Mütter, die gehen - Begoña Gómez Urzaiz - E-Book

Mütter, die gehen E-Book

Begoña Gómez Urzaiz

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Überraschungs-Erfolg: »Das Buch, von dem Sie nicht wussten, dass sie es unbedingt brauchen. Ich habe es verschlungen.« Jia Tolentino.

Was für eine Mutter verlässt ihr Kind? Dieser Frage geht Begoña Gómez Urzaiz in ihrem Buch nach und bringt dabei ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen als Mutter ein. Mit großer Ehrlichkeit ergründet sie die widersprüchlichen Emotionen, die uns an Kinder binden. Anhand der Lebensgeschichten von Frauen wie Maria Montessori, Joni Mitchell, Doris Lessing, Ingrid Bergman, aber auch Figuren der Popkultur bei Elena Ferrante oder den Filmrollen von Meryl Streep, fragt sie, was es bedeutet, Frau und Mutter zu sein und dabei eigene Wege zu gehen. Sie fragt, warum die Entscheidung, die eigenen Kinder zu verlassen, als ultimativer Tabubruch gesehen wird, und was das über unsere Erwartungen an Mütter erzählt. Ein Buch, das das Narrativ der »schlechten Mutter« auseinandernimmt und einen erhellenden, frischen Blick auf Mutterschaft heute wirft.

Für Leser:innen von Mareice Kaiser, »Das Unwohlsein der modernen Mutter« und Annika Rösler, »Mythos Mutterinstinkt«.

»Begoña Gómez Urzaiz zeigt uns das, was jenseits unserer schnellen Urteilslust über Mütter, die gehen, liegt. Nämlich das Leben. In all seiner Fülle und Verschiedenheit, mit allem Wunder und allem Schmerz. Ich bin dankbar, dass es dieses Buch gibt.« Maria-Christina Piwowarski.



Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 389

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Über das Buch

Was für eine Mutter verlässt ihr Kind? Dieser Frage geht Begoña Gómez Urzaiz in ihrem Buch nach und bringt dabei ihre eigenen Gefühle und Erfahrungen als Mutter ein. Mit großer Ehrlichkeit ergründet sie die widersprüchlichen Emotionen, die uns an Kinder binden. Anhand der Lebensgeschichten von Frauen wie Maria Montessori, Joni Mitchell, Doris Lessing, Ingrid Bergman, aber auch Figuren der Popkultur bei Elena Ferrante oder den Filmrollen von Meryl Streep, fragt sie, was es bedeutet, Frau und Mutter zu sein und dabei eigene Wege zu gehen. Sie fragt, warum die Entscheidung, die eigenen Kinder zu verlassen, in unserer Gesellschaft als ultimativer Tabubruch gesehen wird, warum Väter eigentlich jederzeit gehen können, und was das über unsere Erwartungen an Mütter erzählt. Ein Buch, das das Narrativ der »schlechten Mutter« auseinandernimmt und einen erhellenden, frischen Blick auf die Bedingungen von Mutterschaft heute wirft. Ein Must-Read für alle Leser:innen von Mareice Kaiser, »Das Unwohlsein der modernen Mutter« und Annika Rösler, »Mythos Mutterinstinkt«.

Über Begoña Gómez Urzaiz

Begoña Gómez Urzaiz, geboren 1980, arbeitet als Journalistin und Autorin. Sie hat eine Kolumne in La Vanguardia und schreibt für El País, Vogue und Vanity Fair. Sie unterrichtet journalistisches Schreiben an der Universität von Barcelona. »Mütter, die gehen« ist ihr erstes Buch und wurde in Spanien zum Überraschungserfolg, der nun in zehn Sprachen erscheint. Sie lebt mit ihrer Familie in Barcelona.

Christiane Quandt ist Übersetzerin aus dem Spanischen und Portugiesischen und Autorin. Ihr Lyrikdebüt »auf dem zauberberg ist kein platz mehr für alle« erschien 2023 bei etcetera press Berlin. Zuletzt erschien in ihrer Übersetzung der gefeierte Debütroman »So forsch, so furchtlos« von Andrea Abreu. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Begoña Gómez Urzaiz

Mütter, die gehen

Aus dem Spanischen von Christiane Quandt

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Was für eine Mutter verlässt ihr Kind?

Muriel Spark, ein Schriftstellerleben

Schlechte Mütter im guten und schlechte Mütter im schlechten Sinn

Gala Dalí und der Fall der Magnetischen Frau

Ein Oger, eine Prinzessin und eine Idiotin. Die abwesenden Mütter in den Filmen von Meryl Streep

Selbstgestrickte Mutterschaft

Ingrid Bergman, eine tägliche Traurigkeit

Doris Lessings drittes Kind

Momfluencerinnen und die Ökonomie der Turbomutterschaft

Verlorene Wesen: Nora Helmer und Anna Karenina

»Was wäre, wenn?« – Joni Mitchell und Vashti Bunyan

Die Schuld der Mütter

Maria Montessori, das Kind und die Pädagogik

Mercè Rodoreda, ein Waldvogel

Wenn du Kinder hast, mein Kind

Violet B., 51, Nicaragua

Caslissha C., 36, Nicaragua

Noemy R., 45, Kolumbien

Cristina, 37, Kolumbien

Margarita, 50, Peru

Das unterschwellige Gespräch

Dank

Bibliographie

Impressum

Für meine Mutter, die immer da ist.

Und für Ciarán, Lope und Sean.

Ich liebe euch für immer.

In der Welt der Märchen und in der post-Freud’schen Psychoanalyse ist bekannt, dass es nicht gut für ein Kind ist, eine böse Hexe, besonders eine böse und dabei bezaubernde Hexe, als Mutter zu haben.

Jenny Diski

Nichts ist schwieriger als das Bekannte.

Vivian Gornick

Was für eine Mutter verlässt ihr Kind?

Dieser Satz hat etwas Biblisches, er wirkt wie bereits fertig geformt, bevor er einem über die Lippen kommt, genau wie »Was für ein Mensch würde ein Kind töten?«. Zudem beschwört er die scheinheilige Sentenzhaftigkeit jener gewichtigen Worte herauf, die den Anschein des gesunden Menschenverstands erwecken und vorgeben, frei von jeder Ideologie zu sein. Dabei wissen alle: Wenn an den gesunden Menschenverstand appelliert wird, heißt das eigentlich: wählt konservativ.

Und kaum jemand kann leugnen, diesen Satz irgendwann schon einmal ausgesprochen zu haben. Meist beim Lesen oder Hören über eine Frau, die in einem bestimmten Moment beschlossen hat, ihre Kinder hinter sich zu lassen und ihr Leben als Nicht-Mutter weiterzuführen. »Ein Kind verändert das Leben« ist noch so ein viel zitierter Satz mit augenscheinlich weißer Weste, der ausgesprochen wird, als wäre er unumstößlich. Wenn ein Kind dein Leben verändert, dann ist diese Veränderung endgültig und nicht rückgängig zu machen. Ein Zurück ist ontologisch unmöglich, das Kind lässt sich nicht ungeschehen machen.

Was für eine Mutter verlässt ihr Kind? Bestimmt nur eine der allerschlimmsten Sorte.

Die Frage hat mich oft aus dem Hinterhalt meiner eigenen Gedanken überfallen. Ich könnte schwören, er kam gegen meinen Willen hervor, als wäre ich besessen von einer inneren Moralistin, die ich nicht glaube zu sein und deren Art mir eigentlich sehr unangenehm ist.

