Nachtkerzen Phantastische Geschichten - Ruth und andere Boose und andere - E-Book

Nachtkerzen Phantastische Geschichten E-Book

Ruth und andere Boose und andere

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Beschreibung

Meine erste Anthologie entführt den Leser in Welten, in denen alles möglich ist: Beängstigende Natur, dramatische Fluchten, dunkle Träume, geheimnisvolle Märchen und Vorahnungen sowie absonderliche Bräuche ... Ob gruselig, kafkaesk, actiongeladen, futuristisch oder übernatürlich - die in dieser Anthologie vertretenen Werke sind vor allem eines: originell und erfrischend anders!

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Seitenzahl: 473

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ruth Boose (Hrsg.) 

 

Nachtkerzen 

 

Phantastische Geschichten 

 

Anthologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 

 

Herausgeber, Verlag, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2020, Berlin // Titelbild: Sandra Meyer // Coverdesign: Royana Helmar // Urheberrechte bei den Autoren 

Druck und Vertrieb: epubli, Service der neopubli GmbH, Berlin 

Kontakt: [email protected]

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Nachtkerzen
Das Meer
Der merkwürdige Tod des Herrn Dearden
4 in einer Erzählung
„Düstere Dienstverhältnisse“
Prolog: Das aufziehende Gewitter
I. Akt: Maschine
II. Akt: Kummer im Kaufhaus
III. Akt: Trügerische Affären
IV. Akt: Heilen Sie mich …!
V. Akt: Finale
Jagdzeit
Seelenleid
Die Wiege des Todes
Das Band
Monster
Vorahnung
Der Betzengraben
Die Familie
Feuer und Dunkelheit
Prolog
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Spieglein
Die guten Bauersleute
Dunkelblau
Jessica
Der letzte Schritt
Die Trockgi
1.
2.
3.
Spezies 86216
Realitätstest
Der Bestattungsritus
Über die Autoren
Danksagung und Ausblick

Vorwort

 

Das Phantastische hat sich im letzten Jahrhundert weiterentwickelt und in sehr unterschiedliche Genres aufgespalten, die ich in meiner ersten Anthologie vorstellen möchte: Horror, Dark Fantasy, Science und Weird fiction. 

 

Im kommerziellen Verlagswesen ist oftmals kein Platz für Experimente oder Risiken. Dass aber nicht nur Bestseller-Autoren fesselnd schreiben, beweist diese Zusammenstellung von Kurzgeschichten unbekannter Schriftsteller. 

 

Ob gruselig, kafkaesk, actiongeladen, futuristisch oder übernatürlich, die hier vertretenen Geschichten sind vor allem eines: originell und erfrischend anders! 

Nachtkerzen

von Gregor Samsa 

 

T. schlief in jener Zeit unruhig. Es war schon spät, als er endlich erwachte. Befremdet schaute er sich in dem kleinen Raum um. Das Zimmer war in ein merkwürdiges Dämmerlicht getaucht. Seltsam, dachte er, es muss doch schon bald Mittag sein. Vergeblich bemühte er sich, einen klaren Gedanken zu fassen.

 

Schlaftrunken erhob er sich und ging ans Fenster, um wie jeden Tag nach den Blumen zu sehen. Es waren Nachtkerzen, die vor seiner Baracke wuchsen. Da der Raum zu ebener Erde lag, reichten die Blüten bis an sein Fensterbrett hinauf.

 

T. war wie benommen. Er schlug den Vorhang zurück und blickte hinaus. Wie verwundert war er, als er bemerkte, dass die Blumen über Nacht weit über sein Fenster hinaus gewachsen waren. Er schaute hinauf, aber er konnte keinen Himmel sehen – nur ein Gewirr von Blättern und Blüten.

 

Es war ungewöhnlich still. Hier unten herrschte ein unwirkliches Zwielicht. T. schüttelte verständnislos den Kopf. Ihm war jetzt klar, wieso er so lange und unruhig geschlafen hatte. Die Blüten verströmten einen betäubenden Duft.

 

Er dachte nicht weiter darüber nach. Er ging in seine behelfsmäßige Küche und kochte sich Malzkaffee. Ihm ging durch den Kopf, was er an diesem Vormittag alles hatte erledigen wollen. Er musste es wohl oder übel auf den Nachmittag verschieben.

 

Sein Kaffee war fertig. Er suchte sich einige Brotreste und begann gleich im Stehen zu frühstücken. Nachdenklich schaute er hinaus. Der Sommer schien sich endgültig durchgesetzt zu haben. Es herrschte eine unwahrscheinliche Wärme. Ein Schwirren erfüllte die Luft. Er entdeckte kleine, kolibriartige Vögel, die von Blüte zu Blüte flogen. Er beobachtete eine Weile ihr emsiges und verspieltes Treiben. Er hatte diese Art von Vögeln hier noch nie gesehen. Aber vielleicht lag es nur daran, dass er sich bisher nie besonders für die Natur interessiert hatte.

 

Das gleichmäßige Surren wirkte einschläfernd. Er schloss das Fenster und legte sich auf die Pritsche. Eine unüberwindliche Müdigkeit erfasste ihn. Seine Augenlider senkten sich wie unter einem magischen Zwang. Im letzten Moment war es ihm, als beginne die Hütte hin und her zu schwanken. „Mein Gott, was ist bloß geschehen?“, dachte er noch, doch schon fiel er in einen schweren traumlosen Schlaf.

 

_______________

Durch ein lautes Klirren erwachte er. Er fuhr hoch und schaute sich um. Die Fensterscheiben hatten dem Druck der Blumen nicht mehr standhalten können und waren zerbrochen. Die Blüten schoben sich weit in sein Zimmer hinein, als wollten sie ganz Besitz von ihm ergreifen. Eine Wolke goldglänzenden Staubes erfüllte für Minuten den Raum und legte sich auf alle Gegenstände.

 

Allmählich wurde ihm das Ganze doch zu viel. Die üppige Pracht der Nachtkerzen machte ihn nervös. Unwillig las er die Scherben auf und schüttete sie in den Abfalleimer. Es musste schon spät sein. Wie lange mochte er geschlafen haben? Ihm war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.

 

Er beschloss zu handeln. Vieles harrte der Erledigung. Zu viel Zeit hatte er schon versäumt. Er zog sich an und stemmte sich gegen die Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Offenbar standen die Blumen nach dieser Seite der Hütte genauso dicht.

 

Einen Moment war er ratlos. Was sollte er nun tun? Er kletterte durch die Luke auf das Dach der Baracke, um einen besseren Überblick zu bekommen. Was er sah, war nicht dazu angetan, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Die Nachtkerzen waren über der Hütte zusammengewachsen und bildeten so ein Gewölbe. Es war nicht abzusehen, wie hoch die Pflanzen gewuchert waren.

Für einen Augenblick dachte er daran, sich durch dieses Dickicht hindurchzukämpfen, aber sofort sah er die Unmöglichkeit des Gedankens ein. Die Nachtkerzen standen so dicht, dass kein Durchkommen zu erzwingen war. Er hätte in diesem grünen Durcheinander auch sofort die Orientierung verloren.

 

Er war gefangen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie gut es war, dass er sich für alle Fälle einen kleinen Lebensmittelvorrat angelegt hatte. Auch der Wassertank auf dem Dach war ausreichend gefüllt und würde ihn nicht verdursten lassen. Er war für eine längere Belagerung gerüstet. Das Einzige, was ihn ärgerte, war der Umstand, dass er jetzt keine Besuche mehr empfangen konnte. Aber dafür war er auch ausreichend vor Überfällen geschützt, die sich in der letzten Zeit gemehrt hatten. So konnte er in aller Ruhe die weitere Entwicklung abwarten.

 

Und doch war ihm das rasche Wachstum der Blumen irgendwie unheimlich. Er hatte wenig Ahnung von Biologie, aber noch nie hatte er gehört, dass Pflanzen derartig in die Höhe schießen können. Wie war das möglich? Zuerst waren die Nachtkerzen auf den Schutthügeln in der zerstörten Fabrik aufgetaucht. Lange hatten sie sich dort unbeobachtet vermehrt, bis sie sich eines Tages weiter ausbreiteten, über den Weg hinweg auf seine Hütte zukamen und diese immer mehr einkreisten, ohne allerdings irgendwelche Zeichen abnormen Wachstums zu zeigen.

 

Er schaute auf die riesigen Pflanzen, die harmlos dastanden – schweigend und undurchdringlich. Welches Rätsel verbarg sich hinter dieser Üppigkeit? Was hatte dieses ausgefallene Emporstreben zu bedeuten? Er vermochte nicht, sich einen Reim auf die Ereignisse der letzten Stunden zu machen. Stumm betrachtete er die großen Blätter. Er entdeckte große, nie gesehene Käfer, welche die Stiele entlangkrochen. Sie hatten bunt schillernde Flügel, die ihre blauschwarzen Körper bedeckten. Die dicken Stängel zitterten leise. Weiter oben schien ein heftiger Wind zu gehen – hier unten war nichts zu spüren als die drückende Hitze.

