Mord am Pferdemädchen - Cornelia Schwenkenbecher - E-Book

Mord am Pferdemädchen E-Book

Cornelia Schwenkenbecher

3,9

Beschreibung

Nach Sehr geehrte Staatsgewalt und Tod dem Nachbarn! befassen sich Cornelia und Jürgen Schwenkenbecher in ihrem neuen Buch mit 13 der aufsehenerregendsten Kriminalfälle, die sich seit der Wende im Osten Deutschlands zugetragen haben. Den Autoren ist dabei daran gelegen, neben den grausamen Taten auch die bisweilen komplizierten Lebenswege und -umwege zu schildern, die zu den Verbrechen geführt haben. Das Ergebnis sind teils traurige, teils skurrile, teils haarsträubende Tatsachenberichte über Entwurzelung, Hilflosigkeit und Überforderung. Ergreifende, genau beobachtete Sozialstudien, die einen das Schaudern lehren.

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Seitenzahl: 202

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Cornelia und Jürgen Schwenkenbecher

Mord am Pferdemädchen

und zwölf weitere Kriminalfälle aus dem Osten

Bild und Heimat

Von Cornelia Schwenkenbecher liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Paranoia und dreißig weitere Fälle (Blutiger Osten, 2014)

eISBN 978-386789-596-5

1. Auflage

© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © arfo, shutterstock

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

1. »Glaub mir, das endet mal grausam!«

Wegen eines Sorgerechtsstreits lässt ein Vater seine Töchter verbrennen

Den ganzen Tag verbringen Line Sofie und Marlene Marie mit ihrem Vater in einem deutschen Vergnügungspark. Sie rodeln gemeinsam, spielen im Schnee – und das mitten im Sommer. Der Snow Dome in Bispingen, den Peter-Thue R. mit seinen neun und zehn Jahre alten Töchtern besucht, liegt ein Stückchen südlich von Hamburg in der Lüneburger Heide, und die drei sind für den Spaß extra aus Dänemark angereist. Solche Ausflüge machen sie öfter. Im Sommer 2011 ist der 11. August ihr letzter gemeinsamer Ferientag. Am nächsten Vormittag erwartet Mutter Christina die Kinder verabredungsgemäß wieder daheim. Auch sie will noch einige Urlaubstage mit den Mädchen verbringen.

Die Eltern Christina O. und Peter-Thue R. sind seit gut einem Jahr geschieden. Line und Marlene leben jetzt beim Vater, weil die Trennung von der Frau ausging und er mit den Mädchen im bisherigen Elternhaus wohnen blieb. »In einer den Kindern vertrauten Umgebung«, wie die zuständige Behörde entschied. Das Umgangs- und Besuchsrecht ist klar geregelt: Eine Woche verbringen die Mädchen beim Vater, die andere im Nachbarort bei der Mutter, die wieder geheiratet hat. Eine 7/7-Regelung nennt es das Gesetz.

Am späten Abend jenes 11. August macht sich Peter-Thue R., ein 40 Jahre alter Landwirt und Aushilfslehrer, der auch schon als Gärtner und Glöckner gearbeitet hat, mit seinen Töchtern auf den Rückweg nach Øster Hurup an der Küste Nordjütlands. Aber sie fahren nicht direkt nach Hause in den Badeort. Statt zur dänischen Grenze steuert Peter-Thue R. das Auto erst einmal über die Autobahn nach Osten. Er hat keine Eile. Sie schwatzen miteinander, die Kinder sind aufgekratzt und können lange nicht einschlafen. Der Vater gibt ihnen zu trinken, hört ihren Geschichten zu, fährt immer weiter.

Marlene sei plötzlich übel geworden, wird er später zu Protokoll geben. Das habe er von ihr nicht gekannt. »Sie jammerte, sie müsse brechen, es ginge ihr schlecht«, erzählt Peter-Thue R. »Aber ich hatte keine Reisemedikamente dabei, nur ein paar Schlaftabletten, und ich dachte, die würden ihr helfen. Ihre Schwester fing nun an zu drängeln, sie wolle auch so eine Pille.« Peter-Thue R. beschreibt die Situation so, als habe die Neunjährige nahezu darum gebettelt, Medizin zu erhalten. Und weil er seine Töchter liebte, gab er nach.

