Möwenspur - Jean-Pierre Kermanchec - E-Book

Möwenspur E-Book

Jean-Pierre Kermanchec

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Beschreibung

Der Arzt Gerard Martinou verbringt einige Wochen in seinem Ferienhaus an der bretonischen Küste. Am Vorabend war sein Freund der Kriminalkommissar Marc Louvin zu Besuch eingetroffen und sie verbrachten einen langen und feuchten Abend. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen unternimmt er früh morgens einen ausgiebigen Spaziergang entlang den Klippen. Das seltsame Verhalten der Möwen erregt seine Aufmerksamkeit. Er entdeckt zwischen den Felsen zwei Lederschuhe, die mit ihrer Spitze steil nach oben zeigen. In den Schuhen steckt noch ein Mann. Dem ersten Anschein nach dürfte der Mann abgestürzt sein. Bekleidet mit Anzug und Krawatte sieht er nicht wie ein Wanderer aus. Ein Unfall? Aber wie kommen die Fischabfälle, die über den ganzen Körper verteilt sind dorthin?

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Jean-Pierre Kermanchec

Möwenspur

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum neobooks

Kapitel 1

Das schäumende Wasser brach sich an den Felsen in der kleinen Bucht, unweit von Raguénez in der Bretagne. Die jetzt auflaufende Flut hatte schon eine Menge an neuem Abfall ans Ufer geschwemmt, der sich zwischen den zerklüfteten Felsen verfangen hatte und aus der Entfernung aussah, wie von einem Maler gesetzte Farbpunkte. Die Möwen kreischten gewaltig, während sie gezielt ihre Kreise über einen der Felsen zogen und immer wieder zu diesem Felsen hinabstießen, so als fänden sie dort in den seichten Pfützen kleine Fische, die sich auf den flacheren Stellen, während der letzten stürmischen Nacht gebildet hatten. Der Wind hatte in der vergangen Nacht Geschwindigkeiten von über achtzig Stundenkilometern erreicht, wenn er sich noch richtig an die Aussage der Nachrichtensprecherin erinnerte.

Gerard Martinou sah auf seine Armbanduhr und war erstaunt, dass er bereits seit über einer Stunde unterwegs war. Er hatte sein Feriendomizil, ein kleines altes Fischerhaus, das unmittelbar an der Strandpromenade in ‚Le Paradis‘ lag, einem Ortsteil von Trévignon, kurz vor sieben Uhr verlassen. Er war noch vor dem Frühstück zu einem ausgedehnten Strandspaziergang aufgebrochen, um die zu viel genossenen Kalorien des gestrigen Abends zu verbrauchen. Der Abend war sehr lang und sehr feucht gewesen. Sein bester Freund hatte seinen Besuch angekündigt und war am Abend gegen 19 Uhr eingetroffen. Die beiden Männer hatten Erlebnisse der vergangenen Jahre aufgefrischt und gemeinsame Späße erinnert. Dabei leerten sie eine Flasche Bordeaux nach der anderen.

Marc Louvin lag wohl noch immer im Bett, dachte Martinou. Bevor er gestern Nachmittag Paris in Richtung der Bretagne verlassen hatte, war er annähernd sieben Stunden lang mit einem Verhör seines letzten Mordfalles beschäftigt gewesen. Dann hatte er das Geständnis erreicht und damit den Fall abgeschlossen. So konnte er anschließend, den bereits lange abgesprochenen gemeinsamen Urlaub bei seinem Freund Martinou antreten und sich auf die etwa fünf Stunden lange Fahrt begeben.

Martinou sah auf seinem Weg den Möwen in ihrem Spiel zu. Zuerst ein kurzes Kreisen und dann die abrupte Landung auf dem Felsen, Stolzieren und das erneute Aufsteigen um nach wenigen Sekunden erneut mit dem Spiel zu beginnen. Martinou genoss die leichte Brise, die vom Meer her wehte und die Wellen mit absoluter Regelmäßigkeit an die Felsen trieb. Aber heute störte ihn irgendetwas an diesem Bild. Er konnte nicht sagen was es war, aber die Möwen verhielten sich anders als an den vergangen Tagen. Dann fiel es ihm auf, die Vögel verblieben immer an der gleichen Stelle. Sie flogen nicht beständig hin und her.

Er näherte sich langsam der Stelle hoch über den Felsen. An dieser Stelle fielen die Felsen beinahe zehn Meter tief zum Wasser ab. Es war einer seiner Lieblingsplätze auf diesem Küstenweg. Die großen Gesteinsbrocken bildeten ein regelrechtes Felsenmeer und damit eine natürliche Strandbefestigung, die selbst den häufigen Orkanen standhalten konnte, die hier regelmäßig auftrafen. Zwischen den Gesteinsbrocken lagen bereits vertrocknete Braunalgen und an den, dem Meer zugewandten Stellen hatten sich zahllose Muscheln eine neue Heimat gesucht. Martinou war es gewohnt, hier immer wieder die Reste von Schiffsabfällen zu finden. Auch heute konnte er leere Plastikkanister und Evian Flaschen ausmachen, die sich zwischen den Felsen verhakt hatten. Einen einstmals gelben Turnschuh erblickte er unterhalb seines Weges. Die vereinzelten Teerklumpen und die ausgewaschenen Reste dicker blauer und grüner Hanfseile lagen verstreut auf den kleinen Sandinseln zwischen den Steinen.

Wie angewurzelt blieb Martinou stehen, als er die zwei schwarzen Schuhe sah, deren Ledersohlen steil nach oben zeigten und die nicht aussahen, als ob sie schon seit Tagen hier lägen. Als er näher kam, konnte er auch erkennen, warum sich die Möwen immer wieder kreischend an dieser Stelle niederließen. In den Schuhen steckten zwei Füße. Die Beine waren von einer vollkommen durchnässten Anzughose bedeckt. Der restliche Körper war mit Fischabfällen übersät. Der Körper war so verdreht, dass das Gesicht nach unten zeigte und Martinou es nicht erkennen konnte.