 

_______________

 

 

Die Blumen wuchsen unaufhörlich. Nachts hörte er deutlich das ständige Schlurfen und Schleifen an seiner Barackenwand. Die eine Seite war schon stark eingedrückt, und durch das Fenster ragten die Blüten bis über seine Liege. Es kam oft vor, dass er nachts erwachte, weil ein riesiger Käfer ihm auf die Nase fiel.

Hier unten wurde es von Tag zu Tag dunkler. Kaum ein Lichtstrahl verirrte sich noch in diese Tiefen. Nicht selten fuhr er aus dem Schlaf, weil unheimliche Geräusche aus dem Gestrüpp ertönten, und mehr als einmal erschreckten ihn ein paar glühende Augen, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten.

 

Einmal glaubte er, deutliche Rufe zu hören. Er schrie in die Finsternis, aber das Dickicht verschluckte jeden Laut. Am nächsten Tag sah er ein Skelett in den Blumen hängen. Auf den Blättern wurde es nach oben getragen.

 

Zwei Tage grinste sein weißes Gesicht zum Fenster herein, dann war es seinen Blicken entschwunden. Wer war dieser Mensch? War er der Rufer in der Nacht? War er in der Wildnis umgekommen, oder hatte ihn das wahnsinnige Wachstum der Pflanzen aus der Erde gerissen?

 

T. überlegte, ob er sich nicht auch so in die Höhe tragen lassen sollte, der heißen Sonne entgegen. Aber wer weiß, wie lange er dann im Ungewissen schwebte, so wie das Skelett über seiner Hütte. Außerdem wusste er jetzt, dass es da draußen gewisse Gefahren gab, denen er sich nicht leichtsinnig aussetzen wollte.

 

Seine kleine Hütte war im Moment das Einzige, was ihm noch einen gewissen Schutz bot vor der Bedrohung einer Umwelt, die er nicht mehr verstand.

 

_______________

 

 

Ich kann mich in meiner Behausung kaum noch bewegen. Das Dach ist völlig zerdrückt. Die Wände sind wie bei einem Zelt gegeneinander geneigt. Gestern haben die ersten Blumen den Fußboden durchbrochen. Und da erst merkte ich, dass ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, dass die Baracke längst irgendwo in der Höhe schwebte, emporgetragen von den meterlangen Blättern.

 

Die Entdeckung wirkte vernichtend auf mich. Wie soll jetzt noch Rettung möglich sein? Während ich mich in relativer Sicherheit wähnte, bin ich unbemerkt in eine Lage gebracht worden, in der die Vernichtung meiner Existenz zur Unvermeidlichkeit wurde.

 

Es ist fast finster, obwohl doch meine Hütte – eingeklemmt zwischen den dicht stehenden Stängeln – stündlich höher getragen wird. Gigantische Glühwürmchen huschen zwischen den Blättern hindurch, und die gelben Blüten scheinen zu leuchten.

 

Ich steige ohne mein Dazutun. Ich werde höher gedrückt von den ungestüm nachdrängenden Pflanzen. Je höher ich steige, umso undurchdringlicher wird das Dickicht. Je höher ich dringe, umso mehr fehlt mir die Luft zum Atmen. Mein beschränkter Freiraum wird immer mehr eingeengt. Statt Licht und Weite umgeben mich Finsternis und Isolation.

 

Mein Aufstieg führt mich in unbekannte Regionen. Je höher ich komme, umso lebensfeindlicher wird die Umwelt für mich. Nicht, weil die Pflanzen es auf mich persönlich abgesehen hätten. Vielmehr bin ich selbst in ihrem Bereich ein Fremdkörper, der stört.

 

Wie könnte ich mich ihrem stürmischen Wachstum entziehen, ihrem blinden, zielgerichteten Drängen, das alles, was ihrem Streben nach oben im Wege ist, zu Tode drückt? Ich muss aussteigen und weiß nicht, wie. Mein Weg nach oben ist ein Weg, an dem ich zugrunde gehen muss.

 

Verzweifelt starre ich in das eng verschlungene Gewirr der Pflanzen. Woher schöpfen sie ihre Kraft? Ich könnte einzelne Pflanzen kappen. Doch sofort würden andere ihre Stelle einnehmen, sofort würde der frei gewordene Platz die nachdrängenden Blumen umso üppiger in die Höhe schießen lassen.

 

Ich kann ihrer Welt nicht entfliehen, sie sind überall. Ich muss kämpfen und weiß nicht, wie. Allein bin ich zu schwach. Kann ich auf Hilfe von außen rechnen?

 

Vor meinem Fenster hängt ein seltsames Wesen. Es ist eine Art Katze – nur viel größer. Die Pflanzenstiele haben sich um ihren Hals geschlungen und sie erwürgt. Kleine grüne Käfer kleben auf der Zunge. Der Rachen mit den Reißzähnen ist weit aufgerissen – eine Blüte ist direkt durch den Schlund hindurchgewachsen und schaut aus dem Maul des Raubtieres heraus – ein Zeichen des Triumphes der Blumen, die keine Konkurrenz dulden.

 

Aber kann diese üppige Welt ohne Feinde bleiben? Schrecklich müssen sie sein, die Wesen, welche kommen werden, das Bestehende zu zerstören, diese Welt der dumpfen Enge niederzureißen, deren erdrückende Macht zu beseitigen mit Stumpf und Stiel. Ich vertraue mein Schicksal den Kräften der Zerstörung an. Ich fürchte sie und sehne mich in den Nächten nach ihnen. Angst ist besser als Resignation.

 

Und eines Tages, als ich erwachte, war es so weit. Große scheußliche Monster starrten durch mein zerbrochenes Fenster herein.

Es waren eine Art Riesenheuschrecken, die mit rasender Geschwindigkeit die Blätter der Blumen fraßen. Grässlich klang es, wenn ihre Gebisse zusammenschnappten. Eine bunte Blüte nach der anderen verschwand in ihren nimmersatten Mäulern.

 

Und es wurde sichtbar heller mit jedem Tag. Und ich begann, an meine Rettung zu glauben. Meine ganze Hoffnung lag jetzt in der Fressgier dieser Untiere.

 

Wo kamen sie in diesen Massen her? Sie saßen vor meinem Fenster und fraßen, während sie mit unbeweglichen Gesichtern zu mir hereinstarrten – eine Schar grüner Teufel aus einer unbegreiflichen Unterwelt.

 

_______________

 

 

Es ist alles O. K. Meine Hütte kam einige Hundert Meter vom alten Standpunkt entfernt wieder zu Boden und landete sanft auf vertrockneten Pflanzenresten.

 

Als alle Blumen ratzekahl weggefressen waren, erhob sich der Heuschreckenschwarm und flog mit unbekanntem Ziel davon. Die müde Herbstsonne scheint wieder über der dürren Erde. Die Ruinen der Stadt stehen wie zuvor.

 

Ich habe meine Hütte ausgebessert. Täglich kommen wieder Gäste in mein Heim. Wir versuchen, die Zeit zu genießen, soweit wir es mit unseren bescheidenen Mitteln vermögen. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Doch wie aus einer rätselhaften Scheu heraus spricht niemand über das Vorgefallene.

Denn trotz unserer Rettung bleibt das unbehagliche Gefühl, dass nicht wir selbst es waren, welche die Mittel zu unserer Befreiung fanden. Es könnte jederzeit wieder über uns kommen, zweimal, viermal, zehnmal – und jedes Mal wären wir genauso hilflos wie beim ersten Mal.

 

Diese Erkenntnis ist es, die uns lähmt und uns Zuflucht nehmen lässt in Feiern, in denen wir die Furcht vor unserer Ohnmacht zu vergessen suchen.

Das Meer

von Gregor Samsa 

 

Mittag war vorüber. Die Schatten krochen wieder unter den Häusern hervor und glitten die Fassaden hinauf gleich feuchten schwarzen Polypen. Einsam ging ich durch die menschenleeren Straßen. Die blinden Fenster schauten trostlos auf mich herab, sodass ich für Sekunden glaubte, die Stadt sei ausgestorben, leergefegt durch eine unheimliche Seuche, die alle Bewohner dahingerafft hat.

 

Ich bin auf der Flucht. Ich muss die Adresse aufsuchen, die mir die Organisation genannt hat, damit ich mithilfe des Verbindungsmannes über das Meer entkommen kann.

Immer tiefer dringe ich ein in das Gewirr enger winkliger Gassen, die den Blick in die Ferne verwehren. Hohl schallt das Echo meiner Tritte auf dem holprigen Pflaster. Hoch über mir kreist eine Möwe. Ihre heiseren Schreie stehen unsichtbar in der Luft.

