Münter & Kandinsky - Alice Brauner - E-Book

Münter & Kandinsky E-Book

Alice Brauner

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Wie du mich glücklich machen kannst. Und wie du mich quälen kannst.« Wassily Kandinsky in einem Brief an Gabriele Münter
Das Buch zum großen Kinoereignis im Oktober 2024 über die leidenschaftliche und zugleich fatale Beziehung des Künstlerpaares


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt und malt die gebürtige Berlinerin Gabriele Münter gemeinsam mit ihrer großen Liebe, dem Russen Wassily Kandinsky, im bayerischen Murnau am Staffelsee. Die Provinz wird zum Ausgangspunkt eines künstlerischen Aufbruchs in die Moderne, der Malerei und Kunstverständnis revolutioniert und die Künstlerbewegung Der Blaue Reiter hervorbringt.

Atmosphärisch dicht zeichnen Alice Brauner und Heike Gronemeier die Lebens- und Liebesgeschichte von Münter und Kandinsky nach: Die junge Malschülerin, die sich in den elf Jahre älteren Lehrer verliebt. Ihr gemeinsames Leben auf Reisen und im Blauen Land, das zu der Inspirationsquelle ihrer Malerei wird und sie – gemeinsam mit Werefkin, Jawlensky, Marc und Macke – zu Pionieren ihrer Zeit macht. Ihre künstlerisch produktive, aber privat eher fatale Verbindung, die Münter zeitweise in Depression und Schaffenskrise stürzt, ehe sie sich aus dem Schatten ihres Mentors und Geliebten zu befreien vermag.

Dabei gelingt es den Autorinnen nicht nur, die Leser*innen am Rausch der 1914 jäh endenden Aufbruchstimmung teilhaben zu lassen, sondern auch die Beziehung der beiden Künstler in ein neues Licht zu setzen: Der eine konnte nur das werden, was er war, durch den anderen. Denn so wenig, wie sich Leben und Kunst Gabriele Münters ohne Wassily Kandinsky darstellen lassen, so wenig ist seine Geschichte und auch die der neuen Künstlerbewegungen ohne sie denkbar. Mit zahlreichen SW-Fotografien und einem Farbbildteil.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

München leuchtete, vor allem für Frauen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Stadt ein Zentrum der noch jungen Frauenbewegung und zugleich der Ort eines vielfältigen kulturellen Aufbruchs. In diesen Kosmos zieht es die junge Künstlerin Gabriele Münter, dort beginnt sie, einen eigenen, ausdrucksstarken Malstil zu entwickeln – und dort findet sie ihre große Liebe, den Russen Wassily Kandinsky. Alice Brauner und Heike Gronemeier erzählen die Lebens- und Liebesgeschichte dieser beiden Ausnahmekünstler, die im Zentrum des Blauen Reiter standen. Basierend auf vielen

Briefen, die sich Münter und Kandinsky während ihrer langen, turbulenten Beziehung schrieben, beleuchten sie eine künstlerisch höchstproduktive, privat aber immer fatalere Verbindung. Und sie zeigen, welche Kraft es Gabriele Münter kostete, sich aus dem Schatten ihres Mentors und Geliebten zu befreien.

Zu den Autorinnen

Alice Brauner ist Journalistin, Historikerin und Filmproduzentin und leitet seit 2019 das Unternehmen CCC Filmkunst ihres Vaters, des legendären Filmproduzenten Artur Brauner. Ihr Buch »Also dann in Berlin ... Artur und Maria Brauner. Eine Geschichte vom Überleben, von großem Kino und der Macht der Liebe über ihre Eltern« war ein SPIEGEL-Bestseller. Alice Brauner lebt mit ihrer Familie in Berlin und München.

Heike Gronemeier arbeitete zehn Jahre als Lektorin bei renommierten Verlagshäusern in München und Berlin, bevor sie sich 2008 mit der Verlagsagentur text & bild in München selbständig machte. Als Ghostwriterin und Co-Autorin verfasste sie zahlreiche SPIEGEL-Bestseller, unter anderem zusammen mit Alice Brauner die Lebensgeschichte des legendären Filmproduzenten Artur Brauner und seiner Frau.

www.penguin-verlag.de

ALICE BRAUNER

HEIKE GRONEMEIER

Von der Macht der Farben und einer fatalen Liebe

Die Briefe, die Wassily Kandinsky aus Russland an Gabriele Münter und andere schrieb, sind nach dem bis 1918 gültigen julianischen Kalender datiert. Der in Deutschland gültige gregorianische Kalender war diesem damals um 13 Tage voraus. Im Text folgen wir bei den Zeitangaben, sofern nicht anders angegeben, letzterem.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Jürgen Bolz

Bildredaktion: Annette Baur

Bildbearbeitung: Lorenz & Zeller, Inning a. Ammersee

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagabbildung: Gabriele Münter, Blick auf’s Moos, Detail, 1909, Privatsammlung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32141-3V001

www.penguin-verlag.de

Je größer die Verwirrung im Leben, desto notwendiger die Klarheit in der Kunst.

Gabriele Münter

Manches ist nur in der Zukunft gut, manches in Unmöglichkeit schön.

Wassily Kandinsky

Inhalt

Vorwort

Prolog

I  Neue Welten

Leinen los!

Märchenstadt

München leuchtet

II  Annäherung

»Meine Idee von Glück«

»Gewissensehe«

Wanderjahre

III  Die Welt hinter den Dingen

Die Murnauer Vier

Unser Häuserl, ein Märchen

Irre bei Thannhauser

IV  Abschied von der Wirklichkeit

Der Riese und die Zwerge

Ins Blaue

Entfremdung

Aus dem Traum gerissen

V  Bleierne Zeit

Spitzes weißes Schweigen

Hoffnungsschimmer

Seelenqualen

Weltkind

VI  Der lange Schatten des Gefährten

Bittere Wahrheit

Hass und Ohnmacht

Epilog

Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildnachweis

Bildteil

Vorwort

»Du verdienst totgeschlagen zu werden. (…) Warum räche ich mich nicht an Dir?« Große Wut und tiefer Schmerz sprechen aus diesen Worten. Sie stammen aus einem Brief, den Gabriele Münter im Juni 1903 an Wassily Kandinsky schrieb. Da kannten sich die beiden gerade einmal ein Jahr. Beim darauffolgenden Malkurs in Kallmünz werden sie endgültig zueinanderfinden – die durchaus selbstbewusste junge Künstlerin und der russische Maler, beide noch nach einem eigenen künstlerischen Ausdruck suchend, beide noch nicht auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Und doch stehen diese verstörenden Worte nicht nur für den schwierigen Beginn dieser dramatischen Liebe, sondern sinnbildlich für die zwölf Jahre andauernde Beziehung: eine Zeit des wechselseitigen künstlerischen Befruchtens und gleichzeitig eine des schleichenden gegenseitigen Vergiftens.

Nur zögerlich lässt sich Münter auf Kandinsky ein, diesen attraktiven Mann, der deutlich älter ist als sie und von seinem Wesen her ganz anders. Ein wankelmütiger, zögerlicher Mensch, dessen emotionale Ausschläge zwischen glühender Leidenschaft und pathetischem Rückzug in die Einsamkeit ihr alles abverlangen. Vor allem aber ist er ein verheirateter Mann, gequält von Schuldgefühlen gegenüber seiner Frau, geplagt von Verlustängsten und gleichzeitig beseelt von der Vorstellung, mit Münter zu leben und zu arbeiten.

Doch die gegenseitige Enttäuschung auf der Beziehungsebene wird in den gemeinsamen Jahren Monat um Monat wachsen. Weil Kandinsky die Scheidung hinauszögert und damit das Münter gegebene Eheversprechen. Er fühlt sich von ihr bedrängt und eingeengt, während sein ausweichendes Verhalten bei ihr zunehmend Verbitterung und Verzweiflung nährt.

Dieses Buch versucht das komplexe Geflecht, das dieses Liebesverhältnis geprägt hat, zu entwirren. Ziel ist eine zeitgemäße Lesart ohne retrospektive Projektionen, doch eingebettet in eine profunde Darstellung der gemeinsamen Geschichte im Kontext der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Johannes Eichner, Kunsthistoriker und seit 1927 Münters Lebensgefährte, beschrieb das Paar in den 1950er Jahren als den »Zusammenschluss zwischen dem Naiven und dem Spirituellen«. Münters »unversehrte Zuversicht des Herzens« stellte er der »komplizierten Geistigkeit Kandinskys« gegenüber, ihre »unreflektierte Sicherheit der Kreatur« seiner »intellektuellen Grübelsucht«. In der Heiterkeit eines schüchternen Gemütes halte Münter die »Anmaßung des Denkens« von sich fern und sei außerstande, »Erklärungen, Begründungen, Wertungen« für ihre eigene Arbeit zu geben. Ihre Kunst sei ihrer »Einsicht und Absicht entzogen«. Gelassenheit sei ihr Grundzug, sie sei »echt und ursprungsfrisch«, »kindhaft-fröhlich«, kritikfern und spontan im Gegensatz zu Kandinskys »verquält köpflicher Einstellung«.[1] Aus dieser charakteranalytischen und kunsttheoretischen Schwarz-Weiß-Malerei, die keinem der beiden gerecht wird, sprechen der Geist der damaligen Zeit und typische Rollenzuschreibungen.