Die Tabletten, so finden die Ermittler heraus, hat sich der Vater erst unmittelbar vor seinem Ausflug in den deutschen Kunstschnee telefonisch von seiner Hausärztin verschreiben lassen – er, der sonst so penibel auf gesunde Ernährung achtet, keine Süßigkeiten duldet und Medikamente nur im äußersten Notfall akzeptiert. Im Beipackzettel des Präparates steht ausdrücklich vermerkt, dass diese Tabletten keineswegs an Kinder verabreicht werden dürfen.

Peter-Thue R. grübelt während der Fahrt, was er tun soll. Denn daheim bahnt sich eine Veränderung an. Anzeichen deuten darauf hin, dass Christinas Wunsch, die Kinder stärker bei sich zu haben, vom Familiengericht demnächst akzeptiert werden könnte. Die neue Situation hat er selbst herbeigeführt, weil er nicht erträgt, wie gut es seiner Exfrau mit dem neuen Mann geht. Deshalb will er weg aus Øster Hurup, weg mit den Mädchen. Im 200 Kilometer entfernten Fredericia hat er sich ein Häuschen angemietet und Line und Marlene dort schon in der Schule angemeldet. Er hat vorher mit niemandem darüber gesprochen. Als er den Kindern davon erzählt, protestiert insbesondere die jüngere Tochter. Line will nicht fortziehen.

Christina O., die Mutter, kämpft gegen den geplanten Umzug. Sie sieht, wie sich der Mann, den sie einst liebte, nach ihrer Trennung zunehmend verändert. Wie er depressiv und lustlos wird, weil sich keines seiner beruflichen Projekte erfüllt. Immer wieder verliert er nach Streitereien mit den Arbeitgebern seine Anstellung. Auch finanziell steht er vor dem Aus und kann die Kreditraten für das einst gemeinsam gekaufte Bauerngehöft kaum mehr aufbringen. Der Hof steht vor der Zwangsversteigerung. Christina erlebt ihren Exmann in letzter Zeit mitunter gehässig, wenn er die Mädchen abholt oder bringt. So kennt sie ihn nicht. Einem Streit ging er bisher immer aus dem Weg. Nun zofft er sich mit ihrem neuen Lebenspartner. Es geht so weit, dass sie sogar die Polizei rufen muss, um die Handgreiflichkeiten zu beenden. In solchen Momenten glaubt sie, Hass in seinen Augen zu erkennen, Hass und Wut. Einmal droht er ihr: »Wenn du mir Druck machst, werde ich dich zerschmettern. Glaub mir, das endet mal grausam.« Doch seine Töchter vergöttert er.

Spät in der Nacht biegt Peter-Thue R. mit dem weißen Suzuki von der Autobahn ab, verlässt kurz vor Berlin am Dreieck Havelland die A 24. Er fährt mit den inzwischen schlafenden Mädchen auf dem Rücksitz ziellos umher. Irgendwann entschließt er sich, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er lenkt das Auto von der Landstraße nahe der brandenburgischen Ortschaft Börnicke in ein Waldstück. Aus dem Kofferraum nimmt er zwei Fünf-Liter-Kanister für Scheibenreiniger, die er vorsorglich zu Hause mit Benzin gefüllt hat. Er verschüttet den Inhalt im Auto, vor allem im Bereich der Rückbank. Sorgfältig achtet er darauf, dass der Fahrersitz und der Platz darunter trocken bleiben. Peter-Thue R. vergewissert sich, ob die Kinder angeschnallt sind, und setzt sich nach vorn. Dann entzündet er sein Feuerzeug.

Zwei, höchstens drei Sekunden später springt Peter-Thue R. aus dem Auto, wird das Landeskriminalamt bei der Rekonstruktion des Tathergangs feststellen. Line und Marlene verbrennen bei lebendigem Leibe, festgezurrt von den Sicherheitsgurten. Nicht einmal Fingerabdrücke zur Identifizierung wird man später von ihnen nehmen können, so verkohlt sind die kleinen Körper.