Zum Beispiel als ich den Film Carol von Todd Haynes im Kino sah, der auf dem Roman Salz und sein Preis von Patricia Highsmith basiert, fiel mich der Satz aus dem Hinterhalt an. Ich erinnere mich an das genaue Datum, denn es war ein besonderer Tag: der zweite Geburtstag meines älteren Sohnes. Das Wochenende war anstrengend und voll mütterlicher Liebes-Überproduktion. An diesem Samstag hatte ich die ganze Familie zum Essen eingeladen, ich kochte für neun Personen, und wir bliesen die Kerzen auf dem Kuchen aus. Am Sonntag war der Plan gewesen, den Tag mit Freunden im Park zu verbringen – etwas Einfaches, ohne großen Aufwand. Alle wissen, wie so etwas endet. Ich stand früh auf, und als ich schließlich bei den Picknickbänken im Park ankam, hatte ich Sandwiches mit Pastrami und Empanadas mit Thunfisch gemacht, hatte Getränke eingepackt, Snacks, Girlanden, Kerzen, Luftballons, Teller, eine Piñata, einen Eimer Kartoffelchips und Trinkbecher von Flying Tiger. Zum Glück kamen viele Gäste. Es war schön und anstrengend. Eine Freundin brachte eine unglaublich fotogene Erdbeer-Sahnetorte mit, die aussah wie aus dem Werbespot einer Versicherungsgesellschaft. Das perfekte Bild für die »glücklichen Augenblicke mit deinen Lieben«. Alle brachten Geschenke, obwohl wir gesagt hatten, dass das nicht nötig wäre. Wenn mir mein Smartphone Fotos von diesem Tag schickt, was manchmal in der »Für Dich«-Funktion vorkommt, die auf mich einen subtilen emotionalen Terror ausübt, bin ich pflichtbewusst gerührt, genau wie es Apple verlangt. Es trifft mich direkt in mein Mutterherz.

Wenn ich ein Foto von diesem oder den anderen Kindergeburtstagen sehe, die ich organisiert habe, kommen mir der Lärm, die Freude, die Sonne und die Krokodil-Piñata in den Sinn. Und nicht der Vorbereitungsstress, die Kosten, die übermächtige Erschöpfung, die jeden einzelnen Muskel blockiert, sobald ich die letzte Luftschlange und das letzte Glas mit Dinosaurieraufdruck weggeräumt habe.

Am Ende dieser Geburtstagsfeier hatte ich das Gefühl, mit allen Zeit verbracht zu haben, außer mit meinem Kind. Mit allen hatte ich mich unterhalten, gescherzt, für fünf Minuten Smalltalk gehalten, während ich nachsah, ob noch genug Eiswürfel in der Kühltasche waren. Später ging es bei uns zu Hause weiter. Und trotz allem war ich die Erste, die mit wollte, als einer der – wohlgemerkt kinderlosen – Gäste vorschlug, noch ins Kino zu gehen und sich den Film Carol anzusehen. Weil ich den Film sehen wollte. Er lief schon seit drei Wochen, und ich hatte den Eindruck, ihn als Einzige noch nicht gesehen zu haben und fühlte mich dadurch ausgeschlossen. Und weil ich damals noch für mich selbst die fixe Idee zu leben versuchte, dass man alles machen kann, alles erreichen kann, und zwar gut: Die neuesten Kinofilme kennen, das Kind ohne Erschöpfung versorgen, acht Artikel pro Woche abgeben, und zwar so, dass wenigstens drei davon mir keine Schamesröte ins Gesicht trieben, wenn ich sie Monate später im Internet fand.

Fakt ist, ich ging ins Kino, um Carol zu sehen, und der Film gefiel mir nicht so gut, wie ich gedacht hatte. Teils weil es mir schwerfiel, Todd Haynes’ Manierismus für voll zu nehmen, teils weil ich völlig fertig war und eine nagende Schuld in mir spürte (nichts Schlimmes, nur etwa unten bis mittig auf der Schuld-Intensitätsskala), weil ich nicht bei meinem Kind war, um nach einem so anstrengenden Wochenende mit ihm im Arm Zeichentrickserien zu schauen. Aber vor allem – und das erkannte ich erst hinterher – weil das Ende des Films mich mit einem unangenehm schmierigen Gefühl zurückließ.

Genau wie bei Patricia Highsmith endet der Film damit, dass Carol ihren Mann und ihre Tochter verlässt, um als lesbische Frau einigermaßen in Ruhe ihr Leben zu leben. Ihr Ehemann, ein widerwärtiger Typ, erpresst sie, und sie hat eigentlich keine Wahl: Entweder sie verlässt ihre Tochter, oder sie ist für den Rest ihres Lebens unglücklich, verleugnet ihre wahren Bedürfnisse und Sehnsüchte und lebt sich und allen anderen gegenüber eine Lüge.

Die Optionen liegen auf der Hand, oder? Zugleich bietet der Film nicht einmal ein bisschen Ambivalenz in Sachen Mutterliebe von Carols Seite (dargestellt von Cate Blanchett). Das ist seltsam bei einer Autorin wie Patricia Highsmith, die oft genug in den schmutzigsten Winkeln des menschlichen Geistes Staub aufgewirbelt hat und die selbst eine absolut pathologische Beziehung zu ihrer Mutter hatte. Von ihr musste sich die Tochter sogar anhören, wie sie durch das Trinken von Terpentin versucht hatte, Patricia abzutreiben. Es wäre also absolut legitim gewesen, wenn Carol eine gewisse Abneigung gegen ihr Kind entwickelt hätte. Denn das Mädchen verkörpert auch die Fesseln, die Carol für immer an ihren Mann binden. Eine solche Abneigung entsteht gelegentlich, wenn ein Kind emotional mit der Beziehung verknüpft wird, aus der es entstanden ist. So etwas suchen wir allerdings vergebens in Salz und sein Preis. Carol vergöttert ihre Tochter, die sie nie wiedersehen wird. Im Film sehen wir das Kind Rindy nur wenige Male. Im Buch ist das gar nicht nötig. Rindy ist keine reale Person, sondern eine Abstraktion, das platonische Ideal eines Mädchens mit Trägerrock und zwei Zöpfen. Der Film ist so gemacht, dass die modernen Zuschauer, die das Kinoerlebnis wahrscheinlich genießen, nicht zu sehr über das Ganze nachdenken müssen. Ja, das Ende hat einen bitteren Beigeschmack, aber es ist das einzig mögliche.

Warum also hat es mir solche Bauchschmerzen bereitet? Wie hatte mich mein Geist dazu gebracht, Carol wieder und wieder zu fragen, wie sie bloß fähig war, ihr Kind zu verlassen? Lag die Antwort etwa nicht auf der Hand? Es war doch ihre einzige Überlebenschance.

Dennoch stellte ich mir noch Jahre später diese Frage, als Patricia Highsmiths hundertster Geburtstag gefeiert wurde und dieser eine Satz in allen Artikeln zum Thema immer wieder auftauchte: »In Salz und sein Preis schenkt Patricia Highsmith ihrer Protagonistin ein Happy End.« Das hatte die Autorin selbst im Vorwort bzw. Nachwort zur Neuauflage ihres Romans geschrieben, als er schon ein zeitgenössischer Klassiker geworden war. Und beinahe alle Medien übernahmen das so. Aber was ist das für ein Happy End?, durchzuckte es mich jedes Mal, wenn ich es las, und forderte mich selbst zur Diskussion heraus. Sie sieht ihre Tochter doch nie wieder. Wie kann dieses Ende dann glücklich sein?

