Mohn und Regen - Alexa Heyden - E-Book

Mohn und Regen E-Book

Alexa Heyden

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alexa von Heyden, Journalistin, erfolgreiche Mode- und Lifestyle-Bloggerin und Autorin steht mit Ende dreißig an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Der unerfüllte Kinderwunsch hat sie in eine tiefe Krise gestürzt. Sie sucht Halt bei ihrer eigenen Mutter – die mit 70 Jahren gerade auf Wolke sieben schwebt. Auf einer spontanen gemeinsamen Reise nach Amerika, lernen sich beide neu kennen. Während die pensionierte Ärztin ihre Jugendliebe wiedertrifft, lernt Alexa loszulassen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Zwei starke Frauen, die ihre Rollen als Mutter und Tochter hinterfragen, zwei Menschen im Umbruch, die voneinander lernen, Schicksal als Chance zu verstehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 386

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

Alexa von Heyden, Journalistin, erfolgreiche Mode- und Lifestyle-Bloggerin und Autorin steht mit Ende dreißig an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Der unerfüllte Kinderwunsch hat sie in eine tiefe Krise gestürzt. Sie sucht Halt bei ihrer eigenen Mutter – die mit 70 Jahren gerade auf Wolke sieben schwebt. Auf einer spontanen gemeinsamen Reise nach Amerika, lernen sich beide neu kennen. Während die pensionierte Ärztin ihre Jugendliebe wiedertrifft, lernt Alexa loszulassen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Zwei starke Frauen, die ihre Rollen als Mutter und Tochter hinterfragen, zwei Menschen im Umbruch, die voneinander lernen, Schicksal als Chance zu verstehen.

Über die Autorin

Alexa von Heyden, geb. 1978, ist Journalistin und Autorin. Nach ihrem Studium und 15 Jahren in Berlin und Hamburg lebt sie heute mit ihrer Familie in Brandenburg in einem alten Haus am See. Sie schrieb unter anderem für ELLE, Harper’s Bazaar, Stern und Journelles. Seit 2007 füttert sie ihren persönlichen Blog »Alexa von Heyden. Villa Peng« mit allen Themen, die sie in Sachen Mode, Interior, Beauty und Food inspirieren. 2013 erschien ihr Buch »Hinter dem Blau«, das ein SPIEGEL-Bestseller wurde. Ein Jahr später folgte »Meine Sonne. Mein Mond. Meine Sterne.« Beide Bücher beruhen auf der persönlichen Lebensgeschichte der Autorin, genau wie »Mohn und Regen. Wie die Reise mit meiner Mutter zu mir selbst führte«.

ALEXA VON HEYDEN

MOHN

UND REGEN

Wie die Reise mit meiner Mutter

zu mir selbst führte

MEMOIR

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Zitathinweis:

[>>] John Steinbeck, Früchte des Zorns, 19915, dtv Verlagsgesellschaft

Copyright © 2022 by Diana Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Janine Malz

Covergestaltung: SERIFA, München

Covermotiv: © Juliane Dunkel / juliliPHOTOGRAPHY

www.juliliphotography.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-27571-6V002

www.diana-verlag.de

Was gibt uns Halt in unserem Leben?

Was ist, wenn wir diesen Halt suchen, aber nicht finden?

Was passiert, wenn wir aufhören, diesen Halt zu suchen?

MOHN & REGEN – KAPITEL 1

LAST MINUTE

Als ich die Nachricht bekomme, auf die ich seit zehn Jahren warte, halte ich sie zunächst für einen Scherz.

Ich habe mir eine Wohnung angeschaut, schreibt meine Mutter per WhatsApp. Ein kleines Penthouse mit Aufzug. Ich war gerade da und bin begeistert! Emoji einer winkenden Frau. Rotes Herz. Smiley schickt Küsschen.

Ich stutze, lese die Nachricht noch einmal, weil ich es nicht glauben kann. Penthouse, Aufzug? Hatte sie das wirklich geschrieben? Obwohl sich die Wohnung laut meiner Mutter noch im Bau befindet und erst in ein paar Monaten bezugsfertig sein wird, huscht ein Lächeln über mein Gesicht: Gott sei Dank, denke ich. Endlich würde sie dieses Haus verlassen, in dem sie seit über dreißig Jahren zur Miete lebt. Bislang war sie nicht willens dazu, obwohl ich seit Jahren auf sie einrede. Aber sie hängt daran. Es mein »Elternhaus« zu nennen, wäre übertrieben. Es war das Haus in meiner Heimatstadt Bonn, in das wir nach dem Tod meines Vaters gezogen sind. Fast wäre es auch das Grab meiner Mutter geworden.

Meine Mutter hat die Immobilie damals ungesehen gemietet. Eine Freundin hatte die Anzeige in der Tageszeitung entdeckt. Ein schlichter Dreizeiler aus Abkürzungen, ohne Fotos oder einen Link. Das Internet gab es damals noch nicht. Die Freundin ist auch in Vertretung für meine Mutter zu der Besichtigung gefahren. Sie lief einmal mit der Vermieterin durch alle Zimmer und sagte danach, das Haus sei okay. Sie beschrieb es meiner Mutter als Doppelhaushälfte mit schwarz lackierter Holzschalung, zwei Bädern sowie einem Mülltonnen- und Stromkasten aus Beton vor der Tür. Die Fläche davor würde eines Tages bebaut werden, aber so lange hätten wir Blick auf eine Wiese mit einem Mandelbaum in der Mitte. Es gäbe sogar einen kleinen Garten und eine Garage mit Platz für das Auto und den Rasenmäher. Zur Schule konnten wir mit dem Fahrrad fahren. Auch der Supermarkt und Schreibwarenladen, in dem wir später unsere Schulhefte und Tintenpatronen kauften, waren nicht weit. Meine Mutter unterschrieb den Mietvertrag und brachte ihn zur Post. Wir packten Kartons und zogen um.

So bekamen wir unsere Kindheit zurück und waren nicht mehr nur die Familie, deren Vater sich im Keller umgebracht hatte. Die Welt schien für mich wieder halbwegs in Ordnung. Jeden Tag nach dem Unterricht saß ich auf dem Stromkasten und wartete auf meine Freundin. Wir spielten barfuß auf der Straße Federball, liefen zum Spielplatz oder bauten Buden im Wald. Natürlich wusste jeder, was vorgefallen war, aber wir bekamen die Chance auf einen Neuanfang. Mein Vater war tot, da war eine Lücke, die nichts und niemand füllen konnte. Aber wir lernten mithilfe dieser Nachbarschaft unsere Geschichte zu tragen. Es waren schöne Jahre in diesem Haus.

Trotz des frühen und tragischen Todes meines Vaters kann ich also sagen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte. Meine Mutter hat versucht, uns jeden Wunsch zu erfüllen: Sie bezahlte uns Ballett- und Reitstunden, flog in den Sommerferien mit uns nach Ibiza oder an die Algarve, zeigte uns Städte wie Paris, London oder Florenz, kaufte Konzerttickets und nach den Sommerferien eine neue Levi’s 501. Außerdem hat sie ein Vermögen in die Mathe-Nachhilfe für mich investiert, leider vergeblich, aber das hat sie mir nie vorgeworfen.

