahre war dies die erste Krebserkrankung, die in direktem Zusammenhang mit Strahlung stand.

In den späten Fünfzigerjahren wurde die Wirkung ionisierender Strahlung auf leblose Objekte und auf Lebewesen von der US Air Force ausführlich erforscht.[26] Im Rahmen eines Regierungsprogramms zum Bau von Flugzeugen mit Atomantrieb baute das Unternehmen Lockheed Aircraft in den Wäldern von North Georgia einen wassergekühlten 10-Megawatt-Atomreaktor in einem abgeschirmten unterirdischen Schacht. Der Reaktor konnte auf Knopfdruck aus der Abschirmung an die Oberfläche geholt werden, so dass alles, was sich innerhalb eines 300-Meter-Radius befand, einer letalen Strahlungsdosis ausgesetzt war. Im Juni 1959 wurde der Radiation Effects Reactor auf volle Leistung gefahren und zum ersten Mal hervorgeholt. Gleich darauf war ringsum alles tot: Käfer fielen aus der Luft, kleine Tiere und die Bakterien, die in und auf ihnen lebten, wurden in einem Phänomen ausgelöscht, das die Techniker als instant taxidermy, »sofortige Taxidermie« bezeichneten. Die Wirkung auf Pflanzen war unterschiedlich: Eichen wurden braun, Fingerhirse dagegen blieb merkwürdigerweise unbeeinträchtigt; am härtesten schienen Kiefern betroffen. Die Veränderungen an Gegenständen, die im Umfeld des Reaktors erfasst wurden, muteten gleichfalls mysteriös an: durchsichtige Coca-Cola-Flaschen wurden braun, Hydraulikflüssigkeit gerann zu Kaugummi, elektronische Ausrüstung funktionierte nicht mehr, und Gummireifen wurden steinhart.