Nach mir das Leben - Kristian Gidlund - E-Book

Nach mir das Leben E-Book

Kristian Gidlund

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Beschreibung

Kristian Gidlund ist eine Kultfigur in Schweden: bekannt als Schlagzeuger der Indie-Band Sugarplum Fairy, als Journalist für verschiedene Magazine unterwegs. Er schreibt, fotografiert, macht Musik; das Leben ist ein wildes Experiment. Mit nur 23 Jahren bekommt er Magenkrebs, ein Jahr später weiß er, dass er nicht mehr lange leben wird. Seine Gedanken, seine Lieben, seine Sehnsucht nach dem Leben, das er nicht mehr erleben wird, sind eine tief bewegende Lektion über das Geschenk des Lebens.

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EPUB
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Seitenzahl: 370

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Teil I

März 2011

Ich muss da mal was erzählen

Wie S&M

Worüber ich nachgedacht habe

April 2011

Ich versuche, schneller zu sein

Kristian, du bist ein Fremder geworden

Heute noch nicht, aber dann, dann darfst du

Allerliebster Junge

Montagsmodell

Aufstand in den Gassen

Tollwut

Marzipantörtchen im März

Für ein paar Zeitungen und zwei Flaschen Wodka

Der Tag heute: ein verlorenes Match

Mai 2011

Wir werden durch das Gewitter gehen, mein Bruder und ich

Der Sturm, in dem ich gefangen bin

Und am dritten Mittwoch …

Der einzige Lebendige in unserer Stadt

Der Junge und die Krähe

Von all den Sachen, die ich danach tun werde

Der Vater, der Sohn und Kristian Olof Erik Gidlund

Kristian, Kristian, dumm wie Stroh, dich betrüg ich sowieso

Mein Körper, der ist ein Käfig

Das sollt ihr wissen

Juni 2011

Wie man Keramik, Porzellan und Kniescheiben zerschlägt

Elf

Ein Brief, der geschrieben werden muss

Wann und wo ist eine andere Geschichte

Versprechen

Stolpernde Schritte, Teil I

Stolpernde Schritte, Teil II

Die Faust in meiner Tasche

Juli 2011

Frühere Aufzeichnungen von Station K72

Eine andere Art der Sehnsucht

Du fehlst mir

Viele Grüße aus Höllenverdammtscheißingen

Auf der Jagd nach dem weißen Wal

Schleif den verdammten Kerl zur Beichte

Afrikafieber

Duell auf der Kyrkvärdsgatan

Als meine Freude auf die Trauer eines anderen stieß

August 2011

Irgendwo in Babylon

Fünf Schüsse in die Brust und ein paar Flaschen für den Kleinen

Am Fenster steht ein Gürteltier

In meiner Nacht

Wie ein Liebesbrief

Warten auf das, was kommen wird

Der Versicherungskrebs

Schlüssel zu einer seltsamen Welt

September 2011

»Wenn ich noch ein bisschen warte, kann ich sie vielleicht zum Einschlafen bringen«

Der Mühlstein im Mühlenbach

Aufgeschürfte Jungsknie

Der Elch

Siebenundzwanzig

Weggabelung

Über den Fluss und zwischen den Bäumen rein

Oktober 2011

Mit einem Lächeln, das immer schöner wird

Wie er es sagte: Unter dem Baum, hinter dem Gatter, war ein Weg für mich

Der Schwertschlucker

Tage, die später zur Ewigkeit werden

Noch eine Station auf dem Weg

Es gibt noch etwas, das ich erzählen muss

Teil II

August 2012

Ich erwache aus einem schönen Traum

Ihr, die wir waren

Das Geheimnis

Blut und Getöse

September 2012

Der Besucher

Was jetzt geschehen wird

Mein Arm um deine Schultern

Eine gemächliche Notrakete über der Nordsee

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Alles nach der Finsternis

Krieg, Trost und Geburtstagsfeiern

Trabbel wiegt Tonnen

Was wirklich wichtig ist

Oktober 2012

Daher kommt der Nebel

Wisse, wann du nach dem Eisenrohr greifen musst

An mein Kind in meinen Träumen

Und siehe, ein Blitz in der Finsternis

Mein Weg, mein Feuer, meine Patrone im Revolver

Die Memoiren des Kaufmanns Gidlund

Ein Gespenst nimmt Form an

Der Tod ist ein Fuchs in der Nacht

November 2012

Ich sehe ein Unwetter nahen

Die Kunst, ein Herz zu brechen

Hjortjägaren

Streifzüge durch die Heimat REVISITED

Wie es aufhören darf, und doch nicht darf

Ein Lied, in der Dunkelheit geflüstert

Der Clou

Die Schlacht

Dezember 2012

Irgendwo werde ich meinen Namen in einen Baum schnitzen

Auf Abwegen

6

Gebräunte rote Kirschtomaten in der Pfanne von Hägerstensåsen

Etwas Seltsames an meinem Grab

Revolution im Kopf

Das letzte Bild vorm Krieg

Zum Auge des Monsuns

Januar 2012

Einer von uns wird jung sterben

Den Fakten zuvorkommen

Wish you were here die ganze Nacht lang

Seine Stärke wird die meine sein

Die Schlacht gewonnen, den Krieg verloren

Das Lied, gesungen

Der Schlächter von Kvarnsveden

Plädoyer eines Irren

Der Sinne siffiger Sabbat siegt

Schwarz, ein Sommer

März 2013

Das Land, das ich verlasse

Von etwas nie Entdecktem

Durch den Riss im Himmel

Die Welt, die ich aufbreche

Still, ganz still

Bildnachweis

Zitate

Über dieses Buch

Kristian Gidlund, Journalist und Schlagzeuger der schwedischen Indie‐Band „Sugarplum Fairy“, erhält 2011 im Alter von 27 Jahren die Diagnose Magenkrebs. „In meinem Körper“ (In Kroppen min) basiert auf seinem gleichnamigen Blog, auf dem er den Krankheitsverlauf dokumentiert und seine Krankheit verarbeitet, direkt, nah, sehr persönlich, kämpferisch. Als der Krebs wenige Monate später zurückkehrt, weiß er, er wird sterben. Kristian Gidlund nimmt Abschied von seinem jungen, ungelebten Leben. Er denkt nach über das Leben und die Liebe, denkt an Sex und träumt von besseren Zeiten in einer zukünftigen Welt, und er schreibt an sein Kind, das er nie haben wird. Im letzten Kapitel schildert er, wie er gern gehen möchte: ganz still und leise. Sein Buch ist ein großes Versprechen, dass er versuchen wird, den Menschen, die er liebt, so oft wie möglich nah zu sein. Ein ungeheuer beeindruckendes Buch, das eine einzigartige Welle der Anteilnahme ausgelöst hat. Eine große, nachdenkliche Hymne an das Leben, das vor allem jüngere Leser begeistern wird.