Anders als viele meiner Freundinnen bin ich nach dem Abitur trotzdem nicht zu Hause wohnen geblieben, sondern sofort in die Großstadt abgehauen, erst nach Hamburg, später nach Berlin. Meine Mutter hat geweint, als ich ihr aus dem Umzugswagen winkte. Ich habe es nicht böse gemeint, aber ich weiß, dass ich mich an diesem Tag rechtzeitig vor der Verantwortung drücken wollte. Vielleicht ahnte ich damals schon, was mit dem Haus eines Tages auf mich zukommen würde.

Andere Eltern sind zu zweit und können sich gemeinsam überlegen, wie und wo sie alt werden. Sie können entscheiden, wann sie in eine altersgerechte Wohnung oder ein Altersheim umziehen und was dann mit ihren Sachen passieren soll. Oder sie besitzen ein Eigenheim, das sie verkaufen können, um sich mit dem Geld eine schöne Zeit zu machen. Andere wollen bis zum Ende in ihrem Haus bleiben und mit dem Blick auf den Garten, den sie all die Jahre gepflegt haben, sterben. Ich dagegen habe meine Mutter mit all meinem Zeug allein sitzen gelassen. Ich konnte in einer anderen Stadt ein neues Leben anfangen. Sie nicht.

Sie war die Gefangene meiner Schulbücher, Barbies und Klamotten. Für mich war es schön, einen Ort zu haben, an dem sich die Dinge nicht dauernd veränderten, sondern mich daran erinnerten, wer ich war, wenn ich es beim Erwachsenwerden zwischenzeitlich vergaß. Die Auslegware, die unter meinen Fußsohlen sanft nachgab, wenn ich darüberlief, war für mich vertrautes Terrain. Mamis Handtücher waren weich und dufteten, nicht so wie meine, die bretthart waren und nach nassem Hund rochen, sobald ich mir damit einmal das Wasser aus den Haaren wrang.

Lange Zeit erkannte ich nicht, dass das Haus für meine Mutter zu einem Gefängnis geworden war. Es war für sie bequemer geworden, einfach weiter darin zu leben, als sich von all dem ganzen Krempel zu trennen. Es waren im Laufe der Jahre einfach zu viele Schränke, zu viele Kleidersäcke, zu viele Kartons geworden. Wir packten die Vergangenheit in eine Kiste, stellten sie auf den Dachboden zu dem anderen Gerümpel und schlossen die Tür. Meine Mutter sagte immer, dass in einem dieser Kartons all ihre Erinnerungen lägen, denn sie führt seit ihrer Jugend Tagebuch. Und ihre Doktorarbeit, die sie nach dem Tod meines Vaters nicht zu Ende hatte schreiben können, weil sie als Alleinerziehende keine Zeit mehr dafür hatte. Glücklicherweise braucht man nicht unbedingt eine Promotion, um als Ärztin zu praktizieren, dennoch schien ihr dieses Manko immer noch nachzuhängen. Bevor ich anfange auszumisten und wegzuschmeißen, muss ich erst meine Doktorarbeit finden, sagte sie oft. Manches Mal durchwühlte ich das Zeug auf der Suche nach einem alten Sweatshirt oder der Weihnachtsdekoration, aber die Doktorarbeit fand ich dabei nie. Ich räumte die Kartons auch nie auf oder sortierte etwas aus. Erst wenn ein Karton schimmelte, flog er auf den Müll.

Meine Mutter hat ihren eigenen Weg gefunden, mit dem Berg aus müffelnden Erinnerungen umzugehen. Bestimmte Räume betritt sie nur, wenn es unbedingt nötig ist. Auf dem Dachboden oder im Hobbykeller, in dem wir an Regentagen früher immer gespielt haben, war sie seit Monaten nicht. Wenn ich diesen Raum mit heutigen Kinderzimmern vergleiche, denke ich, dass wir – meine Schwester, unsere Freundinnen und ich – ziemlich anspruchslos gewesen sind. Der Teppich war braun, die Wände waren aus nacktem Stein, und als einzige Lichtquelle diente eine vergitterte Lampe an der Wand. Einmal hat es so stark geregnet, dass eine Kröte im Keller saß. Das Trostlose war für uns Normalität. Wir haben diese Räume mit unserer Fantasie gefüllt.

Ich wohne schon lange nicht mehr zu Hause. Meine Besuche sind selten geworden. Aber egal, was ich erzähle, ich lande immer wieder bei meiner Mutter. Sie ist nach wie vor die wichtigste Bezugsperson in meinem Leben. Wahrscheinlich hat sie sich das anders vorgestellt. Mit achtzehn sind die Kinder doch aus dem Gröbsten raus, so die allgemeine Annahme. Ich aber löse mich auch als Erwachsene nicht, sondern fange erst recht an zu kleben. Ich kenne Leute, die telefonieren einmal im Monat mit ihren Eltern. Die wissen nichts voneinander. Nicht, was die kleinen Sorgen sind, nicht, wo die großen Probleme liegen, nur, dass das Wetter wechselhaft, der Job okay und der Urlaub auf Mallorca schön war. Meine Mutter ist nicht nur mein Fels in der Brandung. Sie ist die Mülltonne, in die ich alles reinkippe, was mich belastet. Sie ist der Bankautomat, der mich aus den Miesen holt. Meine Mutter ist meine Sehnsucht, die ich einmal am Tag stillen muss, um ihr am Telefon zu sagen, dass ich sie lieb habe und vermisse. Oder ist es schlechtes Gewissen? Ich habe Angst, dass sie überraschend stirbt und ich es ihr an diesem Tag nicht gesagt habe. Doch ich fahre nicht zu ihr. Ich muss ja arbeiten.

Alles beginnt mit ihr. Achtunddreißig Jahre später existiert zwischen uns noch immer dieses Band, nicht so lebendig und nährend wie eine Nabelschnur, aber lang und elastisch wie ein Spinnfaden, der an mir zieht, wenn ich zu weit oder zu lange weg bin. Ich taste danach, wenn ich mich unsicher fühle, so als wäre eine Schnur um meinen Bauch gebunden, an der ich durch ein Labyrinth laufe. Dieses Labyrinth, in dem ich herumirre, das ist mein Leben, seit ich von zu Hause ausgezogen bin. Ich suche, verlaufe mich, bewege mich im Kreis oder lande in einer Sackgasse.

Ich bin fast vierzig, und noch immer sehe ich keinen Sinn in dem, was ich tue. Ich hatte gehofft, ihn als erwachsene Frau zu erkennen, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich mir eigentlich vom Leben wünsche, nachdem ich gerade erst mal wieder lernen musste, »ich« anstatt dauernd »wir« zu sagen. Da ist nur eine Sache, von der ich mir sicher bin, dass ich sie mir wünsche: ein Kind. Das klingt erst einmal seltsam. Warum will eine Frau, die ihrer Meinung nach gefühlt nichts auf die Reihe bekommt, ein Kind? Ein Kind sollte man doch erst dann in die Welt setzen, wenn alles dafür bereit ist. Aber ich habe kein fertiges Nest, und wenn meine Freundin Gitti über den Klimawandel spricht, dann denke ich, dass mein Wunsch egoistisch ist, weil mein Kind die Erderwärmung miterleben wird. Trotzdem ist es wie ein eingebauter Schalter in meinem Kopf, der angeknipst worden ist. Mein Vater war achtunddreißig, als er gestorben ist. Für mich ist das eine magische Grenze.