Rußverschmutzt und mit Verletzungen an den Händen läuft Peter-Thue R. durch den Wald. An einer nahe gelegenen Straße kann er einen Lastwagen stoppen. Dem Fahrer ruft er wirr und verzweifelt immer wieder etwas von einem Unfall zu. Seine Kinder seien noch im Auto, es brenne, er müsse sie retten, aber alles stehe in Flammen. Bevor der 40-Jährige zusammenbricht, kann er noch die Stelle der Tragödie beschreiben. Die Aussagen der ersten Helfer, die ihn verletzt in Ortsnähe auffinden, führen die Polizei tagelang in die Irre. Zu ungeheuerlich ist jede andere Vorstellung. Allerdings, so stellen Kriminaltechniker fest, ist die Kleidung von R. kaum versengt.

Als Feuerwehr und Polizei eintreffen, ist der Suzuki komplett ausgebrannt. Der Notarzt bringt den Vater ins Berliner Unfallkrankenhaus. Seine Brandverletzungen werden im dortigen Spezialzentrum intensivmedizinisch versorgt. Allerdings sind sie nicht so schwer, dass er länger mit den Flammen in Berührung gekommen sein kann.

An seinem Krankenbett erkundigen sich Kriminalbeamte mehrmals nach dem genauen Unfallhergang, doch Peter-Thue R. sieht sich in seiner Erinnerung immer wieder nur von einem Flammenmeer umgeben. Wie er nach Börnicke kam, weiß er angeblich nicht. Er habe sich wohl verfahren und eine Rast eingelegt im Wald. Wegen des Windes draußen rauchte er seine Zigarette im Auto. Und mit einem Mal sei da dieses Feuer gewesen. Er erzählt, wie er alles versucht habe, das Leben seiner Töchter zu retten. Er beschreibt einen Knüppel, mit dem er die Türen öffnen oder zumindest die Scheiben zertrümmern wollte, aber es funktionierte nicht.

Tatsächlich weist der Ast, den die Polizei findet und untersucht, keinerlei Hitze- oder Feuerspuren auf. Überhaupt taugt er nicht besonders gut als Werkzeug. Und war­um schlägt der Vater ihn gegen die Beifahrerseite, wenn seine Kinder doch hinten sitzen und die Zentralverriegelung geöffnet war?

Während sich die Brandenburger Polizei mit genaueren Mitteilungen über den Unfallhergang und die Namen der Opfer noch zurückhält, ist in dänischen Zeitungen bereits zu lesen, was Line Sofie und Marlene Marie in Deutschland zugestoßen ist. Ihr Großvater hatte das Auto seines Sohnes auf einem Foto im Internet wiedererkannt. An der Grundschule der beiden Mädchen halten Lehrer und Mitschüler einen Gedenkgottesdienst ab, auf ihren Bänken liegen Blumen. Die Fahne auf dem Hof weht auf Halbmast, und auch aus dem Scheidungszwist der Eltern machen die Medien längst kein Geheimnis mehr.

Kurz vor der Entlassung des Vaters aus der Berliner Unfallklinik verliest ihm ein Richter den Haftbefehl. Die Ermittler bezweifeln die Unfallversion von Peter-Thue R. Gerichtsmediziner haben bei der Obduktion der toten Mädchen Reste des Schlafmittels Zopiclon gefunden, und die Spuren am Auto sprechen deutlich für eine Brandlegung. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. Peter-Thue R. habe die Kinder heimtückisch ermordet, weil er ihre Arglosigkeit, ihr Vertrauen und ihren Schlaf ausnutzte. Aus niederen Beweggründen, weil er seiner Exfrau das Glück nicht gönnte, das sie in einer neuen Ehe, in einem neuen Haus und demnächst vielleicht auch mit einem neuen Recht auf ihre Kinder hätte finden können.

Im Februar 2012, ein halbes Jahr nach der Tat, beginnt vor dem Landgericht Potsdam der Prozess gegen den dänischen Vater. Zeugen berichten über die Krise der einstigen Eheleute. Nachbarn und Freunde bestätigen aber auch, wie liebevoll sich Peter-Thue R. stets um die Mädchen gekümmert habe.