Er griff in die Tasche seiner Barbour-Jacke und holte sein Handy heraus. Er wählte die Mobilnummer seines Freundes Louvin. Um diese Zeit müsste er bereits erwacht sein, dachte er sich, während das Telefon klingelte. Als sein Freund abnahm, sagte Martinou nur: „Ruf deine hiesigen Kollegen in Quimper an, die Nummer steht sicher im Telefonbuch und schicke sie an den Küstenstreifen von Kerliou und dann komm du bitte auch her. Ich habe eine Leiche gefunden!“

„Warte Gerard, du solltest mir den Weg schon genauer beschreiben, ich habe keine Ahnung wo Kerliou liegt.“

„Entschuldige Marc, aber für mich ist das alles so vertraut. Also, du fährst nach Raguénez und dann weiter zu dem ‚Lieu dit Kerliou‘. An der einzigen Kreuzung nimmst du den rechten Weg und folgst ihm bis zu seinem Ende. Dort gibt es einen kleinen Waldparkplatz. Stell den Wagen dort ab und folge dem Fußweg hinunter zum Meer. Danach biegst du links ab und gehst etwa dreihundert Meter auf dem kleinen Weg, über den Klippen entlang. Du siehst mich dann irgendwo auf dem Weg. Du kannst auch der Polizei den Weg so beschreiben.“

Er klappte das Mobiltelefon wieder zu, steckte es in die Tasche zurück und sah dem Treiben der Vögel weiter zu. Seine Blicke gingen jetzt über die Felsen hinweg, als wollte er nach einem Täter Ausschau halten. Dabei war es doch gar nicht sicher, ob es sich um ein Verbrechen handelte oder ob der Mann abgestürzt und eines natürlichen Todes gestorben war. Der Mann trug einen Anzug. Ohne Jacke oder Mantel würde man am frühen Morgen nicht an den Strand gehen, dachte er sich. Ein Spaziergänger hätte sicherlich keinen Anzug angezogen um an der Küste entlang zu spazieren. Die Lederschuhe, die er von hier oben deutlich erkennen konnte sprachen auch nicht dafür. Martinou griff in seine andere Jackentasche und holte zwei Latexhandschuhe heraus. Aus Gewohnheit trug er immer welche bei sich. Als Arzt musste er jederzeit auf einen Notfall vorbereitet sein. Er streifte die Handschuhe über und machte sich auf den Weg nach unten. Er wollte sich davon überzeugen, dass der Mann wirklich tot war. Vorsichtig stieg er von einem Felsbrocken auf den nächsten, tiefer gelegenen und näherte sich so dem Körper. Als er näher kam, flogen die Möwen auf und kreischten noch lauter als zuvor. Dann hatte er den Mann erreicht. Er brauchte nur wenige Sekunden um festzustellen, dass der Mann wirklich tot war. Er erkannte eine größere Wunde an der linken Schläfe. Die konnte von einem Sturz herrühren. Bevor die Polizei eintraf wollte er den Körper nicht bewegen. Er sah sich die Kleidung des Mannes an. Der Anzug war sehr elegant und die Schuhe stammten von Bally, wie man dem `B` an der Schnalle entnehmen konnte. Die Lage des Körpers ließ die Vermutung zu, dass er von dem Weg, oberhalb der Felsen abgestürzt und auf dieser Stelle aufgeschlagen war. Die genaue Todesursache würde der Pathologe feststellen müssen.

Es war noch nicht lange her, dass er mit seinem Freund telefoniert hatte. Dennoch hörte er bereits die Sirenen der Polizeifahrzeuge, die sich schnell näherten. Er beschloss, nach oben zu gehen und den Polizisten die Stelle zu zeigen.

Der Weiler, der der Straße den Namen gab, hatte die Form einer Tasse mit Henkel und am Ende des Henkels lag der kleine Waldparkplatz, den er seinem Freund beschrieben hatte. Es gab nur diese kleine Stichstraße, die direkt ans Wasser führte. Fünfzig Meter vor dem Ufer war der Parkplatz, der im Sommer ganz schnell von den Badegästen, die aus den umliegenden Häusern zum Baden herfuhren überfüllt war. Bog man an dem Küstenweg nach links anstatt nach rechts ab, dann war man sofort an dem herrlichen Sandstrand von Raguénez, dem ‚plage de Tahiti‘. Martinou hatte den Weg, der zu dem Parkplatz führte gerade zum Teil erklommen, als er den ersten Polizeiwagen näherkommen sah. Er ging auf das Fahrzeug zu und winkte den Fahrer herbei. Dahinter erkannte er einen Krankenwagen und meinte auch, das Fahrzeug seines Freundes zu erkennen.

Die zwei Polizisten stiegen aus und kamen auf ihn zu.

„Marc Marson und das ist Claude Ylian. Sie haben einen Toten gefunden?“

„Ja, er liegt zwischen den Felsen, genau unterhalb des Küstenweges. Mein Name ist Gerard Martinou, ich habe ein kleines Haus an der Küste und bin bei meinem Spaziergang hier vorbeigekommen. Ich bin Arzt und konnte mich vom Tod des Mannes bereits überzeugen. Ich habe nichts verändert und…“ Martinou machte eine kleine Pause und hob seine beiden Hände, die noch immer in den Latexhandschuhen steckten „ich habe auch keine Spuren verwischt oder neue hinzugefügt.“ Die Polizisten betrachteten seine Hände und nickten. Inzwischen waren zwei weitere Männer zu der kleinen Gruppe gestoßen. Der eine trug einen Aluminiumkoffer, der andere eine Rolle Absperrband. Ungeduldig sahen sie zu Martinou, so als wollten sie sagen, dass sie keine Zeit zu verlieren haben. Martinou drehte sich um und gab der Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen. Es waren nur wenige Minuten bis zu dem Steilabfall, an dessen Fuß der Tote lag.

Marc Marson, der erste Polizist drehte sich zu Martinou um und sagte ihm, dass der Leiter der Mordkommission, Ewen Kerber, von Quimper kommend, bereits unterwegs sei und dass er hier bei der Fundstelle bleiben soll, bis Kerber mit ihm gesprochen hat. Martinou nickte und trat zur Seite um den Polizisten zu ermöglichen, den schmalen Spalt zwischen den Felsen zur Leiche hinunter zu steigen.