 

Ich durchschreite dunkle Toreinfahrten und winzige Höfe. Modriger Geruch wie von faulendem Tang schlägt mir entgegen. Die schmutzigen windschiefen Fassaden wirken bedrohlich in dem gespenstischen Mittagslicht. Was verbergen sie hinter den vernagelten Fenstern? Wer versteckt sich hier in dieser Geisterstadt, wo die Zeit scheinbar stillsteht und das Vergessen aus feuchten Kellern emporsteigt und die Einwohner lebend begräbt? Mir ist, als müsste sich jeden Augenblick eine Tür auftun, ein dürrer Arm nach mir greifen und mich für immer in die Finsternis sterbender Gemäuer reißen.

 

Ich bleibe stehen, halte den Atem an und lausche. Nichts regt sich. Die Häuser schweigen. Müde flattert vergilbte Wäsche auf den niedrigen Dächern. Irgendwo in der Ferne weint ein Kind. Ich vernehme auf einmal mein Herzklopfen. Unwillkürlich drücke ich mich in den Schatten der Haustür.

 

Ich gehe eine steile, halbverfaulte Holztreppe hinauf. Das Geländer fehlt. Laut knarren die Stufen wie der gequälte Aufschrei eines unsichtbaren Wesens. Ich steige bis unters Dach und klopfe. Alles wirkt verfallen. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass hier Menschen hausen. Da vernehme ich vorsichtige Schritte. Die Tür öffnet sich eine Handbreit, ein misstrauisches Gesicht schiebt sich in den Spalt. Ich sage das Kennwort. Der andere zögert einen Moment, dann lässt er mich eintreten.

 

Er führt mich durch einen dunklen Korridor in ein kleines Zimmer. Altmodische Möbel stehen umher. Der Putz an den Wänden ist teilweise schon abgebröckelt. Auf allem liegt eine Staubschicht, so als wäre der Raum seit Langem nicht mehr benutzt worden.

Ein ungutes Gefühl ergreift mich; irgendetwas stört mich. Dieser vierzigjährige Mann mit den sorgfältig gekämmten Haaren und dem aalglatten Gesicht passt nicht in diese Umgebung. Sein schäbiger Anzug wirkt künstlich wie ein schlechtes Theaterkostüm. Ob ich ihm trauen kann? Was bleibt mir anderes übrig. Allein kann ich es nicht schaffen, ich bin auf Hilfe angewiesen.

 

„Was wünschen Sie?“

„Ich brauche ein Boot. Ich muss übers Meer.“

Schweigen.

Es ist nicht zu erkennen, was hinter seinem Gesicht vorgeht.

„Seien Sie in einer Stunde in dem kleinen Fischerdorf, das am Straßenrand liegt. Ich will sehen, was ich tun kann.“

Ein gleichgültiges Lächeln entblößt seine Goldzähne. Er schiebt mich zur Tür hinaus, von der die letzten Reste Farbe abblättern.

 

Ich bin froh, wieder draußen zu sein. Rasch steige ich die steile, halsbrecherische Treppe hinunter und trete ins Freie. Die Sonne ist verschwunden. Doch ist keine Wolke zu sehen. Vielmehr ist es ein allgemeiner Dunst, der sich am ganzen Himmel ausgebreitet hat. Ich atme auf, als ich das düstere Viertel hinter mir gelassen habe.

In der Luft kreischen die Möwen. Ich biege um eine Straßenecke und erblicke das Meer. Und plötzlich bricht die Sonne wieder durch und glitzert tausendfach auf den Wellen. Eine nie gekannte Sehnsucht schleicht sich in mein Herz. Ich wusste nicht, dass ich für solch tiefe Gefühle noch empfänglich bin. Das ständig gefährliche Leben stumpft ja so ab.

 

Ich gehe am Leuchtturm vorbei. Eine frische Brise weht. Die Seeluft schmeckt salzig. Fern am Horizont glaube ich Land zu erblicken, doch es kann auch eine Wolkenbank sein. Das Wasser leuchtet in unwirklichem Blau. Das freie Meer, wie ich es liebe! Auf einmal ist es meine Rettung geworden. Ich möchte am liebsten sofort das Land verlassen und nach Süden über das Meer ziehen. Wenn es doch schon bald Nacht wäre!

 

Langsam gehe ich am Strand entlang. Die Wellen rühren mein Gemüt auf und sind doch zugleich so beruhigend. Auf einmal bin ich sicher, dass alles klappen wird. Immer wieder schaue ich hinaus auf die unbegrenzte Wasserfläche. Die Brandung schlägt ans Ufer im Rhythmus zu einer ewigen Melodie. Alles Unbedeutende versinkt. Der Blick erfasst das Ganze und wird nicht abgelenkt von Einzelheiten.

 

Ich bin glücklich. Alles Bedrückende habe ich hinter mir gelassen. Morgen schon werde ich weit weg sein in einem fernen Land, wo alles Unschöne nur noch undeutliche Erinnerung ist. Ich hebe einen Stein auf und werfe ihn in weitem Bogen ins bewegte Wasser. Die Schaumkämme der Wellen verschlucken ihn ohne Spur.

 

Es ist Zeit zu handeln. Zuversichtlich gehe ich auf das kleine Dorf zu, wo sich die Fischerhütten in den Windschatten der zerzausten Bäume ducken. Einige struppige Hunde streunen ziellos zwischen den Behausungen umher. Langsam gehe ich die staubige Straße entlang. Schon von Weitem entdecke ich vor einem abseits stehenden Häuschen meinen Verbindungsmann mit einer jungen Frau. Als er mich kommen sieht, geht er mir wie zufällig entgegen.

„Sie haben Glück. Es hat geklappt“, zischt er mir im Vorübergehen zu.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand er.

 

Gelassen schritt ich auf das Mädchen zu. Erwartungsvoll schaute sie mich an.

„Sie brauchen ein Boot?“

Ich nickte.

„Sie können unseres haben. Mein Großvater ist blind. Er kann nicht mehr fischen fahren. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es festgemacht ist.“

Leichten Schrittes ging sie voran. Sie war noch jung. Sie mochte höchstens sechzehn sein. Was bewog sie, mir, einem völlig Fremden, zu helfen? Sicher, sie brauchten es nicht mehr, doch bestimmt hätten sie es verkaufen können.

In einer kleinen Bucht lag es angekettet im Schatten alter Bäume. Meine Rettung. Ich betrachtete es stumm. Warum freute ich mich nicht? Was war das für ein Gefühl, das mir fast den Hals zuschnürte? Erst jetzt, wo ich das Boot vor mir sah, kam mir zum Bewusstsein, was ich alles verlassen würde.

Das Mädchen stand hinter mir.

„Sie werden verfolgt? Wo wollen Sie bleiben, bis es Nacht wird?“

Ich schaue sie an. Sie ist schön.

„Wie heißt du?“

„Ich heiße Brigitte. Und du?“

„Mein Name spielt keine Rolle.“

Wir schweigen eine Weile.

„Komm zu uns nach Hause! Dort kannst du bleiben, bis es dunkel wird.“

 

In ihren Augen ist ein unaussprechliches Leuchten, dem ich nicht widerstehen kann.

Sie führt mich in ihre kleine Hütte. Ich schaue mich um. Überall hängen Netze und andere Fischereiutensilien. Eine Petroleumlampe hängt an der niedrigen Decke. Am Tisch sitzt ein weißhaariger alter Mann. Sein Gesicht ist zerfurcht, als seien die Wellen des Meeres in ihm erstarrt. Seine Augen sind unbewegt in die Ferne gerichtet, als sähen sie ein geheimnisvolles Land, das noch kein Sterblicher betreten hat.

 

„Wen bringst du mit, mein Kind?“

„Einen Fremden. Er wird bis zum Abend bei uns bleiben.“

Ich setze mich an den blank gescheuerten Holztisch, während Brigitte das Abendbrot bereitet. Wir essen schweigend. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

„Sie sind ein Fremder. Warum sind Sie in diese Gegend gekommen?“, fragt mich der Alte.

„Ich liebe das Meer.“

„Ja, das Meer“, meint er verträumt, „früher, da fuhr ich jeden Tag hinaus. Doch dann geschah das mit meinem Unfall. Eines Morgens fuhr ich wie gewohnt zum Fischen. Es tobte ein fürchterliches Gewitter. Ich warf meine Netze aus. Auf einmal breitete sich aus der Tiefe ein geheimnisvolles Leuchten aus. Immer heller strahlte es in den unwirklichsten Farben. Ich starrte wie gebannt auf dieses unerklärliche Schauspiel und fühlte mich so seltsam glücklich wie nie zuvor im Leben. Plötzlich zuckte ein greller Blitz, wie von einer Explosion. Ich war betäubt. Als ich erwachte, sah ich nichts mehr. Mehrere Tage trieb ich auf dem Meer, dann fand mich ein Frachter.“

 

Der Alte verfiel in ein tiefes Sinnen. Seine Züge verklärten sich. Er schien wieder das märchenhafte Leuchten zu sehen, das Letzte, was er im Leben erblickte.

 

Brigitte steht leise auf und schaut mich an. Wir steigen die Leiter empor zu ihrer Kammer unter dem Dach. Sie umarmt mich zärtlich. Ihr Haar duftet nach Salz und See. Ihre Lippen sind feucht.