Gisela Kleine hat sich in ihrem Standardwerk Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares tief in die Beziehung der beiden hineingearbeitet, doch das Werk ist inzwischen 34 Jahre alt. Seitdem wurden einzelne Aspekte der Verbindung von Münter und Kandinsky beleuchtet, es entstanden kunsthistorische Sachbücher mit kleinen biografischen Einsprengseln, deren Fokus auf der Malerei und dem künstlerischen Aufbruch in die Moderne liegt; oder aber romanhafte Erzählungen, die diese vielschichtige intensive Verbindung trivialisieren und eine klare Rollenverteilung zwischen »gut« und »böse« vornehmen. Oftmals wird Münter dabei als »Opfer«, Kandinsky als »Täter« stilisiert, der sie durch sein Verhalten in eine Depression und Schaffenskrise stürzte. Hier die verkannte Münter, dort der verteufelte Kandinsky. Aber so einfach ist es nicht.

Wir haben intensiv über die Blaue Reiterin Gabriele Münter und ihr persönliches und künstlerisches Umfeld recherchiert und uns mit wachsender Neugier in ihr Leben und Werk vertieft. Dieses Buch fasst die Ergebnisse dieser Annäherung zusammen. Es ist der Versuch eines emotionalen, intimen Einblicks in ein faszinierendes und bisweilen tragisches Künstlerleben, das sich vielschichtiger zeigt als bislang angenommen. Von Anfang an konnten wir uns sehr stark mit Gabriele Münter identifizieren, weil viele Frauen zu allen Zeiten Ähnliches erlebt haben und heute noch erleben: das Dasein im Schatten eines berühmten, erfolgreichen, emotional fordernden Mannes. Das Sich-erniedrigt-und-wertlos-Fühlen.

Die Beziehung zwischen Münter und Kandinsky war in der Tat dysfunktional – das bestätigen sowohl die Briefwechsel aus dem Umfeld der beiden, als auch die vielen Selbstzeugnisse: Von Wassily Kandinsky sind rund siebenhundert Briefe, darunter vielfach mehrseitige, sowie Postkarten im Nachlass erhalten, von Gabriele Münter nur etwa zweihundert, dazu Notizen und Tagebucheinträge. Sie zeichnen den langen Weg nach vom erst zarten, dann drängenden Werben Kandinskys hin zu einer Bindung, in der beide künstlerisch Fesseln sprengen, sich aber der Wunsch aus den Anfangszeiten, es möge immer heiterer Himmel über ihnen sein, als Illusion erweist.

Münter war eine sperrige Person, die zuweilen Schwierigkeiten im sozialen Umgang hatte. Kandinsky ein janusköpfiger Russe mit starken Gefühlsschwankungen. Waren sie getrennt, vermisste er sie unendlich, schrieb ihr seitenlange Briefe, die vor Liebesbekundungen nur so trieften. Waren sie beieinander, gab es immer wieder Schwierigkeiten bis hin zu erbitterten Streitereien. Es war eine Liebe, die keine Erfüllung duldete, weil sie sich nie die Wirklichkeit zum Maßstab ihrer Vollendung machte. Kandinsky, seinerseits verliebt in die Idee von Liebe, konnte in jeder verwirklichten Liebe nur ein Schattenbild seiner schillernden Vorstellung derselben sehen. Münter, ihrerseits verliebt in einen zum Phantasma idealisierten Kandinsky, eilte einer Fata Morgana nach, die blass aus der Ferne lockte, im Augenblick des Greifbarwerdens aber nur ernüchtern konnte. Einer Liebe, die zu keinem Zeitpunkt in Zusammenhang mit ihrer Verwirklichung steht, ist die Enttäuschung als Signatur eingeschrieben. Von dieser Signatur, die sich aus den Namen Münter und Kandinsky zusammensetzt, erzählt das Buch.

Eine Betrachtung von Kandinsky vor dem Hintergrund von Münters Biografie kann ihre Leistung als Künstlerin keinesfalls schmälern. Im Gegenteil: Frauen in der Kunst werden bis heute oftmals unterschätzt. Das ist nichts wirklich Neues. Neu allerdings ist die Anerkennung, die Gabriele Münter in jüngster Zeit erfährt – ihre Bilder erzielen mittlerweile zum Teil siebenstellige Summen auf internationalen Auktionen. Gabriele Münter in all ihren Facetten zu zeigen, heißt deshalb auch, die Beziehung zu Kandinsky nicht als Scheitern weiblicher Emanzipation, sondern als Ausdruck ihrer Unbeugsamkeit zu begreifen. Münter ist die Wertschätzung, die sie verdient hätte, lange nicht zuteilgeworden. Aber war das so, weil sie zu lange im Schatten des »großen« Wassily Kandinsky stand? Oder hat nicht gerade er ihre Wandlung vom impressionistischen Abmalen zu expressionistischen Höhenflügen gefördert? Münter selbst sagte später über ihren ehemaligen Lehrer und seine Rolle in ihrer künstlerischen Entwicklung: »Alle meine Bilder stellen Momente meines Lebens dar, flüchtige, visuelle Augenblicke, meist rasch und spontan hingeworfen. Aber Malen ist wie plötzlich in tiefes Wasser springen, und ich weiß vorher nie, ob ich werde schwimmen können. Was Kandinsky mich lehrte, war eben die Technik des Schwimmens, das heißt (…) mit genügend Selbstvertrauen zu malen, um solche Augenblicke des Lebens rasch und ungezwungen festzuhalten.«[2]

Gabriele Münter war im Kontext ihrer Zeit progressiv und emanzipiert. Auch dank des Erbes ihres Vaters, das ihr die Ausbildung an privaten Akademien wie Kandinskys Malschule Phalanx ermöglichte. Aber eben »emanzipiert« im damaligen Sinne. Wer die Bemühungen um die Eigenständigkeit einer Künstlerin wie Gabriele Münter zur Darstellung bringen will, sollte also nicht der Versuchung erliegen, sie durch die Linse zeitgenössischer Emanzipationsbewegungen zu betrachten. Heute mag es niemanden verwundern, wenn ein Kunstwerk von einer Frau signiert ist. Doch zu Zeiten des Blauen Reiters war schon der bloße Akt, aus Gründen der beruflichen Selbstverwirklichung als freie Künstlerin zum Pinsel zu greifen, ein emanzipatorischer. So kann Münters Malerei auch als Ausdruck des Triumphes weiblicher Selbstbestimmung über den männlichen Blick auf die Welt gewertet werden.

Dass Gabriele Münter unabhängig davon eine Ehe nach bürgerlichem Vorbild mit Kandinsky anstrebte, macht sie nicht minder selbstbestimmt. Vielmehr war das Ausdruck der gesellschaftlichen Strukturen der Belle Époque, denen sie trotz allen Aufbäumens unterworfen war. Ohnmächtig stand Gabriele Münter diesen Strukturen jedoch nicht gegenüber. Nicht im Mindesten! Statt sich mit der ihr aufgezwungenen Rolle abzufinden, statt sich in Passivität und Resignation angesichts patriarchaler Weltmuster zu flüchten, brachte sie ihr künstlerisches Können zur Entfaltung.

Die Erwartungen, die Vorbehalte und der Widerstand, gegen die Gabriele Münter ankämpfen musste, waren andere als heute. Doch das schmälert ihre Leistung für die selbstbestimmten Lebensperspektiven von Frauen nicht. Neben Paula Modersohn-Becker, Käthe Kollwitz, Marianne von Werefkin und anderen war Gabriele Münter eine jener Künstlerinnen, die den Keim legten, den heutige Emanzipationsbewegungen in der Kunst zur Reife bringen wollen. Auf den Schultern dieser Frauen stehen inzwischen ganze Generationen von Künstlerinnen. Nicht zuletzt auch diesem Erfolg will das Buch ein Denkmal setzen.

Alice Brauner und Heike Gronemeier

Berlin/München, im Sommer 2024

Nicht nur in München stehen die Menschen Schlange, um einen Blick auf »entartete Kunst« zu werfen.

