Nach dem Tod komm ich - Thomas Kundt - E-Book + Hörbuch

Nach dem Tod komm ich Hörbuch

Thomas Kundt

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Beschreibung

Der Letzte wischt das Blut auf ... Thomas Kundt ist Tatortreiniger. Wie es dazu kam? Reiner Zufall! Podcaster und Autor Tarkan Bagci erzählt Thomas Kundts inspirierende Geschichte: Gerade noch mit Schlips und Kragen im 9-to-5-Job, findet er sich plötzlich mit Eimer und Lappen zwischen Blut und Leichenresten wieder. Er hatte sich schon länger ein aufregenderes Leben gewünscht …Aber das hier? Kundt ergreift die Chance und beginnt ein neues Kapitel. Hier erzählt er von Tatorten, an denen er noch Körperteile fand und Schicksalen, die man nie wieder vergisst. Eine tragikomische Geschichte über den Tod, das Leben und vor allem übers Menschsein.

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Zeit:4 Std. 37 min

Sprecher:Tetje Mierendorf

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Thomas Kundt / Tarkan Bagci

Nach dem Tod komm ich

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

KAPITEL 1

»Herr Kundt, die Kriminalpolizei will mit Ihnen sprechen!«

Die Stimme von Frau Kaiser, unserer Sekretärin, zitterte, als sie mir den Hörer hinhielt.

Die Kripo? Mit mir?!

Ich nahm das Gespräch an, ohne zu wissen, was da auf mich zukam. Vielleicht war es eine Verwechslung?

»Hier ist Kriminalkommissar Wiese von der Mordkommission«, sagte eine strenge männliche Stimme, »spreche ich mit Thomas Kundt?« Ich nickte stumm in den Hörer. Keine Verwechslung, Thomas Kundt, das war ich. Finanzberater, 34 Jahre alt, 98 Kilo schwer bei 1,70 Meter Körpergröße. Und nach zwölf Jahren Beziehung gerade wieder Single (was das aktuelle Körpergewicht-Größe-Verhältnis erklärte).

Frau Kaiser sah verstohlen zu mir herüber und horchte. Auch sie konnte sich nicht zusammenreimen, was die Kriminalpolizei von mir, einem biederen Finanzberater, wollte. Vielleicht hatte ich jemanden aus Versehen zu Tode gelangweilt?

»Wir haben hier nen Suizid«, sagte die Stimme, »da hat sich wer erschossen.«

Okay, und was hat das mit mir zu tun?!

Bevor ich meine Verwirrung in den Hörer rufen konnte, fiel bei mir der Groschen.

Oh, nein! Natürlich!

Ich konnte mir endlich zusammenreimen, was es mit dem Anruf auf sich hatte. Beruhigend war das nicht. Ganz im Gegenteil. Das Blut floh aus meinem Schädel, und ich fing an zu schwitzen.

Die arme Frau Kaiser sah meine Reaktion und malte sich wahrscheinlich die wildesten Szenarien aus. Dabei kannte sie mein eigenartiges Hobby, das schuld daran war, dass jetzt die Kripo bei mir anrief.

Seit meiner Kindheit sammle ich Antiquitäten. Alte Sachen aller Art. Ich greife sie vom Sperrmüll auf, kaufe sie auf Flohmärkten oder ergattere sie bei Wohnungsauflösungen. Mein ganzes Umfeld weiß davon. Und wenn jemand mitbekommt, dass eine Wohnung geräumt wird, dann sagt man mir Bescheid. Auch Frau Kaiser hatte mich schon mal vermittelt.

»Hey, Thomas, der Opa eines Freundes ist gestorben, und die räumen die Wohnung«, heißt es dann, »du kannst Samstag einfach hin und schauen, ob du was mitnehmen magst.« Das ist nicht sonderlich aufregend. Ich laufe durch die verlassene Wohnung, schaue nach Antiquitäten, die ich mitnehmen könnte, und gehe wieder. Dass vielleicht kurz zuvor jemand in der Wohnung verstorben ist, daran denke ich gar nicht. Meistens gibt es dafür auch gar keine Anzeichen.

Darum hatte es mich auch so gewundert, als mich vor einigen Tagen bei einer Nachbarschaftsfeier jemand dazu ausgefragt hatte. Ob ich denn keine Hemmungen hätte bei toten Leuten in die Wohnung zu gehen?