Ich musste feststellen, dass dieser Bewertungsmechanismus nicht zum ersten Mal in mir ansprang. Mir ist er nicht nur unangenehm, weil ich ihn so abstoßend finde, er lässt sich auch nicht gut mit dem Feminismus der vierten Welle vereinbaren, den ich täglich sowohl praktiziere als auch predige, sei es auf Twitter oder in echten Gesprächen. Mitglieder meiner Generation waren spät dran mit dem Feminismus, aber das haben wir dadurch ausgeglichen, dass wir zu dessen brennendsten Predigerinnen wurden. Wo immer wir sind, wettern wir gegen jede Misogynie, egal ob jemand unsere Reden hören will oder nicht.

Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich feststellen, dass mein Detektionsmechanismus für zweifelhafte Mütter schon in meiner Jugend aktiv war. Das erste Mal bei Anna Karenina. Ich kreidete es Tolstoi an, dass er nicht mehr über Serjoscha schrieb, den Jungen, den Anna verlässt, um mit Wronski durchzubrennen. Jetzt erscheint es mir seltsam, dass ich mit meinen zarten sechzehn Jahren so sehr in Sorge um das Kind war, statt mich darauf zu konzentrieren, wie sehr Anna in der Ehe mit Karenin unterdrückt wurde. Welche Verschwendung meines jugendlichen Verstandes!, wie kleinbürgerlich verbohrt war ich bloß!, denke ich mir heute.

Meine unsichtbare Liste nachlässiger Mütter wuchs mit den Jahren an, wie eine Akte, in der ich alles sammelte und vermerkte, ohne groß über die Einzelfälle nachzudenken, die meinen Weg kreuzten. Ingrid Bergman. Gala Dalí. Maria Montessori. Muriel Spark. Mercè Rodoreda. Doris Lessing. Anna Achmatowa. Susan Sontag. Dabei trenne ich nicht zwischen Autorin und Werk. Mich interessiert generell das Leben der Menschen, die ich lese und verfolge, sehr. Dennoch ging mein Forscherdrang über eine normale Neugier hinaus. Es war, als würde ich ein inquisitorisches Archiv derjenigen Mütter zusammenstellen, die ihre Funktion nicht erfüllten, eine mentale Akte mit dem Titel: Mütter, die gehen.

Diese Akte begann ich schon früh zu bestücken. Als Kind sah ich oft samstagvormittags die Fernsehserie Pippi Langstrumpf, die auf Televisión Española lief. Ich liebte die knalligen Farben, die blumengesäumten Straßen jener schwedischen Stadt, in der immer die Sonne schien, und ich liebte Pippi. Aber die Serie machte mich auch unruhig. Wo waren Pippis Eltern? Es war ganz wunderbar, dass Pippi allein mit einem Koffer Gold in der Villa Kunterbunt lebte, aber warum war da niemand, der ihr zum Abendessen ein französisches Omelett zubereiten konnte? Das Angebot der Nachbarskinder Tommy und Annika, Pippi könne ja zu ihnen ziehen und bei ihnen und ihren so wunderbar skandinavischen und vitalen Eltern leben, erschien mir keine ganz schlechte Idee. Wahrscheinlich hätte Pippi auf ihr Äffchen und ihr Pferd verzichten müssen, hätte ihre Freiheit verloren und all das, was sie so einzigartig machte, aber dafür hätte sie ein paar ganz normale Eltern bekommen und eine Menge Holzspielzeug und eine ganze Schublade voll stets sauber zusammengelegter senfgelber Rollkragenpullover.

Heute merke ich, dass mein damaliges Verständnis von Pippis Geschichte völlig an der Autorinnenintention und an der antizipierten Reaktion einer jungen Zuschauerin vorbeiging. Ihre Geschichten zelebrieren Anarchie, Kreativität und den freien Willen des Kindes. Was für ein Mädchen geht hin und versteht das alles genau falsch? Ein total unterdrücktes Kind mit katechetischen Ambitionen? Die Geschichten von Pippi Langstrumpf schreiben sich außerdem in die unendliche Tradition der mutterlosen Kinder ein, die Heldentaten vollbringen und denen verschiedenste Dinge zustoßen. Abenteuer, so Sara Ruddick in ihrem Buch Maternal Thinking, passieren von der Idee her grundsätzlich ohne Mütter. Aufgabe einer Mutter ist es schließlich, zu verhindern, dass ihrem Nachwuchs schlimme Dinge zustoßen, und im Zuge dessen kann es passieren, dass sie auch die guten verhindert.

Als ich klein war und Pippi Langstrumpf im Fernsehen sah, wusste ich nicht, dass die Schöpferin dieser Figur, Astrid Lindgren, schon mit achtzehn Jahren alleinerziehende Mutter geworden war. Die Schwangerschaft war aus einer Beziehung mit dem Leiter der Zeitung entstanden, wo sie als Stenografin arbeitete. Der Kindsvater war dreißig Jahre älter als sie und verheiratet. Und die mittellose Astrid musste ihren Sohn Lars drei Jahre lang einer Pflegefamilie in Dänemark überlassen. Lindgren sprach von dieser Zeit, als sie ohne ihren Sohn allein in Stockholm lebte, als »Ausflug in die Hölle«. Immer wenn sie genug Geld zusammenkratzen konnte, reiste sie nach Kopenhagen, um Lars zu besuchen. Als sie endlich das volle Sorgerecht zurückhatte, tauschte sie die Schuld, ihren Sohn verlassen zu haben, gegen die, ihren Sohn aus einer stabilen Familie herausgerissen zu haben. Eine Familie, die so sehr der von Tommy und Annika ähnelte und die das Kind liebte und gut behandelte.

Mutter sein bedeutet letztlich, eine Sammlung verschiedener Versionen von Schuld anzuhäufen, die sich ohne Rücksicht auf Widersprüche überlagern. Im Universum Mutter ist die Schuld, ein Kind vorübergehend verlassen zu haben, perfekt mit der Schuld kompatibel, es zurückgeholt zu haben. Das ganze Werk Lindgrens ist voller Kinder ohne Eltern, die alternative Lebensläufe erfinden, um die große Abwesenheit zu erklären. So auch Pippi Langstrumpf, die allen erzählt, ihre Mutter sei ein Engel und ihr Vater ein Kapitän bzw. König der Südsee.

Auch die Internats-Bände von Enid Blyton rund um Dolly und die anderen Mädchen, die ich als Kind verschlungen habe, waren durchzogen von solchen rassistischen, klassistischen und absolut unwiderstehlichen Artefakten. Die Eltern wurden oft erwähnt, und ihre Abwesenheit war in diesem Fall gesellschaftlich akzeptiert, da die Familien es sich leisten konnten, die Kinderbetreuung auszulagern. Genau wie es schon immer und überall gemacht wurde.

Dolly Rieder bzw. Darrell Rivers, die Hauptfigur in der Dolly-Reihe, und die Zwillinge Connie und Ruth, die das Internat Möwenfels bzw. Malory Towers besuchen, werden am Anfang jedes Bandes von ihren Eltern auf dem Bahnsteig des Zuges abgeliefert, der sie ins Internat bringt. Wenn überhaupt, tauchen die Eltern dann noch einmal im letzten Kapitel auf, um sie wieder abzuholen. Da ich das Klassensystem der britischen Gesellschaft und seine Gepflogenheiten in Sachen Kindererziehung damals noch nicht kannte, warfen die abwesenden Eltern bei mir immer viele Fragen auf. Wie konnte es sein, dass diese Mädchen es anstandslos akzeptierten, nach Cornwall ins Internat geschickt zu werden, um dort Lacrosse bzw. Handball zu spielen und Mitternachtspartys mit Kakao, Kuchen und Keksen zu feiern und dafür niemals ihre Familien zu sehen? Nächtliche Kekse und ein Schwimmbecken, aber dafür keine Mutter? Mir schien das kein guter Tausch.