Über den Autor

Kristian Gidlund, geb. 1983 in Borlänge/Dalarna, ist Journalist und Musiker. Er ist Schlagzeuger der Indie‐Band „Sugarplum Fairy“, die auch in Deutschland schon auf Tour war. 2011 wurde bei Gidlund Krebs diagnostiziert. Sein Blog „I Kroppen Min“ (In meinem Körper) erreichte innerhalb kürzester Zeitein riesiges Publikum. Daraus ist jetzt das vorliegende Buch entstanden, das im April 2013 in Stockholm erschienen und umgehend auf Platz Eins der Bestsellerliste „Adlibris“ gelandet ist.

KRISTIAN GIDLUND

NACH MIR DAS LEBEN

WAS ICH AM MEISTEN VERMISSEN WERDE,WENN ICH NICHT MEHR BIN

Übersetzung aus dem Schwedischenvon Susanne Dahmann

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der schwedischen Originalausgabe:

»I kroppen min«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2013 by Bokförlaget Forum, Stockholm

Published by arrangement with Hedlund Agency

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Massimo Peter nach einem Entwurf von © Pär Wickholm

Einband-/Umschlagmotiv: © Malin Sydne

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-5848-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für alle, die für jemanden da sind

TEIL I

MÄRZ 2011

Ich muss da mal was erzählen

Der Bescheid kam an einem Donnerstag, als ich gerade meine Pfannkuchen essen wollte. Aber natürlich hat alles schon viel früher angefangen. Ich versuche mal, es zu erzählen. Ich werde es versuchen.

Und schon bin ich gescheitert. Habe jetzt schon viel zu lange geschrieben und alles wieder gelöscht. Das hier ist ein ziemlich egoistisches Buch, von mir selbst geschaffen, für mich selbst. Du kannst es gern lesen, wenn du willst. Aber eigentlich ist das hier einfach meine Art, mit dieser Situation umzugehen. Meine Art, das in den Griff zu kriegen, was sich in mein Leben gedrängt hat. Mit dem ich jetzt leben muss. Eigentlich wollte ich erzählen, wie alles angefangen hat und was ich seit jenem Donnerstag gedacht habe. Eigentlich wollte ich von den Gefühlen reden, die in mir geraucht, gezischt und gedröhnt haben. Aber es gelingt mir nicht, sachlich zu sein, meine Erzählung vorbildlich dramaturgisch aufzubauen. Jetzt nicht. Später vielleicht.

Ich muss da mal was erzählen. Und wenn es jemanden von euch empört, dass ihr es auf diese Weise erfahrt, dann tut mir das leid. Verzeiht. Aber niemand empört sich mehr über diese Sache als ich. Das versichere ich euch. Ich muss da mal was erzählen. Ich habe Krebs.

Nichts ist mehr wie vorher. Morgen fängt meine Chemotherapie an. Und an jenem Donnerstag habe ich meine Pfannkuchen kalt gegessen.

Wie S&M

Ich warte am Eingang auf dich, hat Mama gesagt, und wir haben so getan, als wäre an der Situation nichts Peinliches. Mit halbwegs selbstsicheren Schritten, mit so geradem Rücken wie möglich, bewegte ich mich die Flure hinunter. Achtundfünfzig, achtundfünfzig, murmelte ich vor mich hin, als ich an den Abteilungen mit den niedrigeren Nummern vorbeikam. Schließlich war ich da.

Die Schwester bat mich, Platz zu nehmen. Mit Essensresten von dem eben beendeten Mittagessen zwischen den Zähnen diktierte sie von der anderen Seite des Tisches aus die Bedingungen, und ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, in welchem Kühlschrank sie hier wohl ihre Lunchboxen aufbewahrten. Papiere mussten unterschrieben werden. Ich sollte mir darüber im Klaren sein, dass Lagerkosten anfallen würden, wenn ich die Proben über meinen 55. Geburtstag hinaus aufbewahren lassen wollte. Die Papiere wurden unterschrieben. Ich war mir über die möglichen zukünftigen Lagerkosten im Klaren. Dieses Risiko konnte ich eingehen, fand ich. Dann drückte sie mir eine Dose in die Hand und erklärte mir, dass es hinter den Türen mit den grünen Klinken freie Räume gäbe, wo ich so richtig abgehen könne. Da hieß es einfach nur zuzugreifen. Mit einem Seufzer und verkniffenem Gesicht erhob ich mich, um den weiteren Instruktionen zu folgen.

Der Raum war ein Witz. Ungemütlich und erfüllt vom Gestank chemischer Sterilität. Ein Ledersofa versuchte unbeholfen, einem Diwan zu ähneln. An der Wand hing ein Aquarell, das eine halbnackte Frau mit einem Champagnerglas in der Hand darstellte. Etwas für den Feinschmecker. Und ein Zeitungsständer mit vier Zeitschriften. Drei von ihnen priesen Analsex, allgemeine Zügellosigkeit und noch mehr Analsex an. Die vierte war wohl in irgendeiner osteuropäischen Sprache verfasst, der Inhalt schien aber derselbe zu sein. Die Zeitschriften zerfleddert zu nennen, wäre reine Untertreibung gewesen. Das Einzige, was sie zusammenhielt, waren Wille, Schweiß und andere Körperflüssigkeiten von Männern, die zuvor schon hier in die Enge getrieben worden waren. Nun war ich einer von ihnen. Es sollte Selbsthilfegruppen für Männer wie uns geben. Fackelzüge und Facebook-Gruppen.

Ich konsumiere schon lange keine Pornos mehr. Keiner, der das hier liest, wird mir glauben, aber es ist wirklich wahr. Trotzdem fühlte ich mich mehr oder weniger aufgefordert, um nicht zu sagen genötigt, mal an dem pornografischen Büffet vorbeizugehen. Haarige Männer, Hintern und Eier. Ich habe noch nie so lange gebraucht, und das, obwohl das sonst mein Paradefach ist. Aber hier: keine Regung. Ich legte die Zeitungen in den Ständer zurück, schließlich wollte ich sie nicht mehr als nötig strapazieren. Dann stützte ich mich mit einer Hand an der Wand ab, fingerte an mir selbst herum und schloss die Augen, um mir vorzugaukeln, ich wäre woanders.

Egal wo, nur nicht hier.

»Haben Sie etwas verschüttet?«, fragte die Schwester mich später von ihrem Bürosessel am Empfang aus. Als ich ihr den nunmehr körperwarmen Becher reichte, sah sie mich über ihr pechschwarzes Brillengestell hinweg an. Ich stammelte, sprach in Rätseln und verließ den Raum. Jetzt würden meine möglichen zukünftigen Kinder eingefroren und in der Kühlanlage des Krankenhauses aufbewahrt werden. Bis zu meinem 55. Geburtstag kostenfrei. Ich beschleunigte meine Schritte und bewegte mich vorwärts, so klein wie noch nie. Ich hatte es eilig. Schließlich wartete die Großmutter meiner nunmehr steifgefrorenen Kinder am Eingang auf mich.