»Weiß nicht«, sagte ich, »eigentlich nicht …«

Mein Nachbar hatte anerkennend genickt und in seiner Hosentasche gekramt.

»Ich bin Polizist«, hatte er gesagt, »und wir suchen immer Leute, die Tatorte reinigen. Wäre das was für dich?«

Das kam unerwartet. Ich hatte nicht mit einem Jobangebot gerechnet, vor allem nicht für so einen Job. Dafür war ich doch auch gar nicht qualifiziert, oder? Gab es denn kein Bewerbungsverfahren?! Sie haben zwanzig Minuten Zeit, bitte wischen Sie so viel Blut weg wie möglich, so etwas in der Art. Mein Mund klappte auf, und ich stand da wie beim Schnellrestaurant vor der Kasse, wenn man bestellen soll, bevor man sich Gedanken darüber machen konnte, was man möchte. »Ähhhhhhhh …«

»Das ist gar nicht so weit weg von dem, was du eh schon machst«, sagte der Polizist, »dann kommst du halt ein wenig früher in die Wohnung und machst eben noch sauber, bevor du die Wohnung entrümpelst.«

Der Polizist drückte mir ein Stück Papier in die Hand. »Gib mir mal deine Nummer!«, sagte er und suchte nach einem Stift. Ich hatte tatsächlich einen bei mir, zögerte aber.

»Tatortreinigung?«, fragte ich noch einmal zur Sicherheit. Vielleicht hatte ich mich auch verhört. Aber der Polizist nickte wieder.

»Wir sind froh, wenn wir Leute wie dich finden«, sagte er, »sonst bleibt das an irgendeinem armen Hausmeister hängen, der keine Ahnung von so was hat.« Ich hatte doch auch keine Ahnung davon! Das war ja der Punkt! Aber andererseits … Es war nicht so, als hätte ich noch nie über einen Jobwechsel nachgedacht. Ich war Finanzberater und verdiente auch ganz gut. Aber wirklich glücklich war ich damit nicht. Wirklich glücklich war ich mit meinem gesamten Leben zurzeit nicht. Auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum. Klar, die frische Trennung half nicht gerade, aber da war noch mehr. Eine grundlegende Unzufriedenheit, obwohl mein Leben eigentlich genau das darstellte, was man gemeinhin als »normal« bezeichnen würde. Ein klassischer Bürojob. Acht, neun Stunden arbeiten, abends fernsehen, vor dem Schlafengehen vielleicht noch bisschen lesen und dann morgens wieder ins Büro. Ein normal gefülltes Konto, am Wochenende Zeit für Hobbys wie Antiquitäten sammeln und ab und an eine Nachbarschaftsfeier besuchen. Leichenreste entfernen war in meinem Leben absolut nicht vorgesehen. Vielleicht hatte ich gerade deshalb den Stift genommen und auf den Fetzen Papier meine Kontaktdaten geschrieben. Name, Telefonnummer (privat) und aus Gewohnheit zusätzlich: Telefonnummer (Büro). Was sollte schon groß passieren? Ich unterschrieb keinen Arbeitsvertrag, ich gab bloß meine Nummer weiter. Wahrscheinlich würde sich eh niemand melden, dachte ich. Und wenn doch, dann konnte ich immer noch einen Rückzieher machen. Sagen, dass ich doch keinen Tatort sauber machen konnte, und dann würden wir gemeinsam über meine Selbstüberschätzung lachen.

Ich starrte auf den Hörer in meiner Hand. Jetzt gerade war mir so gar nicht nach Lachen zumute.

»Haben Sie mich gehört?«, fragte mich der Kriminalkommissar, »viel Blut und Hirnmasse, aber alles sehr frisch. Sie müssten in ein paar Stunden durch sein. Aber wem erzähle ich das, Sie kennen das ja alles bestimmt.«

Von wegen! Ich habe noch nie in meinem Leben Blut aufgewischt!

Am anderen Ende der Leitung rauschte es. Ich schluckte schwer und brachte keinen Ton heraus.