Burg Möwenfels bzw. Malory Towers, das Internat, in dem Blyton die Saga in ihren sechs Originalbänden spielen lässt, ist inspiriert von der Benenden School, wo die Autorin ihre eigenen Kinder hinschickte, was sie sich durch den Erfolg ihrer Kinder- und Jugendbücher leisten konnte. Blyton hatte zwei Töchter, Gillian und Imogen. Als Kinder waren sie ein paarmal in der Zeitung zu sehen, fotografiert mit ihrer berühmten Mutter, wie sie die Hunde streicheln und im Garten der Familie spielen.

Als Erwachsene brachen die Schwestern den Kontakt zueinander ab, und jedes Mal, wenn die Biographen der Mutter sie interviewten, lieferten sie absolut widersprüchliche Versionen dessen ab, was in ihrer Kindheit geschehen und was für ein Mensch ihre Mutter gewesen war.

Die ältere der beiden Töchter Enid Blytons, Gillian, wurde Lehrerin und lebte in einem Haus voller Memorabilia ihrer Mutter. Sie nahm ihren Tea jeden Nachmittag an dem Tisch ein, wo Enid Blyton Fünf Freunde und Die Schwarze Sieben verfasst hatte, und sie erzählte stets, ihre Mutter sei ganz wunderbar gewesen. Die jüngere Tochter hingegen berichtete einem Biographen, Enid Blyton sei »arrogant, unsicher, anmaßend, eine Meisterin im Ablassen hässlicher und schwer zu verkraftender Worte und völlig frei von jeder Spur mütterlichen Instinkts« gewesen. »Als Kind«, so fährt Imogen fort, »sah ich sie als strenge Autorität. Als Erwachsene hatte ich Mitleid mit ihr.«

Es fällt auf, dass sowohl Enid Blyton selbst als auch ihre Töchter den Kontakt zu den biologischen Eltern verloren. Der Vater der Autorin, ein Messerverkäufer aus Sheffield, verließ die Familie, als Enid noch klein war, und ihre Mutter zwang sie dazu, die Nachbarn diesbezüglich anzulügen. Die Frau, die alles dafür tat, den Erziehungsstil der britischen Oberschicht zu propagieren, war selbst nicht in diese Welt hineingeboren worden. Ihren Platz am Tisch hatte sie sich dadurch erarbeitet, dass sie über die gesellschaftliche Schicht schrieb, zu der sie gehören wollte. Viele Jahre später sollte auch ihr erster Ehemann Hugh die Familie verlassen und keinen weiteren Kontakt zu den Töchtern pflegen.

Die Erfahrung, den Vater zu verlieren, und das nicht etwa durch den Tod, sondern weil er ein neues, mit dem vorherigen nicht kompatibles Leben beginnt, wie es zuerst Enid und später Gillian und Imogen erlebten, ist nichts Ungewöhnliches. Andauernd und überall machen sich Väter vom Acker. Als biographisches Faktum steht es auf Platz drei oder vier von zehn auf der Skala der Ereignisse, die ein Leben bestimmen. Es hat größeren Einfluss als eine schwere Krankheit im Kindesalter, aber geringeren als ein massives wirtschaftliches Unglück. In beinahe keinem Zusammenhang wird der Verlust des Vaters mit dem der Mutter gleichgesetzt. Bei Vätern ist es erwartbar, dass sie gehen. Bei Müttern nicht.

Es heißt, es sei unnatürlich, aber das stimmt nicht, denn die Natur ist voller Rabenmütter und voller Mütter, die gehen. Robbenweibchen verlassen beispielsweise ihre Jungen. Die Kuckuck-Henne legt ihre Eier in die Nester anderer Vögel und fliegt einfach davon. So bringt sie andere Vogeleltern dazu, ihre Brut aufzuziehen. Und es gibt Hunderte Tierarten, bei denen es normal ist, dass die Jungen von den Eltern gefressen werden.

Auch Menschenmütter gehen – manchmal. Das ist zu allen Zeiten und aus allen möglichen Gründen vorgekommen, und es kommt auch weiterhin vor. Der Großteil der Frauen, die ihre Kinder verlassen, tut dies aus der Not heraus. Vielleicht müssen sie in anderen Ländern Geld verdienen – oft betreuen sie dort die Kinder von anderen –, oder sie müssen vor geopolitischen Verwerfungen fliehen. Einige dieser Frauen waren so großzügig, mir ihre Geschichten zu erzählen, die im vorletzten Kapitel dieser gesammelten Akte stehen. Ich habe lange gebraucht, um meine Sammlung »Buch« zu nennen.

Es gibt auch Frauen – wenige –, die auf das Sorgerecht verzichten, sobald sie entbunden haben. Es ist kein Verbrechen, und es geschieht anonym. Das medizinische Personal ist entsprechend geschult und weiß, wie wichtig es in diesen Fällen ist, das Ablaufprotokoll genau einzuhalten und das Neugeborene schnell mitzunehmen, damit keine Bindung zur Mutter entsteht. Sie wird auf eine andere Station verlegt, damit sie keine Säuglinge weinen hört.

Es liegt nahe, dies instinktiv als eine Spielart von Unglück zu verstehen, und wir stellen es als weiteres Gericht zum freien Büffet der Schrecklichkeiten, die der Turbokapitalismus hervorbringt. In unseren Köpfen und mit Hilfe sämtlicher von Kindheit an konsumierter Geschichten voller Mütter, die ihre Kleinen verlassen und ihnen ein Kettchen um den Hals hängen, mit dessen Hilfe sie sich fünfundzwanzig Kapitel später wiederfinden, können wir all das zu Romanen verarbeiten.

In dem Moment, in dem wir auf der Bedürfnispyramide eine Stufe höher steigen, wird das Ganze moralisch etwas unscharf. Alle sind sich wohl einig, wenn Kinder verlassen werden, um sie nicht der völligen Armut auszusetzen, oder wenn die Mutter sich in einem anderen Land den Lebensunterhalt verdienen muss. Aber ein Kind verlassen, um einer schlimmen Ehe zu entkommen?

»Was bedeutet denn schlimm? Gab es körperliche Gewalt?«, fragt der Moralapostel, den wir in uns tragen. Ein Kind verlassen, um die eigene Sexualität nicht länger unterdrücken zu müssen wie in Salz und sein Preis? Auf die individuelle Kinderbetreuung verzichten und sie zur kollektiven Aufgabe machen, wie die Frauen in den Kibbuzim in Israel, wo es Voraussetzung zum Erreichen der gemeinschaftlichen Utopie war? Eine Tochter verlassen, um einer vulkanischen Liebe in ein anderes Land zu folgen wie Ingrid Bergman? Ein Kind verlassen, um schreiben zu können, wie es Muriel Spark, Doris Lessing und Mercè Rodoreda in verschiedenen Lebensphasen getan haben? Eine Tochter verlassen, aus keinem von außen ersichtlichen Grund, wie Gala Dalí?

Hier werden Zweifel laut, und wir laufen Gefahr, uns dort wiederzufinden, wo ich als Kind gelandet war. Heute erkenne ich mein damaliges Ich als moralinsaures und abstoßende Bewertungen absonderndes Mädchen auf der Seite eines kleinbürgerlichen Konservatismus.

Eine meiner Intentionen beim Schreiben dieser Zeilen, die ich nach den modernen Regeln des Schreibens überhaupt nicht aufschreiben dürfte, ist die Frage an mich selbst, woher diese automatische Zensur kommt. Und ich sage gleich dazu, dass weder meine Eltern mich noch ich meine Kinder verlassen habe, ich bin also bloß Gast und betrachte den ganzen Schlamassel durchs Schlüsselloch. Warum ist es also so schwer für mich, anzunehmen, dass jemand sich für eine gewisse Zeit von seinen Kindern trennen möchte, obwohl ich mich doch für so versiert in Sachen Feminismus halte und glaube, die menschlichen Komplexitäten zu verstehen und Empathie mit allen möglichen Abweichung von der Norm aufbringe?