Erst jetzt sah er, seinen Freund Marc näher kommen. Marc Louvin hatte seinen Wagen weiter hinten parken müssen, da der kleine Parkplatz, durch die zuerst eingetroffenen Wagen der Polizei und der Ambulanz schon besetzt war.

„Gerard, ich musste mich noch anziehen.“ entschuldigte er sich, weil er erst nach den hiesigen Polizeibeamten eingetroffen war.

„Es ist ja nicht dein Fall, Marc, du bist nur zu Besuch hier. Wir könnten auch sofort wieder gehen, wenn ich nicht auf den Kriminalbeamten aus Quimper warten müsste.“

„Glaubst du, dass ich einfach so fortgehe? Natürlich werde ich mir die Leiche ansehen. Wie kam es, dass du die Leiche entdeckt hast?“

„Die Möwen verhielten sich anders als sonst und hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Daher bin ich langsamer an dieser Stelle vorbeigegangen. Sonst wäre mir der Tote wohl nicht aufgefallen. Schließlich konnte man auf den ersten Blick nur die Schuhe sehen und die alleine wären nichts Besonderes gewesen. Hier liegen oft Schuhe im Sand oder zwischen den Felsen herum.“

Marc Louvin drehte sich um und ging zum Fundort. Ob es auch ein Tatort war konnte jetzt noch nicht entschieden werden. Bedächtig stieg Louvin die Felsen hinunter und zeigte dem Polizisten unten, der gerade ein Absperrband an den Felsen entlang anbringen wollte seinen Dienstausweis. Ein Kommissar aus Paris, das machte auf den jungen Polizeibeamten schon großen Eindruck und wie selbstverständlich trat er zur Seite und ließ Louvin näher an den Fundort heran. Der Mann von der Spurensicherung hatte sich zwischenzeitlich einen weißen Overall und Handschuhe angezogen und begonnen, die Leiche zu untersuchen und Fotos aufzunehmen. Ein weiterer Kollege war dabei, die Felsen abzusuchen, um eventuelle Spuren eines Verbrechens zu finden. Louvin trat näher und wartete in einem gewissen Abstand, um der Spurensicherung nicht im Weg zu stehen. Als er den Eindruck hatte, dass der Mann mit der Leiche weitgehend fertig war, fragte er, ob er sich den Toten jetzt näher ansehen könne.

„Wer sind Sie?“ fragte dieser, als er zu Louvin aufsah. Louvin zeigte auch ihm seinen Dienstausweis und ergänzte: „Ich bin zu Besuch bei meinem Freund Martinou, der den Toten gefunden hat.“

„Sie können sich den Toten ruhig ansehen, Monsieur le Commissaire, aber der Fall wird von Commissaire Kerber bearbeitet. Er muss in wenigen Minuten eintreffen. Hier in der Bretagne haben wir leider nicht in jedem kleinen Ort eine Mordkommission und von Quimper bis hierher dauert es schon dreißig Minuten, wenn nicht etwas länger.“

„Ich möchte mich nicht in die Arbeit ihres Kollegen Kerber einmischen, aber meine berufliche Neugierde treibt mich um.“

Marc Louvin bückte sich zu dem Leichnam hinunter. Der Mann trug einen Anzug von feinster Qualität, konnte er sofort feststellen, trotz des Schmutzes und der übelriechenden Fischreste, die über ihn verstreut waren. Er betrachtete die Abfälle genauer. Es waren keine vom Meer angeschwemmten Abfälle, dies war ihm sofort klar, als er sie betrachtete. Diese Abfälle waren sehr bewusst über den Körper ausgeschüttet worden, wohl um die Möwen anzulocken. Nur, warum machte jemand so etwas? Louvin konnte sich keinen Reim darauf machen. Ohne diese Abfälle wäre der Leichnam sicherlich nicht sofort entdeckt worden. Die Möwen hatten die Aufmerksamkeit seines Freundes erregt. Warum hat ein Mörder ein Interesse daran, dass man sein Opfer schnell findet? Er grübelte noch darüber nach, als er einen Mann über die Felsen nach unten kommen hörte. Louvin drehte sich um und sah in das etwas mürrisch dreinblickende Gesicht eines etwa fünfzig Jahre alten Mannes, mit dunklen Haaren und einem kleinen Schnurrbart. Er trug einen offenstehenden Trenchcoat, einen dunkelgrauen Anzug und schwarze Schuhe. Der Knoten seiner rot blau gestreiften Krawatte war nicht ganz nach oben gezogen und der oberste Knopf des weißen Hemdes stand offen. Man konnte ihm ansehen, dass er wusste, dass er nicht gerade ideal für diesen Fundort gekleidet war. Die schwarzen Lackschuhe waren für die Straßen von Quimper geeignet aber nicht für die Felsen an diesem Küstenstreifen. Er hatte sich bereits auf dem Weg oberhalb der Fundstelle mit Martinou unterhalten und wusste daher schon über den Kollegen aus Paris Bescheid.

„Sie dürften der Kollege aus Paris sein! Ewen Kerber!“ stellte er sich vor, als er auf Louvin zuging und ihm seine Hand entgegenstreckte.

„Stimmt!“ antwortete Louvin und reichte ihm seine Hand. „Ich will mich nicht in Ihre Arbeit einmischen, ich bin eigentlich nur zufällig hier, aber meine berufliche Neugierde brachte mich an den Fundort.“

„Ich habe nichts dagegen, Hilfe aus der Hauptstadt zu bekommen.“ Kerber dreht sich nun zur Leiche um.