»Ich habe Ihre Nummer von einem Kollegen«, sagte Kommissar Wiese und machte eine kurze Pause, »Sie sind doch Tatortreiniger, richtig?«

Nein, bin ich nicht. Ich weiß nicht, warum ich dem Polizisten auf der Party meine Nummer gegeben habe, es tut mir leid!

»Ja, klar bin ich das.«

»Gut!«, sagte der Kommissar zufrieden, »dann gebe ich der Familie Bescheid, dass Sie gleich kommen.«

Der Familie? Die Angehörigen waren noch da?

Bevor ich was sagen konnte, nannte mir der Kommissar die Adresse und legte auf.

Was hatte ich gerade getan? Ja, klar bin ich das – was sollte das denn?!

Ich lehnte mich zurück und starrte auf die weiße Rigipswand über mir, mit der sich mein Gesicht mittlerweile eine Farbe teilte. Warum hatte ich nicht einfach gesagt, dass ich keine Ahnung davon hatte, wie man Leichenreste beseitigt? Jetzt wartete eine trauernde Familie auf mich. Was sollte ich nur tun?

Blut und Hirnmasse, aber alles sehr frisch. Sie müssten in ein paar Stunden durch sein.

Vielleicht war es gar nicht so schlimm, wie ich es mir ausmalte. Ob man jetzt verschütteten Tomatensaft wegmacht oder eben Blut, das Konzept ist schließlich dasselbe. Nur dieses eine Mal könnte ich es ja machen und dann nie wieder ans Telefon gehen. Es jetzt einfach durchziehen. Ich würde das schon irgendwie hinkriegen. Dachte ich zumindest.

Ich stand auf, griff mir meinen Mantel und stürmte zur Tür. Ich brauchte Putzmittel. Und Bürsten. Und –

»Herr Kundt?!«, Frau Kaiser sah mich entsetzt an, »ist alles in Ordnung?«

Ich hatte noch den Hörer in der Hand und reichte ihr das Telefon.

»Sagen Sie dem Chef bitte, dass ich kurz wegmuss. Es ist sehr dringend. Aber ich bin in ein paar Stunden wieder da.«

Damit ging ich aus der Tür, um meinen ersten Tatort zu reinigen. Ohne Ausrüstung und ohne zu wissen, wie.

Frau Kaiser blieb mit dem Hörer in der Hand verdutzt zurück. Sie malte sich vermutlich sonst noch was aus. Und wahrscheinlich waren selbst ihre wildesten Fantasien noch immer nicht so absurd wie die Realität.

 

Bevor ich losfuhr, versuchte ich im Auto eine Liste mit allem zusammenzustellen, was ich an Ausrüstung brauchte. Ich war so überfordert, dass ich zum Handy griff und ganz instinktiv die einzige Person anrief, die man in solchen Momenten eben anruft.

»Mutti …«

Meine Mutti Birgit war damals sechzig, aber wesentlich fitter als ich. Wir nannten sie liebevoll die Kitschkönigin. Gucci-Handtaschen, weiße Schuhe, viel Bling-Bling, eine Sonnenbrille auf der Nase, eine ins Haar gesteckt und eine in der Handtasche. Sie liebte alles, was irgendwie kitschig war, und kleidete sich oft so, als würde sie damit rechnen, jeden Moment in einem Hip-Hop-Video aufzutauchen. Sie war viele Jahre lang Altenpflegerin gewesen, strotzte nur so vor Tatendrang und war sich für absolut nichts zu schade. Kurz nach der Wende fand sie Arbeit in München und zog aus Leipzig weg in den Westen. Ich war damals vierzehn und blieb allein zurück. Meine Oma wohnte unten im Haus und passte von da an auf mich auf. Dadurch war das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir etwas gespalten. Vor ein paar Jahren war sie wieder zurück nach Leipzig gezogen und seitdem immer für mich da, damit hatte sie vieles wiedergutmachen können.

Nachdem ich ihr erzählt hatte, wo ich reingeraten war, wollte ich von ihr wissen, welche Putzmittel ich wohl am besten kaufen sollte. Stattdessen sagte sie etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

»Kann ich mitkommen und dir helfen?«

Ich stutzte.