Dieses Buch zu schreiben hat mir erlaubt, Zeit mit meiner Akte Mütter, die gehen zu verbringen, die sich nun in etwas anderes verwandelt hat. Ich habe versucht, das Warum dieser echten und fiktionalen Menschen zu verstehen, und auch das Wann und das Wie. Ich wollte auch mir selbst die Frage stellen, warum es mir so große Angst macht, wenn eine Mutter eine gewisse Zeit so verbringen will, als wäre sie keine. Ich habe versucht, großmütig und undogmatisch zu sein bei der Antwort auf die Frage, die mich verfolgt: Was für eine Mutter verlässt ihr Kind?

Muriel Spark, ein Schriftstellerleben

Der beste Weg zum Leben als Schriftsteller wurde im Lauf der Geschichte oft getestet und ist gut dokumentiert: Eine Schriftstellerfrau heiraten. Nichts setzt so viel Zeit und geistige Spielräume frei wie das Zusammenleben mit einer Person, die sich um all die weltlichen Probleme kümmert, unter anderem auch darum, dass Geld für die alltäglichen Bedürfnisse da ist. Dies hat zum Beispiel Mercedes Barcha getan, als Gabriel García Márquez den Journalismus an den Nagel hängte, um sich auf seine Romane zu konzentrieren. Von Patricia Llosa, die es so vortrefflich verstand, Mario Vargas Llosa seinen Koffer zu packen, bis zur paradigmatischen Figur der Lektorin/Herausgeberin/Coach/Buchhalterin/Agentin Vera Nabokov, die sogar die Briefmarken für Vladimir anleckte, gibt es eine lange Reihe literarischer Gemahlinnen. Die Ehefrau von John le Carré tippte beispielsweise seine Romane, lektorierte sie dabei und gab ihnen ihre Form. Zwei unschlagbare Fliegen mit einer Klappe.

In der jüngeren Literaturgeschichte taucht tatsächlich eine einzige Autorin auf, die ein vergleichbar effizientes Arrangement lebte: Muriel Spark zum Ende ihres Lebens hin. Die unglaublich produktive Autorin von Die Blütezeit der Miss Jean Brodie, die insgesamt über zwanzig Romane verfasste, darüber hinaus Gedichtbände, Essays, Memoiren und Biographien, verbrachte die letzten dreißig Jahre ihres Lebens, als sie schon einen gewissen auch finanziellen Erfolg erreicht hatte, zusammen mit ihrer Sekretärin und Gefährtin. Mit Penelope Jardine bewohnte Muriel Spark eine ehemalige Kirche in dem kleinen Ort Oliveto in der Toskana.

Zuvor hatte Spark immer männliche Partner gehabt, darunter auch einen Ehemann. Die beiden Frauen, Penelope und Muriel, verneinten stets, dass ihre Beziehung eine Liebesbeziehung gewesen wäre oder eine Art Bostoner Ehe, eine lesbische Gemeinschaft sotto voce, wie sie früher üblich war. Sie sagten, ihre Beziehung sei einfach ein für alle Beteiligten vorteilhaftes Haushaltsarrangement. Unabhängig davon, ob ihre Verbindung sexuell war oder nicht, erfüllte Jardine mit beinahe Nabokovscher – Vera, nicht Vladimir – Meisterschaft die Rolle der Schriftstellerfrau. Sorgfältig führte sie eine Vielzahl an häuslichen und administrativen Tätigkeiten aus: von Verhandlungen mit Agenten über die Prüfung von Verträgen, die Bestätigung oder Absage von Muriels Teilnahme an Literaturfestivals und Buchmessen, die Reservierung von Flugtickets bis hin zu Fahrdiensten im alten BMW quer durch Europa. Muriel fuhr stets auf dem Beifahrersitz und bediente sich während der Fahrt etliche Male an den Cognac-Fläschchen aus der Minibar im Handschuhfach. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Jardine für ihre Arbeit finanziell entlohnt worden wäre. Das ist das Gute an Partnerinnen: Sie kosten nichts.

Muriel Spark gilt als eine der großen Konvertitinnen der englischen Literatur, sie war von Geburt jüdisch, konvertierte zum Katholizismus und umarmte diesen wie ihr Gönner Evelyn Waugh und ihr Förderer Graham Greene. Aber vielleicht bezog sich die wichtigere Konversion in ihrem Leben nicht auf die Religion, sondern auf das Geschlecht. Muriel Spark gelang es mit viel Fleiß und Beharrlichkeit, Schriftsteller zu werden. Damit dies gelang, mussten ein paar Voraussetzungen erfüllt sein: Sie musste eine so resolute und effiziente Gefährtin wie Penelope gewinnen und die Sorgearbeit für ihr einziges Kind Robin auslagern.

Als sie 2006 verstarb, ließ Sparks Testament keinen Zweifel daran, dass kein einziges ihrer Besitztümer an ihren Sohn Robin gehen würde, der als Maler in Edinburgh lebte. Die Presse stürzte sich darauf und schlachtete ihr Testament aus, denn einen Sohn für eine Gefährtin desselben Geschlechts zu enterben – Jardine hält weiterhin die Rechte an Sparks gesamtem Werk – ist immer ein gefundenes Fressen für die Medien. Wer das Leben der Autorin und ihrer Familie allerdings aus der Nähe kannte, war keineswegs überrascht. Das Testament war nichts weiter als das letzte Kapitel eines schmerzhaften Aneinander-Vorbeilebens, das schon Jahrzehnte zuvor (zum Ende der 1930er Jahre) in dem fernen Land Süd-Rhodesien (heute Simbabwe) begonnen hatte, sodass es einem anderen Leben, einem anderen Roman anzugehören schien.

Im Jahr 1939, als der Zweite Weltkrieg bereits ausgebrochen war, trennte sich Muriel Spark, die schon einige Erzählungen an Zeitschriften geschickt hatte, de facto von ihrem Ehemann, steckte ihren damals 4-jährigen Sohn in ein katholisches Nonnenkloster in der Stadt Gweru und unternahm die lange und gefährliche Überfahrt in ihre Geburtsstadt Edinburgh. Es sollte mehr als zwei Jahre dauern, bis sich Mutter und Sohn wiedersahen. Zusammenleben würden sie nie wieder. Der Junge wuchs bei den Großeltern auf, denen Spark monatliche Unterhaltszahlungen schickte.

Ich begann mich mit Muriel Spark zu beschäftigen, weil ich eins ihrer Bücher rezensierte, das neu aufgelegt worden war. In dem Zuge erfuhr ich von der seltsamen Beziehung der Autorin zu ihrem Sohn Robin und konnte nicht umhin, an dieser Phase ihrer Biographie hängenzubleiben, die viele für unwichtig halten und die nichts mit dem Buch zu tun hatte, über das ich schreiben wollte. Es gibt viele verschiedene Wege, die ausgehend von verschiedenen Denktraditionen zu dem Schluss führen, die Beziehung zum einzigen Kind sei nicht relevant. So ein Faktum als anekdotisch abzuheften kann entweder Spiegel eines vollständig patriarchalen Denkens sein – »Wen interessiert so etwas wie ein Kind?« –, oder aber ein feministischer und womöglich dezent maternophober Gestus à la »Spark war viel mehr als nur Mutter«.