„Hat die Spurensicherung schon etwas gefunden?“ fragte er, den einige Schritte abseits stehenden Polizisten. Dieser zuckte mit den Achseln und drehte sich um, auf der Suche nach den Kollegen von der Spurensicherung. Die Männer hatten sich bereits die nähere Umgebung angesehen und waren daher etwas weiter entfernt von dem Toten. Als der Mann, der zuvor den Aluminiumkoffer getragen hatte, den Kommissar bemerkte, kam er näher und begrüßte ihn. „Ewen, wir haben noch wenig Brauchbares gefunden. Einige Zigarettenstummel, die könnten aber schon länger hier liegen, einen Knopf, der von einem Anzug stammen könnte und eine Linsenabdeckung von einem Canon Fotoapparat. Alles was sich in der Kleidung des Toten befindet, haben wir uns bewusst noch nicht angesehen. Dazu haben wir im Labor noch Zeit.“ „Danke Dustin“, sagte Kerber.

Dustin Goarant war schon seit langer Zeit bei der Spurensicherung. Er und Kerber hatten so manchen Fall gemeinsam bearbeitet.

„Was meint der Pathologe?“ fragte Kerber seinen Kollegen.

„Yannick hat sich die Leiche angesehen und macht sich gerade hinter den Felsen einige Notizen.“

In diesem Augenblick kam der Pathologe zum Vorschein und als er Kerber sah, trat er näher.

„Der Mann ist noch nicht sehr lange tot, ich schätze, ungefähr elf bis zwölf Stunden, näheres nach der Obduktion.“

„Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?“

„Nun Ewen, das ist nicht so einfach. Der Mann hat keinerlei Verletzungen, die auf eine Gewalteinwirkung schließen lassen. Die einzige Verletzung, die ich sehen konnte war eine Wunde an der linken Stirnseite. Die hat er sich beim Aufprall auf die Felsen zugezogen. Ansonsten ist nichts zu erkennen. Ich würde sagen, ein Unfall. Der Mann ist vermutlich in der letzten Nacht hier entlang spaziert, hat den Weg falsch eingeschätzt und ist an dieser Stelle abgestürzt. Ich glaube, ihr könnt den Fall schnell abschließen.“ Yannick Detru lächelte und winkte mit der rechten Hand zum Abschied, als er sich auf den Weg nach oben machte.

„Deinen Bericht bekomme ich morgen“, rief Kerber ihm noch nach. Ein weiteres Winken mit der rechten Hand signalisierte, dass er es gehörte hatte.

Louvin sah seinen Kollegen an und fragte ihn:

„Sind Sie auch der Meinung, dass es sich um einen Unfall handelt?“

Ewen Kerber sah Louvin mit ruhigem Blick ins Gesicht. Dann sagte er: „Ich würde dem Doktor sofort zustimmen wenn, wenn da nicht…“

„Die Fischabfälle wären“, meinte Louvin.

„Genau, so sehe ich das auch. Wenn er nur die Böschung hinunter gefallen wäre und seinen Kopf auf den Felsen aufgeschlagen hätte, dann wären keine Fischabfälle auf dem Leichnam verstreut. Die Flut kommt nicht ganz so hoch, aber das Wasser würde auch keine Fischabfälle mit sich führen. Nein, der Fall liegt nicht so einfach, wie Yannick das annimmt. Sind Sie noch länger am Ort? Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie bei den Untersuchungen dabei wären. Weil,…“, Kerber zögerte einen Augenblick bevor er fortfuhr, „…da gibt es noch einen weiteren Fall, den ich gerade untersuche.“ Ewen Kerber sah seinen Pariser Kollegen fragend an.

„Einen weiteren Fall?“ Louvin horchte auf, es schien ihn zu interessieren, was Kerber zu berichten hatte. Er hatte vierzehn Tage Urlaub genommen und er wollte sich eigentlich erholen und abschalten, sich mit seinem Freund unterhalten, gut essen und trinken und vielleicht den einen oder anderen Spaziergang am Meer machen. Andererseits waren Kriminalfälle nicht nur seine Arbeit sondern auch seine Leidenschaft. Daher sah er Kerber geduldig an und wartete, dass dieser von dem anderen Fall berichtete.

„Nun, vor wenigen Tagen hatten wir einen ähnlich gelagerten Fall in Kersolf, nur wenige Kilometer entfernt von hier. Die dortige Küstenlinie ähnelt dieser, auch da gibt es steilabfallende Böschungen mit vorgelagerten Felsen. Der Tote von Kersolf trug ebenfalls sehr elegante Kleidung und schien nicht aus der Gegend hier zu stammen. Wie bei diesem Toten, so fanden wir auch bei der anderen Leiche keinerlei Ausweispapiere und auch dort waren Fischabfälle über dem Leichnam verstreut. Auch er wurde am frühen Morgen von einem Spaziergänger entdeckt, auf Grund der Möwen. Wir stehen vor einem Rätsel. Wieso macht jemand auf seine Opfer aufmerksam? Ein Mörder würde sie doch eher verstecken, wenigstens ist das meine Erfahrung.“

Ewen Kerber sah seinen Kollegen an und wartete auf dessen Erwiderung.

Marc Louvin hatte aufmerksam zugehört und sah über das Meer, das langsam ruhiger wurde. Selbst die leichte Brise ebbte weiter ab und ließ den Sturm von der Nacht in Vergessenheit geraten. Es dauerte einige Minuten, bis er sich wieder zu Ewen Kerber umdrehte und ihm sagte, dass er sich während seines Aufenthaltes sehr gerne an der Lösung des Falles beteiligen würde.

„Ich habe etwas gezögert, Ihr Angebot einer Zusammenarbeit sofort zu akzeptieren, bin aber bereit dazu. Allerdings müssen Sie mir ab und zu eine Auszeit gönnen, schließlich verbringe ich meinen Urlaub als Gast bei meinem Freund. Ich werde sicherlich nicht zu jedem Verhör mitkommen oder jeder Spur nachgehen können.“

„Einverstanden“, sagte Ewen, „ich darf Sie aber zwischendurch anrufen und um ihren Rat bitten?“

Louvin war erstaunt, er hatte noch selten einen Kommissar getroffen, der froh über die Hilfe eines auswärtigen Kollegen war. Marc sah nach oben und erkannte dort seinen Freund Gerard, der eine gewisse Ungeduld zeigte, indem er immer wieder auf die Uhr verwies. Marc war sicher, dass Gerard endlich etwas frühstücken wollte. Er gab Ewen Kerber seine Handynummer, verabschiedete sich von ihm und stieg wieder nach oben.