Ausstellung Entartete Kunst, 1937. Foto: ullstein bild

Prolog

Am 19. Juli 1937 eröffnet im Archäologischen Institut in den Münchner Hofgartenarkaden eine Ausstellung, in die gleich am ersten Tag 30 000 Besucher strömen. Von Dezember an werden die 650 Exponate von mehr als hundert Künstlern, konfisziert aus 32 deutschen Museen, als Wanderausstellung in zwölf weiteren Städten gezeigt. Zwei Millionen Menschen wollen sehen, was die nationalsozialistische Propaganda als »entartete Kunst« deklariert. In seiner Eröffnungsrede dröhnt Adolf Ziegler, Präsident der Reichskammer der bildenden Künste: »Sie sehen um uns herum diese Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtskönnertums und der Entartung. Uns allen verursacht das, was die Schau bietet, Erschütterung und Ekel.« Seit 1933 waren deutsche Museen gezielt von allem »gesäubert« worden, was das »gesunde Volksempfinden zersetzen« könnte, was die Nazis als »undeutsch« und »jüdisch-bolschewistisch« diffamierten. An die 20 000 Werke waren bis dahin aus Museumsbeständen beschlagnahmt worden, Arbeiten von weit über tausend Künstlern galten als »entartet«, viele von ihnen hatten Berufsverbot. Eisenbahnzüge hätten nicht ausgereicht, um die deutschen Museen von diesem Schund auszuräumen, so Ziegler.[1]

Betroffen sind alle Stilrichtungen moderner Kunst seit der Jahrhundertwende: Impressionismus, Expressionismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Kunst des Bauhauses, abstrakte Kunst, Neue Sachlichkeit, Surrealismus, Kubismus, Fauvismus und Futurismus. Vor allem über Künstler des Expressionismus hatten sich schon seit Längerem Hohn und Spott ergossen. »›Der Blaue Reiter‹. Einst war er das Wahrzeichen jener Ultras, die sich 1912 um den Russen Kandinsky scharten, mit dem erhabenen Ziel, die Kunst in Deutschland zu allen Hunden zu hetzen. (…) Jene Meister, die noch den Heilskelch Deutscher Kunstüberlieferung durch die verpestete Zeit tragen (…) werden uns helfen, dass eines Tages der Spuk des Blauen Reiters in alle Winde verfliegt«, hatte die völkische Deutsche Kunstgesellschaft bereits 1930 verlauten lassen.[2] Diese Auffassung sollte sich durchsetzen, auch wenn Joseph Goebbels noch bis ins Jahr der Ausstellungseröffnung versucht hatte, den Expressionismus als »nordische Kunst« zu deklarieren, weil sie so kraftvoll und revolutionär sei – und sich besonders gut im Ausland verkaufen lasse, weshalb die deutschen Vertreter dieser Richtung das internationale Ansehen des Landes mehren könnten.

In den Hofgartenarkaden drängen sich die Besucher durch neun Räume auf zwei Stockwerken, jeder einer anderen »Entartung« gewidmet. Aktgemälde von Max Ernst oder Ernst Ludwig Kirchner werden als »Verhöhnung der deutschen Frau« gebrandmarkt, und sakrale Motive von Emil Nolde, Max Beckmann oder Karl Schmidt-Rottluff verunglimpften angeblich die christliche Religion. Über den größten Teil der Ausstellung lesen die Besucher im Leitfaden zum Rundgang: »Dieser Abteilung kann man nur die Überschrift ›Vollendeter Wahnsinn‹ geben. (…) Auf den Bildern und Zeichnungen dieses Schauerkabinetts ist meistens überhaupt nicht mehr zu erkennen, was den kranken Geistern vorschwebte, als sie zu Pinsel oder Stift gegriffen.«[3]

Unter den Besuchern ist auch Gabriele Münter. Es ist eine schmerzhafte Begegnung mit der Vergangenheit, mit den Weggefährten des Blauen Reiters und mit ihrer großen Liebe Wassily Kandinsky. Sie steht vor Alexej JawlenskysMädchen mit grüner Halskette/Kleines Kind (1908) und der Sizilianerin mit grünem Schal (1912), vor Franz MarcsTurm der blauen Pferde (1913) und Zwei Katzen in Blau und Gelb (1912), vor Werken von Paul Klee, Alfred Kubin und Heinrich Campendonk. Sie sieht Druckgrafiken von Kandinsky, Zweierlei Rot, das im Jahr ihrer letzten Begegnung entstanden war und Improvisation X, das 1910 auf der zweiten Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München zu sehen gewesen war. Das Bild war der Auftakt für den künstlerischen Weg des Gefährten in die Abstraktion. Schon damals hatten Publikum und Presse über wüste Farbklecksereien gespottet, später die Blauen Reiter »Verräter am deutschen Geist« genannt, jetzt waren Ausschnitte von Kandinskys Bildern an die Wände der Ausstellungsräume gepinselt, um den Besuchern klarzumachen, dass ein paar schwarze Linien mit bunten Flächen dazwischen keineswegs als Kunst zu verstehen seien.

Dass ihre eigenen Werke als einzige aus dem Kreis des Blauen Reiters nicht zu sehen sind, liegt daran, dass kein deutsches Museum bis dahin eines ihrer Bilder erworben hatte. Es liegt daran, dass sie in der Wahrnehmung als Künstlerin im Schatten ihrer männlichen Malerkollegen steht – einzig ein Werk von Paula Modersohn-Becker ist in München zu sehen. Es liegt daran, dass ihre Bilder aus der Zeit des Blauen Reiters, die Wahl ihrer Motive und vor allem ihre Hinterglasbilder eine gewisse »Volkstümlichkeit« vermittelten, man ihnen einen naiven Realismus zuschrieb, eine weiblich-naive schlichte Sicht auf die Welt, in der das Gegenständliche sich nicht wie bei Kandinsky aufgelöst hatte. Und es liegt auch daran, dass der Galerist Herwarth Walden, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg der Avantgarde in seiner »Sturm«-Galerie eine Plattform gegeben hatte, Gabriele Münter 1923 wegen eines Rechtsstreits von der Liste »seiner Künstler« gestrichen hatte. Für die nationalsozialistische Propaganda war Walden einer jener »jüdischen Kunsthändler«, die mit ihren Galerien zur Verbreitung dieser »Schandwerke« beigetragen hätten. Waldens Liste war eine der Quellen für die Zusammenstellung der Ausstellung »Entartete Kunst« gewesen.

Als die Nationalsozialisten am 31. Mai 1938 das »Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst« auch auf Bilder in Privatbesitz ausweiten, entscheidet sich Gabriele Münter zu einem hochriskanten Schritt. Sie holt heimlich die in München bei einer Spedition eingelagerten Werke von Kandinsky und den Malerfreunden aus dem Kreis des Blauen Reiters in ihr Haus nach Murnau. Der Marktflecken bezeichnet sich schon Mitte der 1920er Jahre stolz als Nazi-Hochburg, der Ort im »Blauen Land« ist braun und seit 1933 »judenrein«. »Gestern als ich vor Mitternacht nach oben ging, fand ich am Türfenster 3 Blatt Hitlerreklame, die abends um 11 angebracht [worden] war. Heute war auch ein großes Blatt im Briefkasten – es kann einem übel werden«,[4] hatte Gabriele Münter schon 1932 festgehalten und nach dem Wahlsieg der NSDAP ein Jahr später ihre eigenen Bilder aus Galerien und Depots, vor allem in Berlin, allesamt nach München bringen lassen, verpackt in zahllosen Kisten, über 900 Kilo Fracht.

Jetzt löst sie vorsichtig Leinwand um Leinwand aus den Rahmen, die sie zu Brennholz zerkleinert. 139 Ölgemälde sind es allein von Kandinsky, dazu kommen über 280 Aquarelle, Temperabilder und Zeichnungen, Dutzende grafische Blätter, Hinterglasbilder und Skizzenbücher aus der Zeit vor 1914. Eingerollt in Packpapier überdauert das gesamte Frühwerk Kandinskys im Keller ihres Hauses in einer Zinktonne, die Gabriele Münter in einen versteckten Einbau geschoben hatte, vor neugierigen Blicken geschützt durch Vorratsregale mit Einmachgläsern. Es übersteht die Einquartierung Ausgebombter und den Beschuss von Zügen und der nahe gelegenen Bahnlinie durch Tiefflieger. Doch als die Amerikaner Ende April 1945 vorrücken, kursieren schnell Gerüchte, dass sie Häuser beschlagnahmen würden, um darin ihre Offiziere unterzubringen. Den Bewohnern bliebe nur eine Viertelstunde Zeit, das Nötigste zu packen.