„Es ist schon dunkel. Ich muss gehen.“

„Bleib! Nur ein paar Stunden. Die Nacht ist noch lang.“

Ich liege bei ihr. Ich müsste längst auf der Flucht sein, aber ein unerklärlicher Zauber hält mich hier fest. Ich schaue in ihre Augen und glaube, in ihnen das geheimnisvolle Leuchten aus der Meerestiefe zu entdecken.

Sie ist mir so unbeschreiblich nah. Ich fühle ihr Herz pochen. Werde ich jemals wieder so glücklich sein wie jetzt? Die kleine Fischerkate ist auf einmal für mich ein Schloss. Ich drücke Brigitte sanft an mich.

„Komm mit!“

„Es geht nicht. Ich muss bei meinem Großvater bleiben. Ohne mich wäre er hilflos.“

Mir fällt etwas ein. „Hast du keine Eltern?“

„Nein, sie sind beide in einer Sturmnacht im Meer ertrunken.“

Wir schweigen. Der Wind streicht um das Haus. In der Ferne bellt ein Hund; dann ist es still. Wir vernehmen nur ab und zu das unheimliche Knistern in den Hüttenwänden.

 

Allmählich schlummern wir ein. Ich träume.

Ich bin auf der Flucht. Ein junger Bursche führt mich durch die unbekannte Gegend. Die ganze Umgebung ist so merkwürdig. Wir gehen durch fremde Wälder. Ich habe solche Bäume noch nie gesehen. Oh Gott, wie weit bin ich schon geflohen?  

Wir kommen an ein steiles Ufer. Im Wasser wimmelt es von seltsam leuchtenden Quallen. Wir beschließen, unseren Weg über eine Sandbank zu nehmen, die eine Bucht vom offenen Meer trennt. Wir gehen los. Das glasklare Wasser reicht uns bis an die Hüften. Rechts von uns ist das tiefe Wasser, links von uns die Bucht, die eine Art Sumpf ist. 

Ich entdecke ein eigenartiges Wesen, eine Art Riesenkrebs. Wie eine Spinne stelzt er auf seinen meterlangen Beinen, sodass sein feuerroter Körper aus dem Wasser ragt. Uns wird unheimlich zumute. Wir gehen schneller. Ich blicke mich um und bemerke, dass der Krebs uns verfolgt. Seine Stielaugen starren uns an, während die fürchterlichen Scheren auf und zu klappen. 

Plötzlich sehe ich überall um uns die gewaltigen Krebse auftauchen. Uns sträuben sich die Haare. Wir laufen um unser Leben. In langen Sätzen erreiche ich das rettende Ufer. Ich schaue mich um und sehe, wie der junge Bursche von den wütenden Krebsen zerrissen wird. 

 

Ich wache auf. Draußen dämmert es schon. Wie spät ist es? Ich löse mich aus Brigittes Armen. Ich darf nicht länger bleiben. Schweigend verlassen wir die Hütte. Der Morgen ist kalt. Was wird der neue Tag mir bringen? Der Traum hat mich beunruhigt.

„Komm nicht mit zum Boot! Es könnte gefährlich sein. Ich traue dem Mann nicht, der mich herbestellt hatte.“

Brigitte nickt. „Ich werde zur Mole gehen und dir nachschauen.“

 

Die letzte Umarmung. Wir trennen uns für immer. Ein bitterer Geschmack liegt mir auf der Zunge. Mir wird auf einmal klar, dass ich alles aufgebe, was mein Leben glücklich machte. Reglos schaue ich Brigitte nach, bis sie verschwunden ist. Ich bin allein.

Es ist noch sehr früh. Ich friere. Die Sonne steckt in einer Dunstschicht. Ich gehe die Dünen hinauf. Gleich muss ich das Meer sehen, das endlose Meer.

 

Ich stehe sprachlos und kann es nicht fassen: Das Meer ist verschwunden. Einfach verschwunden. Statt dessen erstreckt sich eine breite Ebene. Schemenhaft erblicke ich Äcker und Wiesen. Die Ferne verschwimmt in feinen Nebelschleiern. Kein Mensch ist zu sehen. Alles wirkt tot und bedrückend.

 

Ich bin fassungslos. Was soll ich tun? Ich laufe zur Mole. Wo ist Brigitte? Sie ist nirgends zu sehen. War denn alles nur ein Traum? Ein schrecklicher Verdacht durchzuckt mich. Stand Brigitte mit meinen Feinden in Verbindung? Schließlich war sie es, die mich aufgehalten hatte. Warum bin ich nicht in der Nacht geflohen, als das Meer noch da war?

Ich bin mutlos. Wenn die Dinge so liegen, bin ich verloren. Die Gedanken jagen durch meinen Kopf. Dann müsste ja mein Verbindungsmann auch ein Verräter sein. Ich muss Gewissheit haben.

Ich mache mich wieder auf den Weg, den ich gestern schon einmal zurückgelegt habe. Es sind die gleichen Straßen. Es herrscht heute mehr Verkehr. Die Häuser haben nichts Bedrohliches mehr an sich. Sie wirken nur noch schmutzig und langweilig.

Ich steige die bekannte Treppe hoch. Die Tür ist frisch gestrichen. Daneben hängt das Schild eines Reisebüros. Der Verbindungsmann öffnet mir und lässt mich eintreten. Ist das alles nur Tarnung? Der andere lässt sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Gleichgültig schaut er mich an.

„Sie wünschen?“

Offenbar will er mich nicht kennen. Was bezweckt er damit? „Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?“

Er zwinkert nervös. „Ja, richtig. Sie hatten gestern bei mir eine Ausflugsreise zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung gebucht.“

Ich werde wütend. Er will mich nicht verstehen. Mir kommt eine Idee. „Wenn Sie Agent des Reisebüros sind, möchte ich bei Ihnen eine Seereise buchen.“

Er scheint überrascht. „Hier gibt es kein Meer.“

„Aber gestern war es noch da“, schreie ich, „ich will wissen, was hier los ist!“

Er schüttelt den Kopf. „Hier war noch nie ein Meer.“

Es wird mir zu viel.

„Haben Sie ein wenig Zeit? Kommen Sie, ich lade Sie ein. Ich werde Ihnen etwas zeigen, was Sie interessieren wird.“

Achselzuckend erhebt er sich. Er schließt sorgfältig die Tür hinter uns ab und folgt mir. Ich überlege fieberhaft. Wieso versucht der andere, mir etwas vorzumachen? Warum geht er andererseits einfach mit mir mit, wenn er Vertreter eines Reisebüros ist? Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber gleich werde ich wissen, woran ich bin.

 

Wir kommen zur Mole. Triumphierend weise ich auf den Leuchtturm. Der Mann lacht. „Ach so. Stellen Sie sich vor, dieser verrückte Kneipenwirt hat mitten im Land einen Leuchtturm gebaut. Er war früher einmal Kapitän. Natürlich ist die Gaststätte ‚Zum Leuchtturm‘ eine Attraktion in dieser Gegend.“

 

Wir gehen in die Ebene hinein. Der Boden ist feucht, der Schlamm bleibt an unseren Schuhen kleben. „Es hat in den letzten Tagen viel geregnet“, erklärt mein Begleiter und weicht einer großen Pfütze aus.

 

Ich bleibe stehen und schaue mich um. Kein Baum und kein Strauch ist zu sehen. Nur umgepflügte Äcker erstrecken sich, so weit das Auge reicht. Irgendwie wirkt die Gegend bedrückend.

Vielleicht, weil man nirgendwo hinkommt, wenn man hier entlanggeht. Immer nur die gleiche eintönige Landschaft fände man vor, so weit man auch ginge.

 

Im Grase am Wegrand liegen tote Fische herum. Manche sind noch frisch, andere wiederum schon halb verfault. Ich weise meinen Begleiter darauf hin.

„Das sind Abfälle von der Fischfabrik, die hier in der Nähe steht“, ist die Antwort.

 

Wenn ich bloß wüsste, was geschehen ist! Ich bin jetzt sicher, dass der Verbindungsmann ein Verräter ist. Ich muss ihn loswerden. Wir kehren um.

„Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung?“ Wir betreten das Strandhotel. Das Stimmengewirr der Badegäste erfüllt den Raum. Während der Kellner uns das Gewünschte bringt, erhebe ich mich und gehe langsam in Richtung Toilette. Blitzschnell bin ich durch die Küche über den Hof verschwunden. So leicht lasse ich mich nicht fassen.

 

Ich gehe durch die Stadt. Lachend kommen mir einige Matrosen entgegen. Ich stehe vor einem großen Haus. Neben der Tür ist eine Tafel: ‚Museum für Meereskunde‘. Also doch! Ich gehe hinein. Verwirrt schaue ich mich um. Entsetzliche Ungeheuer starren mich von allen Seiten an.