Ich gehöre zu keiner der beiden Fraktionen. Ich wollte immer wissen, was die Menschen, die mich interessieren, mit ihrem Leben und ihrem Körper anstellen. Und ich verstehe keinen Feminismus, der sich nicht auch mit Mutterschaft auseinandersetzt. Aus Sicht des Patriarchats erscheint es logisch, dass wir in einer ganz bestimmten Weise Mutter sein sollen. Es erscheint logisch, dass das Patriarchat nur eine ganz bestimmte Art der Mutterschaft vorsieht.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich zwei Söhne in einem ähnlichen Alter wie Robin, als er von seiner Mutter getrennt wurde. Einer war etwas jünger, der andere etwas älter. Und der Gedanke, die beiden in einem Internat auf einem anderen Kontinent der Aufsicht Fremder zu überlassen, während ein internationaler bewaffneter Konflikt tobt, erschien mir völlig verrückt und leicht monströs.

Andererseits war ich zu der Zeit aufgrund der Pandemie seit vier Monaten mit meinem Partner und meinen Kindern in einer Wohnung in Barcelona eingesperrt und versuchte unter anderem, meinem Buch Form zu verleihen und die vielen Artikel, die ich jeden Monat schreibe, mitzuverwerten. Spark, die ihre Karriere unglaublich gut voranbrachte, sagte dazu: Nichts motiviert so sehr zum Schreiben wie die Notwendigkeit, vom Geschriebenen zu leben. In dieser Phase gab es bei mir Momente – etwa 37 am Tag –, in denen die Möglichkeit, kurz allein zu sein und sechzig mickrige Minuten ohne Unterbrechung und mit maximaler Konzentration zu arbeiten, unerreichbar erschien. Und das war tatsächlich der Fall. Wenn man kleine Kinder versorgt, lebt man in einem Zustand des permanenten Überfalls – und das wissen alle, die diese Aufgabe schon hatten. Egal was in deinem Kopf entsteht, es wird jeden Moment überfallen und geplündert, und die Gewissheit, dass so ein Sturm plötzlich und ohne Vorwarnung kommt, macht das Denken und das Abstrahieren zu einer heimlichen und flüchtigen Tätigkeit.

Tagsüber trieb mir die Unmöglichkeit, meine Stunden sinnvoll zu verwalten, Tränen der Frustration in die Augen. Nachts hielt mich der Gedanke an all die Literaturbeilagen wach, für die ich geschrieben hatte und die eine nach der anderen eingestampft wurden. Mich beschäftigten die gekündigten Kooperationsverträge, die gesunkenen Honorare, das in Auftrag gegebene Buch, das nicht vorankam und das ich bestimmt morgen anfangen würde zu schreiben, in der Zeit, wenn der Kleine Mittagsschlaf hielt und der Große puzzelte. Diese Zeit würde ganz bestimmt unendlich produktiv werden.

»Wenigstens sind die Kinder gesund«, schrieben wir in dieser Phase oft in den Mütter-Chatgruppen. »Man tut, was man kann«, wiederholten wir. »Wir sind da, wo wir sein sollen.«

Unser Repertoire an beruhigenden Sätzen, die wir hin- und herwarfen, war überschaubar. Die Worte wirkten jedes Mal abgenutzter, fadenscheiniger, wie besagter Pullover, der in der Familie immer weitergereicht wird, bis die Ellenbogen durchscheinen und die Bündchen labberig werden.

Es lag wohl ein Quäntchen Wahrheit in unseren Worten. Aber das Gefühl, alles die ganze Zeit falsch zu machen, überwog. Im Gegensatz zur allgegenwärtigen Mindfulness aus prä-pandemischen Zeiten, jener Lehre des individuellen Wohlergehens, die sich voll und ganz dem Auskosten jedes Augenblicks verschreibt und sich voll und ganz im Hier und Jetzt zentriert, besteht meine Erfahrung als Mutter aus akkumulierten Einzelmomenten voller Stress-Spitzen.

Ich fürchte, mit einem Ratgeber zur von mir erfundenen Disziplin der Mindlessness würde ich kaum reich werden. Diese meine Königsdisziplin besteht darin, sich stets am falschen Ort und mit dem Geist anderswo zu fühlen. Anderswo und danach statt hier und jetzt.

Die Höchstform der Mindlessness erreicht man, so würde ich in meinem Ratgeber Selbstsabotage für Anfänger schreiben, wenn man drei Stunden pro Tag angespannt am Computer arbeitet und dabei die ganze Zeit weiß, dass man eigentlich mit den Kindern Plastilinfiguren kneten sollte oder wenigstens das Abendessen zubereiten. Eine andere Form höchster Mindlessness ist es, wenn man dem Kind etwas vorliest und dabei immer wieder auf die Uhr schielt und sich fragt, ob eine halbe Stunde Die kleine Raupe Nimmersatt genug ist, ob irgendjemand all diese Stunden dokumentiert und ob sie am Ende der geschädigten Mutter gutgeschrieben werden.

Muriel Spark hatte 1937 einen dreizehn Jahre älteren Mathematiklehrer geheiratet, den sie kaum kannte. Er hieß Sidney Oswald Spark, und es würde nicht lange dauern, bis Muriel ihn halb als Insider-Witz nach seinen Initialen S. O. S. nannte. S. O. S., ich habe einen Fremden geheiratet.

Wie Muriels Ursprungsfamilie war S. O. S., der allgemein Solly genannt wurde, ebenfalls nicht praktizierender Jude und ebenso wie Barry, Muriels Vater, in Litauen geboren. Mit seinen zweiunddreißig Jahren arbeitete er als Mathematiklehrer in Edinburgh. Sie hatten sich bei einer Tanzveranstaltung im Overseas Club kennengelernt, den Muriel mit ihrem einzigen Bruder Philipp frequentierte. Trotz des Altersunterschieds und Sollys schweigsamer Art entwickelte sich eine Verbindung. Beide sprachen gern über Bücher, und sie hörten gemeinsam die Abdankungsrede von Edward VIII., der für ein mondäneres und exotischeres Leben mit Wallis Simpson auf den Thron verzichtete. Solly hatte Muriel ebenfalls – und das ist essenziell –, eine vage Zukunftsvision jenseits des provinziellen Edinburgh in Aussicht gestellt. Er hatte vor, in die britischen Kolonien Afrikas überzusiedeln, um dort zu arbeiten. In Rhodesien seien Hausangestellte viel günstiger, versprach er Muriel, sie würden sich dort Bedienstete leisten können und sie würde sich nicht mehr selbst um den Haushalt kümmern müssen.

Das war eine verlockende Aussicht für eine junge Frau, die bereits eine klare Vorstellung davon hatte, wie wenig Spielraum ihr Leben aufgrund ihres Geburtsorts und ihrer sozialen Stellung bieten würde. Als sie zur Schule ging, hatte die Lieblingslehrerin Miss Kay der kleinen Muriel mit ihren Geschichten von Reisen nach Ägypten, Rom und in die Schweiz einen mächtigen Floh ins Ohr gesetzt. Diese charismatische Lehrerin nahm Muriel und ihre Freundin Frances auch mit zur letzten Vorstellung von Anna Pawlowa ins Empire Theatre in Edinburgh und zum Tea in den eleganten Salon McVities. Spark übernahm von ihrer Lehrerin (unter etlichen anderen Dingen) einen bestimmten Ausdruck und lieh ihn ihrer berühmtesten Figur, der zugleich naiven wie manipulativen Miss Brodie, dem der Roman Die Blütezeit der Miss Jean Brodie den sehr zutreffenden Titel verdankt. Für Jean Brodie sind, ebenso wie für Miss Kay, alle sehr guten Dinge die »crème de la crème«. Es ist schier unmöglich, diese Worte nicht mit dem Akzent zu lesen, den Maggie Smith der Figur in der Verfilmung des Romans verleiht. Smith spricht das R ganz wunderbar rollend aus, eher schottisch als französisch: »Meine Schülerinnen sind die crrrème de la crrrème«. Und darin kondensiert sich der gesamte Anspruch der Jean Brodie, einer ebenso überzogenen wie realistischen Figur.