»Bist du dir sicher?«, fragte ich, »es geht um Leichenreste!«

»Jetzt hör mal, Junge«, sagte sie, »ich hab schon ganz andere Sachen wieder sauber gemacht! Du fährst jetzt zum Baumarkt und holst paar Maleranzüge und Putzzeug. Und dann holst du mich ab. Wir machen das gemeinsam!«

Es fühlte sich an, als wenn sich im freien Fall ein Fallschirm geöffnet hätte.

»Okay.«

Ich atmete durch und fühlte mich wieder einigermaßen beisammen. Meine Mutter ließ mich nicht mehr im Stich. Niemals wieder. Ich bedankte mich tausendmal, bis sie mit den Worten »Ja, ja, jetzt beeil dich« auflegte.

 

Im Baumarkt schnappte ich mir als Erstes zwei Ganzkörper-Maleranzüge. Dann griff ich mir ein paar Bürsten und massenhaft Putz- und Desinfektionsmittel. Einmal den Arm ausstrecken und beim Regal mit den Reinigern alles im Vorbeigehen in den Einkaufswagen fallen lassen. Was noch? Schwämme? Handtücher? Am liebsten hätte ich den Baumarktmitarbeiter gefragt, aber ich konnte ja schlecht sagen: »Entschuldigung, ich muss Leichenreste spurlos verschwinden lassen. Was können Sie mir gegen literweise Blut und Hirnmasse empfehlen?« Zumindest nicht, ohne dass der Baumarktmitarbeiter die Polizei alarmierte. Auf dem Weg zur Kasse blieb ich noch mal kurz an einem Regal stehen. Brauchte ich Spachtel?

 

Meine Mutter wartete bereits vor ihrer Haustür auf mich. Sie hatte ebenfalls eine beachtliche Anzahl an Putz- und Desinfektionsmitteln zusammengetragen. Außerdem hatte sie mehrere große Eimer im Arm. Ich sah beschämt zum Rücksitz, wo meine Sachen aus dem Baumarkt lagen. Ich hatte einen ganzen Haufen Spachtel besorgt, aber keinen einzigen Eimer.

Wir entschieden uns, die Maleranzüge erst später anzuziehen, wenn wir bei den Angehörigen in der Wohnung waren. Einfach aus Pietätsgründen. Wir wollten so diskret wie möglich sein. Es musste schließlich nicht die gesamte Nachbarschaft mitbekommen, dass da gerade die Tatortreinigung klingelte.

 

Die Angehörigen, das waren die circa 60-jährige Ehefrau, jetzt Witwe, und der circa 25-jährige Sohn, jetzt Halbwaise. In dem Moment, in dem die beiden uns die Tür öffneten, merkte ich, wie ein wenig Anspannung von mir abfiel. Sie waren so erleichtert, uns zu sehen! Wir waren da, um zu helfen, und die beiden konnten jede Hilfe gebrauchen. Darum ging es. Wir halfen zwei Menschen, nichts weiter. Der Gedanke gab mir etwas Ruhe. »Mein aufrichtiges Beileid«, sagte ich, »ich wünsche Ihnen für die nächsten Tage viel Kraft.«

Drinnen zogen wir uns als Erstes die Maleranzüge an. Meine Mutter hatte klugerweise Wechselwäsche dabei. Wobei sie eigentlich immer zusätzliche Kleidung in ihrer Großraumhandtasche mit sich trug. Sie zog ihren Maleranzug über einen dünnen Trainingsanzug. Ich selbst streifte ihn mir einfach über das, was ich noch von der Arbeit anhatte. Hemd und Anzughose. Zumindest die Krawatte legte ich vorher noch ab. Ich fing bereits nach wenigen Sekunden an zu schwitzen.

Na, das kann was werden.

Die Witwe beschrieb uns, wo im Keller die Waschküche war, in dem die Reste ihres Ehemanns lagen. Zeigen wollten sie es uns nicht. Verständlicherweise, der Selbstmord war erst ein paar Stunden her.

Wir fanden die richtige Tür auf Anhieb. Bereits nach wenigen Schritten stand ich mitten in einer Lache aus Blut und Urin und wer weiß was sonst noch. Dickflüssige Pampe, einen knappen Zentimeter hoch, verteilt über mehr als einen Quadratmeter. Und in der Pampe immer wieder Stückchen. Hirnmasse, dachte ich und schauderte.