Die Auswirkungen einer Chemotherapie auf die Fruchtbarkeit sind individuell sehr unterschiedlich und nicht sicher vorherzusagen. Für Männer, die ihre Familienplanung noch nicht abgeschlossen haben, sollte daher die Kryokonservierung von Ejakulat vor Beginn der Tumortherapie fester Bestandteil des Behandlungskonzeptes sein.

Welch ungeheuer akademische Sätze.

Worüber ich nachgedacht habe

Gerade war es 04:19 Uhr, und ich kann nicht schlafen. Habe mich im Bett herumgewälzt. Nachgedacht. Nachgefühlt. Die Gedanken sind aufgewühlt. Das Bettzeug ist zu einem Strang gewunden.

Die ganze Welt scheint still zu sein.

Gestern ist mir ein sogenannter Port-a-Cath in die Brust eingesetzt worden. Das ist ein Zugang, aus dem ich alle meine Blutproben bestreiten werde. Dort wird mein Tropf hineinlaufen und meine intravenöse Medizin, meine Betäubung und dergleichen. Kurz gesagt, diese Erfindung macht es möglich, dass ich frühestens im Oktober wieder eine Spritze bekommen muss. Meine Arme sind jetzt schon die reinsten Nadelkissen.

Der Oberkörper schmerzt. So muss es sich anfühlen, wenn man mit dem Messer niedergestochen wird. Nur ein Kratzer, mit einem winzig kleinen Dolch, von einem superschwachen Menschen. Trotzdem. Es tut weh. Und zwar so richtig. Es ist, als wären mein halber Oberkörper und mein rechter Arm paralysiert. Ich krauche wie ein Käfer auf dem Rücken im Bett herum, ehe ich es schaffe aufzustehen. Dann drehe ich eine kurze Runde durch die Wohnung.

Ich höre die Heizung singen.

Höre die Badezimmertür quietschen. Höre, wie der Rest der Welt immer noch still ist. Ich öffne einen der Badezimmerschränke, den ich umräumen musste. Die Glühbirnen liegen jetzt woanders – meine Medikamente haben ihren Platz eingenommen. Ich zähle neun verschiedene Präparate. Lese schlaftrunken ihre Etiketten.

Da wird es mir plötzlich klar.

Eine der Schachteln kostet 3.596 Kronen. Und 50 Öre. Das ist eines der Medikamente, die ich nehmen muss. Es hemmt das Wachstum des Krebses und behandelt den Rest meines Körpers genauso schonungslos. Ich werde es immer weiter nehmen müssen, sonst werde ich das hier nicht schaffen.

Plötzlich erfüllt mich eine große Dankbarkeit, die stärker ist als jede Dankbarkeit, die ich jemals zuvor gespürt habe. Klar und deutlich: Dankbarkeit. Darüber, dass ich als Bürger dieses Landes nicht die gesamten Kosten für meine Krankheit selbst, aus eigener Kraft, aufbringen muss.

Ich bin dankbar dafür, dass ich nicht meine Wohnung verkaufen muss, um das Geld zu haben, das hier durchzustehen. Dankbar dafür, dass meine Familie nicht ihre Ersparnisse einsetzen muss, um die Kosten für die Medikamente und Behandlungen aufzubringen, die mein Körper braucht. Dankbar dafür, dass Mama und Papa nicht ihr Haus, mein Elternhaus, verkaufen müssen, um die Behandlung ihres jüngsten Sohnes bezahlen zu können.

Wenn ich wieder gesund bin, dürfen meine Glühbirnen an ihren angestammten Platz zurückkehren.

Das war es, worüber ich nachgedacht habe. Das und nicht mehr war es wohl, worüber ich nachgedacht habe.

APRIL 2011

Ich versuche, schneller zu sein

Vor einem Jahr, vielleicht vor anderthalb, habe ich etwas für mich Ungewöhnliches getan. Ich bin einer Mode auf den Leim gegangen, und zwar ganz bewusst. Ich wollte mit der Zeit gehen. Nach einer Jugend mit Ringo-Starr-Frisur habe ich mir Fünfzigerjahre-Koteletten gezüchtet. Ihr wisst schon, an der Seite kurz, im Nacken kurz, und über der Stirn eine freche kleine Tolle. Diese Frisur sieht man seither in unserer direkten Umgebung häufiger. Sie taucht hier und da auf, in allen möglichen Gesellschaftsschichten, und geografisch ist sie auch nicht mehr auf ländliche Gegenden und Garagen mit Oldtimern, Rockabilly, Schmieröl und Schraubenschlüsseln beschränkt. Heute ist sie in unserem Stadtbild an der Tagesordnung, wie Zebrastreifen, Latte trinkende Mütter und pickelige Teenagerhaut. Diese Entwicklung habe ich kommen sehen und mich Ende letzten Sommers entschieden, meine Haare wieder wachsen zu lassen. Meine offizielle Referenz war Dennis Wilson, auch wenn dessen Frisur eher einer früheren Epoche zuzurechnen ist.

Jetzt sitze ich also hier mit einer Beach-Boys-Frisur, die diesen Sommer nicht ausbleichen wird. Noch nie habe ich so eine lange Matte gehabt. Und ich wollte genau diese Frisur. So wollte ich aussehen. Ganz gleich, wie sehr ich in den letzten Jahren so getan habe, als wäre mir meine Frisur scheißegal: Dafür muss ich Abbitte leisten.

Ich gestehe.

Ich habe es mit meiner Frisur immer sehr genau genommen. Pedantisch genau. Habe meine Laune regelrecht von der Tagesform der Frisur abhängig gemacht.

Jetzt sind ein paar Tage vergangen, seit ich mit meiner Chemotherapie angefangen habe. Bald werden mir die Haare ausfallen, und das macht mir Angst. Denn ich will nicht eines Tages meine eigenen Haare aus meinem Bett klauben müssen. Will nicht die Reste von mir selbst zusammenfegen. Die Trümmer. Will mich nicht dünnhaarig und schütter im Spiegel sehen. Will nicht sehen, wie ich selbst runtergebrochen werde. Kaputtgehe.

Deshalb werde ich schneller sein als die Krankheit. Werde versuchen, ihr einen Schritt voraus zu sein.

Gleich gehe ich ins Badezimmer und schneide mir die Haare. Kurz. Und vielleicht, vielleicht werde ich ja eine Locke aufheben. Vielleicht hebe ich diesen Wirbel auf, den ich so mag. Vielleicht werde ich ihn manchmal hervorholen und mich an eben diesen Moment erinnern, als ich mich selbst hinters Licht führte, in dem ich glaubte, die Krankheit hinters Licht führen zu können. Wir werden sehen.