Nach einem Jahr des Werbens ohne körperliche Beziehung heirateten Muriel und Solly. Sie verbrachten die Hochzeitsnacht zusammen, die Muriel später als »Pfusch« bezeichnen sollte, und zogen nach Rhodesien. Zunächst lebten die Eheleute in ärmlichen Verhältnissen in der staubigen Kleinstadt Fort Victoria (heute Masvingo). Das von der britischen Kolonialmacht erfundene Land Rhodesien hatte seinen Namen von dem Politiker und Magnaten Cecil Rhodes und existierte in dieser Form damals erst seit etwa fünfzig Jahren. Die Bevölkerung bestand aus anderthalb Millionen Afrikanern und rund fünfundfünfzigtausend europäischen Kolonisten, die sich benahmen, als würde dieses auf der niedersten Form von Rassismus basierende System ewig Bestand haben.

Bereits wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Fort Victoria bekam S. O. S. Probleme mit der Bildungsbehörde, die ihn als Lehrer eingestellt hatte. Er war psychisch labil, was an jeder Ecke zu Konflikten führte.

»Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?«, fragte sie und meinte seine prekäre psychische Verfassung. »Dann hättest du mich nicht geheiratet«, antwortete er. Die Logik war unanfechtbar.

Kurz nach diesem Geständnis wurde Muriel schwanger. Er schlug eine Abtreibung vor, sie weigerte sich, obwohl sie eigentlich keine große Lust hatte, Mutter zu werden. Noch weniger wollte sie diese Ehe, die sie als Fehler ansah, durch ein gemeinsames Kind zementieren.

Robin Spark wurde dennoch am 9. Juli 1938 nach anderthalb Tagen schwerster Wehen im Krankenhaus Bulawayo geboren. Muriel erzählt davon in ihrer Autobiographie Curriculum Vitae, die 1992 erschien, 1994 in der deutschen Übersetzung von Otto Bayer: »Ich war am Ende meiner Kräfte und glaubte nicht mehr, daß ich oder mein Kind am Leben bleiben würde, und es war in der Tat ein Wunder, daß wir beide es gesund und kräftig überstanden. Ich hatte mir einen Fingernagel vollständig abgerissen. Mein Mann brachte mir ein Maniküre-Etui und einen Blumenstrauß. Er zeigte erste Symptome der schweren Nervenstörung, an der er schon sein ganzes Leben gelitten hatte und noch leiden würde. Er hatte Anfälle von Gewalttätigkeit und geriet nach wie vor mit jedem in Streit.«

Eine derart kultivierte und kluge Autorin wie Muriel Spark baut diesen Absatz nicht zufällig so auf: Ein Kind wird geboren. Ein Fingernagel geht zu Bruch. Der Ehemann wird zum Alptraum. Alles kondensiert in insgesamt dreihundert Wörtern. Das ist weniger, als der journalistischen Zunft damals zur Verfügung stand, um die Handlung eines Films zusammenzufassen, als es noch ein Veranstaltungsprogramm in den Zeitungen gab. Weniger, als in einer Arbeitsmail, die ein Meeting verschiebt und einen neuen Termin vorschlägt. Diese derart dichte Passage steckt voller Intention.

Muriel Sparks Biograph Martin Stannard schreibt in Muriel Spark. The Biography, Robin würde für seine Mutter stets das Ergebnis ihrer unglücklichen Ehe bleiben und sie würde zeitlebens nie in der Lage sein, das Kind losgelöst vom Vater zu betrachten. Wenn sie ihr Kind ansah, sah sie vor allen Dingen das Gesicht jenes mittelmäßigen und gewalttätigen Mannes, der ihr schon zwei Tage nach der Hochzeit zu kleingeistig geworden war.

Die Chronologie von Sparks nachfolgenden Lebensjahren ist etwas nebulös, sie selbst trug mit verschiedenen Versionen ihrer Zeit in Afrika zu dieser Unklarheit bei. Unmittelbar nach der Geburt ihres Sohnes hatte Muriel keine Milch mehr und fiel in einen Zustand, den damals niemand und erst recht kein Arzt aus Bulawayo in Rhodesien als postnatale Depression diagnostiziert hätte. Muriel und Solly teilten nie wieder das Bett – zumindest schrieb sie es so nieder. Er wurde ihr gegenüber gewalttätig, und sie musste den Revolver verstecken, den ihr Mann wie nahezu alle Weißen in Afrika besaß, weil sie befürchtete, er könne sie erschießen. Diese Angst kam nicht von ungefähr: Muriel hatte in dem Hotel, in dem sie damals zusammen mit Solly und dem Baby lebte, eine alte Schulfreundin getroffen, die sie aus Edinburgh kannte. Nita McEwan war genauso rothaarig wie Muriel und als ihre Doppelgängerin bekannt. Eines Nachts hörte Muriel ein seltsames Geräusch. Am nächsten Morgen erfuhr sie, dass Nitas Ehemann erst kaltblütig seine Frau erschossen und sich daraufhin selbst das Leben genommen hatte. Dieses Erlebnis verarbeitet sie in der Erzählung »Päng, päng, du bist tot«, in der die Protagonistin Sybil nur überlebt, weil ihr eifersüchtiger und nervenschwacher Liebhaber versehentlich die Nachbarin erschießt, die ihr sehr ähnlich sieht.

Schließlich gelang es Muriel, sich von S. O. S. zu trennen, zumindest faktisch. Er ging seiner Arbeit in der Militäreinheit in Gwelo nach, und sie suchte sich verschiedene Anstellungen als Schreibkraft und Sekretärin in Bulawayo. Sie teilte sich eine Wohnung mit ihrer Freundin May Heygate, die ebenfalls ein kleines Kind und einen Mann beim Militär hatte. Im Dezember 1939 versuchte Muriel, sich offiziell von ihrem Mann scheiden zu lassen, aber das war nicht einfach. Laut Kolonialgesetzen reichte weder die psychische Instabilität noch die Gewalttätigkeit, derer sie ihren Mann bezichtigte, aus, um einen Scheidungsantrag zu genehmigen. Erst vier Jahre später sollte es gelingen. Damals waren die einzigen validen Gründe Untreue oder böswilliges Verlassen. »Da mein Mann mich nicht verlassen würde, verließ ich ihn«, schrieb sie Jahre später. »Das Leben in der Kolonie fraß meine Seele auf.«

Muriel musste aus Afrika weg, aber da Krieg herrschte, war es strengstens verboten, mit Kindern zu reisen. Also ließ sie den 4-jährigen Robin in jenem Kloster in Gwelo zurück und zog selbst nach Salisbury in Südrhodesien, um ihre Scheidung abzuwarten.