Oh Gott, und was machst du jetzt?

Selbst meine Mutter hielt kurz inne. Aber dann stellte sie den Eimer ab und sagte: »Ich fang mal hier vorne an.«

Sie kniete sich in eine Ecke und legte einfach los. Ich konnte sie natürlich nicht alleine putzen lassen. Also kniete ich mich in eine andere Ecke und fing ebenfalls an zu wischen.

 

Die kleinen Stückchen fühlten sich an wie Leber oder fein gehackte Tomaten aus der Dose. Das Blut roch säuerlich. Mein Hemd war mittlerweile komplett schweißdurchnässt und klebte an mir wie eine zweite Haut.

Im Nachhinein betrachtet hatte ich wirklich verdammt großes Glück mit meinem ersten Einsatz. Die Leiche hatte nur ein paar Stunden gelegen, das heißt, die Blutmasse war noch nicht in den Boden gezogen. Wir konnten sie tatsächlich einfach mit den Lappen aufwischen und in die Eimer wringen, bis sie voll waren. Dann leerten wir die Eimer im Klo aus und fingen wieder an zu wischen und zu wringen. Immer wieder und wieder. Wischen, wringen, entleeren. Drei Stunden lang. Bis endlich jeder Spritzer Blut, jedes Stück Hirnmasse und jeder Knochensplitter weg war. Zum Abschluss desinfizierten wir noch einmal alles gründlich. Das Zimmer sah wieder so aus, als ob niemand darin gestorben wäre.

 

Die Angehörigen waren überglücklich. In ihren Augen wirkte ich wahrscheinlich super professionell. Dabei wusste ich nicht so genau, was ich hier machte, mir tat jeder Muskel in meinem Körper weh, und ich kämpfte konstant gegen den Brechreiz. Außerdem war ich klitschnass vom Schweiß. Wir schälten uns aus den Maleranzügen, verabschiedeten uns und fuhren heim.

 

Als ich meine Mutti vor ihrer Tür absetzte, meinte sie: »Sag mir nächstes Mal wieder Bescheid! Ich komm gerne immer mit!«

Ich schüttelte vehement den Kopf. »Es wird kein nächstes Mal geben!«, sagte ich entschlossen. Ich drückte aufs Gas und fuhr heim, um mich umzuziehen und dann wieder ordentlich auf der Arbeit erscheinen zu können. Auf meiner echten Arbeit. Den Scheiß mit der Tatortreinigung würde ich mir nie wieder antun, da war ich mir sicher. Nie wieder!

Ich irrte mich gewaltig.

KAPITEL 2

Gut eine Woche später saß ich bei meiner Mutti in der Küche. Ich war auf dem Weg zu einer Firmenveranstaltung und hatte bei ihr einen Stopp eingelegt, um einen Kaffee zu trinken. Wobei Kaffee in dem Fall eine ziemlich schmeichelhafte Bezeichnung für die Brühe war, die sich in meiner Tasse befand. Seit der Trennung von meiner Ex-Freundin hatte ich mir angewöhnt, meinen Kaffee in der Mischung ein Drittel Milch, ein Drittel Zucker und ein Drittel Kaffee zu trinken. Meine Mutter wusste von dieser neuen Vorliebe und machte mir jedes Mal, wenn ich vorbeikam, einen Pott Kaffeebrühe. Auch wenn es bei der Mischung vermutlich einfacher gewesen wäre, den Kaffee direkt in die Zuckerbox zu kippen und ihn mir so zu reichen.

Ich schlürfte meine Zucker-Milch-Kaffee-Mischung, während Mutti am Fenster eine ihrer langen dünnen Zigaretten rauchte. Sie kämpfte schon seit Jahren gegen Krebs. Manchmal hatte dabei der Krebs die Oberhand, manchmal sie. Gerade war wieder eine Phase, in der Mutti den Krebs mit immenser Kraft und Lebenswillen fest im Schwitzkasten hielt und ihn nicht an sich heranließ. Wäre es ein fairer Kampf, hätte sie bereits längst nach Punkten gewonnen. Aber leider war es kein fairer Kampf, besiegte sie eine Metastase, tauchte irgendwann an anderer Stelle eine neue auf. Laut den ÄrztInnen konnte sie nur noch Zeit erspielen, aber der Ausgang stand bereits fest. Egal wie oft sie gewann, der Krebs würde immer wieder aufstehen. Sie kämpfte trotzdem mit allen Mitteln und ließ den Kopf nie hängen. Selbst wenn sich auf diesem durch die Chemotherapie keine Haare mehr befanden. Dann besorgte sie sich eben die schicksten Perücken, die man sich besorgen konnte, und hielt den Kopf noch höher. Das Rauchen half im Kampf gegen den Krebs sicherlich nicht, aber laut den ÄrtztInnen schadete es auch nicht mehr. Und wenn es eh egal war, dann konnte Mutti auch genauso gut weiter rauchen. So sah sie das zumindest.