Falls jemand das irgendwie oberflächlich findet, wenn ich in diesem Zusammenhang wegen meiner Frisur herumjaule, dann kann er gerne die Behandlung an meiner Stelle fortsetzen.

Kristian, du bist ein Fremder geworden

Manchmal ist es befreiend, sich einem Fremden zu öffnen. Ihm zu erzählen, was kein anderer weiß, und was außer diesem Fremden auch niemand erfahren wird. Ich habe das schon ein paarmal getan, und ich bilde mir ein, dass es geholfen hat. Das muss es einfach. Jetzt ist meine eigene Geschichte so ein Fremder geworden, dem ich alles erzähle. Und mir scheint, dass ich auch für viele andere zu einem Fremden geworden bin.

So viele lassen von sich hören, unterstützen, fragen, muntern auf. Danken und reden drauflos. Viele von ihnen habe ich nie kennengelernt, nie gesehen. Aber das macht nichts. Ich bin froh, dass wir zusammengekommen sind, dass eine Begegnung stattgefunden hat.

Jemand hat mich gefragt, ob ich, bevor ich die Diagnose bekam, jemals über den Tod nachgedacht hätte. Und ja, das habe ich getan. Ziemlich oft. Vielleicht zu oft. Er ist mir in vielen Formen begegnet. Ich habe ihn aus der Nähe gesehen, und ich weiß, wie er funktioniert. Ich habe keine Angst davor. Eigentlich gar keine. Aber ich will nicht sterben. Nicht jetzt.

Ich bin noch nicht fertig mit meinen Sachen. Noch nicht.

Ich habe einen Blog angefangen. Zu Anfang sollte er nur für mich sein, es sollte meine Art sein, mit dem hier umzugehen. Mein Sandsack. Etwas, worauf ich einschlagen kann. Prügeln. Ein Teller, den ich auf den Boden schmeißen kann, im schlimmsten Fall ein Spiegel, den ich in Stücke schlagen könnte.

Es dauerte nicht lange, bis der Blog explodierte. Die Reaktionen waren enorm. Das hat sich natürlich gut angefühlt, auch wenn ich die Aufmerksamkeit lieber für etwas Erfreulicheres bekommen hätte. Etwas Schönes. Kreatives.

Viele finden mich mutig und sind der Meinung, dass meine Stimme und mein Zeugnis gebraucht werden. Viele scheinen jemanden vermisst zu haben, der darüber schreibt, wie es ist, so etwas zu erleben. Wie es ist, durch die Hölle zu gehen.

Ich selbst habe nie daran gedacht.

Ich habe mich auch nie besonders mutig gefühlt, aber es hilft mir, dass ich möglicherweise so gesehen werde. Vielleicht ist es so, und vielleicht musste es so kommen. Tatsächlich ist es mir nie schwergefallen, über Ungewöhnliches zu reden. Ich bin Konflikten und Diskussionen nie aus dem Weg gegangen, habe mir nie den Kopf darüber zerbrochen, wie meine Ansichten aufgefasst werden könnten. Ich hatte nie Angst, mit meiner Meinung allein zu sein. Deshalb war es ganz natürlich für mich, so zu schreiben. Wenn ich gesund wäre, würde es mir wahrscheinlich komisch vorkommen, über das zu schreiben, was ich gerade tue, darüber, wie meine Tage aussahen, ehe ich erfahren musste, dass ich krank bin.

Ehe die Behandlung anfing.

Ehe nichts mehr so war wie zuvor.

Plötzlich habe ich ein Thema an der Hand, das berührt, das vielleicht verändern oder Diskussionen auslösen kann. So scheint es zu sein. In diesem Fall nehme ich die Rolle gern an. Ich kann der Typ mit dem Krebs sein. Zumindest für eine Weile. Aber dann will ich wieder ein anderer sein. Dann will ich wieder Kristian sein.

Ich sehne mich danach.

Heute noch nicht, aber dann, dann darfst du

Stolpere nackt durch die Wohnung. Schlaftrunken. Mickrig. Einmal quer durch das Zimmer. Ins Badezimmer. Ein rascher Blick. Ich halte inne.

Ein unbekannter Mann im Spiegel.

Jemand, den ich noch nie gesehen habe. Wer das wohl ist? Erstaunlicherweise dauert es wirklich einen Moment, ehe ich begreife. Das bin ich. Kristian Olof Erik Gidlund. Evas jüngster Sohn, Papas Krille.

Ich habe scharfe Gesichtszüge. Eine gerade Nase. Wie eine Linie. Außerdem ist sie ziemlich groß. Ein echter Zinken. Ich habe schon mal gesagt bekommen, sie sehe jüdisch aus – falls eine Nase überhaupt jüdisch aussehen kann. Meine Wangenknochen stechen heraus. Deutlich. Irgendwie selbstsicher. Wenn ich die Zähne zusammenbeiße und mir einbilde, meine Augen seien dunkler, als sie tatsächlich sind, dann habe ich ein russisches Killerface. Ehrlich. Das ist doch schon mal was, finde ich.

Seit meiner Geburt habe ich nicht so kurze Haare gehabt. Und womöglich waren sie selbst damals länger. Muss Mama fragen. Jetzt sehe ich aus wie die Mischung aus einem Crystal-Dealer und einem Statisten aus This Is England oder einer Nebenrolle in einem der besseren Science-Fiction-Filme meines Freundes Anders.

Ich fahre mit einer Hand über Nacken, Kopf und Stirn, dann über das Gesicht mit der jüdischen Nase. Dann streiche ich über die blasse Brust, an der Narbe vorbei, über die Rippen und den Bauch, der immer noch mir gehört. Ab Juli wird er anders sein. Eine Grenzlinie wird ihn zeichnen. Er wird geteilt sein. Eine dreißig Zentimeter lange Narbe wird sich wie eine Ziellinie von den Rippen, die ich eben befühlt habe, über den Nabel nach unten ziehen. Wie eine Ziellinie für meinen Sieg, meinen ganz persönlichen Sieg, das hoffe ich. Mein Körper, dann darfst du ausruhen.

Heute höre ich Love is all meines Freundes. Wieder und wieder.

Allerliebster Junge

Es zehrt an mir. Das Wissen um meinen Krebs. Ich bin erschöpft. Erschöpft vom Denken. Erschöpft vom bloßen Sein. Ich fühle mich außen vor. Ich bin ein angefahrener Fuchs, der sich von der Straße schleppt, über das Feld, weg von dieser komischen Sache, die ihn da in die Mangel genommen hat. Und ich habe so viele starke Gefühle in mir. Die ganze Zeit. Wut, Freude, Sorge, Rastlosigkeit, Neugier, Enttäuschung.