Tatsächlich trommeln am 30. April um zwei Uhr nachts amerikanische Soldaten an die Tür des Hauses in der Kottmüllerallee. Mit einer Kerze in der Hand habe sie geöffnet, hält Gabriele Münter in ihrem Tagebuch fest: »Zwei Pistolen, wir mussten ihnen das ganze Haus und die Keller zeigen, immer bedroht, scheußlich.« Zwei Tage später, am 2. Mai, gibt es gleich vier Hausdurchsuchungen: »Sämtliche Soldatenschnüffler sind dumm an der Remisentür vorbeigegangen. Noch keiner hat sie bemerkt.«[5] Drei Mal interveniert sie bei den Amerikanern, erklärt, wer sie ist, und legt ein englischsprachiges Buch aus dem Jahr 1914 vor, in dem sie als Mitbegründerin des Blauen Reiters geführt wird und mit zwei Bildern vertreten ist, Kandinsky mit vieren, gefeiert als »pure Musik«[6]. Erst danach wird ihr Haus und damit unwissentlich auch der »Millionenkeller« unter Schutz gestellt und von weiteren Durchsuchungen ausgenommen. Noch mehr als ein Jahrzehnt lang wird niemand erfahren, was hier unten lagert. Selbst als die moderne Kunst längst wieder rehabilitiert ist, wird Gabriele Münter nicht eines der Werke aus der Remise auf den Markt bringen, nicht einmal ein Skizzenblatt. Und das, obwohl sie jahrelang nahe dem Existenzminimum lebt und sogar den Verkauf des Hauses in Betracht zieht, in dem sie und Kandinsky so viele glückliche Stunden verbracht hatten.

Schon während des Krieges hatte sie den Rasen im Garten umgestochen, um Zuckerrüben und Mais anzubauen, hatte händeringend versucht, an Bezugsscheine für die Erteilung von »Spinnstoffwaren« oder einem Paar Schuhe zu gelangen und Freunde und Verwandte um Lebensmittel gebeten. Pilze und Beeren aus dem Wald, von Schnecken zerfressener Weißkohl aus dem Garten, der für den Winter gedörrt wurde, halfen gegen die Not, nur selten war etwas Fleisch von der Freibank auf den Tisch gekommen. Sie malte Motive vom Staffelsee oder kleine Stillleben, Bilder, von denen sie hoffte, sie könnten von Nutzen sein, im Tausch gegen Mittel des täglichen Bedarfs. Hin und wieder gab es Anfragen für Auftragsarbeiten – ein Blumenbild oder ein Porträt zum Geburtstag etwa, für 100 Reichsmark oder einen Sack Kartoffeln.[7] Als die Heizkosten für das Murnauer Haus ihr über den Kopf zu wachsen drohten, hatte sie vorübergehend im Badezimmer einer befreundeten Künstlerin in München gehaust.

Nach dem Krieg war die Lage kaum besser geworden. Zeitzeugen erinnern sich noch an die zierliche Frau mit dem grauen Pagenkopf, die mit Hut, abgewetztem Mantel, Gehstock und einer großen viereckigen Tasche durch Murnau gelaufen sei: Die Bauern hätten ihr manchmal etwas gegeben, Eier oder Milch und Butter, der Bäcker auch schon mal einen Laib Brot oder ein paar Semmeln. Und die Wirtin vom »Angerbräu«, das von den Amerikanern mit Lebensmitteln beliefert wurde, weil hier polnische Offiziere auf ihre Rückführung warteten, hätte sie hin und wieder umsonst dort zu Mittag essen lassen und den mitgebrachten Henkelmann aufgefüllt, damit sie auch für abends noch etwas hätte. Im Friseursalon soll die Chefin einem jungen Auszubildenden zugeraunt haben, er solle der »Frau vom Russenhaus da droben am Berg« die Haare möglichst kurz schneiden, damit sie nicht so schnell wiederkomme – sie könne nicht zahlen. Und ein anderer will sich daran erinnern, dass sie in der großen eckigen Tasche »immer a Buidl dabei ghabt« hat. »Sie hod oiwei gsogt, ihr kennts eich a Buidl raussuacha. Da Voder hod amoi zu ihr gsogt: Nimm deine Buidln wieder mit, unserne Kinder moln schener. Heid kannt ma si d’Hoar raffa. Hod jo koaner denkt, dos des amoi wos wert is.«[8]

Im Jahr 2021 knackt ein Bild von Gabriele Münter in einer Auktion in München erstmals die Grenze von einer Million Euro. Das großformatige Ölbild Stillleben mit Madonna (1911) erzielt damit mehr als das Fünffache des Schätzpreises. Wie viele ihrer Werke Murnauer Ladenbesitzer und Bauern seinerzeit tatsächlich ins Feuer geworfen haben, wie viele vom Tausch gegen Lebensnotwendiges noch immer in den Wohnstuben hängen, auf dem Dachboden oder im Tresor einer Bank für die Gewährung eines Kredits lagern mögen, gehört ins Reich der Spekulation und möglicherweise auch in das des Legendhaften. Der heutige Besitzer eines traditionsreichen Farbengeschäfts im Ort kann jedenfalls mit der Geschichte aufräumen, dass auch bei ihnen Bilder verbrannt worden seien. Bei seiner Großmutter Zenta hatten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky regelmäßig Farben, Pinsel und Leinwand gekauft. Dinge, die während der beiden Kriegsphasen rationiert waren. Bilder von Münter hätte sie im Tausch gegen Malutensilien aber nie angenommen, sie hätten ihr schlicht nicht gefallen.

Solche Geschichten, in denen ein wahrer Kern stecken oder in denen manches im Rückblick dramatisch ausgeschmückt worden sein mag, haben eines gemeinsam: Sie zeigen neben den prekären Lebensumständen der Künstlerin vor allem, wie wenig anerkannt ihre Werke damals waren – und wie lange es gedauert hat, bis sich daran etwas änderte.

Zwei Jahre nach der Münchner Auktion wechselt Kandinskys Gemälde Murnau mit Kirche II (1910) in London für den Rekordpreis von 42,3 Millionen Euro den Besitzer. Genau wie Münters Stillleben mit Madonna stammt dieses Bild aus der kreativsten und künstlerisch bedeutsamsten Phase der Liebesbeziehung zwischen Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Weder ihre jeweiligen Lebensgeschichten noch die ihrer künstlerischen Entwicklung und damit der Aufbruch in die Moderne sind ohne den anderen denkbar.

Beide sind über die Liebe zur Kunst untrennbar miteinander verbunden, begleiten jeden Entwicklungsschritt des anderen mit kritischem Blick. Für Gabriele Münter ist Wassily Kandinsky erst Lehrer, dann Förderer und Hüter ihrer schöpferischen Begabung, und dies in einer Zeit, in der Frauen kreatives Talent weitgehend abgesprochen wird. Die Welt der Kunst ist eine Männerdomäne, von den Kritikern über die Galeristen und Museumsdirektoren bis hin zu den Mäzenen. Wie schwer sie es hatte, sich hier als eigenständige Künstlerin durchzusetzen, zeigt ein Tagebucheintrag: »Eine alleinstehende Frau – selbst von meiner Art – kann sich nie allein zur Gestaltung bringen. Andere, ›Autoritäten‹, müssen für sie eintreten.«[9]

So ist Kandinsky in den ersten gemeinsamen Jahren auch manches Mal ein Türöffner für die Gefährtin. Nach ihrer ersten Einzelausstellung mit 64 Bildern 1908 im Salon Lenoble in Köln, wo zwei Jahre zuvor Kandinsky ausgestellt hatte, werden die Werke auch im Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld gezeigt. Die Korrespondenz des Direktors mit Kandinsky zeigt die ganze Herablassung, mit der man Künstlerinnen damals begegnet: »Sie glauben gar nicht, wie man mit Anfragen von malenden Damen überhäuft wird. Daher halte ich mich in solchen Fällen sehr zurück. Ich ließ mir aber zur Probe zwei Bilder des Fräulein G. Münter von Lenoble kommen und finde zu meiner Freude, dass hier einmal etwas Gutes von einer Dame geleistet wird. (…) Ob für die Dame ein finanzieller Erfolg dabei herauskommt, ist natürlich im Voraus nicht zu sagen.«[10] Und noch Jahre später, als sie international längst anerkannt ist, muss Münter feststellen, dass die bloße Anwesenheit des Lebensgefährten mehr Besucher in eine ihrer Ausstellungen zu locken vermag als ihre eigene.