 

Firmenveranstaltungen, wie die heute, musste ich alle paar Monate besuchen. Mein Arbeitgeber lud gerne und regelmäßig irgendwelche Coaches ein, die über positive Geisteshaltung sprachen. Wir sollten lernen, wie man sich am besten motiviert, um am meisten Geld zu machen. »Man muss nach vorne gucken und verkaufen, verkaufen, verkaufen, denn nur dann macht man Gewinne, Gewinne, Gewinne«, so was in der Art. Motivierte Angestellte bedeuteten für die Firma schließlich mehr Kunden und dadurch auch mehr Geld. Normalerweise waren diese Veranstaltungen nichts für mich. Aber an diesem Abend sollte eine olympische Leichtathletin auftreten, die nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus aufgewacht war und feststellen musste, dass sie ihre Beine verloren hatte. Im Gegensatz zu all den Erfolgscoaches, die bei diesen Firmenveranstaltungen normalerweise auftraten, interessierte mich ihre Geschichte wirklich.

Mutti blies eine Rauchwolke aus dem Fenster und drehte sich zu mir. »Musstest du eigentlich noch mal irgendwo sauber machen?«

Ich grinste schief. »Irgendwo sauber machen« war ein ziemlicher Euphemismus für das, was wir letzte Woche durchgemacht hatten. »Nee«, meinte ich.

Mein erster Einsatz als Tatortreiniger war auch vorerst mein letzter gewesen. Mir schlug das Herz zwar immer noch bis zum Hals, wenn sich Frau Kaiser mit den Worten »Herr Kundt, Anruf für Sie« meldete, aber bisher war nicht wieder die Kriminalpolizei am anderen Ende der Leitung gewesen, und so langsam war ich überzeugt, dass entweder meine Nummer verloren gegangen war oder man sich entschieden hatte, mich nicht mehr anzufragen, da es auf einmal auch allen anderen aufgefallen war, dass ich kein Profi war. Mein Chef Nico, mit dem ich mich sehr gut verstand, hatte nie gefragt, wohin ich verschwunden war, und Frau Kaiser schien das Geheimnis, dass die Kriminalpolizei nach mir verlangt hatte, nicht preisgegeben zu haben. Auch wenn es sie offensichtlich sehr beschäftigte. Sie blickte häufig ängstlich zu mir herüber und malte sich wahrscheinlich weiterhin die schlimmsten Dinge aus. Ich wollte das Rätsel auflösen, wusste aber nicht, wie, und entschied mich dafür, von jetzt an einfach mit den ehrfürchtigen Blicken von Frau Kaiser zu leben. Abgesehen von diesen Blicken erinnerte allerdings nichts mehr in meinem Leben daran, dass ich einen Nachmittag lang Tatortreiniger gewesen war. Trotzdem dachte ich ständig darüber nach. Wie war das überhaupt möglich gewesen? Ich war einfach in eine fremde Wohnung marschiert und hatte Blut und Hirnmasse aufgewischt. Ich war gegen etwas so Monumentales wie den Tod mit etwas so Banalem wie Eimer und Lappen in den Kampf gezogen. Und es hatte funktioniert. Das Blut war weg, alle Spuren beseitigt. Aber planlos mit Eimer und Lappen auftauchen und einfach wischen, so konnte das doch nicht immer laufen, oder? Wie machten das denn die anderen? Die richtigen TatortreinigerInnen? Musste ich dafür nicht Psychologe, Mediziner, Gebäudereiniger, alles gleichzeitig sein? Alleine um als Finanzdienstleister arbeiten zu können, brauchte ich schon eine Reihe von spezifischen Ausbildungen. Da war alles reglementiert. Oh, du willst einen Vertrag abschließen? Ich hoffe, du hast Ausbildung 25z und Bescheinigung 28a und Fortbildung 7f, sonst darfst du nicht mal das Gebäude betreten. Aber wenn es um den Tod ging, dann hieß es anscheinend bloß: Bring Eimer und Lappen mit, und los geht’s. Das konnte doch nicht sein, oder? Mein anfänglicher Impuls, nie wieder auch nur in die Nähe eines Tatortes zu treten, wich langsam einer beißenden Neugierde. Immer mal wieder schoss mir eine konkrete Frage zur Tatortreinigung in den Kopf. »Was ist Leichengift?«zum Beispiel. Das Schlagwort hatte ich mal irgendwo aufgeschnappt, konnte es aber nicht zuordnen.