Seit einem Jahr bin ich von meinem Mann geschieden. Jetzt habe ich einen neuen Freund, ohne dass ich dafür jemals eine Dating-App anschmeißen musste. Anfangs waren wir nur Kumpels. Sein Café lag neben meinem Büro in Berlin. An einem Sommerabend ist mehr daraus geworden, wobei wir uns bis heute nicht erklären können, wann genau es Boom gemacht hat. Ich habe jeden Morgen meinen Kaffee bei ihm geholt. Er nahm meine Pakete an, wenn ich nicht da war, und schippte im Winter den Schnee vor der Tür weg, weil ich keine Schneeschaufel besaß. An einem Sommerabend saßen wir auf der Bank vor meinem Büro, hörten Musik und tranken Wein. Später habe ich ihn auf dem Weg in eine Bar in einen dunklen Hauseingang gezogen und geküsst. Es war nachts noch so warm, dass alle Menschen in T-Shirts herumliefen. Der Verkehr kam zur Ruhe, und aus dem Fast-Food-Restaurant an der Ecke strömte der Geruch von Frittenfett. Floyd hatte Hunger, sein Kuss schmeckte nach Pfennigen. Für mich war es nicht nur ein Kuss. Für mich war es eine Wiedergeburt als Frau. Ich wollte mich wieder jung fühlen und die Leichtigkeit einer verliebten Sommernacht spüren, nachdem ich so lange niemanden geküsst hatte. Er hat in dieser Nacht bei mir geschlafen und ist nie wieder gegangen. Es war für uns beide keine Liebe auf den ersten Blick, aber er ist einfühlsam und hilft mir mit so vielem, nicht nur mit Schneeschippen. Ich nenne ihn Floyd, was er nicht mag, aber ich find’s lustig. Wir schlafen ohne Verhütung miteinander und sind uns einig: Wenn es passiert, dann passiert es. Früher hätte ich das nie einfach so gesagt.

Ich erinnere mich, wie ich zu Studienzeiten mal allein im Badezimmer einen Schwangerschaftstest gemacht habe. Damals nahm ich zwar die Pille, aber mir war dauernd schwindelig, ohne dass es eine Erklärung dafür gab. Ich pinkelte in einen Plastikbecher, steckte den Teststreifen in den Urin und fing an zu heulen. Ich war so davon überzeugt, schwanger zu sein, dass ich das Wort »negativ« als »positiv« deutete. Letztlich hatte ich mir einen Halswirbel eingeklemmt, der auf einen Nerv drückte und in meinem Kopf den Schwindel auslöste. Absurd, dass ich mir jetzt etwas wünsche, was ich zuvor jahrelang mit Medikamenten verhindert habe.

Die Tochter einer alleinerziehenden Mutter zu sein, prägt mein ganzes Leben. Wenn die Rede davon ist, eine neue Ära weiblicher Macht sei angebrochen und wir stünden am Übergang von einem patriarchalen zu einem matriarchalen Zeitalter, dann denke ich: Entschuldigung, was genau ist daran neu? So lebt meine Mutter schon ihr ganzes Leben. Das Patriarchat hat in den letzten drei Generationen unserer Familie nicht lange überlebt. Die Frauen haben immer den Laden geschmissen. Die Männer spielten nur Nebenrollen, wenn auch unfreiwillig: Mein Großvater ist im Krieg gefallen, mein Vater hat sich das Leben genommen, und ich bin geschieden. Patriarchale Strukturen sind mir fremd. Ich bin so erzogen worden, dass ich ohne Häuptling zurechtkomme. Aber niemals ohne Mutterschiff.

Meine Mutter und ich telefonieren jeden Tag, und wenn wir uns nicht erreichen können, dauert es eine halbe Stunde, bis eine von uns beiden in Panik gerät und den Rest der Familie abtelefoniert. Das Merkwürdige ist: Wenn wir uns wiedersehen, dauert es fünf Minuten, bis wir uns anbrüllen. Man kann wirklich die Uhr danach stellen. Im Nachhinein kann ich mir immer gar nicht erklären, was zu dem Kurzschluss geführt hat. Ich glaube, es liegt daran, dass meine Mutter der einzige Mensch auf der Welt ist, bei dem ich mir keine Sorgen machen muss, dass sie mich nicht mehr liebt, wenn ich mein wahres Gesicht zeige. Keiner versteht mich so, wie sie es tut. Man könnte auch sagen: Keiner hält mich so aus wie sie.

Sie geht mir oft auf den Keks, wenn sie zum hundertsten Mal Geschichten von früher erzählt, meiner Meinung nach zu viel Wein und zu wenig Wasser trinkt oder vor dem Fernseher einschläft und schnarcht, während ich meine Serie schauen möchte. Außerdem motzt sie dauernd. Je älter sie wird, desto mehr steigert sie sich in Dinge rein, zum Beispiel, dass meine Cousine nicht auf ihre Glückwunschkarte zur Geburt geantwortet hat oder dass die Chinesen durch jahrelange Industriespionage und Preisdumping die deutsche Photovoltaikbranche zerstört haben. Das stresst mich, und ich habe keinen Bock auf Stress, vor allem dann, wenn meine Mutter knallrot anläuft und ich befürchten muss, dass sie gleich einen Schlaganfall bekommt. Dann überlege ich jedes Mal, noch während sie schimpft, welche Nummer ich im Notfall anrufen müsste: 110 oder 112? Letztlich habe ich das Internet befragt: »Was tun bei Schlaganfall? Erste-Hilfe-Maßnahmen im Ernstfall« und Folgendes gefunden: Notruf 112 wählen. Betroffene mit erhöhtem Oberkörper lagern. Bei Bedarf abschirmen. Die gelähmten Körperteile polstern. Bei Bewusstlosigkeit und fehlender normaler Atmung Herz-Lungen-Wiederbelebung durchführen.

Eine Wiederbelebung habe ich noch nie gemacht, also würde meine Mutter trotz meiner Anwesenheit vermutlich sterben. Deshalb verfolge ich neuerdings die Taktik, sie dazu zu kriegen, sich nicht so aufzuregen. Vergebens. Es endet immer im Streit. Irgendwann ist mir aufgegangen, dass es einfach Menschen gibt, die in ihren Beziehungen immer Reibung suchen, weil sie es nicht anders kennen.

Wenn meine Mutter zum Beispiel Heidi Klum im Fernsehen sieht, fängt sie an zu schimpfen. Nicht etwa wegen ihrer hohen Stimme oder wegen der TV-Shows, die das Model moderiert. Sondern, weil sie ihren Wohnort falsch ausspricht.

Heidi Klum sagt: »Ich bin endlich wieder in Los Äinscheles.« Das machen viele Deutsche, selbst Nachrichtensprecher und Moderatoren. Hollywood-Interviews kommentiert meine Mutter deshalb immer mit: »Das heißt Los ÄNSCHELES, nicht ÄINSCHELES, ihr Blödmänner. Der Name kommt von El Pueblo de la Reina de Los Ángeles. Los An-cheeee-les – die Engel!« Bei der vorletzten Silbe lässt meine Mutter das »ch« in ihrem Rachen kratzen wie Edelstahlpads in einem Spülbecken.