Für Kandinsky ist »die malende Dame« Schülerin, Muse und wichtige Gesprächspartnerin beim Beschreiten neuer Wege in der Malerei. Dieser Austausch, ihre Anregungen und ihre teils unverblümte, teils vorsichtig verpackte Kritik haben dazu beigetragen, dass er sich weiterentwickelte: »Sehr schön ist Deine Madonna, lieber Meister (…) es scheint mir fein komponiert. (…) Nun, die Hauptsache wird ja wohl die Farbe sein, die mich vielleicht mit den unangenehmen Verzeichnungen aussöhnen würde«, schreibt sie ihm im Herbst 1905.[11] Selbst wenn er manches Mal aufstöhnt, dass sie nicht bei jeder seiner Arbeiten Höchstleistungen verlangen könne, dass sie ja nie zufrieden mit ihm sei, wird er Jahrzehnte später, als die Beziehung lange schon in Trümmern liegt und die Welt durch zwei bittere Kriege gegangen ist, an Hilla von Rebay, die Gründungsdirektorin des heutigen Guggenheim-Museums in New York schreiben, dass »die Jahre mit Münter seine allerbesten« gewesen seien und er nie wieder so intensiv und kreativ habe arbeiten können.[12] Auch seine wichtigste theoretische Abhandlung Über das Geistige in der Kunst entsteht in den gemeinsamen Jahren, ebenso der Almanach des Blauen Reiters. Gabriele Münter hat ihren Lebensgefährten in all diesen Gedanken und Ausführungen bestärkt und mit ihrer Geradlinigkeit und ihrem Elan beharrlich versucht, ein stabiles Gegengewicht zu formen, wenn bei ihm Selbstzweifel und Stimmungsschwankungen die Oberhand gewannen. Ohne sie ist diese wichtigste und innovativste Schaffensphase von Wassily Kandinsky nicht denkbar. Gleiches gilt umgekehrt. So hat er kaum eine Gelegenheit ausgelassen, um sie zum Arbeiten zu motivieren, felsenfest von ihrer Begabung überzeugt und davon, dass sie größte Anerkennung verdiene. »Ich liebte von Anfang an dein Talent, und ich werde es immer lieben, und vielleicht bin ich bis jetzt der Einzige, der seinen Rang begreift«, schreibt er ihr 1916.[13] Er bewundert ihre feine Linie, die leuchtende Kraft ihrer Farben, die Sicherheit, mit der sie ihre Motive wählt. Ihre Bilder seien die gelungensten im neuen expressionistischen Malstil gewesen. Heute gelten sie als die bedeutendsten in ihrem umfangreichen Œuvre, sodass andere Facetten oft dahinter zurücktreten, die zeigen, wie mutig sie Neues ausprobiert und damit wiederum auch Kandinsky beeinflusst hat.

Der Großteil der Werke, die uns vor Augen treten, wenn wir heute die Namen Münter und Kandinsky hören, entsteht in den gemeinsamen Jahren von 1902 bis 1914. Während sie künstlerisch Fesseln sprengen, durchlaufen sie als Paar Höhen und Tiefen, bewegen sich phasenweise in einem emotionalen Spannungsfeld, das man heute toxisch nennen würde. Oder, wie Wassily Kandinsky es ausdrückte: »Wie du mich glücklich machen kannst. Und wie du mich quälen kannst.« Es ist ein Satz, der auch aus der Feder von Gabriele Münter stammen könnte.

I  Neue Welten

Die Neue Welt lockt: Gabriele (rechts) und Emmy Münter (Mitte) mit weiteren Passagieren an Bord der Pennsylvania.

Fotograf*in: unbekannt, Emmy und Gabriele Münter mit weiteren Passagieren an Deck der Pennsylvania, 1902, Gabriele Münter- und Johannes-Eichner-Stiftung

Leinen los!

Schön war die Freiheit in der unendlichen Natur.

Und lustig waren die guten Menschen.

Gabriele Münter

Am späten Vormittag des 29. September 1898 besteigen zwei junge Frauen mit Hut, gestärkten Blusen, dunklen Röcken und doppelreihig geknöpften Mänteln im Matrosenlook in Rotterdam die Statendam. Der luxuriöse Ozeandampfer in Diensten der Holland-America-Line, auf dem über 2000 Passagiere Platz finden, ist nur wenige Monate zuvor im nordirischen Belfast vom Stapel gelaufen und gerade von seiner Jungfernfahrt zurückgekehrt. Für die Werft Harland & Wolff, die später auch die Titanic bauen wird, ist der Dampfer das bis dahin größte Schiffsbauprojekt.

Knapp 160 Meter lang und 18 Meter breit ist die Statendam, mit eigenen Promenadendecks für Reisende der ersten und zweiten Klasse, während die der dritten im Bauch des Schiffes ausharren müssen. Die Kabinen, die die beiden Frauen beziehen, Nummer 152 und 154, sind komfortabel ausgestattet, der Ozeanliner selbst bietet allen erdenklichen Luxus der Zeit: elektrisches Licht, Flure mit Teppichboden, holzvertäfelte Salons mit gepolsterten Sitzgruppen, verspiegelte Bars, in denen zahllose Spirituosen locken, Rauchsalons mit Humidoren, man speist von edlem Porzellan auf Damastdecken, beschienen von funkelnden Kronleuchtern.

Zwölf Tage wird die Überfahrt dauern. Ziel der beiden Frauen ist New York. Von dort aus wollen sie zwei Jahre lang das Land bereisen, in dem ihre Eltern einst gelebt haben. Rund 7000 Kilometer mit dem Zug, dem Planwagen, zu Pferd. Es ist ein ungewöhnliches Unterfangen für zwei junge unverheiratete Frauen, das eine gehörige Portion Mut und Abenteuerlust erfordert. Gabriele Münter, genannt »Ella«, ist 21 Jahre alt, ihre Schwester Emmy 29.

Hinter ihnen liegen schwere Jahre. Der Vater ist seit zwölf Jahren tot, gestorben mit gerade einmal 59 Jahren an einem Herzinfarkt, der älteste Bruder, August, war ihm nicht einmal ein Jahr später, im Januar 1887, gefolgt, die Mutter haben sie vor einem Dreivierteljahr beerdigt. Seitdem verwaltet Carl Theodor »Charly«, der Zweitgeborene, das ererbte Vermögen, aus dem die Schwestern nun eine Leibrente beziehen. Mit dem Tod der Mutter, die schon seit Längerem kränklich gewesen war und nach dem schmerzlichen Verlust erst des Ehemanns und dann des Erstgeborenen kaum noch das Haus verlassen hatte, war für Ella die letzte Säule in einem über die Jahre immer brüchiger gewordenen Familiengefüge eingestürzt. Wilhelmine war eine starke, unkonventionelle Frau gewesen, zupackend und furchtlos. Auch wenn sie nicht zu emotionalem Überschwang oder besonderer Zärtlichkeit neigte, hält die Tochter Jahrzehnte später rückblickend fest, »hingen wir [alle] sehr an ihr – sie lebte nur für uns«[1]. Sie war der ruhende Pol in den vergangenen Jahren gewesen, die von Umzügen und Neuanfängen geprägt waren. Innerhalb kurzer Zeit drei geliebte Menschen zu verlieren, öffnet den Blick in den Abgrund, erschüttert den Glauben an die Verlässlichkeit der Welt.

Vor zwei Wochen erst hatten die Geschwister die letzte gemeinsame Familienwohnung in Koblenz aufgelöst, und die Möbel bei einer Spedition einlagern lassen. Kurz zuvor war ein Brief aus Amerika angekommen. Vier Schwestern der Mutter lebten mit ihren Familien noch in den Staaten, ihre Kinder und Enkel arbeiteten als Farmer, Handwerker und Bankiers in verschiedenen Bundesstaaten. Schon vor Jahren hatte die Mutter Emmy versprochen, dass sie eines Tages die Verwandten in jenem Land besuchen dürfe, dessen Pioniergeist sie selbst so sehr geprägt hatte. Nach ihrem Tod schien das in weite Ferne gerückt, bis die Einladung von Tante Caroline aus Arkansas eingetroffen war. Für Emmy ist es die Erfüllung eines lang gehegten Traums, ein letzter Ausbruch vom vorgezeichneten Weg von der »höheren Tochter« zur »guten Partie«. Das Leben in Koblenz, das vornehmlich aus Bällen, Reitstunden, Sticknachmittagen mit Freundinnen, etwas Musizieren und Übung in gepflegter Konversation bestand, hatte sie zunehmend gelangweilt. Einen Beruf zu erlernen, um selbst für sich sorgen zu können, galt in bürgerlichen Kreisen als unschicklich und indirektes Eingeständnis, nicht über eine ausreichende Mitgift zu verfügen und keinen Mann finden zu können. Dass sie eines Tages heiraten und Kinder bekommen würde, stand für Emmy außer Frage. Aber die Verehrer, die bisher um sie geworben hatten, empfand sie als ebenso fad, wie das Leben in Wartestellung. Wie viel verlockender erschien da Amerika!