 

Meine Mutter drückte ihre Zigarette mit spitzen Fingern aus und setzte sich mit einer anderen Frage zu mir: »Und wie läuft der Umzug?«

Meine Freundin und ich hatten uns nach zwölf Jahren Beziehung getrennt. Das war bereits vor einigen Wochen passiert, aber unsere Wohnungssituation hatte sich seit der Trennung noch nicht geändert (im Gegensatz zu meinem Gewicht). Ich hatte mich schließlich entschieden, zurück zu meiner Oma zu ziehen. Bei ihr hatte ich bereits gewohnt, das Haus war groß genug. Und nicht nur ich. Als meine Mutter nach München gegangen war, hatte sie meine Schwester erst mitgenommen, aber nach einigen unglücklichen Monaten wieder zurückgebracht. Von da an waren wir zu dritt in dem Haus gewesen.

Während meine Mutter von mir und meiner Schwester »die Kitschkönigin« genannt wird, bekam meine Oma den Spitznamen »die Gräfin«. Sie war eine sparsame, herrische Frau, die nicht gerne das Zepter aus der Hand gab. Sie hatte ihre Meinung, und sie hatte keine Angst, sie durchzusetzen, ganz egal, ob vor Vorgesetzten oder den eigenen Enkelkindern. Sie achtete penibel auf ihr Äußeres und trug Schmuck und Pelz. Gleichzeitig war sie auch ein wahres Arbeitstier und hatte ihr Leben lang geackert. Ihre Hände waren breit und schwer, und egal wie gepflegt sie sonst war, unter ihren Fingernägeln fand sich immer ein wenig Schmutz von der Gartenarbeit. Sie kümmerte sich gut um mich und war, trotz ihrer etwas herrischen Art, ein herzensguter Mensch, der sehr auf seine Familie achtgab.

Als Gegenleistung dafür erwartete sie, dass man alles genauso tat, wie sie es sich vorstellte. Sie sah sich als das Oberhaupt der Familie an. Eine echte Gräfin eben.

Im Nachhinein kann ich nachvollziehen, dass meine Mutter ihre Freiheit brauchte. Sie wollte sich von ihrer Mutter emanzipieren. Meine Oma sparte alles bis auf den letzten Pfennig zusammen, meine Mutter lebte von der Hand in den Mund. Meine Oma wollte alles kontrollieren, meine Mutter nicht kontrolliert werden. Auch wenn sich beide im Grunde sehr liebhatten, musste meine Mutter das Band zerschneiden, um zu sich selbst zu finden. Dass sie damit auch das Band zu mir und meiner Schwester zerschnitt, konnte ich hingegen nicht verstehen. Meine kleine Schwester ist nur vier Jahre jünger als ich, aber das machte damals einen großen Unterschied. Ich schaffte es, mehr oder weniger für mich selber sorgen, sie aber war noch ein Kind. Ich versuchte so gut wie möglich für sie da zu sein. Ich ging zu ihren Elternabenden und wurde dort sogar zum »Elternvertreter« gewählt. Mit neunzehn Jahren und ohne wirklich Elternteil zu sein, keine schlechte Leistung. Trotzdem konnten weder meine Oma noch ich das Loch füllen, das meine Mutter hinterlassen hatte.