Kapitel 2

„Schön, dass du dich loseisen konntest!“ meinte Gerard zu seinem Freund, als dieser oben auf dem Weg angekommen war.

„Tut mir leid, aber er bat mich, mit ihm an dem Fall zu arbeiten.“

Gerard sah seinen Freund verdutzt an.

„Was hast du gesagt? Du hast doch Urlaub und wir wollen auch noch segeln!“

„Ich weiß und wir werden das auch alles machen, ich habe dem Kommissar Kerber schon gesagt, dass ich freie Zeit für unsere Unternehmungen benötige. Ich werde aber nebenher etwas recherchieren.“

„So nebenher, Marc, ich kenne dich viel zu lange und viel zu gut. Du machst nichts einfach nebenbei. Aber wie du willst, es ist dein Urlaub.“

Die beiden gingen zum Wagen von Marc. Zu Fuß hätte der Weg zurück zu seinem Haus jetzt doch länger gedauert als sein Magen aushalten wollte. Seit geraumer Zeit signalisiert dieser ihm, dass er gerne etwas zu verdauen hätte. Mit dem Auto dauerte es jetzt nur wenige Minuten um zurück zum Haus von Gerard Martinou zu gelangen, das an der sogenannten Corniche, unweit der Pointe de Trévignon lag.

‚Le Paradis‘ an der Pointe de Trévignon hatte er sich vor vielen Jahren als Ferienort ausgesucht. Er konnte nicht einmal sagen warum, vielleicht war es auch nur der Name, der ihn damals dazu bewog. Martinou lebte, wie sein Freund Marc auch, in Paris. Er hatte eine gutgehende internistische Praxis, im achten Arrondissement. Seit einigen Jahren hatte er sich eine Assistentin in die Praxis geholt und seine Anwesenheit deutlich reduziert. Er war Single und völlig unabhängig von Schulferien oder anderen Zwängen. Immer wieder fuhr er für einige Wochen in die Bretagne. Sein Hobby war die Malerei und so verbrachte er viele Stunden mit der Staffelei, an der Küste zwischen Concarneau und Lamor Plage. Am liebsten aber hielt er sich an dem Küstenstreifen zwischen der Pointe de Trévignon und Raguénez auf. Der Küstenverlauf hier war sehr abwechslungsreich. Auf kleine Sandbuchten folgten unmittelbar steinige Abschnitte, auf flache Küstenstreifen, steilabfallende Felsenküsten. Motive in Hülle und Fülle für einen Maler, der aber auch geruhsame Wanderwege entlang des Meeres schätzt.

Louvin steuerte den Wagen in die Einfahrt und fuhr die knapp siebzig Meter bis zum Eingang.

Sein Freund hatte den Platz rechts des Hauses mit Kies versehen, so dass ein großer Parkplatz für die Fahrzeuge vorhanden war. Vier oder auch fünf Autos konnten hier gut parken. Der Garten hatte etwa zweitausend Quadratmeter vor dem Haus und noch einmal gut tausend dahinter. Von vorne hatte man einen herrlichen Blick aufs Meer. Hier auf der Südseite befand sich die Terrasse, mit Tischen und allen Gartenmöbeln.

Der Nachteil seines Hauses, direkt an der Küste mit dem Blick aufs Meer, war eine stark befahrene Straße vor dem Haus, und im Sommer eine nicht zu unterschätzende Belästigung durch die parkenden Autos der Strandbesucher. Völlig alleine war man im Garten dadurch nicht. Die Ligusterhecke hätte zwar vor den Blicken der promenierenden Menschen schützen können, aber dann hätte er sie deutlich höher wachsen lassen müssen. Der Blick auf das Meer wäre somit verdeckt. So hatte sich sein Freund für eine niedrigere Hecke entschieden und einen offenen Blick von außen in den Garten in Kauf genommen. Jetzt allerdings hielten sich sowohl der Verkehr als auch die Spaziergänger in Grenzen. Der Mai gehörte nicht zu den touristenreichsten Monaten. Ab Juni würde der Strom der Besucher wieder zunehmen.

Louvin und Martinou stiegen aus dem Auto und gingen auf das Haus zu. „Was hältst du von dem Fall, Marc?“

„Schon etwas seltsam“, antwortete Marc und fuhr dann fort: „Kerber hat mir gesagt, dass es noch einen zweiten Toten gibt, der ebenfalls abgestürzt und mit Fischabfällen bedeckt worden war. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Dieser Kerber hat mich um meine Unterstützung gebeten, das macht mich auch stutzig. Kommt er nicht weiter? Gibt es Hinweise, dass die Spur nach Paris führt? Fragen, auf die ich keine Antworten habe. Ich sollte mir vielleicht einmal genau berichten lassen, was es bis jetzt in dem ersten Fall an Erkenntnissen gibt. Aber, lass uns nun erst einmal einen kleinen Brunch einnehmen. Für ein Frühstück ist es eindeutig zu spät.“

Gerard hatte die Haustür aufgesperrt und Marc eintreten lassen.

„Mein Magen knurrt in der Tat“, sagte Gerard und ging zu seiner Kaffeemaschine, um für sie beide einen Kaffe zu bereiten. Marc deckte den Tisch, an dem großen Fenster mit dem Blick aufs Meer und holte Brot, Käse und diverse Kleinigkeiten, die am Vorabend übrig geblieben waren aus dem Kühlschrank. Gerard hatte großzügig eingekauft. Sie setzten sich an den Tisch und genossen während des Essens die Aussicht. Ihr Gespräch drehte sich natürlich um den Toten, den Gerard gefunden hatte. Sie hatten schon gut über eine Stunde am Tisch gesessen, als Marcs Handy klingelte.

„Louvin“, meldete er sich.