»Um nicht verrückt zu werden, beschloß ich, schon einmal alleine vorauszufahren«, schreibt sie in Curriculum Vitae, wo sie die Trennung von ihrem Sohn auf pragmatische und rasche Weise abhandelt wie eine praktische Vereinbarung und sie in den Kontext der internationalen Unruhe einbettet: »Ich hatte an der dominikanischen Klosterschule in Gwelo einige sehr liebe katholische Nonnen kennengelernt. Nicht wenige Kinder, die durch den Krieg von ihren Eltern getrennt waren, befanden sich dort im Internat. Ich war überzeugt, daß Robin in dieser Klosterschule gut aufgehoben sein würde, und das war er dann auch. Sogar mein Mann, der von der Nervenheilanstalt aus seinem ›Sorgerecht‹ nachkam, hatte Gefallen an den Nonnen von Gwelo. Robin konnte dort mit den Kindern meiner Freundinnen spielen. Auch diese hatten ein Auge auf ihn. Eine freundliche Kinderschwester und ihre Familie nahmen ihn fast täglich mit zu sich nach Hause und waren mir mit ihren regelmäßigen Briefen eine große Stütze.« Es wird deutlich, dass Spark keine große Lust hat, tiefer in das Thema einzusteigen, aber sie sieht auch eine gewisse Notwendigkeit, ihre Entscheidung den Lesern gegenüber zu rechtfertigen. Die Nonnen waren gut. Das Kind war glücklich. Ich ging, weil ich gehen musste.

In ihrer Autobiographie überspringt Spark die zwei Jahre, die Mutter und Sohn auf unterschiedlichen Kontinenten verbrachten, und fährt fort: »Ich wollte alles dafür vorbereiten, daß gleich nach dem Krieg, sobald die Transportbeschränkungen aufgehoben wären, Robin nachkommen und bei meinen Eltern leben sollte, die sich schon sehr auf ihn freuten. Das klappte alles erstaunlich gut. Ich kam im März 1944 in England an. Mein Söhnchen kam im September des nächsten Jahres nach und wurde von meinen Eltern mit großer Freude in Empfang genommen.«

Als heutige Leserin, die es gewohnt ist, Autobiographisches und Autofiktionales von Autorinnen zu lesen, überrascht es mich, wie reserviert und sparsam Muriel Spark sich in Bezug auf ihren Sohn äußert. Sie vermeidet jeden Hauch von Sentimentalität und schreibt geradezu distanziert über ihr Kind. Das ist nicht selten, es kommt auch bei anderen wunderbaren Schriftstellerinnen vor, beispielsweise Edith Wharton, die nicht in der Lage scheint, ihrer eigenen Geschichte den Zauber einzuhauchen, der in ihren fiktionalen Werken im Überfluss vorhanden ist. Und doch kommt bei Spark noch etwas hinzu. Als Muriel Spark ihre Autobiographie schrieb, war bereits deutlich geworden, dass ihre Beziehung zu Robin zerrüttet war, und vielleicht hatte sie einfach keine Lust, ausführlich über diese gescheiterte Verbindung zu schreiben.

In Sparks Autobiographie wird deutlich, dass sie das Thema einfrieden möchte und der Leserschaft kommunizieren, dass es in der Beziehung kein Problem gab: Das Kind wurde geboren und war zu keiner Zeit eine Last, ein Klotz, ein Fragezeichen. Die Dichterin Elaine Feinstein, die das Vorwort zur englischen Neuauflage des Curriculum vitae verfasst hat, schreibt sogar, Spark scheine die Trennung »nicht sehr nahegegangen zu sein«. Eine weitere urteilende Stimme.

Spark widmet viel mehr Seiten ihrer Autobiographie beispielsweise den Spannungen innerhalb der Zeitschrift Poetry Review, die sie herausgab und durch die sie sich mit sämtlichen alteingesessenen britischen Dichtern anlegte. Oder dem Hin und Her vor der Publikation ihrer eigenen Bücher und den Einigungen, die mit den Verlegern erzielt wurden, oder den Umständen, unter denen sie einige ihrer Romane verfasste. Aber sie verliert nicht eine Zeile über ihre Schwangerschaft. Andererseits, warum sollte sie auch? Für sie war das Schreiben über das, was in ihrem Uterus geschah, ähnlich unmöglich, wie wenn ein männlicher Schriftsteller in den 50er oder 60er Jahren – den produktivsten ihrer eigenen Laufbahn – über seine Probleme mit Klistier und Darmeinläufen schriebe. Schmutzig und vulgär.

Noch zu Beginn der 90er Jahre, als ihre Autobiographie publiziert wurde, war es eher seltsam, wenn sich Autorinnen mit dieser intimen Seite ihres Lebens befassten. Ganz im Gegensatz zu heute, wo die Messlatte in Sachen Intimität bei schreibenden Frauen viel höher angelegt wird als bei Männern. Von Autorinnen wird erwartet, dass sie ihre Körperflüssigkeiten über die Buchseiten ergießen und ihre Romane, Essays und Interviews mit möglichst schlüpfrigen Geständnissen spicken. Ist dies nicht der Fall, so empfinden Leserinnen und Leser und natürlich Interviewende es so, als würde ihnen etwas überaus Wichtiges vorenthalten, als würde man nur Reste serviert bekommen. Ich weiß das, weil ich selbst gelegentlich die Interviewerin bin, die Blut verlangt, oder wenigstens Schweiß.

Es ist ein wiederkehrendes Thema in der literarischen Debatte unter Frauen. Junge Autorinnen wie Olivia Sudjic haben darüber berichtet, dass von Schriftstellerinnen, vor allem von Debütantinnen, erwartet wird, ihr Leben in Häppchen zu servieren, damit die Leserschaft sie genüsslich degoutieren kann.

»Einen Roman schreiben und einen Roman publizieren, das sind gegensätzliche Erfahrungen. Unabhängig vom Thema ist das Material zutiefst persönlich. Die Autorin verteidigt dieses Material und sich selbst gegen die Welt. Manchmal schützt sie sich jahrelang vor dem Durchsickern, vor der Kontamination und dem öffentlichen Ausgeliefertsein. Wenn es dann um die Publikation und Vermarktung der eigenen Arbeit geht, wird dieses öffentliche Sich-Zeigen vor allem bei Erstlingen oft zur Rückkehr Saturns, die sich sogar für Extrovertierte überraschend stark und schmerzhaft auf das nichtliterarische Leben auswirken kann. Neben den vielfältigen funktionalen Anteilen, die man als Schriftstellerin in der eigenen Person vereinen muss, braucht es nun auch die Fähigkeit zur Dissoziation.«

Muriel Spark war 1992 nicht in dieser Art Verhandlung begriffen, und auch wenn sie eine traumatische Beziehung zu ihrem einzigen Sohn hatte, sah sie nie die Notwendigkeit, diesen Teil ihres Lebens in ihr literarisches Erbe einfließen zu lassen. Ihre zweiundzwanzig Romane schrieb sie doch nicht, damit über sie als Mutter statt als Autorin gesprochen wurde, so war vermutlich ihr Gedankengang, der sich auf ein ganz grundsätzliches Verständnis von Recht und Unrecht stützte. Kein männlicher Schriftsteller wurde damals als Vater beurteilt. Das geschah erst viel später, als beispielsweise die hässlichen Seiten von Pablo Neruda und Arthur Miller aufgedeckt wurden, die sich ihrer kranken Kinder im Lauf des Lebens entledigten. Zu der Zeit, als beispielsweise Susan Cheever in ihrer Autobiographie über ihre Eltern offenlegte, diese hätten nie das Gefühl gehabt, ihre Probleme mit dem flüchtigen Ruhm der Literatur hätten irgendetwas mit dem ganz normalen Faktum zu tun, dass sie sich für Kinder entschieden.

Nach der Zeit, die Robin und Muriel voneinander getrennt gelebt hatten, entstand nie wieder eine gute Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Es gab den vagen Plan in der Familie, der Junge sollte mit der Mutter in London leben, wenn sie das Geld dafür zusammenhätte, aber dazu kam es nie. Zwischen den beiden wuchs mit den Jahren der Groll und eine Art gegenseitige Entfremdung.