Auch der Angeklagte sagt aus. Er gesteht: »Ich wollte sterben, und die Mädchen sollten nicht ohne mich bleiben.« Er spricht ohne zu weinen, ohne innezuhalten, eher so, als referiere er etwas, das er aus den Akten kennt. Ja, er habe seine Kinder getötet, Line und Marlene. Aber er habe dies getan, weil er seine Töchter über alles liebte. Weil er Angst hatte, ein dänisches Familiengericht könnte seiner Exfrau das endgültige Wohnrecht für die Kinder zusprechen. »Das hätten die beiden nicht gewollt, das weiß ich. Und ich konnte sie nicht hergeben.« Nicht nur einmal habe er zuvor ernsthaft darüber nachgedacht, sich umzubringen, beteuert R. Aber wie sollten seine Mädchen dann ohne ihn weiterleben? Und wie mit der Schande, dass ihr Vater ein Selbstmörder sei, der sie im Stich ließ?

Dass er sterben wollte, mit seinen Problemen nicht klarkam und vor allem den Verlust fürchtete, das wiederholt Peter-Thue R. im Prozess immer wieder. Doch die Frage, warum er die Kinder in ihrem Todeskampf allein ließ, kann er nicht beantworten. Auch dass er nach der Tat, als er nicht mehr helfen konnte, vor zur Landstraße lief, um sich vor einen Lkw zu werfen, klingt in dieser einsamen Gegend, nachts um vier, nicht gerade glaubwürdig.

Als Christina O. das erste Mal von den Potsdamer Richtern befragt werden soll, reist sie vergebens aus Dänemark an. Der Prozesstag fällt aus. Statt des Angeklagten kommt aus der JVA die Mitteilung, dass Peter-Thue R. in der Untersuchungshaft einen Suizidversuch unternommen hat. Er hatte Tabletten, die er gegen seine Depressionen bekam, gehortet und in der Nacht vor der Begegnung mit seiner Exfrau geschluckt. Früh am Morgen finden ihn Justizbedienstete in einem »unaufweckbaren Zustand«. Lebensgefahr besteht aber nicht.

»Peter war schon lange überfordert«, erzählt Christina O. später, als R. wieder vorgeführt werden kann. Sie berichtet, wie die Ehe auseinanderbrach und wie gut er trotzdem für die Mädchen sorgte. »Aber dass es jetzt so bergab ging mit ihm, das verkraftete er nicht. Ihm ist in seinem Leben nie wirklich etwas geglückt – außer den Kindern. Und nun hatte er Angst, auch die zu verlieren«, sagt sie. »Er war ein guter Vater, nie aggressiv zu den Kindern. Ich hätte mir in den wildesten Fantasien nicht ausgemalt, dass so etwas passieren könnte.« Die Frau gibt sich eine Mitschuld, die Mädchen nicht besser geschützt zu haben.

Christina O. sagt vor Gericht, dass sie ihn nicht hassen könne, obwohl er alles zerstörte. Seit dem Tod ihrer beiden Töchter lebt sie sehr zurückgezogen. Sie kann nicht mehr arbeiten und wird therapeutisch betreut. »Warum nur habe ich die Gefahr nicht erkannt?«, wirft sie sich immer wieder vor. Sie blickt ihren Exmann fragend an, aber der duckt sich weg, kaut nervös auf seinem Kaugummi. Er kann sie nicht ansehen. Er hat ihr das Liebste genommen – und die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass er es aus Rachegefühlen heraus tat. Er wollte sie so tief verletzen, wie es nur irgend ging. Weder damals im Wald noch hier während des Prozesses habe R. wirklich daran gedacht, sich selbst zu töten. Der Staatsanwalt spricht von halbherzigen, folgenlosen Versuchen, von selbstmitleidigen Inszenierungen. »Ich hoffe sehr, dass Sie die Todesschreie Ihrer Kinder nie wieder aus den Ohren bekommen.« Gegen R.s Version von einem erweiterten Suizid argumentiert er ntschieden. »Ihre Kinder hatten nie die Absicht zu sterben, Tötungsverbrechen sollten auch so genannt und nicht mit Sprachmüll verkleistert werden.«