 

Ein älterer Herr tritt freundlich auf mich zu. „Sie sind wohl das erste Mal hier? Darf ich Sie herumführen? Gestatten, mein Name ist Professor Bronstein.“

Ich nicke. „Sagen Sie, leben diese Bestien alle hier im Meer?“

Er schüttelt lächelnd den Kopf über so viel Unwissenheit. „Nein, sie sind schon lange ausgestorben. Vor langen Zeiten haben sie hier gelebt.“

„Also gab es hier früher einmal ein Meer?“

„Ja, freilich, aber das ist schon etwa 100 Millionen Jahre her. Damals erstreckte sich hier eine große Bucht, das sogenannte Zechsteinmeer, das dann vom Ozean abgeschnitten wurde und verdunstete. So entstanden die großen Salzlager. Daher finden Sie in dieser Gegend so viele Salinen.“

„Herr Professor, kann es vorkommen, dass ein Meer ganz plötzlich, sagen wir über Nacht, verschwindet?“

Er lächelt wieder. „Das ist ganz unmöglich. Solche Prozesse spielen sich nicht so rasch ab. Denken Sie an das große Alter der Erde! Die Natur hat Zeit. Was sind schon einige Tausend Jahre? Ein Meer kann nicht auf einmal verschwinden. Überlegen Sie sich, wie lange es dauert, bis so eine riesige Wassermasse verdunstet. Oder denken Sie an die Po-Ebene, die in Jahrmillionen aufgeschwemmt wurde.“

„Aber ist es nicht möglich, dass sich die Oberfläche der Erde ganz plötzlich durch ein Erdbeben verändert?“

„Nein, sehen Sie, so ein Erdbeben, wie verheerend es auch sein mag, betrifft immer nur ein relativ kleines Gebiet. Es ist undenkbar, dass ein großes Meer durch tektonische Beben verdrängt wird. Wir kennen allerdings Fälle – die Endogenese – wo das Land aus dem Meer herausgehoben wird oder darin untergeht – denken Sie zum Beispiel an Venedig, das unaufhaltsam in der Adria versinkt – aber das sind zeitlich sehr lang sich erstreckende Prozesse, die Jahrtausende benötigen, um größere Veränderungen hervorzurufen.“

„Also ist es möglich, dass es hier wieder ein Meer geben wird?“

„Ja, vielleicht in hundert Millionen Jahren.“

Ich starre den Professor an, schaue in sein altes Gesicht, das wie versteinert wirkt. Mir kommt es vor, als sei er Millionen Jahre alt. Und plötzlich sehe ich nicht mehr den Professor, sondern eine der versteinerten Fischbestien auf mich zukommen. Entsetzt fliehe ich ins Freie. Ich schaue mich ängstlich um, aber da ist gar kein Museum; nur ein ganz gewöhnliches Mietshaus.

 

In mir reift ein Entschluss. Ich glaube nicht mehr, was mir die anderen erzählen. Ich habe das Meer mit eigenen Augen gesehen, also war es gestern da. Ja, gestern. Da schien alles so glatt zu laufen. Ich hatte sogar schon ein Boot.

 

Das Boot! Dass ich daran nicht eher gedacht habe! Ich laufe zu der kleinen Bucht. Schon kommen die alten Bäume in Sicht. Darunter liegt das Boot. Es schwimmt im schwarzen Wasser eines kleinen Tümpels.

 

Ich lasse mich jetzt nicht mehr beirren. Wenn es dieses Boot gibt, existiert auch Brigitte. Sie kann kein Traum gewesen sein.

Ich stoße die Tür auf. Der blinde Alte sitzt am Tisch.

„Wo ist Brigitte?“

„Sie ist zur Mole gegangen. Aber sie ist schon lange weg. Sicher geht sie am Meer spazieren.“

„Also gibt es hier doch ein Meer.“

„Ei, freilich, ich bin doch fast mein ganzes Leben hinausgefahren, bis der Unfall kam und ich das Augenlicht verlor. Doch das ist schon lange her.“

„Vielleicht gibt es das Meer gar nicht mehr.“

„Willst du einen Blinden verspotten? Erst gestern war ich am Strand. Sei still! Hörst du nicht die Wellen rauschen?“

„Ich höre nichts.“

Er lächelt still. „Blinde hören besser als Sehende. Meine Ohren täuschen sich nicht. Glaub mir, da ist das Meer. Wie könnte ich denn ohne das Meer leben?“

Er lächelt immer noch vor sich hin und ist ganz in Gedanken verloren. Ich gehe leise.

 

Wenn es den Alten gibt, ist auch Brigitte Wirklichkeit. Doch wo ist sie? Sie wollte zur Mole gehen. Plötzlich erfasst mich eine entsetzliche Angst. Ich laufe wieder zur Mole, schaue mich nach allen Seiten um. Die endlose Weite ist leer. Ich rufe Brigittes Namen. Die Ebene schweigt. Nur einige Raben fliegen krächzend hoch. Brigitte antwortet nicht.

Da entdecke ich sie im Gras. Sie ist tot. Kleine Muscheln sind in ihrem schwarzen Haar. Äußerlich ist kein Zeichen von Gewaltanwendung zu sehen. Ich nehme ihren leblosen Körper und trage ihn zur Hütte des alten Fischers. Er sitzt auf der Bank vor seiner Behausung und lauscht.

„Ich bin`s“, sage ich und will an ihm vorbei.

„Brigitte ist noch nicht nach Hause gekommen“, meint er. Ich antworte nicht. „Du trägst schwer. Deine Schritte setzen schwer auf.“ Ich schweige.

Ich trage Brigittes Körper in ihre Kammer und bette sie. Die Hütte erscheint mir auf einmal so eng.

„Verlässt du mich? Wohin gehst du?“

Ich bleibe stumm. Was sollte ich auch antworten?

 

Ich gehe an der Mole vorbei. Schaue ein letztes Mal zurück. Dann wandere ich in das flache Land hinein, an den Äckern vorüber. Vielleicht wird in Millionen Jahren hier wieder ein Meer sein.

Wie die Wesen wohl aussehen mögen, die es bevölkern werden?

 

Doch wer weiß, ob die Erde dann überhaupt noch existiert. Vielleicht ist auch sie plötzlich über Nacht ganz einfach verschwunden – wie das Meer.

Der merkwürdige Tod des Herrn Dearden

(ein atypisches Mordgeständnis) 

von John Pirog 

aus dem Englischen übersetzt von Ruth Boose 

 

Jede Beziehung kommt einmal an einen ganz bestimmten Punkt, an dem es Zeit wird zu sagen: „Genug ist genug!“

 

Ich bin ziemlich sicher, dass der Leser bereits einmal diese oder jene Geschichten über häuslichen Missbrauch gehört haben wird, manche schlimm, andere noch schlimmer.

Aber bitte haben Sie ein wenig Geduld und Verständnis mit mir, bleiben Sie aufgeschlossen, während ich Ihnen, werter Leser, erläutere, wie unaussprechlich fürchterlich mein Leben mit Herrn Dearden war!

 

Wohlgemerkt, ich war nicht sein einziges Opfer. Es gab andere wie mich, die er heimlich in seine Wohnung brachte. Tagelang wurden wir in einem beengten dunklen Wandschrank – es mag auch ein Geheimzimmerchen gewesen sein – eingesperrt, zusammengepfercht, ohne dass auch nur ein Gedanke an die Unbequemlichkeit dieser Unterbringung verschwendet wurde oder uns jemand Trost spendete.

 

Wir wurden einer nach dem anderen aus unserer Zwangsunterbringung gezerrt, und ich kann nur mutmaßen, dass die anderen Opfer die gleiche Entwürdigung und Erniedrigung erlitten, wie sie mir zuteilwurde.

 

Meine Geschichte ist geprägt von Erlebnissen, die auch für viele andere missbrauchende Beziehungen typisch sind:

 

Gegen meinen Willen in ein Bett gezogen zu werden, nur um später aus demselben herausgerissen und über den Fußboden geschleift zu werden, ganz nach Willkür und Belieben der Bestie; die Nacht mit ihm verbringen zu müssen, gleich, ob er geduscht war oder nicht.

Dann später, wie eine bittere Ironie, vernachlässigt und für längere Zeiträume in einem abgeschlossenen Raum alleingelassen zu werden. Manchmal brachte dieses Monster sogar irgendeine Hure aus einer Bar oder Straßenecke mit, und ich wurde dazu gezwungen, ihrem schändlichen und beschämenden fleischlichen Treiben beizuwohnen …!

 

Üblicherweise führte Herr Dearden seine Mätressen nach derartigen Exzessen aus, vermutlich zu Abendessen und feinen Getränken. Man möchte meinen, dass er mir zumindest eine ähnliche Behandlung hätte zugestehen können, da ich schließlich regelmäßig bei ihm sein musste, doch dies war niemals der Fall.