Erst mit der Krebsdiagnose vor ungefähr fünf Jahren war meine Mutter zurück nach Leipzig gekommen und hatte den Kontakt zu mir und meiner Schwester gesucht. Sie wusste, dass sie vieles falsch gemacht hatte. Ich war sehr traurig über den Krebs, aber sehr dankbar darüber, wie sie damit umging. Ich verzieh ihr, ebenso wie meine Schwester, und wir schafften es, wieder zu dem zu werden, was wir eigentlich schon immer gewesen waren. Eine Familie. Wir kümmerten uns um sie, besuchten sie bei jeder Gelegenheit, fuhren sie zur Chemotherapie, versuchten ihr ein Sohn und eine Tochter zu sein, so wie sie uns in den letzten Jahren ihres Lebens mit allem, was sie hatte, eine Mutter war. Eine, die man anrufen konnte, wenn man einen Tatort reinigen musste und nicht wusste, wie. In dieser Hinsicht waren sich meine Oma und meine Mutter sehr ähnlich. Sie gaben alles für uns. Hätte ich wegen der Tatortreinigung statt der Kitschkönigin die Gräfin angerufen, ich zweifle kein bisschen daran, dass sie ebenso bereit gewesen wäre, sich ins Blut zu knien und mir beim Wischen zu helfen.

Leider waren sich meine Mutter und meine Oma aber noch in einem anderen Punkt sehr ähnlich. Auch meine Oma hatte mit einer Krankheit zu kämpfen. Sie hatte Demenz. Anders als bei meiner Mutter kam die Krankheit aber nicht wellenartig und in Schüben, sondern brannte sich langsam, aber gnadenlos konstant immer weiter ein. Mit meinem Einzug konnte ich mich besser um sie kümmern, auch das war ein Grund für meine Rückkehr ins Haus meiner Oma gewesen.

»Umzug läuft gut«, sagte ich und nahm noch einen großen Schluck von meiner Brühe. Ich wollte gerade nicht darüber reden, denn beim Umzug dachte ich nicht nur an meine Oma, sondern auch an meine Ex-Freundin. Mutti verstand und bohrte nicht weiter nach.

»Weißt du, was Leichengift ist?«, fragte ich sie nun. Meine Mutter sah mich skeptisch an. »Keine Ahnung«, sagte sie und deutete auf meine Tasse, »aber vermutlich schmeckt es besser als das, was du da trinkst.« Sie lachte.

»Ich hab das Wort irgendwo schon mal gehört«, meinte ich, »aber keine Ahnung, wo! Was ist das nochmal …?« Ich holte mein Handy raus, um zu googeln, als meine Mutter meine Hand nahm.

Im Gegensatz zu mir hatte sie unser Nachmittag als Tatortreinigungs-Duo nicht wirklich nachhaltig beeindruckt. Wenn man sie gefragt hätte, was letzte Woche so passiert war, hätte sie vermutlich geantwortet: »Ich war einkaufen, hab mich bisschen um den Garten gekümmert und, ach ja, meinem Kind dabei geholfen, Blut und Gehirnmasse aufzuwischen. Also ’ne ganz normale Woche.«

»Wenn dich das alles so interessiert, dann mach es doch«, sagte sie.

»Was?«, fragte ich.

»Na dieses Tatortreinigerzeugs. Wenn’s dir Spaß macht, dann mach es halt einfach, statt dich ständig zu fragen, warum oder wie.«

Darauf wusste ich keine Antwort. Ich dachte an meinen Einsatz als Tatortreiniger zurück, wie man an einen Bungeesprung zurückdenkt. Jochen Schweizer Erlebnisgutschein »Tatortreinigung« quasi. In dem Moment war es die Hölle gewesen, aber im Nachhinein, zurück im langweiligen Alltag, vermisste ich den Adrenalinschub schon. Es war aufregend gewesen, ein Abenteuer, und ganz vielleicht wollte ich es auch irgendwann noch einmal machen. Aber mit der Betonung auf irgendwann. Und ein Mal. Nur weil man mal Spaß beim Bungeesprung hatte, erwägt man schließlich nicht direkt, professioneller Bungeespringer zu werden. Oder? Ich spülte die Gedanken mit einem kräftigen Schluck Zucker-Milch-Kaffee-Gemisch hinunter. Für Mutti war die Sache klar. »Mach