„Kerber, Ewen Kerber hier, störe ich Sie oder hätten Sie etwas Zeit?“

„Nein, Sie stören nicht, wir haben gerade unser kleines Mittagsmahl beendet. Was gibt es Neues?“

„Ich wollte Ihnen zu dem ersten Toten noch einige zusätzliche Hintergrundinformationen geben. Ich hatte Ihnen ja bereits von dem Fund erzählt. Genau wie bei dem Toten von heute, so waren auch bei dem ersten diese Fischabfälle über den Körper verstreut. In den Taschen hatten wir keinerlei Ausweispapiere gefunden und auch die Fingerabdrücke waren polizeilich nicht erfasst. Der Mann ist immer noch ein Unbekannter für uns. Am Fundort konnten wir, genau wie bei dem heutigen Fund, keinerlei Spuren finden, die auf einen Kampf oder eine tätliche Auseinandersetzung hindeuteten. Die Kleidung des Mannes war sehr elegant, auch das eine Übereinstimmung. Wir fanden bei beiden Leichen Autoschlüssel, aber es fehlen die dazugehörigen Fahrzeuge. Auf irgendeine Art und Weise müssen die Herren ja an die Küste gekommen sein. Alle Befragungen, rund um die Absturzstelle haben uns bei der ersten Leiche nicht zu einem Fahrzeug geführt, das mit dem Toten in einen Zusammenhang gebracht werden konnte. Kollege Louvin, Sie sehen, wir haben noch nicht sehr viel Brauchbares gefunden. Vielleicht haben Sie ja eine Idee, in welcher Richtung wir suchen können.“

Marc Louvin hatte Ewen Kerber erzählen lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Jetzt, nachdem er seinen Bericht beendet hatte, stellte er die Fragen, die ihm schon seit längerem auf der Zunge brannten.

„Herr Kerber, haben Sie die Vermisstenanzeigen schon durchgesehen oder die Fingerabdrücke vielleicht auch mit den Militärunterlagen oder denen der Einwanderungsbehörden verglichen? Manchmal findet sich ja etwas.“

„Wir haben die Vermisstenanzeigen der gesamten Bretagne durchgesehen und auch die der Normandie.“

„Ich schlage vor, die Suche auf ganz Frankreich auszudehnen. Wir sollten das Fernsehen und die Presse einschalten.“ meinte Marc Louvin.

„Wir sind gerade dabei. Wir wollten in dem Ouest-France ein Bild des Toten veröffentlichen.“

„Wenn Sie wollen, dann können wir die Bilder der beiden Toten sofort vom Fernsehen ausstrahlen lassen. Ich habe ganz gute Beziehungen zur Redaktion von TF1.“

„Das Angebot nehme ich gerne an, ich lasse Ihnen sofort zwei Bilder zukommen. Haben Sie eine Email-Adresse?“

Natürlich hatte Gerard einen Computeranschluss und die Möglichkeit eine Mail zu erhalten. Marc Louvin gab dem Kommissar die Adresse und beendete dann das Gespräch.

„Wieso hat er die Presse noch nicht früher informiert? Wenn ich nach einer Woche noch immer keinerlei Informationen über die Identität des ersten Toten hätte, dann wäre das doch der erste Schritt. Gerard, hier in der Provinz scheint es nicht viele Morde zu geben. Selbst ein Anfänger würde in Paris sofort an die Presse denken.“

Er erzählte seinem Freund alles, was er gerade von Kerber erfahren hatte.

„Marc, ich kann es dir nicht sagen, ich komme auch aus Paris und kenne die Mentalität der Menschen hier nicht so gut. Auch wenn ich schon seit Jahren immer wieder für etliche Monate im Jahr vor Ort bin. Er wird davon ausgegangen sein, dass es sich um jemanden aus der Umgebung handelt. Vielleicht dachte er nicht, dass man hier, um diese Jahreszeit auch einen Touristen umbringen könnte. Es dürften jetzt nicht sehr viele hier sein. Die Menschen, die sich jetzt an der Küste aufhalten, sind meist Einheimische.“

Louvin war damit nicht zufrieden und rief deshalb seinen Kollegen Jean-Paul Claude in Paris an.

„Bonjour Jean-Paul, Marc hier, ich brauche deine Hilfe.“

„Hey du bist im Urlaub, nicht schon wieder Verbrecher jagen!“

„Bin da einfach so rein geschlittert, aber ich brauche von dir zweierlei. Erstens schicke ich dir zwei Bilder von unbekannten Toten. Gib diese bitte an TF1 weiter, mit einem Gruß von mir und sie sollen sie sofort ausstrahlen. Wir wüssten gerne, wer die Toten sind. Zweitens brauche ich von dir eine Auskunft über einen Kommissar in Quimper, sein Name ist Ewen Kerber. Versuche, alles was du über ihn finden kannst herauszubekommen.“

„Traust du einem Kollegen nicht?“

„Doch schon Jean-Paul, aber es gibt hier einige Ungereimtheiten. Du kennst mich, lieber verschaffe ich mir sofort Klarheit, anstatt tagelanges Misstrauen zu hegen.“

„Wie kann ich dich erreichen?“

„Am besten über mein Handy Jean-Paul, oder über diese Mail-Adresse. Er gab seinem Kollegen auch die Verbindungsdaten seines Freundes und beendete das Gespräch.

„Was versprichst du dir von der Überprüfung deines Kollegen?“ fragte Gerard, als Marc das Handy zur Seite legte.

„Keine Ahnung, einige seiner Handlungen finde ich seltsam. Vielleicht liege ich auch komplett daneben, wäre nicht das erste Mal. Aber besser danebenliegen, als einen Fehler begehen oder etwas zu übersehen.“ Marc sah seinen Freund an und bemerkte, dass er seine Stirn in Falten gezogen hatte.