Das Potsdamer Landgericht ist Ende Mai 2012 nach mehr als 20 Verhandlungstagen überzeugt davon, dass Line Sofie und Marlene Marie nicht durch ein Unglück starben, sondern von ihrem Vater heimtückisch und planvoll ermordet wurden. Peter-Thue R., der eine lebenslängliche Freiheitsstrafe erhält, habe nur zu genau gewusst, was er tat. Der Richter spart nicht mit mahnenden Worten. »Herr R., ich habe Ihre letzten Worte noch gut in Erinnerung, dass Sie Ihre Tat stark bereuen und es sich selbst nicht vergeben können, was Sie Ihren Töchter antaten. Wenn das wirklich ernst gemeint ist und nicht nur hohles Gerede, dann müssten Sie das Urteil hier annehmen.«

R. schüttelt den Kopf. Wenige Tage später legt sein Verteidiger Revision ein. Mit diesem Rechtsmittel können mögliche Verfahrensfehler überprüft und gegebenenfalls andere Urteile erzwungen werden. Eine lebenslange Haft ist nicht nur unter Juristen umstritten, gilt sie doch – ähnlich wie die Todesstrafe, die in vielen Ländern abgeschafft wurde – als unvereinbar mit der Menschenwürde. Das oberste staatliche Prinzip heiße eben nicht »Auge um Auge«. Jeder brauche seine Chance. In den meisten Fällen können deshalb in Deutschland zu lebenslanger Haft Verurteilte nach 15 Jahren hoffen, wieder freizukommen. In Dänemark sogar schon nach zwölf Jahren. R. könnte den Antrag stellen, in seine Heimat überführt zu werden, aber er hat es bisher nicht getan. Seinen Revisionsantrag lehnt der Bundesgerichtshof im Dezember 2012 ab.

2. Drama für zwei

Mord statt Scheidung – vom Absturz eines Politikers

»Cortiusrufus« nennt sich der Schreiber, der seine Zweifel am »Fall Heinrich Scholl« einer Zeitung, dem Berliner Tagesspiegel, online mitteilt: »Da wird ein Mann, der zweifellos Verdienste hat, öffentlich zerlegt. Parteifreund Schröder lebt mit der vierten Frau, Parteifreund Platzeck mit der zweiten. Er verfiel einer Thailänderin. Und die hat gewaltig genervt. Das hat er ertragen und konnte es trotzdem nicht lassen. Er soll seine Ehefrau am Tag nach dem Hochzeitstag umgebracht haben? Theoretisch und auch im praktischen Leben ist alles möglich. Aber das soll man ihm einmal hieb- und stichfest nachweisen. Ein stadtbekannter Politiker bringt in der freien Natur seine ebenso bekannte Ehefrau um? Hatte er so Kopf und Verstand verloren? Sollte er wirklich …« Ja, sollte er?

Der »Fall Heinrich Scholl« ist die Geschichte eines Verbrechens, das Ende 2011 eine Region wochenlang in Atem hält. Jeden Tag gibt es neue Gerüchte, neue Spekulationen, neue Verschwörungstheorien darüber, was in den Mittagsstunden des 29. Dezember in Ludwigsfelde wirklich geschehen ist. Die Stadt, die seit Jahrzehnten mit ihrer Industrie und vom Automobilbau lebt, die aber erst nach der Wende aufblüht, ja, rasant wächst, und das vor allem Heinrich Scholl verdankt, diese Stadt hört davon, dass ihr ebenso charmanter wie erfolgreicher Ex-Bürgermeister seine Frau vermisst. Er ist mit ihr daheim zum Kaffeetrinken verabredet, aber sie kommt nicht pünktlich. Sie wollte gegen 12 Uhr mit dem Hund in den Wald. Was ist los? Scholl greift zum Telefon: »Habt ihr was von Gitti gehört? Wo kann sie sein?«, fragt er Freunde und Bekannte.