Dagegen kann ich nichts einwenden: Meine Mutter weiß wirklich, wie man den Namen korrekt ausspricht. Sie hat früher in Kalifornien gelebt. Vermutlich nicht in der gleichen noblen Gegend wie Heidi Klum, aber in der Nähe. Ich habe nichts gegen Heidi Klum, eigentlich finde ich sie sogar toll, weil sie als Deutsche international bekannt und Mutter von vier Kindern ist. Da fragt man sich doch: große Familie, Figur wie eine Tänzerin und krass erfolgreich – wie macht sie das? Ich habe weder die Figur einer Tänzerin, noch werde ich vier Kinder in meinem Leben bekommen. So viel steht fest. Diese Endgültigkeit ist hart.

Es war nicht so, dass Floyd und ich eines Abends romantisch im Schein von Vanille-Teelichtern beschlossen haben, gemeinsam Eltern zu werden. Wir lernten uns kennen und kamen uns näher. Als er seine Klamotten in meinen Schrank räumte und praktisch bei mir einzog, vergaßen wir immer häufiger die Kondome. Die Pille wollte ich nicht wieder nehmen, denn wer weiß, ob die Beziehung hält. Ich erinnere mich noch an jene Nacht, in der Floyd nach dem Sex sagte: »Ich glaube, ich habe gerade ein Kind gezeugt.« Mein Körper wurde von Angst geflutet, aber es war ein anderes Gefühl als die Panik damals im Badezimmer. Die Angst war wie eine alte Bekannte, die unmittelbar vor mir steht, mir aber nichts mehr zu sagen hat. Sie schaute mich kurz an, drehte sich um und ging. Ich sah, wie ihre Umrisse verschwanden, und wusste, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde. Ich blieb im Bett liegen und zog die Beine an. Ich habe mal gelesen, dass man als Frau nach dem Sex einen Augenblick im Bett liegen bleiben und nicht gleich aufs Klo rennen sollte, damit die Spermien ihren Weg zur Eizelle finden. Noch besser: eine Kerze machen. Also hob ich meinen Hintern in die Luft und streckte die Zehenspitzen zur Decke.

»Sie können auf natürlichem Wege kein Kind bekommen«, sagt die Ärztin zu mir, als ich auf Anraten meiner Mutter zusammen mit Floyd zu einem Check-up gehe.

Meine Mutter hatte mich schon ein paar Tage zuvor am Telefon gefragt, wie wir eigentlich verhüteten, und als ich »Gar nicht« antwortete, blieb es am anderen Ende der Leitung still. Wenn sie in die Rolle der Ärztin schlüpft, trägt meine Mutter normalerweise sachlich und präzise die Fakten vor. Aber mir, ihrer Tochter, gegenüber blieb sie in diesem Moment zurückhaltend. Sie ahnte die Diagnose, noch bevor unsere Testergebnisse vorlagen.

Der Wartebereich der Kinderwunschklinik sieht aus wie die Lobby eines Fünfsternehotels: In der Mitte des Raumes steht ein großer Tisch mit einem Blumenarrangement aus pinken Orchideen und purpurroten Callas, darunter liegen sternförmig ausgebreitet internationale Mode- und Klatschzeitschriften, sowohl deutsch- als auch englischsprachig. Auf einem Sideboard steht ein Tablett mit verschiedenen Teesorten: Grüner Tee, Earl Grey, Kamillentee. Es gibt Kaffee in einer großen silbernen Kanne, außerdem eine Karaffe Wasser und eine Schale mit Äpfeln, an denen man sich bedienen kann. Floyd nimmt einen Kaffee mit Milch und einen Apfel, so als wäre dies hier nicht eine Kinderwunschklinik, sondern eine Flughafenlounge. Ich glaube nicht, dass er realisiert, wo wir uns hier befinden. Die Sitzmöglichkeiten sind versetzt angeordnet, sodass die Privatsphäre der Paare geschützt bleibt. In einer Ecke steht Spielzeug für Kinder: Stofftiere, Bücher und Bauklötze. Wer bitte bringt seine Kinder mit in eine Kinderwunschklinik?, frage ich mich. Dabei sind sie der beste Beweis für den Erfolg der Behandlung. Aber mir entgeht nicht, wie die anderen Frauen im Wartezimmer mit den Blicken mich und meinen Bauch mustern, und ich ahne, auf welchen Weg ich mich hier begebe.

Der Satz der Ärztin trifft mich wie ein Faustschlag ins Gesicht, obwohl mich noch nie jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat, aber so stelle ich es mir vor: ein stumpfer, plötzlicher Schmerz und eine Wucht, die einem den Atem raubt. Ich habe mal eine Backpfeife von meiner Mutter kassiert, als ich mir aus Versehen die Augenbrauen abrasiert habe. Damals wollte ich herausfinden, was passiert, wenn ich mit einer Rasierklinge über die Haare fahre. Meine Mutter schlug mich, um mich für meine Blödheit zu bestrafen, denn ich hatte mich selbst entstellt. Ich fing sofort an zu heulen.

In diesem Moment im Sprechzimmer mahlen meine Zähne gegen die Tränen an. Mit dieser Diagnose habe ich nicht gerechnet. Ich schaue die Ärztin kopfschüttelnd an, öffne den Mund, aber es kommt nicht mehr als ein Stöhnen heraus. Sie muss sich irren. Mein Sprachzentrum ist so gelähmt wie ich. Dann beginnt sich der Raum zu drehen. Bitte lass das eine Verwechslung sein. Bestimmt haben sie nur die Testergebnisse vertauscht.

Seit dem Beginn meiner Regelblutung dachte ich, dass ich jederzeit schwanger werden kann. Deshalb habe ich zwei Jahrzehnte lang die Pille geschluckt. Ich machte mein Abitur, ging studieren und fing danach sofort an zu arbeiten. Ich nahm weiter die Pille, saß bis spätabends im Büro, verhandelte zaghaft mein Gehalt und erlaubte mir niemals die Frage nach meinem Kinderwunsch, weil ich dachte, dass ich erst einmal finanziell abgesichert sein müsste, bevor ich Mutter werden könnte. Hätte man nicht schon früher mal prüfen können, ob ich überhaupt schwanger werden kann? Klar, die Pille hat mir eine reine Haut beschert. Aber wenn ich niemals eine Empfängnisverhütung gebraucht hätte, dann hätte ich das gerne gewusst. Floyd neben mir ergreift meine Hand, doch ich nehme ihn kaum wahr.

»Sie sind leider nicht mehr die Jüngste«, sagt die Ärztin und zieht eine Schnute. Ihre Worte verunsichern mich, weil mein Alter bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ein Hindernis für irgendwas gewesen war.