„Du findest das nicht gut, habe ich recht?“

„Nun, ich denke mir, dass man seinen Kollegen, zumal wenn man sie noch nicht gerade lange kennt, ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenbringen sollte.“

„Du hast ja recht Gerard, aber wenn man so lange bei der police judiciaire ist wie ich, dann entwickelt man ein Gespür für Unstimmigkeiten. Das muss nachher nicht unbedingt zu einem Fehlverhalten führen, aber es genügt schon, wenn die Person nur bestimmten Spuren nicht nachgehen will, weil man zum Beispiel einen Bekannten, Verwandten oder Freund schützen möchte. Manchmal liege ich natürlich auch daneben und muss mich dann entschuldigen. Lass uns den Nachmittag bei einem Glas Rotwein genießen.“

Gerard war sofort einverstanden und sie gingen, jeder ein Weinglas in der Hand in den Garten. Gerard hatte noch eine zweite, angefangene Flasche Pomerol mit hinaus genommen. Sie setzten sich unter die große Kiefer. Der mächtige Baum überspannte mit seinen weit ausladenden Ästen den ganzen Tisch und die Gartenstühle darunter. Die Sonne stand schon recht hoch und die Temperaturen waren bereits deutlich auf über zwanzig Grad angestiegen. Von dem Tisch aus hatten sie einen herrlichen Blick über den kleinen Badestrand auf der gegenüber liegenden Straßenseite, auf die rechts davon liegenden Felsen und das offene Meer.

Zahlreiche weiße Segel waren am Horizont zu erkennen. Wer ein Boot besaß, war bei diesem strahlenden Wetter unterwegs. Der Sturm der vergangenen Nacht schien vergessen zu sein. Auch die leichte Brise vom Vormittag war verschwunden. Das Meer war so ruhig wie selten. Die beiden Freunde genossen den Wein und Marc sah zu seinem Freund auf, als er sagte: „Es geht uns schon recht gut, findest du nicht? Mit einem Glas Wein bei sonnigem Wetter an einem schattigen Plätzchen zu sitzen, keine Gedanken an die Arbeit zu verlieren und die Seele so richtig baumeln lassen zu können, das ist schon ein Stück vom Glück.“ Marc war ins Philosophieren gekommen. Auch Gerard musste zugeben, dass man nicht viel mehr brauchte um zufrieden sein zu können, fügte dann aber doch hinzu: „Das stimmt, aber man muss auch die finanziellen Möglichkeiten dazu besitzen.“

„Klar, ich könnte mir so ein Haus nicht leisten, höchstens für zwei oder drei Wochen zur Miete. Gut, dass wir alte Freunde sind.“

Sie verbrachten den restlichen Nachmittag mit Erzählungen aus der Vergangenheit. Es war schon etwas später, als das Mobiltelefon Marc Louvin mitten in einer Geschichte abrupt unterbrach.

„Louvin“, meldete er sich.

„Jean-Paul hier, Marc ich habe einige Informationen für dich. Dein Kollege ist sehr erfolgreich. In den letzten Jahren hat er zahlreiche Fälle, jeweils in kurzer Zeit gelöst. Er hat die besten Beurteilungen, von der Polizeischule angefangen bis heute. Er gilt als etwas eigenbrötlerisch, ist aber durchaus beliebt. Seine Frau ist vor einigen Jahren bei einem Autounfall verunglückt. Der Fahrer hatte Unfallflucht begangen. Kerber hat den Fall selbst gelöst und den Schuldigen vor Gericht gebracht. Kerber ist ein unbeschriebenes Blatt, wenn ich das so sagen darf.“

„Wie sieht es mit der Veröffentlichung der Bilder von den beiden Opfern aus?“

„TF1 strahlt sie um 20 Uhr aus. Das ging problemlos.“

„Danke Jean-Paul, solltest du noch weitere Informationen bekommen, dann weißt du ja, wie du mich erreichen kannst.“ Damit beendete Marc das Gespräch.

Es war kurz nach 17 Uhr als sie ins Haus gingen und mit den Vorbereitungen für ihr Abendessen begannen.

Kapitel 3

Yannick Detru von der Rechtsmedizin trat in das Büro von Ewen Kerber ein und legte die mitgebrachte Akte vor dem Kommissar auf den Schreibtisch.

„Es war keinerlei Fremdeinwirkung festzustellen, Ewen. Wie ich dir schon am Strand gesagt habe, schlichtweg ein Unfall. Der Mann ist abgestürzt und ist mit dem Kopf auf die Felsen aufgeschlagen. Sein rechter Unterarm war gebrochen. So wie der Bruch lag, nehme ich an, dass er versucht hat sich abzustützen, was aus so einer Höhe ein vergebliches Unterfangen ist. Für ein Gewaltverbrechen konnte ich keine Hinweise finden. In seinem Blut fanden sich keine Spuren von Alkohol oder Betäubungsmitteln oder sonst irgendwelchen Drogen oder Medikamenten. Hat die Spurensicherung etwas Brauchbares gefunden?“

Ewen Kerber hatte sich den Bericht des Pathologen ruhig angehört und an der einen oder anderen Stelle zustimmend genickt.

„Die Spurensicherung hat bei dem Mann, wie bei dem ersten Toten, keinerlei Ausweispapiere gefunden. Auch er trug kein Portemonnaie bei sich, was doch recht seltsam ist und den Verdacht auf einen Raubmord nährt. Yannick, ich würde dir ja zustimmen, dass es sich um einen Unfall handelt, wenn da nicht die Fischabfälle auf seinem Leichnam wären. Das kann ich nicht einem Unfall zuordnen.“

„Das mit den Fischabfällen ist schon sonderbar, da gebe ich dir recht Ewen, aber wieso sollte jemand einen Mann eine Böschung hinunter werfen und ihn anschließend mit Fischabfällen bedecken. Das macht irgendwie keinen Sinn.“

„Vielleicht ist das eine versteckte Botschaft? Eine Botschaft, die wir noch nicht entschlüsselt haben.“

Yannick erhob sich von dem Stuhl, auf den er sich während seines Berichtes hatte fallen lassen und schlenderte wieder gemächlich zur Tür.

„Bis zum nächsten Mal, Ewen, mach’s gut.“

Ewen hatte den Bericht des Pathologen zur Hand genommen und angefangen zu lesen. Als Yannick die Bürotür hinter sich geschlossen hatte, klingelte das Telefon und Carla Rozier war am Apparat.

Die Stimmung von Ewen hellte sich spontan auf.

„Liebling, wie geht es dir?“ rief er ins Telefon und sein Gesicht entspannte sich.