 

Ich wurde stets zurückgelassen, war abgesehen von meinem Nutzen als Objekt der Annehmlichkeit gänzlich unerwünscht für dieses herzlose Biest. Ich entsinne mich vieler Male, die er mit mir im Bett lag und den Fernseher bis in die frühen Morgenstunden laufen ließ. Manchmal nahm er dabei köstlich duftende Speisen zu sich, während er so ohne einen einzigen Gedanken an meine eigenen Bedürfnisse mit mir dalag …

 

Aber es gab oftmals noch weit schlimmere Situationen als die Szenen, welche ich bislang beschrieben habe. Oh ja, lieber Leser, viel, VIEL unmenschlichere, als wovon ich bereits berichtet habe!

Sehen Sie, Mr. Dearden genoss es, mich einer absonderlichen Art der Wassermarter zu unterziehen, wovon er dutzendfach Gebrauch machte.

Andere Male wieder wurde ich für eine gefühlte Ewigkeit in eine extrem stickige und heiße Folterkiste gesteckt.

Herr Dearden war zudem ein starker Trinker, der wohl eine Art Nervenkitzel empfand, wenn er von Zeit zu Zeit auf mich urinierte. Ich nehme an, dass er durch diese Entwürdigung auf irgendeine Art sein Überlegenheitsgefühl mir gegenüber demonstrierte.

 

Bitte verstehen Sie, ich bin von Hause aus weder gewalttätig noch aggressiv; tatsächlich bin ich von meiner Natur her passiv und gutmütig.

Aber nachdem Sie nun gelesen haben, was ich von meiner Behandlung in den Händen dieser Bestie, Herrn Dearden, zu berichten habe, wie könnten Sie mich da für das verurteilen, was ich tat?

 

Herr Frenz, unser Hauseigentümer, wird sicherlich in ein oder zwei Tagen kommen, um die fällige Miete für diesen Monat abzuholen. Wenn der Leichnam entdeckt wird, wird die Polizei mich bestimmt von hier fortbringen.

Davon abgesehen, ganz gleich, wohin man mich stecken könnte, ist jeder Ort auf der Welt einem Zusammenleben mit Herrn Dearden vorzuziehen.

 

 

Epilog: 

 

Nachdem Herr Dearden von seinem Vermieter tot im Bett aufgefunden worden war, wurde die Polizei zu seiner Wohnung gerufen. Die amtliche Leichenschau ergab, dass er zum Zeitpunkt der Auffindung seiner Leiche bereits seit 65 – 72 Stunden tot gewesen sein musste. Als Todesursache wurde Strangulation mit einem Bettlaken ermittelt.

Der städtische Polizeipräsident geriet stark unter Druck, da er den Schuldigen trotz intensiver Bemühungen nicht ausfindig machen konnte. Die Beamten der Mordkommission waren ratlos, denn es gab keinerlei Fingerabdrücke oder Zeugen, keine Zeichen eines gewaltsamen Einbruchs oder überhaupt eines Eindringlings.

 

Die Auswertung der im Flur befindlichen Überwachungskamera ergab, dass in der fraglichen Nacht niemand Herrn Deardens Wohnung betreten oder verlassen hatte.

 

Die Ermittler waren derart verwirrt, dass einer von ihnen bemerkte:

„Es ist beinahe so, als hätte das Laken selbst Herrn Dearden erdrosselt!“

4 in einer Erzählung

„Düstere Dienstverhältnisse“

von John Pirog 

aus dem Englischen übersetzt von Ruth Boose 

 

Prolog: Das aufziehende Gewitter 

Helen Müller bog gerade auf den Parkplatz der Eastern University ein, als die Abenddämmerung langsam hereinbrach. Während sie blinzelnd in ihren Rückspiegel blickte, bemerkte sie ein anderes Fahrzeug, das sich vielleicht zwölf Meter hinter ihr befand. Die beiden Limousinen fuhren langsam durch das geöffnete Tor in den hinteren Bereich des Grundstücks. „Haus B26“, las Helen halblaut, wobei sie einen Blick auf ihre Bewerbungsunterlagen warf. Als sie das Gebäude halb rechts vor sich sah, beschleunigte Helen und schwenkte dann scharf links in eine freie Parklücke zwischen einem abgestellten Kleinbus und einem kleineren Kombi ein. Donald Falling, der Fahrer der Limousine hinter ihr, bog in die Lücke rechts neben ihrem Wagen ein. 

 

Als die beiden aus ihren Fahrzeugen ausstiegen, nickte jeder dem anderen höflich zu und beide hatten zugleich denselben üblichen Gedanken: 

„Na großartig! Es gibt natürlich immer noch einen anderen!“ 

„Eins A“, dachte Don bei sich. „Muss wohl im ersten Stock sein.“ 

Mit flüchtigem Lächeln im Gesicht schritten die beiden durch scheinbar verlassene Flure und Büroräume. 

„Ich denke, es geht … hier entlang“, meldete sich Helen zu Wort und deutete zur Rechten. 

„Japp“, antwortete Don. „Am Ende dieses Flurs, glaube ich …“ 

 

Destiny McPhellan, die als Erste eingetroffene Bewerberin, saß bereits im kleinen Vorraum des Büros, als die beiden die Zwischentür öffneten und eintraten. 

 

Eine große Schüssel Pralinen stand als stille und sehr verlockende Begrüßungsgeste für die Bewerber bereit. Rasch fingen sie an, mit den Händen ein Stück nach dem anderen zu greifen, auszuwickeln und sich in den Mund zu stecken. Nach mehreren Minuten fast völliger Stille räusperte sich Donald schließlich und begann zu sprechen. 

 

„Hallo, ich bin Don. Also … wir sind wohl alle wegen des Bewerbungsgespräches hier?“ 

Die beiden jungen Frauen sahen auf und lächelten leicht verlegen, beinahe unbehaglich. 

„Ja. Hallo Don, ich bin Helen. Ja, es ist an der Zeit für einen Berufswechsel!“, antwortete die 26-jährige Blondine mit einem etwas nervösen Kichern. „Meine letzte Stelle … nun ja, ich habe als Reinigungskraft in verschiedenen Häusern und Einrichtungen gearbeitet, außerhalb der Geschäftszeiten und so, Sie wissen schon. Die Arbeitsbedingungen waren erträglich und die Bezahlung ausreichend, um meine Rechnungen zu bezahlen, aber der letzte Job ist mir wirklich sehr sauer aufgestoßen.“ 

„Oh, tatsächlich?“, erwiderte Don interessiert. „Erzählen Sie doch mal.“ 

 

Helen presste die Lippen zusammen und starrte angestrengt Dons Füße an. Als Don spürte, dass diese Angelegenheit zu heikel und die Erinnerung wohl noch zu frisch war, um sie mit Fremden zu teilen, lenkte er rasch vom Thema ab, indem er begann, von seiner eigenen Situation zu erzählen: 

„Also, ich war nach meinem Dienst bei der Armee auf einem Schrottplatz tätig. Im Grunde die gleiche Geschichte wie bei Ihnen: ausreichende Bezahlung, aber keine Möglichkeit zur Weiterentwicklung.“ 

 

Die beiden Frauen nickten zustimmend, als Don seine Überlegungen zu den Gründen für seinen Wunsch darlegte, den bisherigen Job aufzugeben. „Wie bei Ihnen auch war es an der Zeit, weiterzuziehen nach der Sache mit diesem Kerl und seinem Auto … Da könnte ich Ihnen etwas erzählen über seltsame und ungewöhnliche Gründe, seine Stelle aufzugeben, nämlich, dass ich …“ 

 

„Wow!“ 

Destiny McPhellan sprang aus ihrem Sitz auf, sodass Don und Helen zu der bislang stillen 20-jährigen Frau hinüberblickten.

„Oh verzeihen Sie bitte, das … das hatte ich gar nicht laut aussprechen wollen!“, stotterte sie nervös kichernd. „Mein Name ist … Destiny“, fügte sie nach kurzer Pause hinzu. „Es ist nur so, dass ich ihr Gespräch über Ihre bisherigen Tätigkeiten zwangsläufig mitgehört habe und … nun ja, ich habe bis vor wenigen Wochen in einer Arztpraxis gearbeitet. Eine ganz andere Tätigkeit als Ihre, aber die gleiche merkwürdige Situation!“ 

„Welche Fachrichtung hatte Ihr Arbeitgeber denn?“, fragte Helen.

„Er ist Onkologe“, antwortete Destiny. „Oder besser gesagt, er WAR Onkologe! Ich schätze, nun sitzt er in einer geschlossenen Einrichtung, in der sie seine geistige Gesundheit nach diesem, ähm, … Vorfall untersuchen.“ 

 

„Mein Gott!”, rief Don aus und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. „Das war doch … Sie meinen doch nicht etwa Dr. Kramer? Den Typ, der …“ 

„Kraig“, verbesserte ihn Destiny. „Aber ja, ich bin mir sicher, dass wir denselben Doktor meinen. Er war in allen Zeitungen, selbst Nachrichtensender aus Übersee haben über den Vorfall berichtet, als es herauskam …“ 

 

„Ich erinnere mich, ich habe darüber gelesen, was … urks!!“, warf Helen ein und schüttelte den Kopf, während sie ihre Hand davorhielt, als wolle sie auf diese Weise aufsteigende unliebsame Gedanken oder Bilder unterdrücken.