»Aber ich fühle mich noch gar nicht so alt.«

»Die Natur ist da anderer Meinung.«

»Ich verstehe das nicht.«

»Sie haben die Wahrheit verdient: Auf natürliche Weise werden Sie nicht schwanger.«

Diesen Satz haut sie gnadenlos raus, wie ein Tennisspieler seinen besten Aufschlag. Vermutlich hat sie diesen Satz einstudiert, weil darauf ihr ganzes Geschäftsmodell beruht. Ihr macht das nichts aus, für sie ist es so gesehen ja eine positive Diagnose, denn sie kann mich als neue Patientin aufnehmen.

»Ich bin gerade mal Ende dreißig«, antworte ich. Meine Stimme leiert. Ich blicke verlegen auf ihr goldenes Armband. Ich habe diese Praxis nicht betreten, damit sie mich runtermacht.

»Leider schon Ende dreißig. Damit sind Sie auf der falschen Seite der fünfunddreißig«, sagt die Medizinerin und sieht mir dabei zu, wie ich einen dicken Kloß im Hals hinunterschlucke. Ich schließe die Augen und atme aus.

Floyd drückt fester meine Hand. Seine Handflächen schwitzen.

»Die meisten Frauen sind falsch informiert. Sie glauben, dass es erst ab vierzig schwieriger wird, schwanger zu werden. Dabei belegen wissenschaftliche Studien, dass die Fruchtbarkeit einer Frau schon ab dreißig sinkt.«

Ich atme aus und schaue aus dem Fenster. Ob Floyd es bereut, mit mir zusammen zu sein? Er wünscht sich ein Kind, und jetzt sitzen wir hier. Mein Magen verkrampft sich.

Obwohl wir beide immer blasser werden, redet die Ärztin unbeeindruckt weiter: »Vielen Menschen fällt eine Einschränkung ihrer Fruchtbarkeit gar nicht auf, solange sie keinen Kinderwunsch haben und immer verhüten. Dabei liegt die monatliche Fruchtbarkeitsrate bei Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren pro Zyklus ohnehin nur bei fünfundzwanzig Prozent. Bei Frauen über fünfunddreißig sind es weniger als zehn Prozent. Mit der Qualität der Eizellen geht es dann schnell bergab. Ganz zu schweigen von der Gefahr einer Fehl- oder Frühgeburt und Missbildung des Kindes.«

Sie schreibt die Zahlen, die sie gerade genannt hat, vor uns auf ein kariertes Blatt Papier. Die fünfunddreißig und die zehn Prozent unterstreicht sie zweimal mit dem blauen Kuli und malt daneben einen Pfeil, der nach unten zeigt.

Die Nachricht, die bei mir ankommt: Ich kann nicht schwanger werden, und selbst wenn ich es werde, könnte es sein, dass ich aufgrund meines fortgeschrittenen Alters ein geistig oder körperlich behindertes Kind bekomme. Wenn ich das Baby nicht schon vor der Geburt verliere.

»Die Frauen warten heute zu lange«, sagt die Expertin. »Sie machen ihre Ausbildung oder ihr Studium zu Ende und möchten erst einmal beruflich durchstarten, sich selbst verwirklichen. Der Wunsch nach einem Baby wird frühestens ab Mitte dreißig relevant, wenn bis dahin überhaupt ein Partner mit Papi- oder Mami-Potenzial aufgetaucht ist. Die fruchtbarste Zeit ist dann allerdings vorbei.« Sie klingt jetzt versöhnlicher.

Mich packt die Wut: »Das ist doch normal! Man kann sich als junge Frau doch nicht einfach schwängern lassen, ohne dabei die beruflichen Konsequenzen zu bedenken. Das funktioniert nicht. Da wird man von den Kolleginnen schief angeguckt, und beim Chef ist man abgeschrieben als ›die Mutti mit Klotz am Bein‹. Dann tappt man in die Teilzeitfalle und bekommt später eine mickrige Rente. Und das Homeoffice spart höchstens die Anfahrt!«

Die Ärztin nickt. Sie hat das alles schon mal gehört. »Trotzdem sind Sie jetzt mit einem späten Kinderwunsch hier.«

»Mir war nicht klar, dass es so spät ist. Es hat sich vorher einfach nicht ergeben.«

Für eine Großstadt ist mein Alter beim ersten Kind nicht ungewöhnlich.

Die Ärztin sieht das anders. »Falls Sie Mutter werden, dann last minute«, sagt sie.

Wir schweigen einen Moment lang. Mein Hals ist trocken.

All die Jahre so viel Arbeit und zum Dank Last-minute-Mutter, denke ich.

Die Ärztin redet weiter. Man merkt, wie sehr sie im Gegensatz zu mir mit der Faktenlage vertraut ist. »Das Problem liegt nicht nur bei den Frauen. Auch die Spermienqualität der Männer nimmt rapide ab. Fünfundachtzig Prozent der Spermien sind nicht in der Lage, eine Eizelle zu befruchten. Das geht nicht nur Männern in Deutschland so, sondern auch in der Schweiz, in Nordamerika, Australien oder Neuseeland.«

»Und woran liegt das?«

»Würde ich die genaue Ursache kennen, bekäme ich vermutlich einen Nobelpreis. Das ist kein Scherz. In der Medizin geht man inzwischen unter anderem davon aus, dass es an den Weichmachern liegt, weil sie eine hormonähnliche Wirkung haben. Die sind praktisch überall drin, in PVC-Böden, Kunstleder, Wasserflaschen, Plastikspielzeug. Dasselbe gilt auch für Pestizide, Desinfektions- oder Sonnenschutzmittel.«

»Benutzen wir so etwas auch?«, fragt Floyd leise.

Ich zucke mit den Schultern, denn ich weiß nichts von all diesen Dingen und lege jetzt seine Hand in meine, um ihm zu signalisieren: Du hast nichts falsch gemacht. Ich denke an die weißen Kunstledersofas im Wartebereich und aus wie vielen Plastikwasserflaschen ich in meinem Leben schon getrunken habe. Und dann beginne ich zu begreifen, dass Fruchtbarkeit kein Recht, sondern ein Privileg ist.

»Ach so, und: Spermien mögen übrigens keine Wärme. Die optimale Betriebstemperatur der Hoden liegt zwei Grad unter der Körperkerntemperatur. Eine heiße Sauna, der Laptop auf dem Schoß oder die Sitzheizung im Auto sind schlecht für Ihre kleinen Jungs.«

Floyd sieht aus, als würde er sich am liebsten ein Kühlpad in den Schritt stopfen.

Asthenozoospermie bedeutet zu wenige bewegliche Spermien im Ejakulat, Teratozoospermie zu viele deformierte und Oligozoospermie zu wenige Spermien, lese ich in einer Broschüre, die sie vor uns aufklappt. Ich kann diese Begriffe nicht mal aussprechen.

»Das ist ein echtes Problem«, sagt sie und veranschaulicht das Ganze mit einem Vergleich: Ein Spermium ist zehnmal kleiner als der Punkt am Ende eines Satzes. »Es gibt sogar Patienten, die nur mit Platzpatronen schießen und denen wir die Samenzellen aus dem Hodengewebe entnehmen müssen«, erklärt die Ärztin.

Floyd schlägt die Beine übereinander und hüstelt. »Ich finde, diese Zahlen sollte man den Kindern im Biologieunterricht in der Schule zeigen«, sagt er.

»Das klingt ja so, als sollten wir uns gar nicht mehr fortpflanzen«, stelle ich fest.