Charly, über Nacht zum Familienoberhaupt geworden, hatte allerdings Bedenken, falls Emmy allein auf die große Reise gehen würde. Er kannte seine schöne, etwas flatterhafte Schwester, immer auf einen großen Auftritt bedacht, umschwärmt und keinem Flirt abgeneigt, und dabei in einem Alter, in dem andere Frauen längst in den vermeintlich sicheren Hafen der Ehe eingelaufen waren. Ella, die manchmal zu schwermütigen Grübeleien neigte, eher in sich gekehrt war und sich in ihren Büchern oder hinter ihrem Skizzenblock vergrub, würde die ältere Schwester erden und durch die Reise vielleicht selbst ein wenig aus ihrem Schneckenhaus hervorgelockt werden. Vor allem aber brauchte sie eine neue Perspektive.

Es war Charlys Idee gewesen, sie nach dem Ende des Lyzeums im Mai 1897 nach Düsseldorf zu schicken, damit sie dort an einer privaten Kunstschule etwas Zeichenunterricht nehmen konnte. Nicht etwa, weil er erkannt hätte, dass eine große künstlerische Begabung in der »kleinen Mü« steckte, sondern weil er die Beschäftigung mit etwas Schöngeistigem als sinnvoll betrachtete, damit sie sich zu Hause, so ganz ohne Pflichten, nicht langweilte. Das Klavierspielen, die vielen Besuche von Oper und Theater, an denen Ella so große Freude hatte, reichten als Zeitvertreib nicht aus. Und im Übrigen würde eine gewisse Kunstsinnigkeit und Handfertigkeit ihre Attraktivität als zukünftige Ehefrau zweifelsohne erhöhen. Emmy etwa dekorierte mit Begeisterung weißes Porzellan mit bunten Blumenranken oder bestickte Kissen und Tischdeckchen mit kunstvollen Ornamenten. Während sie dafür aber eine Vorlage verwendete, und den Stich nur dort und in der Farbe setzte, wie es angegeben war, wollte Ella, das »alte Malhuhn«, wie Emmy sie manchmal nannte, mit ihren Zeichenstiften die Welt festhalten, wie sie selbst sie sah.

Doch die Kurse, die sie in Düsseldorf belegt hatte, waren eine frustrierende Erfahrung gewesen. Zunächst hatte sie von Mai 1897 an ein Semester lang Privatunterricht bei Ernst Bosch, einem Porträt- und Genremaler, im Herbst war sie in die »Damenklasse« des Malers und Lithografen Willy Spatz gewechselt. »Der Betrieb dort war enttäuschend öde. Ich verließ ihn nach etlichen Wochen, anlässlich des Todes meiner Mutter«[2], schreibt Gabriele Münter rückblickend über ihre Zeit in der Akademiestadt. Der Ruf der königlich-preußischen Kunstakademie, an der im 19. Jahrhundert Maler und Bildhauer studierten, die unter dem Qualitätssiegel »Düsseldorfer Schule« ihre Werke vermarkteten, oder der des Künstlervereins Malkasten, dem Bosch angehörte, war ausgezeichnet. Nur dass Frauen im Deutschen Reich damals keinen Zugang zu den Akademien hatten. Sie konnten froh sein, wenn einer der lehrenden Herren ihnen gegen Geld Privatunterricht erteilte. Es scheint ein lukratives Geschäft gewesen zu sein, all die Frauen zu unterrichten, die mit ein bisschen Kunst vermeintlich nur das Warten auf den Ehemann überbrückenwollten: »Man kann gar nicht so absolut kein Talent haben, als dass man nicht in irgendeine Damenschule aufgenommen würde«, lästerte Fritz von Ostini, der Mitbegründer der Zeitschrift Jugend. Und sein Zeitgenosse, der Publizist Karl Scheffler, beschied Frauen, sie würden über keinerlei künstlerische Begabung verfügen, sondern könnten als »geborene Dilettantinnen« – wenn überhaupt – nur imitieren, aber selbst nichts Kreatives erschaffen.[3] Der Unterricht in den »Damenklassen« dürfte vielfach entsprechend uninspiriert abgelaufen sein. Auch Ella klagte in ihren Briefen, das einzig Anregende sei die Gesellschaft mit anderen Frauen gewesen, »wir singen und pfeifen und schwatzen fast in einem fort«[4].

Sie kannte die opulent ausgestalteten pathetisch-romantisierenden Ölgemälde ihrer beiden Lehrer, ihre bukolischen Darstellungen des dörflichen Lebens, noch ganz dem Stil der Romantik verhaftet, ihre monumentalen Heldenszenen und Triptychons mit biblischen Motiven. Ihre Werke waren bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, sie sollten den Betrachter ergreifen, seine empfindsame Saite zum Klingen bringen. Und mit diesem Anspruch unterrichteten sie ihre Schülerinnen im Zeichnen. Doch Ella wollte ihre Zeichnungen nicht kleinteilig ausschmücken und damit in ihren Augen verkitschen, sondern mit wenigen Linien erfassen, was ihr wesentlich erschien. Es ging im Kern bereits darum, nicht möglichst naturgetreu abzubilden, was sie sah, sondern die Essenz des Gesehenen herauszufiltern, den Blick darauf zu fokussieren.

Sie hatte Heimweh und das Gefühl, an den gestellten Aufgaben ihrer Lehrer zu scheitern. Ornamente nachmalen, Flächen mit feinsten Strichen und in unterschiedlichen Schwarz- und Graustufen zu schattieren, die Arbeit mit Wischkreide – vieles davon sei ihr »mit Erfolg vorbeigelungen«, »Kunstwerke« seien dabei kaum herausgekommen, schreibt sie an ihre Mutter. »Die anderen haben sehr hübsche Sachen [gemacht], ich bin aber zu dumm für sowas!«[5] Wilhelmine mahnt zu Geduld: »Dass Du aber gleich den Muth sinken lässt, weil die Damen im Atelier mehr können wie Du ist doch unvernünftig. Die werden auch wahrscheinlich schon länger dabei sein. Du wirst schon noch was lernen, wen Du fleißig bist.«*[6] Fleiß war ganz sicher keine ihrer Stärken; sie sei begabt, aber nicht strebsam, hatten schon die Lehrer am Lyzeum geurteilt.

Trotz der frustrierenden ersten Erfahrungen in Düsseldorf hatte sie im Frühsommer 1898 nach dem Tod der Mutter einen zweiten Anlauf bei Willy Spatz gewagt – und war nach kurzer Zeit in tiefe Resignation versunken. Das Einzige, was ihr Spaß gemacht hatte, war das Modellieren von Köpfen gewesen und das Gestalten von Masken aus Ton. Das Herausarbeiten plastischer Konturen entsprach genau dem Ansatz, mit dem sie auch zeichnete: Schnell hingeworfene Skizzen, die bei ihrem detailverliebten Lehrer auf Kopfschütteln stießen. Gemessen an dem, was Spatz von ihr fordere, müsse sie gleich einen zehnfachen »Malkater« haben, wenn sie sich ihre Arbeiten ansehe, hatte sie Charly geschrieben. »Ich sage mir, dass ich in 1 ½ Monaten nicht viel erreichen kann, Düsseldorf also wieder verlassen werde.«[7] Seitdem hatte sie missmutig die Zeit in Koblenz totgeschlagen. Tante Carolines Einladung nach Amerika war gerade im rechten Moment ins Haus geflattert.

Während der ersten Tage an Bord verbringt Ella viele Stunden schlafend in der abgedunkelten Kabine, sie ist seekrank. Auch Migräneattacken, unter denen sie seit Jahren leidet, machen ihr zu schaffen. Doch als sich die Statendam am 9. Oktober 1898 New York nähert, steht sie erwartungsvoll mit Skizzenbuch und Bleistift oben an Deck. Mehr als ein halbes Dutzend solcher Skizzenbücher hat sie in ihrem Reisegepäck verstaut, vertraute Begleiter seit vielen Jahren, angefüllt mit Porträts, Köpfen im Halbprofil, dazu Momentaufnahmen, etwa von Emmy, rauchend auf einer Chaiselongue oder im Kreis ihrer Freundinnen. Zeichnen ist für sie eine Form der Kommunikation, damit kann sie flüchtige Augenblicke für die Ewigkeit festhalten. Bilder bleiben, auch wenn der Moment und das Motiv selbst vergänglich sind.