Er hat schon eine ganze Menge Leute aufgeschreckt, als ihr Auto um 17 Uhr immer noch nicht vor der gemeinsamen Doppelhaushälfte in der Walther-Rathenau-Straße steht. Heinrich Scholl wird unruhig. Er schaut bei seinem Lieblingsitaliener vorbei, trinkt ein Glas Rotwein. Als Brigitte sich nicht meldet, klingelt er sich erneut durch die Nachbarschaft, sucht in der Umgebung, fährt zu einer Bekannten, der seiner Frau etwas mitbringen wollte. Nur zu Hause ruft er nicht an. Wäre das nicht naheliegend? Vielleicht ist sie ja längst zurück. Warum ist Scholl überhaupt so panisch? Darf eine erwachsene Frau, eine 67-Jährige, nicht auch einmal eine Verabredung verpassen, etwas anderes vorhaben, ihn versetzen?

So oder so ähnlich denkt wohl auch der erste Polizist, den Heinrich Scholl am frühen Abend damit beauftragt, nach seiner Ehefrau zu suchen. Er winkt ab. Zu früh. Man müsse abwarten. Er kennt Heinrich Scholl offenbar nicht. Das passiert Scholl in Ludwigsfelde selten, für die meisten hier ist er eine Institution. 18 Jahre lang hat er die Stadt regiert, nie sah er sie als mausgraues Provinznest, sondern als Verbindungspunkt in die Welt. Mitten durch sie hindurch führt schließlich eine Autobahn, die – wenn man so will – Moskau mit Paris verknüpft. Da wachsen Visionen. Scholl ist der »Napoleon von Lu«. Er hat namhafte Investoren nach Ludwigsfelde geholt – VW, Mercedes-Benz, den Triebwerkshersteller MTU, ThyssenKrupp, Coca-Cola, 10.000 neue Arbeitsplätze sind entstanden. Der damalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder besucht die Stadt. Brandenburgs Ministerpräsidenten Stolpe und Platzeck zeigen sich gern mit ihm. Bei offiziellen Terminen steht Scholl neben Merkel, Stoiber und Gabriel, und zum privaten Bekanntenkreis gehört Berlins langjähriger Rathaus-Chef Klaus Wowereit. Als Heinrich Scholl 2008 aus Altersgründen aus dem Amt scheidet, brechen die Kontakte zwar ab, aber die Bilder, auf denen der kleine Mann mit all den politischen Größen seiner Zeit zu sehen ist, bleiben.

Auf der Polizeiwache lässt Scholl sich nicht abwimmeln. Endlich hilft sein Name voran, es kommt Bewegung in die Sache. Er bespricht sich erneut mit seinen Freunden, hat auch den Sohn informiert, der in Nordrhein-Westfalen lebt. Noch sind keine acht Stunden seit seiner Verabredung mit Brigitte zum Kaffeetrinken vergangen.

Acht weitere Stunden später ist der Sohn auf dem Weg nach Ludwigsfelde, denn die Mutter bleibt verschwunden. Heinrich Scholl hat einen seiner engsten Freunde, einen Tierarzt und Jäger, gewinnen können, gemeinsam mit ihm und dem Sohn nun auch im Wald zu suchen. »So etwas macht Gitti nicht, dass sie einfach wegbleibt. Sie hat doch den Hund dabei. Und ihr Laden wartet.« Ihr Laden, das ist Brigitte Scholls Kosmetiksalon, den sie im Erdgeschoss ihres Hauses betreibt. Viele Kundinnen kommen seit Jahren hierher, nie haben sie erlebt, dass »die Chefin« ausfiel. Brigitte Scholl ist die Zuverlässigkeit in Person.

Gegen 14 Uhr machen sich die drei Männer auf den Weg zur Siethener Straße, stellen das Auto am Waldrand ab und gehen ins Unterholz. Wenn sie überhaupt eine Spur finden können, dann hier, denn auf den Wegen blieb Brigitte Scholl für gewöhnlich nicht. Ursus, der hellbraune Cockerspaniel, liebte den Auslauf, und seine Besitzerin hatte meist Wanderschuhe dabei, wenn sie mit ihm in die Natur fuhr. Außerdem war sie mit den Augen immer auf der Suche nach knorrigen Ästen, besonders schönen Blättern und Moosen, mit denen sie Gestecke dekorieren konnte. Gerade hatte sie einer Freundin versprochen, ihr etwas Winterschmuck vorbeizubringen. Sie müsse nur noch die nötigen Zutaten sammeln.