Auf das hier war ich nicht gefasst.

Ich schlafe schlecht. Wache ornithologisch früh auf. Abends schwächele ich. Aber am meisten zehrt, dass ich gegen meinen Willen plötzlich gezwungen bin, alt zu werden. Plötzlich so alt. Ich gehe mit der Information über eine tödliche Krankheit um, die in mir wächst. Ich treffe Entscheidungen, die meine Gesundheit für den Rest meines Lebens beeinflussen können. Ich bin gezwungen, mit der Erkenntnis zu leben, dass ich vielleicht nicht das Leben werde leben können, das ich mir gewünscht habe. Das, worauf ich mich vorbereitet habe. Das ich erwartet, mit dem ich gerechnet habe. Vielleicht werde ich nicht so lange leben, wie ich gehofft hatte.

Die Gedanken sind härter. Der Tod bedeutet jetzt etwas anderes. Er ist konkreter, wie echt. Die Schwärze lastet schwerer.

Ich bin gezwungen worden, alt zu werden. Oder älter, auf eine andere Weise. Gleichzeitig bin ich mir nie kleiner vorgekommen. Wie ein kleiner Junge, der geweckt und in die Dunkelheit rausgeschickt wurde. Der in der Nacht durch einen Wald gehen muss, in dem auf der linken Seite ein Nebel aufzieht. Ein Wald, in dem Wölfe mit roten Augen lauern.

Jetzt grade ist so ein Moment, in dem ich nur ein kleiner Junge bin.

Ich werde mich jetzt ausruhen. Ausruhen und Wisconsin hören.

Montagsmodell

Das Wochenende hat mich eingeholt, und mit ihm die Wirklichkeit. Ich war mit ein paar Kumpels auf Abenteuertour. Mal was anderes machen. Eigentlich durfte ich das nicht, und sonderlich klug war es auch nicht, aber es hat mir das Gefühl gegeben, lebendig zu sein. Es ist so lange her, dass ich richtig gelacht habe. So ganz von innen. Das konnte ich an diesem Wochenende. Jetzt bin ich erschöpft. Der Körper schmerzt, der Kopf tut weh, der Puls dröhnt.

Der Nachtschlaf ist zerschlagen.

Gegen Ende des Wochenendes bin ich nach Dalarna gefahren, zu Mama und Papa, nach Kvarnsveden, in die Gegend, die mir jetzt so viel mehr bedeutet. Dort sind meine wirklichen Wurzeln. Dieser Ort ist meine Sehnsucht.

Abends saßen wir auf der Küchenbank und haben in einem Fotoalbum geblättert. Alle waren jünger. Die Freude konserviert. Das wird immer so sein. Die Sonne scheint immer noch am Mittsommerabend vor Jönköping, die Taufe meines Bruders scheint immer noch ein echter Höhepunkt zu sein, und Opas Brille ist seit 1976 nicht kleiner geworden. Wir haben über Papas Bart geredet und wie mein Bruder anfing zu weinen, weil er ihn, als er von einer Reise wiederkam, nicht mehr erkannt hat. Ich musste an meine eigene Kindheit denken. An die Jahre, die mich zu dem gemacht haben, der ich bin.

Ein- oder zweimal habe ich mir den Arm gebrochen. Und verstaucht. Zweimal hatte ich eine Gehirnerschütterung. Das Handgelenk gebrochen. Hingefallen, so dass sich die Wirbelsäule zu einem S verformte, wie ein Fragezeichen. Dreimal ist mir die Kniescheibe rausgesprungen. Und dann 2002 diese kleine Hirnblutung, die mit allem hätte Schluss machen können. Langsam frage ich mich, ob ich vielleicht niemals ganz heil sein werde. Vielleicht liegt es in meiner Natur. Bin ich ein schwacher Mensch? Vielleicht bin ich so ein Kitz, das es niemals geschafft hat, sich aufzurappeln. Ich fange an nachzugrübeln, denke Gedanken, die mir gegenüber meinen Eltern die Schamesröte ins Gesicht treiben. Als würde ich auf ihre Schöpfung herabsehen. Als würde ich nicht nur meine, sondern auch ihre Fähigkeiten infrage stellen. Als wäre ihr jüngster Sohn ein Montagsmodell.

Nachdem ich die Diagnose hatte, sind viele Gedanken in meinem Kopf herumgesaust, die schlimmer gekocht haben als das Fieber, das sich in meinem Körper eingenistet hat. Ich habe überlegt, ob mein Glück langsam zur Neige geht. Wäre ich eine Katze, hätte ich schon acht meiner Leben verbraucht. Eine Chance hätte ich dann aber noch. So ist es wohl. Nach diesem Kampf, nach dieser Schlägerei, die mir aufgenötigt wird, habe ich noch eine Chance. Dann ist es vorbei.

Mein erklärtes Ziel war es immer, von Konfliktherden zu berichten. Ich will da sein, wo sonst niemand anders ist, will das sehen, was eigentlich niemand sehen will. Das erzählen, was ganz viele hören müssen. Soll nicht heißen, dass Konflikte etwas Schönes sind. Aber verlockend.

Inzwischen aber habe ich zu zweifeln begonnen. Schließlich habe ich nur noch eine Chance. Da würde ich als Kriegsberichterstatter sicher auf dem Flug zu einem Krisenherd eine Erdnuss in den falschen Hals kriegen und ersticken. Oder ich würde über irgendwas Blödes stolpern, mir den Kopf anschlagen und … sterben. Weil mein Vorrat an Glück langsam zur Neige geht. So fühlt es sich für mich an.

Plötzlich spüre ich ein brennendes Verlangen. Eine Frage liegt mir auf dem Herzen, sie muss raus. Ich muss die Wahrheit wissen. Also rufe ich meine Mutter an. Das hilft eigentlich immer. Sie hat immer eine Antwort. Also frage ich, und sie antwortet.

Ich bin an einem Mittwoch geboren.

Plötzlich fühlt sich alles besser an. Ich habe mich wohl getäuscht. Hoffe ich.

Aufstand in den Gassen

Krankenhaus. Wartezimmer. Fremde auf dem Sofa. Schlechter Radiosender. Versuche so auszusehen, als ob ich das hier schon tausendmal gemacht hätte, als sei ich vollkommen unberührt vom Ernst der Lage. Als würde es mich nicht im Geringsten berühren, hier zwischen anderen Krebspatienten zu sitzen. Und wir sind wirklich eine bunte Mischung. Einige scheinen massenhaft Termine zu haben, als würden sie nie fertig werden und nie weiterkommen. Als würde irgendetwas sie festhalten. Ich höre, wie sich jemand am Empfang als »Stammkunde« bezeichnet. Und auf dem Sofa neben meinem sitzt eine ganze Familie. Sie scheinen zum ersten Mal hier zu sein. Der Vater ist der Kranke, ihm steht dieselbe Schlägerei bevor wie mir. Es tut weh, ihn zu sehen. Er scheint in guter Verfassung zu sein, stark, ruhig, gesammelt, vierzigerjahremäßig. Er erinnert mich an meinen eigenen Papa, der war auch mal krank. Und was mich damals am meisten erschreckte, war meine eigene Angst davor, ihn schwach sehen zu müssen. Die Furcht, zu sehen, wie er in etwas verwandelt werden würde, was er in meinen Augen niemals war. Papa war Stärke. Und so wollte ich ihn sehen. Als sicheren Ort.