Schon während der Überfahrt hatte sie gezeichnet, einen vorbeifahrenden Frachter, die Küstenlinie der Isle of Wight und einige mitreisende Passagiere, die den beiden allein reisenden Frauen ganz unterschiedlich begegnen. An Bord prallen Alte und Neue Welt aufeinander, treffen Konvention auf Emanzipation, »Das tut man nicht, schon gar nicht als Frau« auf ein: »Warum denn nicht?«

Während Ella zunächst noch schüchtern und eher beobachtend am Rand bleibt, taucht Emmy vom ersten Moment an mit traumwandlerischer Sicherheit in das Leben an Bord ein. Karten spielen im verrauchten Salon, nach dem Essen zum Tanz, umringt von Herren, die um ihre Aufmerksamkeit buhlen. Warum denn nicht die Freiheit auskosten und etwas flirten, bevor der Ehering die Unterordnung unter die Führungsrolle des Mannes besiegelte, das Einfügen in patriarchale Moral- und Wertvorstellungen? Charly mochte darüber die Augen verdrehen und zu mehr Sittsamkeit mahnen, aber sie hielt es eher mit ihrer Mutter: »Amüsiert Euch, habt’s nicht eilig mit der Ehe! Sie ist nicht Antritt einer höheren Würde, sie ist Abdankung«, hatte sie ihnen immer wieder erklärt.[8]

Der Anblick von New York, den Ella jetzt auf Papier bannen will, während das Schiff langsam in den Hafen einläuft, hatte sich einst auch ihren Eltern geboten. Wie aus milchigem Dunst Ellis Island auftaucht, die Freiheitsstatue, sich dahinter die Konturen von Manhattan abzeichnen.

Ihre Mutter Wilhelmine, geboren 1835, ist neun Jahre alt, als ihre Eltern sich entscheiden, von Siglingen an der Jagst in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Tischlermeister werden gebraucht in der neuen Welt, in New York wie in der Provinz, wo sich die Familie schließlich nach langem, beschwerlichem Treck in Tennessee niederlässt. Der Anfang ist hart, sechs Kinder müssen durchgebracht werden, drei weitere kommen in den USA zur Welt, alle müssen mit anpacken, aber Johann Gottlieb Scheuber – zum Zeitpunkt der Auswanderung immerhin schon an die vierzig – gelingt es, über die Jahre mit Holzhandel zu einigem Wohlstand zu kommen.

Wilhelmine »Minna« ist also eine gute Partie, als sie in Savannah einem neun Jahre älteren Zahnarzt mit deutschen Wurzeln begegnet. »Meine Mutter hat mir auf Spaziergängen (…) erzählt, dass sie meinen Vater zum ersten Mal gesehen hat, als sie im Schulzimmer saß am Tag ihrer Abgangsfeier. Ein junger Mann mit großen hellblauen Augen sah zum Fenster der Klasse hinein und hat ihr Eindruck gemacht«, schreibt Gabriele Münter in ihren Erinnerungen.[9] Kurz darauf habe er sie zu einer Kutschfahrt eingeladen und ihr einen Antrag gemacht. Dass er offenbar zuvor schon bei ihrem Vater vorgesprochen hatte, widersprach Minnas Selbstverständnis. Sie hatte den Eindruck, die Männer hätten eigenmächtig über sie verfügt, noch bevor sie selbst ihre Gefühle habe prüfen können.

Der junge Mann mit den hellblauen Augen ist Carl Friedrich Münter, Sohn eines Beamten im Staatsdienst aus dem westfälischen Herford. Der Familienlegende nach ein Heißsporn, so freiheitsliebend, liberal und begeisterungsfähig für revolutionäres Gedankengut, so wenig ein Blatt gerade bei politischen Äußerungen vor den Mund nehmend, dass die Eltern und sein kaufmännischer Lehrherr dem rebellischen jungen Mann, der schon mal auf den Tisch sprang, um seinen umstürzlerischen Reden Nachdruck zu verleihen,[10] eine Auswanderung nahelegen. Sprich, ihn kurzerhand mit kaum mehr als ein paar Talern in der Tasche und einem Bündel Kleidung in Bremen auf einem Frachtsegler einschiffen, um einer möglichen Verhaftung vorzubeugen.

Carl lebt den amerikanischen Traum. Er jobbt als Hausierer in New York, arbeitet als kaufmännischer Angestellter in Quincy, Illinois, heiratet eine junge Witwe, die früh verstirbt und greift sofort zu, als sich eine neue Chance auftut: Ein Bekannter, ein Zahnarzt, dem er hin und wieder zur Hand gegangen war, legt ihm ein Studium der »Dental Surgery« in Cincinnati nahe. Rund zehn Jahre nach der Gründung der ersten zahnärztlichen Ausbildungsstätte 1840 in Baltimore ist Carl Friedrich Münter frisch gebackener Dentist und auf dem Sprung nach Tennessee. Über Jackson und Nashville kommt er schließlich nach Savannah, wo er Minna kennenlernt und die beiden 1857 heiraten.

Ihr Drugstore mit Behandlungsstuhl im Nebenzimmer läuft gut, zum großen Glück fehlt nur noch der Nachwuchs. Dass sie Ende 1864 alle Zelte hinter sich abbrechen und überstürzt in die alte Heimat zurückkehren, liegt an Minnas Schwangerschaft und dem Sezessionskrieg. Die Kämpfe zwischen Konföderierten und Unionisten sind bedrohlich nahe gerückt, und von der Nachbarschaft werden die Auswanderer zunehmend kritisch beäugt: »Als Kaufleute waren sie an die Bewirtschaftung der Pflanzungen nicht gebunden. Die meisten waren außerdem als politische Flüchtlinge, die an die Menschenrechte glaubten, in die Staaten gekommen. Sie erregten den Argwohn, auf Seiten der Gegner der Sklaverei, das heißt der Nordstaaten, zu stehen«, so Gabriele Münter 1960 in einem Interview.[11] Tatsächlich sind die Eltern ideologisch den Unionisten näher, auch wenn sie in ihrem Haus »Negersklaven« beschäftigt hätten, wie Münter in ihren Erinnerungen an Amerika festhält.[12]

In Berlin eröffnet Carl in der Beletage des Hauses Nummer 58 Unter den Linden eine Zahnarztpraxis. Und hier kommen auch endlich die ersehnten Kinder zur Welt. August im August 1865, Carl im Jahr darauf, Emmy 1869 und acht Jahre später, am 19. Februar 1877, Gabriele. Da hat der Vater die fünfzig bereits überschritten, die Mutter ist Anfang vierzig.

Die Familie Münter um 1882, von links nach rechts: Bruder Carl, Mutter Minna, Bruder August mit Nesthäkchen Gabriele davor, Vater Carl Friedrich und Schwester Emmy.

Fotograf*in: unbekannt, Familie Münter, Herford, um 1882, Gabriele Münter- und Johannes-Eichner-Stiftung

Nur ein Jahr nach Ellas Geburt sitzt die Familie wieder auf gepackten Koffern. Carls Renommee als einer von drei »American Dentists« in der Stadt – in der Praxis hatte sich rasch zahlungskräftige Kundschaft die Klinke in die Hand gegeben – hatte gelitten, seitdem die Behörden vermeintlichen Kurpfuschern das Handwerk legen wollten und dabei besonders im Ausland »Diplomierte« ins Visier nahmen. Dazu kamen Verluste an der Börse und das Platzen der Spekulationsblase 1873. Sie hatte die Weltwirtschaft in eine Krise gestürzt, der die Politik mit Protektionismus begegnen wollte. Doch die neuen Zölle ließen die Lebenshaltungskosten explodieren. Angesichts dieser Umstände schien ein Neuanfang in der Provinz geboten.

Minna mag es im ersten Moment wie eine Erleichterung vorkommen, als es aus dem engen gesellschaftlichen Korsett der wohlhabenden bürgerlichen Kreise Berlins mit ihren Konventionen, den opulenten Diners und der gestelzten Konversation ins beschauliche Herford, die Heimat ihres Mannes, geht.

Aber auch dort muss sie erleben, dass Frauen eine andere Rolle zukommt, als sie das aus Amerika gewohnt war. Weder in der Großstadt noch auf dem Land sind Frauen gleichberechtigt, nicht auf Augenhöhe mit dem Mann, wie sie das eigentlich in ihrem Alltag mit Carl lebt. Hier in Herford sind Frauen eine »Zierde des Mannes« und sollen ihn in seinem naturgegebenen Glanz erstrahlen lassen. Genau diese untergeordnet-demütige und vor allem demütigende Haltung möchte sie ihren Töchtern nicht vermitteln und erntet damit im Kreis der westfälischen Verwandtschaft ebenso Kopfschütteln wie zuvor in der Hauptstadt des Kaiserreichs. Hinzu kommt, dass Minna nach den langen Jahren in Amerika immer noch nicht fehlerfrei Deutsch spricht, worüber man sich in Berlin nicht nur hinter vorgehaltener Hand mokiert hatte. Hätten die Damen erfahren, dass die Frau des angesehenen Zahnarztes als junges Mädchen Schlangen auf der Veranda erschlagen hatte, vor denen die Dienerschaft entsetzt geflohen war, wäre sie ihnen wohl noch deplatzierter erschienen.