Das erste Waldstück haben die Männer nach einer knappen Stunde durchkämmt. »Komm, Heiner, hier ist nichts«, sagt der Tierarzt. Auch der Sohn drängt zum Aufbruch. Er findet diese Waldaktion irgendwie seltsam. Die Polizei ist doch schon eingeschaltet. Aber Heinrich Scholl will nicht aufgeben, er zieht die beiden noch ein Stück weiter. Und dann verharren sie plötzlich. »Sauber nebeneinander abgestellt«, erinnert sich der Sohn später, »fast wie in einem Regal«, steht da vor ihnen ein Paar dunkle Schuhe. Damenschuhe. Und zwei unterschiedlich große Hügel aus aufgeschichteten Zweigen, etwas Waldboden und Moos ergeben das Bild einer ungewöhnlichen Grabstelle. Die Männer rufen die Polizei. »Beerdigungsgleich«, so beschreiben es Ermittler später, liegen im Wald die toten Körper von Brigitte Scholl und Hund Ursus.

Drei Wochen lang gilt das Mitgefühl der Stadt ihrem alten Bürgermeister. Dessen Kranz ist am Tag der Beisetzung der größte: »In tiefer Trauer, Dein Heiner« steht goldglänzend auf der weißen Schleife. Vier Tage später wird er festgenommen. Heinrich Scholl ist dringend tatverdächtig, seine Ehefrau Brigitte heimtückisch im Wald mit einem türkisfarbenen Schnürsenkel erdrosselt zu haben. Seine DNA wurde am Tatort gesichert, sein Handy zur Tatzeit in der Nähe geortet. Außerdem berichteten Zeugen in der Zwischenzeit von einer schwierigen Ehe zwischen einer dominanten, beherrschenden Frau und einem Mann, der sich über Jahrzehnte ihre Demütigungen gefallen ließ, nun aber zunehmend seine Freiheit suchte – sei es bei einer Geliebten, sei es mit einer Wohnung in Berlin.

Die Justizvollzugsanstalt Brandenburg/Havel wird Hein­rich Scholl von diesem 2012er Januartag an nicht mehr verlassen – außer zu polizeilichen Vernehmungen und seinem Prozess. Und wenn nicht ein Wunder passiert, bleibt er hier eingesperrt, bis ein Gericht in ferner Zukunft darü­ber entscheidet, ihm seine lebenslängliche Freiheitsstrafe »vorzeitig« und »zur Bewährung« zu erlassen. Das wird aber nicht vor 2027 geschehen können.

Scholl ist dann Mitte achtzig. Und die Ludwigsfelder, die sich bei der Frage »schuldig« oder »nicht schuldig« in zwei Lager spalten, werden dann ebenso wie alle anderen, die mit dem Fall befasst waren, womöglich immer noch nicht wissen, ob er seine Frau wirklich tötete oder nicht. Ob er Täter ist oder Opfer. Viele Indizien sprechen gegen ihn. Heinrich Scholl indes versichert, mit dem Tod seiner Frau nichts zu tun zu haben. Selbst eine Verschwörung gegen ihn hält er nicht für ausgeschlossen, wenngleich einige der Thesen abenteuerlich klingen: Sie könnte – lebensmüde – ihren eigenen Tod inszeniert haben, um ihm heimzuzahlen, dass er sie mit anderen Frauen betrog. Die Russenmafia kommt ins Spiel. Eine thailändische Verschwörung. Alte politische Gegner. Unter Umständen sogar ein heimlicher Geliebter der Gattin, der sich bedrängt fühlte.

Es gibt Freunde, die Heinrich Scholl bis heute vertrauen und seinen Worten glauben. Die Brandenburger SPD, seine Partei, legt ihm allerdings gleich nach der Verurteilung nahe, lieber seinen Austritt zu erklären. Tief enttäuscht schreibt Scholl den verlangten Brief. Doch die Zurückweisung durch seine Genossen schmerzt ihn fast mehr als das Nicht-Verstehen der Richter. Heute sagt er, er habe mit diesem Kapitel abgeschlossen.