»Interessant, dass Sie das sagen. Tatsächlich geht es den Menschen in der ersten Welt dank ausreichend Nahrung und Medizin so gut, dass sie eine hohe Lebenserwartung haben. Das führt zum Zelltod der Spermien. Die Evolution reduziert den Nachwuchs, weil es genug gibt.«

»Also heißt es jetzt: Wir gegen die Evolution?«, frage ich.

Es herrscht Stille im Raum, nur die Klimaanlage hinten in der Ecke röchelt.

In meinem Kopf echot es: Fehlgeburt oder Missbildung, Fehlgeburt oder Missbildung, Fehlgeburt oder Missbildung. Will ich das Leben eines Kindes unbedingt erzwingen? Schlaflose Nächte haben, in einer chaotischen Wohnung leben und morgens auf dem nassen Sandkastenrand hocken, während andere Frauen in ihren gemütlichen Boxspringbetten einen Kaffee mit aufgeschäumter Milch trinken? Will ich diese Behandlung wirklich, oder sage ich jetzt: Okay, danke für die Information – ich mache mir ohne Kind ein schönes Leben! Ciao!

Floyd ist noch blasser geworden. Er leckt sich über die trockenen Lippen und ringt nach Worten.

»Ich möchte Ihnen die möglichen Komplikationen nicht vorenthalten, damit Sie abwägen können, ob eine Behandlung für Sie infrage kommt. Fragen Sie sich: Wie viel Energie habe ich? Wie alt wäre ich bei meinem ersten Kind? Wie wichtig ist mir meine Berufstätigkeit? Sie sollten nicht unkritisch sein. Auch was Ihre Erwartungshaltung angeht. Niemand kann Ihnen den Erfolg der Behandlung garantieren. Es gibt Paare, die ein Haus mit drei Kinderzimmern kaufen, die alle leer bleiben. Manche Reproduktionsmediziner fragen sich ohnehin, ob eine Kinderwunschbehandlung bei Frauen ab vierzig überhaupt sinnvoll ist«, sagt die Ärztin. »Eigentlich sollten Sie sich vielmehr mit dem Thema Wechseljahre beschäftigen.«

»Bitte was?«

Ich sehe mich statt mit Babybauch mit Hitzewallungen, trockener Haut und schütterem Haar vor dem Spiegel stehen.

»Wie stehen unsere Chancen?«, frage ich wie ferngesteuert.

Die Ärztin wertet das als ein Zeichen fürs Weitermachen. »Bitte machen Sie sich untenrum frei und kommen Sie zu mir auf den Untersuchungsstuhl«, sagt sie.

Ich löse mich aus Floyds schwitzigem Handgriff und gehe mit weichen Knien in die Umkleidekabine. Ich ziehe meine Schuhe und Jeans aus, behalte die Socken an. Dann trete ich halb nackt wieder hinaus, ziehe mein T-Shirt etwas länger über den Po, setze mich auf den Stuhl und lege meine Beine in die schalenförmigen Halterungen, während Floyd vor dem Schreibtisch sitzen bleibt und in seinen Schoß starrt. Die Frauenärztin zieht sich Einmalhandschuhe an, spritzt Gleitgel auf den Ultraschallkopf und führt die Sonde, die so lang wie ein Unterarm ist, in mich ein. Ich werde mich nie an diesen Moment gewöhnen. Erst neulich habe ich dank eines Instagramposts verstanden, was der Unterschied zwischen Vulva und Vagina ist, echt peinlich für eine achtunddreißigjährige Frau. Die Bezeichnung Scheide, von der ich bislang dachte, sie sei korrekt, ist dagegen frauenfeindlich. Sie bezieht sich auf die Schwertscheide, in die man ein Schwert steckt. Das weibliche Geschlechtsorgan wird damit auf ein Loch reduziert.

Die Ärztin durchleuchtet meine Vagina, die Gebärmutter und Eierstöcke auf ihren Zustand. Man könnte auch sagen: auf das Verfallsdatum. Auf einem großen Bildschirm an der Wand sehe ich mein Innerstes in Schwarz-Weiß und fühle mich wertlos. Wenn man schwanger ist, dann sieht man auf dem Ultraschallbild einen Punkt, die Fruchthöhle in der Gebärmutter, erklärt sie mir. Später kann man den Embryo erkennen, der in der fünften Schwangerschaftswoche die Größe eines Sonnenblumenkerns und zum Ende der Schwangerschaft, in der vierzigsten Woche, die Größe einer Wassermelone hat.

»Die Eierstöcke sehen gut aus. Für Ihre Gebärmutterschleimhaut würden andere Frauen töten. Aber Sie haben zwei große Myome in der Gebärmutter. Hier und hier«, sagt die Ärztin. »Die müssen vorher operativ entfernt werden, sonst können wir keinen Embryo einpflanzen.«

Floyd dreht sich zu uns um und macht große Augen. Unsere Blicke treffen sich und mir wird klar, dass er in diesem Moment am liebsten mit mir diese Praxis verlassen und nie wieder das Wort Baby in den Mund nehmen würde.

Bei mir löst die Diagnose »unfruchtbar« einen Selbsthass aus, der in einen eisernen Ehrgeiz mündet, eine Schwangerschaft zu erreichen, so als sei sie das Idealgewicht zum Start der Bikinisaison. Auf Instagram werde ich später viele Gleichgesinnte finden – die #KiWu-Kriegerinnen, #KiWu-Mädels oder #ivfwarriors. Diese Frauen veröffentlichen ihr Alter und das ihres Partners oder ihrer Partnerin, ihre Diagnosen, wie viele Versuche sie hinter sich oder wie viele Fehlgeburten sie schon erlitten haben. Man kann bei ihnen den kompletten Verlauf einer In-vitro-Fertilisation (IVF) oder Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wie ein Online-Tagebuch nachverfolgen. Bei einer Neunundzwanzigjährigen steht Leider nicht geklappt und mehrere Daten, die mit einem Sternchen gekennzeichnet sind. Eine andere postet glücklich zusammen mit ihrer Frau Fotos mit der Bildunterschrift: Wir sind offiziell schwanger. Manche haben drei Versuche hinter sich, andere bereits sieben oder sogar zwölf. Sie wünschen sich gegenseitig #babydust oder verraten Insidertipps. Als Vorbereitung für den Embryo-Transfer soll man zum Beispiel jeden Tag eine halbe Bio-Ananas essen, weil das darin enthaltene Enzym Bromelain das Blut verdünnt, was wiederum gut für die Einnistung sein soll.

»Ich melde Sie bei meinem Kollegen zur Operation an, einverstanden?«, fragt die Ärztin und zieht die Sonde aus meinem Körper.

Ich verfalle in eine Mischung aus Selbstmitleid und Zorn auf alle anderen Frauen, die auf natürliche Art ein Kind bekommen. Ich nicke und fühle wieder den Drang, mich für meine Lage rechtfertigen zu müssen: »Ich habe nicht gewartet, sondern gearbeitet. Ich konnte mir das nicht aussuchen, sondern musste meine Ausbildung zu Ende machen und den Erwartungen an mich gerecht werden«, stottere ich, während ich immer noch mit gespreizten Beinen auf dem Untersuchungsstuhl liege.