Ein Arzt kommt ins Wartezimmer. Er sagt einen Namen, und die Familie steht auf, geht in den Flur. Ich sehe dieselbe Angst in den Augen der Familienmitglieder. Das Gedankenzittern.

Meine eigene Krankheit fühlt sich nicht so gefährlich an, vielleicht, weil sie sich nicht auf einem solchen Minenfeld befindet. Ich habe keine Kinder. So wie es aussieht, werde ich keine besorgten Jungs oder Mädchen hinterlassen. Nicht dass ich wüsste jedenfalls.

Papa hat damals gesiegt. Papa ist gesund geworden. Und ich werde es so machen wie du, Papa. Aber erst werde ich jetzt mal hinter meinem Arzt hergehen, der im Wartezimmer meinen Namen aufruft. Ich stehe auf und gehe los. Doch für mich ist das hier etwas anderes. Für mich sind das zittrige Schritte zu einer Schlägerei. Das hier ist ein Aufstand in den Gassen. Es erinnert mich an die Teenagernächte am Borganäsvägen in Borlänge, wo manche ein Messer hatten, wo einer ein Gewehr hatte und wo alle bereit waren, zum Selbstschutz die Fäuste zu ballen. Denn das ist genau, was ich tun muss. Aber diesmal muss ich sie gegen mich selbst erheben.

Ich will über alles Bescheid wissen, von den Medikamenten bis hin zum Gästeparkplatz des Krankenhauses. Das ergibt ein breites Spektrum zum Nachdenken, vieles, das geklärt werden muss. Der Arzt erzählt detaillierter als das letzte Mal von meiner Operation und wie mein Körper darauf reagieren wird. Wie ich mich verändern werde. Und vor meinem inneren Auge sehe ich nicht nur, wie mein Körper wie ein Schweinerücken auf dem Metzgertisch aufgeteilt wird, sondern auch, wie das kommende Jahr – vielleicht die kommenden Jahre – verstümmelt und amputiert werden.

»Es ist, wie es ist«, sage ich und klinge dabei erstaunlich macho, während ich alles tue, um nicht loszuheulen.

Es gelingt mir nicht. Aber ich begreife, dass es wahr ist. Es ist, wie es ist. Ich muss mich schlagen. Ich muss den Borganäsvägen on my ass runtergehen. Ich muss siegen. Damit der Krebs just another dead rat in a garbage pail behind a Chinese restaurant wird.

Ich werde es so machen wie Papa.

Tollwut

Fast eine Woche habe ich gebraucht, bis ich wieder klar sehen konnte. Eine Woche, bis ich meine Gedanken zu Ende gedacht hatte. Eine Woche, bis ich wieder dabei sein konnte. Davor habe ich meist gelegen. Ausgeruht. Geschlafen. Ich war woanders. Ich war nicht der Kristian, der ich sein wollte. Und so ist es mehr oder weniger weitergegangen.

Bis jetzt.

Bis gerade eben.

Bis gerade eben war ich jemand anders.

Ein Mann mit Stoppelhaaren und einer Narbe – dem Startsignal – auf der Brust. Ein Mann, der mit dem Gefühl von kaltem Regen auf dem Gesicht herumlief, mit verkrampften, in die Handflächen geklappten Daumen. Ein Mann, der fand, dass alles nach Eisen schmeckte, ein Mann mit einer tauben Zunge. Der nicht reden konnte, wenn er es endlich geschafft hatte zu essen. Für den der kleinste Lufthauch wie ein Eismeersturm war, der sich selbst schreien hörte, nachdem er etwas aus dem Kühlschrank geholt hatte – weil noch nie jemals etwas so kalt gewesen war.

Aber vor allem war ich ein Junge, der sich selbst vermisste.

Ich war naiv gewesen. Hatte nicht gedacht, dass es so schlimm sein könnte. Hatte mir nicht vorstellen können, dass eine Chemotherapie so brutal sein würde. Abscheulich. So beinhart. Hatte nicht gewagt, mir vorzustellen, dass es so sein würde. Und wahrscheinlich kann ich mir das nicht mal vorwerfen.

Wenn jemand sagt, »Es wird Ihnen wahrscheinlich ein bisschen übel werden«, dann fällt es irgendwie schwer, herauszubekommen, was damit eigentlich gemeint ist. Die Information sagt nichts, sie ist ein Luftschloss. Wertlos. Man kann keinen Bezug zu der Auffassung eines anderen über seinen Körper herstellen, ganz gleich, ob es um Liebe, Schürfwunden, ein gebrochenes Nasenbein, einen Orgasmus oder eine Chemotherapie geht.

Es ist seltsam, wie mein Körper zu einem eigenen Wesen geworden ist. Er ist ein Hund geworden, der während des Abendspaziergangs die Dunkelheit verbellt. Wie der Hund meines Bruders, der über die Felder rannte, um dann den ganzen Wald zu attackieren, als ob der Wald und nicht der Wolf die Bedrohung wäre. Er ist wie Lisas Pferd geworden, das völlig abbaute, Fieber bekam und durchdrehte, und dann war es Tollwut. Es war wohl ein Wolf über die Weide geschlichen.

Morgen kommt die nächste intravenöse Dosis der Gifte. Von meinem Bett aus werde ich sehen, wie der Pegel in der Flasche immer weiter nach unten sinkt, werde spüren, wie die Müdigkeit angeschlichen kommt, wie der Körper zu Anfang wärmer wird. Wie ich selbst immer träger werde und alles um mich herum sich drehen wird. Wie auch ich wanken werde, wieder rot pinkeln werde.

Und genau dann, wenn ich wieder hochkomme, wenn die Kräfte in ein paar Wochen zurück sind, dann ist es wieder so weit. Zeit, den Körper wieder zu brechen. In genau vierundzwanzig Stunden geht es los.

Ich habe die Tollwut. So ist es. Das musste einfach mal gesagt werden, jetzt, da ich weiß, warum ich die Dunkelheit verbelle.