„Aber hat er denn wirklich …“, begann Don neugierig, doch Helen schnitt ihm das Wort ab. „Verzeihung, aber können wir bitte dieses Thema auf sich beruhen lassen? Die Zeitungen haben wir doch alle gelesen, und ganz ehrlich, mein Magen ist jetzt schon flau …“ 

Das Gespräch wurde erneut unterbrochen, als ein vierter Bewerber, eine Frau mittleren Alters, den Raum betrat. Für einen kurzen Moment blieb sie unschlüssig stehen, lächelte dem Trio flüchtig zu und setzte sich schließlich auf den Platz links neben Don.

 

Nachdem es eine Weile still im Raum geworden war, fühlte sich der Neuankömmling bemüßigt zu sprechen. „Sie drei sind sicher auch wegen des Stellenangebotes hier?“ 

Alle nickten. Destiny beugte sich vor und stieß ein unüberhörbares „Hmm“ aus, bevor sie zu ihrer Frage ansetzte: „Also, gibt es über Ihre letzte Arbeitsstelle auf eine Horrorgeschichte? Wir scheinen alle mit einer aufwarten zu können …“ 

„Nun, so könnte man es ausdrücken, ja …“, antwortete die Neue. „Nur nicht die Art Horror, in der du von Vampiren oder Monstern gejagt wirst oder dir Freddy aus einer finsteren Ecke entgegen …“ 

Ihre Stimme verebbte, ihr anfängliches Lächeln erstarb. „Eher die Art von Horror, die deinen Geist zerbricht. Ach übrigens, ich bin Michelle … Michelle Hinton. Ich habe bis vor Kurzem in einem Kaufhaus gearbeitet, Millighans Kaufhaus in der Innenstadt.“ 

Die anderen Bewerber stellten sich Michelle vor, während sie zwei Schokoladenpralinen aus der großen Gästeschale nahm.

„Sie würden nicht vermuten, dass jemand seine Arbeit an eben jenem Tag aufgibt, an dem man ihm eine Beförderung anbietet …“ 

 

Sie wurde mitten im Satz unterbrochen, als sich eine zweite Tür zum Nebenzimmer öffnete. Ein älterer Herr in einem grauen Nadelstreifenanzug spähte über seine Zweistärkenbrille und sprach sie mit einem sanften Lächeln an: „Guten Tag und vielen Dank für Ihr heutiges Erscheinen! Mein Name ist Professor Köhler. Ich werde Sie nun einen nach dem anderen zum Bewerbungsgespräch in mein Büro bitten. Am Ende dieser Gespräche werde ich mich entscheiden, wer von Ihnen eingestellt wird. 

Seien Sie versichert, dass jedem von Ihnen eine sorgfältige Prüfung unter Berücksichtigung Ihrer Eignung zuteilwird. Ich kann Ihnen sagen, dass ich mir diese Entscheidung aufgrund der von Ihnen eingereichten Lebensläufe sicher nicht leicht machen werde. – So, nachdem das klargestellt ist, fangen wir nun an mit … Don.“ 

Don erhob sich lächelnd und ergriff Professor Köhlers ausgestreckte Hand. Der Professor führte ihn zu einem Schreibtisch aus Mahagoniholz im hinteren Teil seines Büros, wobei er ein wenig hinkte. 

Er nahm Platz, rückte seine Brille zurecht und begann, in dem kleinen Stapel Unterlagen zu seiner Linken zu blättern. 

„Mal sehen … Don … Don … Ah ja, hier ist Ihr Lebenslauf! Hatten Sie Probleme, zu uns zu finden, Don?“ 

„Aber nein, GPS wirkt Wunder!“, gab Don zurück. Die beiden schmunzelten. 

Während es sich Don in seinem Stuhl bequem machte und die Beine kreuzte, nahm sich der Professor einen Augenblick Zeit, um einen Blick auf die erste Seite des Lebenslaufs in seiner Hand zu werfen. „Ihr Ausbildungshintergrund ist sicherlich ausreichend für diese Stelle“, gab Professor Köhler zu, „wenngleich ich anmerken muss, dass es ein ziemlicher Sprung im Vergleich zu ihrer bisherigen Tätigkeit wäre. Sie haben zuletzt auf einem … Schrottplatz gearbeitet, richtig? Könnten Sie mir ein wenig von Ihren Erfahrungen dort berichten?“ 

 

Don öffnete die Beine wieder, räusperte sich und antwortete: „Bis vor gut drei Wochen habe ich auf Jakes Automobil-Schrottplatz gearbeitet. Es war für den Anfang kein schlechtes Angebot gewesen, aber ich habe schon länger versucht, wieder von dort wegzukommen, um doch noch von meinem College-Abschluss zu profitieren. Außerdem wollte ich in jeder Hinsicht endlich den Dreck unter meinen Nägeln loswerden.

Und nach diesem Vorfall mit dem Imperial, na ja … ich wusste danach, dass ich wegmusste, komme, was wolle.“

„Imperial?“, hakte der Professor zweifelnd nach. „Ein Auto? Sie meinen, sie wurden bei einem Unfall verletzt?“

„Nicht so ganz“, erwiderte Don und faltete die Hände, während er sich bemühte, eine nervöse Zuckung im rechten Knie zu unterdrücken. „Ein Kerl … so ein unangenehmer, widerwärtiger Typ brachte eines Tages sein Auto zum Verschrotten …“

„Den Imperial“, vermutete der Professor.

Don nickte und fuhr fort: „Nun, ich kann natürlich nicht erwarten, dass Sie mir Glauben schenken, aber es hat sich genau so zugetragen, wie ich es Ihnen jetzt berichten werde …“

 

 

I. Akt: Maschine 

 

Herman Melner stand im Türrahmen von Jakes Schrottplatz und nahm einen letzten Zug von seiner billigen Zigarre. Dann schnippte der Mann mittleren Alters den Zigarrenstummel in eine nahe gelegene Metalltonne und trat in das zugemüllte und schmutzige Büro des Schrottplatzes, wobei er seine langen und ungepflegten schwarzen Haare zur Seite strich.

Die Vorhänge im hinteren Bereich wurden geteilt und ein glatzköpfiger rundlicher Mann trat hervor.

‚Kann ich Ihnen helfen?‘, fragte er Herman mit einer Stimme, die etwas müde und verdrossen klang.

‚Ja. Mein Name ist Herman, ich habe Sie vorhin angerufen …‘ 

‚Ach ja, der Imperial, stimmt`s?‘, meinte der Besitzer. ‚Ich bin Jake. Hallo.‘    Jake schüttelte Herman die Hand und bedeutete ihm, ins Büro zu treten.

‚Ich glaube‘, nahm Herman das Gespräch wieder auf, ‚wir hatten uns auf 500 Dollar für das Auto geeinigt.‘ 

‚Klingt gut‘, antwortete Jake mit einem Nicken. ‚Es steht gleich da draußen vor der Tür.‘ 

Die Männer verließen das Schrottplatzbüro. Wie versprochen stand ein abgenutzter blauer Chrysler Imperial stumm auf dem schlammigen Feldweg, der zum Gebäude führte. Die mittlerweile verblasste blaue Lackfarbe war mit Rostflecken verschiedenster Größen übersät, und auf der Windschutzscheibe prangte ein spinnennetzförmiger Sprung zur Beifahrerseite hin.

‚Ah, das ist ein Modell von … 1969, nicht wahr?‘, erkundigte sich Jack mit einem Anflug von Begeisterung in seiner Stimme. ‚Diese Autos besaßen großartige Motoren für ihre Zeit. Wie läuft er?‘ 

‚Nun, es startet und rollt noch‘, erwiderte Herman schulterzuckend. ‚Aber ich warne Sie, trauen Sie ihm im Straßenverkehr nicht zu viel zu. Das verdammte Ding ist so hässlich, an Ihrer Stelle würde ich es bloß abwracken.‘ 

 

Der Besitzer des Chrysler bekundete seine Verachtung für das Auto durch einen Tritt gegen den Kotflügel auf der Fahrerseite. Die Männer kehrten ins Büro zurück, wo der Kauf abgewickelt wurde. Dann führten sie noch ein paar Minuten lang belanglose Gespräche über dies und jenes, bis Hermans bestelltes Taxi eintraf. Als das Mietauto durch den Haupteingang vom Schrottplatz rollte, streifte sich Jake ein Paar Arbeitshandschuhe über und trat wieder ins Freie.“

 

Professor Köhler lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als Don innehielt, um an seinem süßen Tee zu nippen.