„Es geht mir ganz gut, danke, ich wollte dich nur fragen, wann wir uns heute sehen können. Ich will Marie noch zur Kontrolluntersuchung begleiten und danach wäre ich frei. Wir könnten uns vielleicht schon zu einem kleinen Aperitif, so gegen 17 Uhr im Café Finistère treffen, was hältst du davon?“

Ewen sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es erst 15 Uhr war. Er hatte noch über eineinhalb Stunden Zeit bis dorthin. Das musste für heute genügen.

„Finde ich eine wunderbare Idee mein Schatz, wir sehen uns um fünf im Café Finistère. Alles Gute für die Untersuchung, ich bin mir sicher, das alles Okay ist mit Marie.“

„Ich denke auch, sie kommt langsam über alles hinweg.“

Ewen legte auf.

Er hatte Carla vor wenigen Wochen kennengelernt, als er im Café Finistère einen Espresso genossen hatte. Sie saß mit ihrer erwachsenen Tochter Marie, die seiner Schätzung nach etwa vierundzwanzig Jahre alt war, am Nachbartisch. Die beiden unterhielten sich über die Chagall Ausstellung im Kunstmuseum, das gleich neben dem Café lag.

Auch Ewen hatte sich diese Ausstellung angesehen, schließlich war eine solche Ausstellung ein Ereignis für Quimper. Die Stadt mit ihren knapp 80 000 Einwohnern war zwar Sitz der Verwaltung des Departements, hatte ein Theater, eine neue Mediathek, Kinos, aber kulturell gehörte sie nicht zur Spitze Frankreichs.

Die Frau gefiel ihm ausgesprochen gut. Als er ihre Tochter sagen hörte, dass die Ausstellung bestimmt auch Papi gefallen hätte, wenn er noch leben würde, ging Ewen davon aus, dass die Frau vielleicht genauso alleine lebte wie er. Er hatte nicht lange überlegt und sie mit einem Kommentar zur Ausstellung angesprochen. Ganz schnell entwickelte sich daraus eine Konversation, die Ewen mit einer Einladung zum Essen beendete. Völlig entspannt hatte er ihr gesagt, dass sie ihm sehr gut gefalle und er glücklich wäre, ihre nähere Bekanntschaft zu machen.

Ewen hatte auch bei Carla einen sympathischen Eindruck hinterlassen und so nahm sie die Einladung gerne an. Ewen schlug für den Abend das Restaurant Ambroisie vor. Carla war einverstanden und so wollten sie sich dort treffen. Das Restaurant war als gute Adresse in Quimper bekannt.

Schon bald stand für beide fest, dass sie sich einen gemeinsamen Lebensweg vorstellen könnten.

Carla hatte Ewen viel von ihrer Tochter Marie erzählt, die seit wenigen Tagen fünfundzwanzig Jahre alt war und die über einige Traumata hinwegkommen musste. Nicht nur über den Tod ihres Vaters, der bei einem Verkehrsunfall gestorben war, sondern auch über eine Vergewaltigung, die vor drei Jahren stattgefunden hatte. Damals war Marie mit ihrer besten Freundin zu einem Segeltörn aufgebrochen. Ihrer Freundin Sylvie Nicot und vier Männern aus ihrem Bekanntenkreis, stand für drei Tage eine große Segelyacht zur Verfügung und sie wollten damit an der Küste entlang segeln. Während der ersten Tage war alles sehr schön und harmonisch verlaufen. Am Abend vor ihrer Rückkehr hatten die Männer ziemlich viel getrunken und waren immer aufdringlicher geworden. Als die Mädchen sie abwiesen, waren sie über sie hergefallen und hatten beide mehrmals vergewaltigt.

Nach der Rückkehr verschwanden die vier Männer sofort. Marie kannte lediglich ihre Vornamen. Die Yacht gehörte einem Bekannten von Sylvie, aber Marie hatte sich nicht einmal den Namen der Yacht gemerkt. Nur Sylvie kannte die Yacht, den Besitzer und die Männer. Da auch Sylvie nach der Rückkehr sofort verschwunden war und man sie erst fand, nachdem sie sich das Leben genommen hatte, blieben die Täter bis heute unbestraft. Die Anzeige, die damals gegen Unbekannt aufgegeben wurde, musste eingestellt werden.

Marie begann, mit der Unterstützung ihrer Eltern, eine psychologische Therapie.

Für Ewen war das Zusammentreffen mit Carla wie ein vom Schicksal gewolltes Arrangement. Seine Frau war, wie auch Carlas Mann bei einem Verkehrsunfall gestorben. Ewen sah in Carla ein Geschenk des Himmels. Sie trafen sich nun regelmäßig und vor einigen Tagen hatten sie sich entschlossen zusammenzuziehen.

Ewen Kerber bewohnte ein sehr großes Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Carla lebte mit ihrer Tochter in einer Mietwohnung.

Carla Rozier arbeitete als Abteilungsleiterin in der Filiale der BNP Paribas in Quimper. Ihre Tochter war seit einem Jahr als Kindergärtnerin tätig.

Die Arbeit mit den Kindern hatte Marie geholfen über die Vergewaltigung hinweg zu kommen. Vor zwei Wochen war Marie zu ihrer Mutter gekommen und hatte ihr gesagt, dass sie sich eine eigene Wohnung nehmen wollte. Langsam müsse sie auf eigenen Beinen stehen. Carla hatte ihre Tochter in ihrem Vorhaben unterstützt. Und so war ihr die Entscheidung, zu Ewen zu ziehen, leicht gefallen.

Ewen erwachte langsam wieder aus seinem Tagtraum und legte den Bericht des Pathologen zur Seite, den er immer noch in Händen hielt. Vielleicht würden sie morgen weiterkommen, wenn die Bilder einmal im Fernsehen veröffentlicht waren. Ewen erhob sich und ging zu seinem Kollegen Paul Chevrier.

„Paul, haben wir außer diesen Fischabfällen und den Geldbörsen weitere Übereinstimmungen zwischen den beiden Morden gefunden?“