In Herford, wo Ella ihre Kindheit in einem Haus mit großem Garten direkt am Fluss Aa verbringt, eckt Minna zwar mit ihren »modernen amerikanischen Ansichten« über die Ehe und die Gleichberechtigung von Mann und Frau an, ihre anderen Qualitäten werden aber mehr geschätzt als in Berlin. Sie gilt in der Verwandtschaft trotz der Vorbehalte ihren Erziehungsmethoden gegenüber als tüchtig, etwas wortkarg und spröde, eine Frau, die den großen Auftritt um des Auftritts willen verabscheut, keinen falschen Schein kennt und die in sich ruhend klaglos all die Neuanfänge mitmacht, die ihr erst die eigenen Eltern, dann der Ehemann bescheren. Denn 1884 übersiedelt die Familie erst ins nahe gelegene Bad Oeynhausen, das gerade zum Kurort und damit attraktiv für Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen geworden war. Die Hoffnung, hier seinen Patientenkreis erweitern zu können, scheint sich aber nicht erfüllt zu haben, denn noch im selben Jahr geht es in das Hunderte Kilometer entfernte rheinische Koblenz.

Der Wechsel in die deutlich größere Garnisonsstadt ist für Ella ein tiefer Einschnitt. Das Leben in der Großstadt ist ungewohnt, ihr fehlen das Draußensein in der Natur und im Garten, das Schwimmen im Fluss, vor allem aber die nur ein Jahr ältere Cousine Julie, die sie – das »weltfremde und doofe« kleine Mädchen, als das sie sich selbst sieht –, immer an die Hand genommen hatte.[13] Die Landschaft rund um Herford zwischen dem Teutoburger Wald und dem Wiehengebirge, Sinnbild des Schwermütigen, des Dunklen, Geheimnisvollen und Deutschen, das August Macke später in ihrer Malerei erkennen wird,[14] bleibt zeitlebens die Gegend, in der sich Gabriele Münter am tiefsten verwurzelt fühlt. Jetzt ist sie aus allem herausgerissen, zwei Schulwechsel innerhalb kurzer Zeit kappen gerade geknüpfte Bande zu Gleichaltrigen, und nur zwei Jahre später stirbt ihr Vater.

Sein plötzlicher Tod ist der erste schmerzhafte Riss im Familiengefüge, Minna bleibt allein mit ihren beiden Töchtern in Koblenz zurück. August promoviert damals gerade in Zahnmedizin in den USA, seine schwache Konstitution und eine schwere Lungenentzündung hatten Minna in der Vergangenheit für Wochen zu seiner Pflege in die Staaten getrieben, während sich eine Tante um den Haushalt in Koblenz kümmerte. Charly leistet seinen Militärdienst ab, und Emmy, bald 18, geht mit ihrer Trauer anders um als die neunjährige Schwester. Ella bleibt – wie bei vielem anderen – weitgehend sich selbst überlassen. »Ich war immer allein und niemand hat mich erzogen oder angeleitet«, betont sie später.[15] Sie läuft in der Familie mit, wächst eher wie ein Einzelkind im Kreis der viel älteren Geschwister auf, dauerhafte Freundschaften mit gleichaltrigen Spielkameraden fehlen. Sie muss sich ihr kleines Stückchen Welt selbst erobern.

Das Rüstzeug dafür hat sie eigentlich von den Eltern mitbekommen. Hier der glühende freiheitsliebende Rebell, da die Einwanderertochter, die ihren Kindern immer wieder einschärft: »Ein erschrockener Mann ist auch im Himmel verloren. Das gilt auch für Frauen, merkt euch das.«[16] Doch oft reagiert Ella mit Rückzug, wenn sie das Gefühl hat, nicht weiterzukommen, dann wieder mit Sturheit und Trotz, immer geradeheraus, häufig kompromisslos. Ihre Mutter nennt sie manchmal scherzhaft »Peacemaker«, und meint damit keineswegs einen Streitschlichter, der sorgfältig alle Positionen abwägt, bevor er sein Urteil fällt, sondern einen sechsschüssigen Trommelrevolver, den sie und ihr Mann einst in ihrem Drugstore neben allerlei Dingen des täglichen Bedarfs verkauft hatten. Im Zweifel wurde mit diesem Colt das letzte Wort gesprochen.

Ella hat den westfälischen Dickschädel des Vaters geerbt, bei aller Schüchternheit auf den ersten Blick eine gewisse Unerschrockenheit und Neugier auf alles Unbekannte, und die Bereitschaft, Grenzen zu überwinden – und sei es nur der Zaun zum Nachbarsgarten in Herford, in dem ein Bildhauer namens Rosenberg auf magische Weise Steine zum Leben erweckt. Stundenlang kann sie ihm dabei zusehen, wie er erst einen Aufriss zeichnet, bevor er dann Meißel und Hammer ansetzt. Ihr Bruder Charly, der beobachtet hatte, wie sie mit großen Augen die Arbeit des Bildhauers verfolgte, schenkt ihr zum sechsten Geburtstag einen großen Skizzenblock, Graphitstifte und ein Messer zum Anspitzen. Drei Jahre später bekommt sie einen Tuschkasten. Von diesem Moment an zeichnet sie immer und überall, anfangs weitgehend unbemerkt von der Familie, vor der sie ihre »belanglosen Kritzeleien« verbirgt.

Die anderen Kinder in der Schule hätten mit Stift und Malkasten immer versucht, Geschichten zu erzählen. »[Ich] zeichnete immer nur Gesichter. (…) Ich versuchte nicht, Ereignisse und Handlungen darzustellen. Einzig die bleibende Erscheinung fesselte mich am Menschen – die geprägte Form, in der sich sein Wesen ausspricht.«[17] Dieses Wesen zu erfassen erfordert, bei aller vordergründigen Schroffheit, die Münter auch später noch nachgesagt wird und die sie selbst immer wieder als Manko im Umgang mit anderen bezeichnet, ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, in wenigen Augenblicken hinter die Fassade des Gegenübers blicken zu können.

Dass sie über diese Fähigkeit nicht nur verfügt, sondern darüber hinaus über enormes künstlerisches Potenzial, ist ihr lange nicht bewusst. Etwas, das ihr seit Kindertagen so mühelos und selbstverständlich von der Hand gehe, sei ganz sicher nichts, worauf sie sich etwas einbilden könne. Ihr Bruder August ist der Erste, der seine kleine Schwester, die die Ränder ihrer Schulhefte mit Zeichnungen versieht und munter drauflos skizziert, sobald sie ein Stück Papier vor sich hat, darauf aufmerksam macht, dass sie über eine besondere Fertigkeit verfügt. »Als August eine kindliche kleine Zeichnung sah, die ich ›zum Scherz‹ gemacht hatte, [sagte er]: Das kann ich nicht!«[18] Aber selbst als sie bereits die ersten Schritte im akademischen Betrieb absolviert hat, sagt Gabriele Münter immer noch von sich, sie zeichne Bilder von Menschen, die sie auf eine bestimmte Weise ansprächen, nur als »bescheidener Dilettant ohne künstlerische Absichten«.

In der Familie und deren Umfeld fehlen Berührungspunkte zur Kunst – anders als bei späteren Weggefährten wie Marianne von Werefkin, deren Mutter Ikonen malte und deren eigenes Talent früh entdeckt und gefördert wurde. Oder bei Franz Marc, dessen Vater Deckengemälde und Bilder für König Ludwigs Schlösser Herrenchiemsee und Linderhof geschaffen hatte. Im Hause Münter mag man wohlwollend zur Kenntnis genommen haben, wie treffsicher Ella mit vierzehn Jahren Kurgäste in Bad Oeynhausen proträtiert hatte, mehr aber auch nicht. Nichts deutete darauf hin, dass Ella Kunstgeschichte schreiben, dass sie eine der Wegbereiterinnen der Moderne werden und zu einer Künstlerin reifen würde, deren Werk so facettenreich ist, mit immer neuen und scheinbar mühelosen Wechseln zu neuen Techniken und Stilrichtungen, dass Wassily Kandinsky später von einem »göttlichen Funken« sprechen wird, der in ihr stecke.

Ihr selbst erscheint der Gedanke, dass Kunst eines Tages zu ihrem Lebensinhalt werden könnte, nach den frustrierenden Erfahrungen in Düsseldorf zu kühn. Sie sei sich ihrer selbst lange nicht bewusst, und auch nicht selbstbewusst gewesen, schreibt sie rückblickend.[19] Das ändert sich auf der Reise in die Neue Welt.

Tag für Tag schickt Ella eine Postkarte an Charly. Sie erzählt von der ersten Woche in New York, in dessen Häuserschluchten Menschen wie Ameisen wirkten, vom stampfenden Lärm der Großstadt, von ihrem Hotel jenseits des Hudson River in der 3rd Hudson Street in Hoboken, einem roten Klinkerbau mit weißen Rollläden. Mit dem Baedeker in der Hand und einer Reihe von Tipps, die ihnen ein früherer Bekannter des Vaters mitgegeben hat, tauchen die beiden Schwestern