„Ja, das erscheint bislang recht normal, beinahe banal“, fuhr Don fort. „Die Situation wurde erst merkwürdig, so eine Stunde nachdem der Typ das Gelände verlassen hatte. Jake rief mich vom Schrottplatz aus an, damit ich ihm half, den Wagen noch einmal zu untersuchen, um nachzusehen, ob er noch für irgendetwas außer das Zerlegen taugte. Ich brauchte ein Zweitauto und konnte nicht viel Geld dafür ausgeben. Ich dachte, der Imperial wäre perfekt. Er benötigte vielleicht einen Ölwechsel und ein paar Abstimmungen: hier und da einen Riemen und das ein oder andere kleinere Ersatzteil. Aber für den Preis konnte ich ihn mir nicht entgehen lassen. Ich bot Jake 500 Dollar obendrauf an, da stimmte er bereitwillig zu …

 

Bei der weiteren Durchsicht stellte ich fest, dass der Imperial einen Scheinwerfer und eine neue Lichtmaschine brauchte, alles andere schien zumindest vorerst in Ordnung zu sein. Jake willigte ein, das Öl zu wechseln, während ich mich aufmachte, die Teile zu holen. Dann geschah das Allerseltsamste: Während Jake noch beim Ölwechsel war, rutschte der aufgebockte Wagen von den Rampen und fuhr ihm beinahe durch den Kopf!

 

Dieser Zwischenfall befeuerte seinen ohnehin schon vorhandenen Verfolgungswahn, und so schien er zu glauben, ich hätte etwas damit zu tun, obwohl ich zu der Zeit nicht mal in der Werkstatt gewesen war. So hatten wir Streit, als ich ins Büro zurückkehrte. Ich versuchte vergeblich, ihm zu erklären, dass es sein Fehler gewesen war, die Rampen auf unebenem verdrecktem Untergrund aufzustellen, aber er dachte weiterhin, ich würde mir einen „Spaß“ mit ihm erlauben.

Ich dachte mir, es sei besser, ihm die 500 Dollar zu bezahlen und mich für den Rest des Arbeitstages zu entschuldigen. Als ich ging, stand der Imperial immer noch ohne funktionierende Lichtmaschine, ohne Öl, dafür mit fast leerem Benzintank am Ende der Auffahrt des Schrottplatzes.

 

Wie auch immer, ich ging heim und dachte nicht weiter über die Situation nach. Ich ging zu Bett und wachte zur gewohnten Zeit auf. Jake rief mich gegen 7:45 Uhr an, als ich gerade das Haus verlassen wollte. Er klang so erschüttert, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte!

 

Als ich zur Arbeit kam, war mein „neues“ Auto fort, dafür zählte ich sechs Polizeiwagen in Jakes Einfahrt. Es stellte sich heraus, dass sie wegen des Mordes an Herman Melner ermittelten, der sich irgendwann zwischen den späten Abendstunden des Vortages und dem frühen Morgen ereignet haben musste! Der leitende Ermittler erklärte Jake und mir, dass der Imperial auf der Veranda, und zwar auf Hermans Körper, abgestellt worden war!

Er sagte, dies sei die ekelhafteste Sauerei gewesen, die er in den über 22 Jahren seiner Dienstzeit zu Gesicht bekommen habe …“

 

Die Augen des Professors weiteten sich, als er unwillkürlich auf seine Oberlippe biss.

„Also … ich … Sie sind in eine laufende Mordermittlung verwickelt …“

„Nein, nein, keine Sorge … ich meine, als ich am Schrottplatz ankam, hatten meine Frau und mein Nachbar bereits bezeugt, dass ich die ganze Nacht über daheim gewesen war und sie keine Geräusche vernommen hätten“, entgegnete Don.

„In dieser Hinsicht drohte mir keinerlei Ärger, doch die ganze Situation war einfach so merkwürdig! Ich rief einige Tage später sogar auf dem Revier an und unterhielt mich mit demselben Polizisten, vermutlich aus morbider Neugier heraus.

Er berichtete mir von den Einzelheiten, die nicht unter Verschluss waren: Am Auto selbst gab es weder Fingerabdrücke noch Einbruchspuren. Die Türen waren von innen verriegelt. Erinnern Sie sich, das Seltsamste war doch, dass dem Auto Öl und Lichtmaschine fehlten. Niemand konnte sich vorstellen, wie oder weshalb ein schrottreifes Auto rund elf Meilen geschoben oder abgeschleppt worden war, nur um es dem vormaligen Besitzer auf den Leib fallen zu lassen …!

 

Der Ermittler erklärte mir, dass das Auto auf unbestimmte Zeit beschlagnahmt würde. Es wurde mir aber gestattet, auf den Hof zu gehen, um mir daraus einige Werkzeuge zu holen, die Jake am Vortag im Fußraum des Imperial hatte liegenlassen. Als ich das Bestätigungsformular für den Empfang unterschrieb, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Der Imperial war vielleicht zehn Meter vor dem Fenster geparkt. Dann sah ich, wie es … geschah …, aber ich erwähnte es außer meiner Frau niemandem gegenüber.“

 

„Geschah?“, fragte der Professor erwartungsvoll.

Don blinzelte und leckte sich die Lippen, bevor er fortfuhr.

„Als ich da mit meiner unterschriebenen Kopie der Empfangsbestätigung in der Hand stand, blinkten die Rücklichter des Imperial immer wieder. Der Polizist am Schreibtisch bemerkte es ebenfalls und meinte, das müsse ein Kurzschluss sein. Ich stimmte zu und verschwand, ohne ihm zu sagen, was dort TATSÄCHLICH vor sich ging.

Wissen Sie, ich habe in meiner Militärausbildung gelernt, Morsecodes zu entziffern. Die Lichter sandten mir deutlich und mehrfach eine Botschaft zu: ‚Danke, dass du dich gekümmert hast, Don!‘“

 

Professor Köhler sah erstaunt auf. Schon jetzt fühlte sich Don wie ein Trottel, weil er seinem potenziellen Arbeitgeber eine so verrückte Geschichte erzählt hatte. „Also“, fuhr er fort und hoffte, dass der Professor, wenn er seine Einstellung erwog, den letzten Teil seiner Geschichte irgendwie vergessen würde, „äh … Jake schien mich danach nicht mehr um sich haben zu wollen. Ich kündigte am nächsten Morgen.“

 

Der Professor warf einen Blick auf seine Unterlagen, bevor er wieder zu Don aufblickte. „Ähm … nun, das war eine ziemlich interessante Geschichte! Ich nehme an, aus der Geschichte von der streunenden Katze ist die Geschichte vom streunenden Auto geworden, was?“

 

Der Professor wischte sich über die Augenbrauen und bat Don, wieder im Warteraum Platz zu nehmen, mit dem Versprechen, ihm recht bald Rückmeldung zu geben. „Na toll!“, sagte sich Don, als er sich wieder auf seinen Sitz im Vorraum fallenließ. „Jetzt hält mich mein zukünftiger Chef für einen Spinner …!“

 

Professor Köhler trat in den Eingang seines Büros und geleitete Michelle Hinton mit einem sanften Lächeln hinein. Er setzte sich an den Schreibtisch und setzte seine Brille wieder auf. Dann sagte er in leisem Ton: „Ich sehe, Sie haben eine Zeit lang in Millighans Kaufhaus gearbeitet. Ich war im Laufe der Jahre ein paarmal dort, es sah ganz anständig aus. War es nur öde oder fehlte Ihnen die Chance zum Aufstieg?“

 

Michelle rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum und erwiderte schließlich: „Nein, ich meine … ja, wir waren mitunter ziemlich gefordert, aber, ob Sie es glauben oder nicht, ich entschied mich, aufzuhören, kurz nachdem mir eine Beförderung angeboten wurde!

 

Manchmal verbergen sich hinter dem sprichwörtlichen Silberstreifen am Horizont ein paar dunkle Wolken, wie ich feststellen musste …!

 

Ich habe in dieser Niederlassung der Ladenkette als eine von zwei Managern gearbeitet. Da sich der bisherige Leiter, der alte Morgan, im kommenden Monat in den Ruhestand verabschieden würde, sollte die Wahl seines Nachfolgers auf einen von uns fallen. Der andere Manager hieß Steve Kim.

Die Entscheidung, wer die Leitung bekam, sollte … mal sehen, am 1. Juli, einem Dienstag, fallen.

 

Meine Handflächen schwitzten, wir hatten uns beide ganz groß in Schale geworfen in Erwartung der tollen neuen Stellung, die auf einen von uns wartete …“

 

 

II. Akt: Kummer im Kaufhaus 

 

Bart Morgan saß an seinem Schreibtisch und lächelte aufmunternd. Die Bewerber für die Position des Bezirksleiters saßen in angespannter Erwartung nebeneinander. Nach einer einminütigen Einleitungsrede, die aus belanglosen Floskeln bestand, kam er zur Sache. Herr Morgan wechselte nun in einen ernsteren Tonfall. Er sagte, es sei eine sehr schwierige Entscheidung gewesen, aber letztendlich habe er sich Michelle als seine Nachfolgerin für die Bezirksleitung ausgesucht.

 

Sie denken jetzt vermutlich, wo liegt dann mein Problem, nicht wahr?“, sprach Michelle weiter, während der Professor interessiert zuhörte.