Marzipantörtchen im März

Jetzt ist es an der Zeit, dass ich es erzähle. Wie das alles begann. Wieso ich hier sitze, mit einem Leben, das eine völlig neue Wendung genommen hat. Eine Wendung, die ich nicht geplant hatte und auf die ich mich auch nicht gerade spontan gefreut habe, als ich sie auf mich zurauschen sah. Es ist schwer, einen Anfang zu finden. Ich kaue auf den Wörtern, sauge die Kraft aus ihnen, starre blind vor mich hin. Aber ich werde es versuchen.

Hallo, ich heiße Kristian, und ich bin Workaholic. Das bin ich schon … seit ich denken kann. Aber ich weiß, dass vor ungefähr zwei Jahren alles aus dem Ruder gelaufen ist. Ich lebte aus eigener Entscheidung allein und war eigentlich ziemlich fertig. Ich war wie ein Paar zerschlissener Schuhe, die ihren Dienst schon seit langer Zeit abgeleistet hatten. Doch ich habe mich geweigert, das einzusehen. Also fing ich an zu arbeiten. Oder besser gesagt, mich auszuzehren. Nur so, wenn überhaupt, konnte ich die Leere ausfüllen. Die Arbeit sollte bestätigen, dass ich zu irgendetwas taugte. Und so wurde die Arbeit schnell zu dem Einzigen in meinem Leben, das Substanz zu haben schien. Das einzig Konkrete. Sie wurde zur Wirklichkeit. Der Erfolg in der Arbeit war meine Methode, mich selbst zu befriedigen. Das Schreiben war mein Weg zurück. Meine Art, mein Selbstvertrauen aufzubauen. Meine Art, etwas zu beweisen. Doch je mehr Zeit verging, desto unklarer wurde, wem ich etwas beweisen wollte und warum.

Das habe ich damals nicht begriffen.

Und so ging es weiter. Monat um Monat. Es war einfach zu schwer, von dem Güterzug abzuspringen. Ich habe alles angenommen, was mir über den Weg lief. Egal, was es war.

Ich schrieb in die brodelnden Nachtstunden hinein. Ich hieb dem Schlaf meinen Schädel an den Kopf, ich rammte der Erschöpfung mein Knie in den Schritt. Dachte, dass ich es schaffen würde, wenn ich den Körper, der zu meiner einzigen Beschränkung geworden war, ignorierte.

In diesem Jahr war ich entsetzlich erschöpft. Habe höllische Kopfschmerzen mit mir herumgeschleppt. Musste zu Hause bleiben und mich ausruhen, wenn ich den Weg von der U-Bahn zurückgelegt hatte. Fand die Treppen unüberwindbar. Alle Arten von körperlicher Anstrengung wirkten furchterregend. Ich konnte nicht mehr. Nach langem Hin und Her und den kompromisslosen Forderungen meiner Mutter landete ich schließlich beim Arzt. Und das war gut so.

Es erwies sich schnell, dass meine Blutwerte völlig im Keller waren. Das sei im Hinblick auf meine ansonsten gute Verfassung doch etwas seltsam, meinte man im Krankenhaus. Ganz und gar nicht, dachte ich, weil es natürlich seinen Tribut forderte, wenn die Arbeit den Schlaf im Würgegriff hat. Ich musste zur Beobachtung bleiben. Ich bekam mehrmals Bluttransfusionen und sofort eine Reihe von Medikamenten. Für mich, der eigentlich seit über einem Jahr Ruhe und Entspannung brauchte, war die Zeit im Krankenhaus der reinste Strandurlaub. Abends aß ich mit den Rentnern Marzipantörtchen. Wir schauten Hockey, aber sie schliefen ein. Nachts bewegte ich mich durch die leeren Korridore des Krankenhauses, durch den sterilen Geruch und die Stille – ein Ambiente aus einem japanischen Gruselfilm – und ich ging davon aus, dass ich bald nach Hause fahren würde.

Da täuschte ich mich.

Nach ein paar Tagen stellte man eine Blutung im Magen fest. Ich hatte eine ganze Zeitlang schon Blut verloren, und zwar ziemlich viel. Mama beschuldigte meine Indienreise ungefähr ebenso harsch, wie der Ermittlungsleiter Hans Holmér einst die PKK beschuldigt hatte, hinter dem Mord an Olof Palme zu stecken. Mama hat die Sache jetzt losgelassen. Ich weiß nicht, wie es damit bei Hans Holmér aussieht. Ich selbst war ganz sicher, dass es die Arbeit und der Schlafmangel waren, die nun mit der Rechnung an die Tür klopften. Und als man dann anfing, noch zusätzlich von einem Magengeschwür zu reden, war ich kein bisschen erstaunt. Aber das sollte sich bald ändern.

Ich glaube, ich hatte den Bescheid schon tags darauf. Ich bin wirklich nicht ganz sicher. Schwer, sich an Anfang März zu erinnern, es kommt mir so unendlich weit entfernt vor.

Der Arzt glitt vorsichtig auf mich zu – dabei hatte er sich doch vorher so selbstsicher und vertraut auf der Station bewegt. Er fragte, ob wir mal in sein Zimmer gehen könnten, um zu reden.

»Klar«, antwortete ich, fest davon überzeugt, dass ich nun mit ein paar Tabletten und der Ermahnung, es etwas ruhiger angehen zu lassen, entlassen würde.

Der Arzt sprach ruhig, konzentriert, zielgerichtet, so wie Ärzte es eben tun. Er war warmherzig, versuchte, mir die Diagnose behutsam und rücksichtsvoll beizubringen. Ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Der Arzt holte kurz Luft, machte eine kleine Pause. Sie hatten etwas in meinem Magen gefunden. Etwas Fieses. Etwas, das nicht gut war. Einen Tumor, der sich wie ein Netz im Magen ausgebreitet und nach Milz und Bauchspeicheldrüse gegriffen hatte.

Noch nie zuvor war ich so erstaunt gewesen. Noch nie so enttäuscht. Noch nie habe ich mich gleichzeitig so tot und so lebendig gefühlt.

Irgendwo hier fängt meine Geschichte richtig an.

Für ein paar Zeitungen und zwei Flaschen Wodka

Karfreitag. Schlecht geschlafen. Fiebertraum über Mamas Kummer und die Apokalypse. Und dennoch gibt es da einen anderen Traum, den loszulassen mir schwerer fällt. Er flog mich vor ein paar Wochen an und hat mich seither nie richtig verlassen. Er verbirgt sich, aber manchmal sehe ich ihn.

Es scheint auf dem Balkan zu sein. Die Umgebung und die Sprache wirken wie Balkan. Vielleicht so um 1998, als der Kummer der Mütter und die Apokalypse noch anders waren.