Die Ärztin reicht mir ein Stück Küchenrolle, mit dem ich das Gleitgel abwischen kann.

»Ich wollte die anderen nicht enttäuschen oder verletzen. Außerdem wollte ich eine gewisse Sicherheit im Leben.« Meine Zähne mahlen weiter, damit keine Tränen kommen.

Dabei dachte ich nicht an das perfekte Alter, sondern an den perfekten Kontostand. Mit Mitte zwanzig hatte ich noch nicht viel Geld zur Seite gelegt. Zudem hätte ich nicht viel Elterngeld bekommen, weil ich noch nicht genug verdiente.

»Sicher ist eines: Unsere klinische Erfahrung mit späten Erstgebärenden legt nahe, dass bei diesen Frauen konflikthaft verlaufende Reifungsprozesse zur Mütterlichkeit lange abgewehrt worden sind«, erklärt mir die Ärztin und zitiert aus einem Fachblatt.

Floyd hat sich zu uns umgedreht und schaut mich an, als hätte ich soeben meine wahre Existenz als Marsmännchen offenbart.

Mit anderen Worten, ich bin selbst schuld, weil ich nicht nur zu lange gewartet habe, sondern offensichtlich auch noch ein psychisches Problem mit mir herumschleppe, von dem ich nichts weiß.

»Späten Erstgebärenden?«, frage ich. Den Begriff habe ich noch nie gehört. Ich finde ihn noch frauenfeindlicher als Scheide. Das Gefühl, trotz ständiger Selbstoptimierung in einem so wichtigen Punkt zu viel Zeit vergeudet zu haben, übermannt mich. Ich schluchze auf. »Das ist so ungerecht. Alte Väter stehen viel weniger in der Kritik als Frauen, obwohl es ja viele gibt, die noch jenseits der fünfzig Kinder bekommen. Das ist dann meist aber auch schon ihre dritte Ehe.«

Die Ärztin streichelt mein Fußgelenk. Die Berührung tut gut. Ich habe das Gefühl, dass sie sich um mich kümmern will. Dann steht sie vom Hocker auf, geht zurück zu Floyd und ihrem Schreibtisch und beginnt einen Behandlungsplan aufzuschreiben, der in Zukunft mein Leben bestimmen wird.

Als wir die Praxis verlassen, wartet vor dem Aufzug ein junges Paar. Die Anspannung zwischen ihnen liegt wie elektrische Ladung in der Luft. Die Frau trägt einen schwarzen Mantel mit Gürtel, graue Leggings und weiße Sneaker, die zu ihrer Tasche passen. Sie hat matte schwarze Haare, die sie mit ihren langen Fingernägeln durchkämmt. Der Mann sieht so jung aus, als würde er noch zur Schule gehen. Es ist die Art, wie er seine Kappe trägt. Eine Basecap mit breitem flachem Schirm, die er auf dem Kopf balanciert, statt sie richtig aufzusetzen. Er hat seine Hände tief in den Taschen seiner Jogginghose vergraben und starrt zu Boden. Wir stellen uns mit etwas Abstand hinter ihnen an, hören aber deutlich, wie sie ihm zuzischt: »Hätte ich das gewusst, hätte ich dich nicht geheiratet.« Der Mann macht ein bellendes Geräusch, als wenn er gleichzeitig husten und sich übergeben müsste. Dann zieht er die zähe Flüssigkeit in seiner Nase bis in den Rachen.

Viele trifft die Diagnose, unfruchtbar zu sein, so hart wie die Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds oder die Diagnose einer unheilbaren Krankheit, sagte die Ärztin noch, bevor wir das Sprechzimmer verließen.

Wie soll man als Paar drei leere Kinderzimmer verkraften?, frage ich mich vor dem Aufzug.

»Wir nehmen den nächsten«, sagt Floyd, als die beiden vor uns in die Kabine einsteigen und wir an den schwarzen Schlieren auf ihren Wangen sehen können, dass die Frau geweint hat. Ich schätze sie zehn Jahre jünger als mich. Ihre Wangen sind prall, ebenso wie ihre Lippen, und sie hat einen großen runden Busen, den sie mit einem schmalen schwarzen T-Shirt betont. Der Mann will ihre Hand nehmen, doch sie reagiert nicht.

»Warum blamierst du mich?«, fragt er sie.

Ich beobachte sie durch meine Sonnenbrille und würde die beiden so gerne in den Arm nehmen und sagen: Scheiße, verdammt. Uns passiert das gerade auch.

Und nun das: Floyd und ich befinden uns in einer Kinderwunschbehandlung, obwohl wir bis vor ein paar Wochen noch nicht mal wussten, was das ist. Das Paar vom Aufzug haben wir nie wieder in der Klinik gesehen.

Als ich meine Mutter anrufe, um ihr schluchzend die Diagnose »unfruchtbar« und den Termin für meine Myom-OP mitzuteilen, kann ich am anderen Ende der Leitung hören, wie ihr Mutterherz ächzt. Das hatte sie sich nicht für mich gewünscht, auch wenn sie es war, die mir von klein auf das Mantra der finanziellen Unabhängigkeit vorgesungen hatte, bis es in der allerletzten Gehirnzelle angekommen und sich wie ein kleiner Käfer hineingefressen hatte: Du musst eine Ausbildung machen. Du musst finanziell unabhängig sein. Du darfst dich niemals auf einen Mann verlassen. Sei niemals abhängig, sei niemals untätig, sei niemals pleite. Mach nicht die gleichen Fehler, die deine Großmutter gemacht hat, lalala.

»Das kommt häufiger vor, als du denkst«, sagt sie und meint die Diagnose, die sich für mich immer noch anfühlt, als sei ich kaputt. In ihrer Praxis hatte sie viele Patientinnen mit unerfülltem Kinderwunsch, erzählt sie. Sie war über vierzig Jahre lang eine gefragte Frauenärztin. Wenn sie das sagt, dann glaube ich es ihr.

»Ja, aber ich habe nicht verstanden: Was können wir denn noch machen, außer meiner OP?« Ich stelle das Gespräch auf laut, weil Floyd neben mir sitzt.

»Du brauchst auf jeden Fall keine teuren Vitamin-Tabletten kaufen, auch wenn sie angeblich bei der Erfüllung des Kinderwunsches helfen sollen.«

»Aber, Mama. Wieso ausgerechnet ich?«, heule ich, denn ich verstehe noch immer nicht, warum die Natur so ungerecht ist und Frauen über fünfunddreißig das Kinderkriegen so schwer macht, obwohl sie dann erst auf eigenen Beinen stehen. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich eine Wahl hatte. Ich musste all das machen und habe es bis zu dem Moment, in dem ich noch etwas anderes dazu wollte, nie angezweifelt. Warum war mir das mit meinen Eizellen nicht klar gewesen?

»Warum hast du mir nicht früher gesagt, dass ich mich um das Kinderthema kümmern sollte?«, frage ich meine Mutter.