Die Verhandlung gegen Heinrich Scholl vor dem Landgericht Potsdam dauert sieben Monate, bis weit hinein ins Frühjahr 2013. Der Angeklagte beteuert zwar seine Unschuld, schweigt ansonsten aber beharrlich. Seine Anwälte Stefan König und Heide Sandkuhl bringen Zeugen, die das Ehepaar Scholl an jenem 29. Dezember mittags gemeinsam im Wald gesehen haben wollen, mit ihren Fragen gewaltig ins Grübeln. Am Ende zweifeln die Beobachter selbst an ihren Erinnerungen. Ein wichtiges Indiz entfällt. Auch die Handyortung erweist sich als viel zu grob, um zu beweisen, dass sich Heinrich Scholl zu genau dieser Zeit an genau jenem Punkt befand.

Die Verteidiger bemühen sich, Scholls Tagesablauf zu rekonstruieren. Sie wollen zeigen, dass ihr Mandant gegen 12 Uhr, bevor er nach Berlin fuhr und sich dort nachweislich mit einem Bekannten traf, gar nicht am Tatort gewesen sein konnte. Er hielt sich zu jener Stunde nämlich noch in der Ludwigsfelder Kristalltherme auf, argumentieren sie. Das FKK-Bad ist eines seiner früheren Projekte, und mit den Betreibern verbinden ihn auch nach der Pensionierung noch Freundschaft und ein Beratervertrag. Deshalb, sagt Scholl, sei er in der Therme gewesen, als seiner Frau im Wald das Entsetzliche zustieß. Doch war er wirklich dort? Vermeintliche Zeugen widersprechen sich. Jeder erinnert sich anders. Aus der Untersuchungshaft heraus wendet sich der Bürgermeister a. D. mit den Worten »Liebe Ludwigsfelderinnen, liebe Ludwigsfelder« an seine Mitbürger und sucht per Zeitungsannonce jemanden, der ihn am Bad gesehen hat und entlasten kann. Er beschreibt seine Kleidung, bedankt sich für die Mithilfe. Vergeblich. Immerhin fällt Scholl an jenem Tag einer Kellnerin angenehm auf, die ihn – keine zwei Stunden nach dem Mord – im Berliner Restaurant Hamlet bedient hat: Er sei »total locker« gewesen, habe sich ihr gegenüber »ausgesprochen nett und charmant« verhalten.

Und die DNA, der »genetische Fingerabdruck« von Heinrich Scholl, den die Ermittler sowohl an dem Schnürsenkel als auch an einem Bekleidungsstück fanden, das seine Frau trug? Spricht der nicht eindeutig gegen den Angeklagten? Ja, sagt der Staatsanwalt. Nein, finden die Verteidiger. Denn was sei schon verwunderlich daran, dass Sachen, die zum Haushalt des Paares gehören, auch irgendwann einmal von ihm in den Händen gehalten worden seien. So gehen die Argumente hin und her, pro und kontra Heinrich Scholl. Er selbst presst die Lippen aufeinander, blättert in seinen Akten, notiert eifrig, hört den Befragungen konzentriert zu, sagt aber kein Wort. Er widerspricht nicht und gibt keine Erklärung. Acht Monate lang. Bis die Richter ihn am 7. Mai 2013 für schuldig befinden und zu lebenslanger Haft verurteilen.

Viele, die den Fall aus der Nähe verfolgen, schließen sich dieser Meinung an. Denn das, was Heinrich Scholl wirklich belastet, ist seine Ehe. Ein Miteinander, das für beide Partner schon frühzeitig zu einer Strapaze geworden sein muss, wie Freunde der Familie berichten: Heiner, das ungeliebte Kind einer herrischen Mutter, ein männliches Aschenbrödel, heiratet 1964 das schönste Mädchen der Stadt, eine ebenso umschwärmte wie verwöhnte Handwerksmeistertochter mit Westkontakten, der es finanziell gutgeht.