Ich wurde in eine Rebellengruppe eingeschleust. Schreibe für eine sehr weit entfernte Zeitung, für Menschen, die zu verstehen glauben. Ich bin schon eine längere Zeit mit den Rebellen zusammen; wir sind gute Freunde geworden, obwohl wir das eigentlich nicht sein sollten. Doch wir sind es. Wir haben zusammen über das Teuflische des Lebens gelacht, haben gefallene Kameraden betrauert und vielleicht sogar erfolgreiche Angriffe auf den Feind gemeinsam gefeiert. Der Feind, der sich in den starrgefrorenen Bergen verbirgt. Nachts sehen wir, wie Leuchtraketen ihren Schein über die leeren Wälder werfen, und wir pressen uns dichter aneinander, als ob wir dadurch schwerer zu entdecken wären. Wir glauben, dass es uns gelingt. Aber eines Tages wird das Ende kommen.

Unser Versteck, ein zerschossener Bauernhof an einem Abhang, wird eingenommen. Draußen auf dem Hof stolziert ein Mann herum. Ein General. Er raucht. Bewegt sich hochmütig. Nicht gerade der Typ, mit dem gut Kirschen essen ist. Die Rebellengruppe, zu der ich neuerdings auch gehöre, soll in ein Lager geschickt werden. Wir wissen alle, was uns da erwartet. Der Kummer der Mütter und die Apokalypse. Ich versuche zu erklären, dass ich Journalist bin. Dass ich nicht so bin wie sie. Dass ich nicht … zu ihnen gehöre. Es spielt keine Rolle. Verzweifelt leere ich meinen Rucksack und sehe Einzelteile aus meinem Leben den Abhang herunterrollen. Ein paar Zeitungen und zwei Flaschen Wodka. Ich reiche sie dem General. Und mein Vorschlag, mein Preis für meine eigene Freiheit, mein Leben und den Tod der anderen, fällt auf fruchtbaren Boden. Ich sehe die Blicke meiner ehemaligen Kameraden. Die Enttäuschung. Aber auch, dass sie irgendwie damit gerechnet hatten.

Heute ist Karfreitag. Der Tag, an dem Jesus von Nazareth gekreuzigt und begraben wurde, nachdem er von Judas Ischariot, dem größten Sündenbock der Geschichte, verraten worden ist. Und ich denke an meine Fantasiegespinste an einem Ort, der wie der Balkan wirkt. Wie ich die anderen für mein eigenes Leben verkauft habe, für ein paar Zeitungen und zwei Flaschen Wodka. Was bin ich zu tun bereit, um das hier zu überleben? Was werde ich verkaufen? Wie soll ich feilschen? Was braucht es für einen Sieg?

Wo ist der General?

Der Tag heute: ein verlorenes Match

Manchmal lauert es in einem Augenblick, manchmal in langen Stunden. Manchmal liegt es nachts neben mir. Dann wieder sitzt es morgens bei mir, wenn ich das Gefühl habe, der Einzige auf der ganzen Welt zu sein, der wach ist. Es ist der Wunsch, meine Krankheit wäre eine Fresse, in die ich reinschlagen könnte.

Ich wünschte, du wärest konkreter, Krebs. Es würde sich wirklicher anfühlen und vor allem gerechter, wenn du jemand wärest, mit dem ich reden könnte. Aber jetzt sitze ich hier und habe den ganzen Tag mit dir rumgemacht, ohne eine einzige Antwort zu bekommen. Es wäre gerecht, wenn es jemanden gäbe, der für das hier Rede und Antwort steht. Jemanden, der wenigstens versuchen würde, zu erklären, warum ich jetzt krank geworden bin. Es wäre gerecht, wenn es eine Erklärung mit Brief und Siegel gäbe, ein schriftliches Protokoll, einen durch Abstimmung erlangten Beschluss, warum. Aber so etwas gibt es nicht. Keine Telefonnummer, die ich anrufen kann, um mich in die Hotline einzureihen und möglicherweise, eventuell, vielleicht eine Antwort zu erhalten. Nicht einmal eine Warteschleife, nicht einmal diese höllische Erfindung gibt es für mich.

Ich sehe nicht nur, wie der Krebs meinen Körper frisst, sondern auch meine Zeit. Meine Pläne kriegen Risse. Frühjahr, Sommer und der Rest des Jahres werden vor meinen Augen in Stücke geschlagen. Und ich erkenne, wie wenig ich dagegen ausrichten kann. Die frühlingshaft alkoholisierte Klientel in den Cafés provoziert mich, das Kichern und die sorglosen Augenblicke.

Doch am meisten provoziert mich meine eigene Verbitterung.

Schon oft habe ich diese Situation, die Krankheit, behandelt, als wäre sie ein Match. Ich rede mit anderen und mit mir selbst, als ob es einfach nur darum ginge, es runterzuspielen. Im Moment liege ich zurück. Ich liege zurück, und ich werde es nicht drehen. Nicht dieses Spiel. Das ist verloren. Genau wie dieser Tag. Später dann, wenn der Krebs weg ist, da beginnt ein neues Match, und das werde ich haushoch gewinnen. So ist es einfach. Dann komme ich groß raus. Und zwar so richtig. Aber manchmal ist das ein schwacher Trost.

Es war ein ekelhafter Tag. Beim Aufwachen fühlte ich mich noch stark, doch schon kurz darauf wurde ich schwach. Mickrig. Dann wurde es immer nur noch schlimmer. Der Tag, an dem ich die Diagnose bekam, kommt mir im Vergleich zu dem heutigen Tag wie die reinste Party mit Freibier vor. Wirklich. Weil ich damals den rumtobenden Blitz gegeben habe. Explodiert bin. Zugelassen habe, dass ich zornig bin. Vor Wut raste. Ich bin in einen Orgasmus aus Flüchen ausgebrochen. Habe meine Faust geschüttelt, als niemand hingesehen hat. Habe getreten, direkt in die Luft.

Wenn du doch nur so eine Fresse sein könntest. Dann würde ich voll auf dich losgehen. Und ich würde es nicht bei geballten Fäusten oder Lufttritten belassen. Ich würde dich nach den Anweisungen von Cormac McCarthy skalpieren. Ich würde dir den Schädel abreißen und ihn auf einem Spieß herumtragen, zur Warnung für Typen wie dich.

Diese leere Bedrohung zehrt an mir, denn das hier bin nicht ich. Du tust mir Böses. Und du hörst nicht einmal zu. Weil du kein Mensch bist. Du bist der Krebs in meinem Körper.

Dafür werde ich dich immer hassen.

MAI 2011

Wir werden durch das Gewitter gehen, mein Bruder und ich

Walpurgisabend und vorsichtiger Frühlingsregen. Offene Balkontür. Ich saß auf dem Sofa und genoss den Duft der Feuchtigkeit. Wartete auf das Gewitter, das niemals kam. Aber ich blieb sitzen, auf dem Platz, auf dem mein Bruder saß, als er kürzlich bei mir war. Und zwei Gedanken begegneten sich. Frontalzusammenstoß. Ich konnte sehen, dass sie zusammengehörten. Dass sie Brüder waren.