»Du erinnerst dich vielleicht, dass ich dich immer wieder gefragt habe. Du hast mir jedes Mal geantwortet, dass du noch keine Kinder willst.«

»… weil ich dachte, dass ich noch Zeit habe und du nur Druck machst, weil du wie deine Freundinnen unbedingt Oma werden willst. Warum hast du mir nie gesagt, dass meine besten Jahre verstreichen, während ich im Büro gehockt und nebenbei sogar noch mal studiert habe, um einen besseren Abschluss zu haben!«

»Du hast einen hervorragenden Abschluss von einer der besten Universitäten Europas. Dieses Privileg haben nicht alle Frauen.«

»Das hilft mir nichts.«

»Machst du mir jetzt einen Vorwurf?«

»Du bist Ärztin, und ich bin deine Tochter. Du hättest es mir sagen sollen.«

»Du hast mich immer abgewimmelt, wenn ich dich gefragt habe.«

»Es war mir nicht klar, dass ich keine Zeit mehr habe.«

»Es gibt viele Frauen, die trotz Myomen schwanger werden.«

»Ich zähle wohl nicht dazu.«

»Nein.«

Die Wut in meinem Bauch steigt wie kochendes Wasser in einem Kessel nach oben, und ich schreie ins Telefon: »Was hat mir deine Emanzipation gebracht, außer Einsamkeit, Mama? Meine erste Ehe ist zerbrochen, meine Zeugnisse will keiner sehen, und ich hangele mich von einem Freelancer-Job zum nächsten. Und jetzt kann ich noch nicht mal ein Kind bekommen! Das ist ein Deal, den ich nie wollte!«

Wenn ich sauer bin, teile ich gerne mit beiden Händen aus, so als sei mein Ärger ein Haufen Sand, den ich jemand anderem vor die Füße schmeißen kann, damit der auch Sand im Schuh hat. Und meine Mutter bekommt gerade zwei Stiefel voll.

Manchmal mache ich mir Sorgen, dass ich diese Ausbrüche von meinem bipolaren Vater geerbt habe, so, wie ich bei all meinen negativen Eigenschaften immer denke, dass ich sie von ihm habe. Vor allem diese Wut, die ich nicht kontrollieren kann. Es ist, als würde jemand in meinem Kopf einen Radiosender verstellen. Gerade noch Vivaldi, plötzlich Death Metal. Ich schreie laut, trete gegen die Tür, will weg und nie wieder reden. Niemand in meiner Familie ist so wie ich. Es dauert nicht lange, bis meine Wut verpufft, und dann dudelt in meinem Kopf wieder der klassische Radiosender von vorhin. Wenn ich mich dann wieder vertragen möchte, verstehe ich nicht, dass mein Gegenüber verletzt ist und meine Entschuldigung nicht akzeptiert. Ist es ungerecht zu denken, dass ich das, was ich nicht kontrollieren kann, von meinem Vater habe, weil er psychisch krank war? Ich kann ihn nicht fragen. Ich kann niemanden fragen, weil er tot ist und die Erinnerungen an ihn verblassen, so wie die Fotos in den schwarzen Lederalben, die in einem Regal im Wohnzimmer meiner Mutter stehen.

Früher haben wir uns oft die Bilder zusammen angeschaut. Der Geruch des genarbten Leders, das Knistern des Fotopapiers, die handschriftlichen Notizen meiner Eltern unter den Bildern – all das war so liebevoll für uns Kinder gestaltet. Welche Mühe sie sich damals gemacht haben. Ich knipse alle meine Fotos auf dem Handy, und wenn ich Abzüge haben will, sind es so viele Bilder, dass ich mich nicht entscheiden kann, welches das beste ist.

»Männer und Frauen sind ungefähr zu gleichen Teilen die Verursacher, aber keiner weiß genau, was die Ursachen für Unfruchtbarkeit sind. Man vermutet die Weichmacher in Plastikflaschen oder Wandfarben, die eine hormonähnliche Wirkung haben …«, redet meine Mutter weiter.

Ich schalte ab. Für heute habe ich genügend Erklärungsversuche gehört, warum Floyd und ich keine Eltern werden können. Ich weiß, dass ich es verkackt habe, indem ich – wie die Ärztin sich ausdrückte – zu lange gewartet und den Job und meinen Kontostand an erste Stelle gestellt habe. Gehetzt von meinem übervollen Leben und zu großen Ansprüchen an mich selbst, habe ich mich selber ins Aus geschossen.

»Ich würde es verstehen, wenn du mich nicht mehr heiraten willst«, sagt Floyd, als wir abends vor unserem online georderten Sushi-Menü sitzen, Rosé-Champagner trinken und so tun, als wären wir so cool und könnten den größten Schock unseres Lebens einfach wegfeiern.

»Ich werde nie wieder heiraten«, antworte ich und tunke ein Lachs-Nigiri in die Sojasoße. Der Reis saugt sich mit der braunen Würze voll. Die Trennung von meinem ersten Mann liegt eine Weile zurück, und ich bin froh, dass ich diese Zeit überwunden habe. Ich möchte nie wieder in einer Wohnung sitzen und das Gefühl haben, dass ich nicht gehen kann, wenn ich es nicht mehr aushalte.

»Ich frage dich trotzdem.«

Mein Körper erstarrt. Gerade wollte ich mir die Rolle Sushi in den Mund »stäbeln«.

Floyd wirkt plötzlich nervös.

Ich gucke ihn an, meine Kinnlade sinkt nach unten. »Wie?«

»Du weißt, was jetzt kommt.«

Ich schiebe mir das tropfende Reisbällchen schnell in den Mund, bevor mir die Stäbchen aus der Hand fallen.

Floyd steht von seinem Stuhl auf, wischt sich die Hände an den Hosenbeinen ab und fällt vor mir auf den Dielen auf die Knie.

»Das ist nicht dein Ernst?«, frage ich mit vollem Mund und spucke dabei ein Korn Reis auf den Tisch. »Ich habe doch gerade gesagt, dass ich nie wieder heirate.«

»Wenn wir verheiratet sind, übernimmt die Krankenkasse einen Anteil der Behandlungskosten«, sagt Floyd.

Wenn es um Geld geht, bin ich schnell von einer Sache zu überzeugen. Und es stimmt: Unverheiratete Paare, die gesetzlich versichert sind, müssen die Kosten für die Kinderwunschbehandlung selbst tragen. Aber schmeiße ich deswegen innerhalb weniger Minuten meine gerade erst erarbeiteten Prinzipien wieder über den Haufen? Mir wird schwindelig.

»Wo ist der Ring?«, entgegne ich und lehne mich zurück, während ich das Essen zerkaue. Ich bin mir sicher, dass ich damit Floyds Angebot für ungültig erklärt habe und er gleich einen Rückzieher macht.

»Ich habe keinen Ring. Nur meine Hand.«

Mich in einer Situation zu fragen, wo er mit einem Nein rechnen muss und noch nicht mal einen Ring hat – diesen Mut finde ich bemerkenswert. Wenn ich mich mit einem Mann in diese Behandlung begebe, dann mit Floyd.

Ich lache und lege den Kopf auf dem Tisch ab. »Dann müssen wir aber relativ bald heiraten«, antworte ich.

»Also sagst du Ja?« Floyd springt auf und nimmt meine Hände.

»Nur wegen der Behandlung.«

Wir umarmen uns. Wir haben beide schon viel erlebt, wir sind erwachsen. Wir schaffen das.