Suizid - Phantastische Geschichten - Ruth und andere Boose und andere - E-Book

Suizid - Phantastische Geschichten E-Book

Ruth und andere Boose und andere

0,0

Beschreibung

Der Suizid in all seinen Facetten - grausig, tragisch, trügerisch, verzweifelt, hoffnungsvoll oder auch verhindert - ist Thema dieser Phantastik-Anthologie. Dass nicht nur Bestseller-Autoren fesselnd schreiben können, beweisen 21 originelle Erzählungen unbekannter Schriftsteller. Die Genres erstrecken sich von Fantasy, Mystery und Horror bis hin zu Kriminalgeschichten und gesellschaftskritischer Belletristik. Ein besonderer Fokus der meisten enthaltenen Erzählungen liegt auf dem psychologischen Aspekt, dem Denken und Fühlen der Protagonisten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

 

Ruth Boose (Hrsg.)

 

Suizid

 

Phantastische Geschichten

 

Anthologie

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Herausgeber, Verlag, Satz und Korrektorat: Ruth Boose, 2021, Berlin // Titelbild: Sandra Meyer // Coverdesign: Royana Helmar // Urheberrechte bei den Autoren

Druck und Vertrieb: epubli, Service der neopubli GmbH, Berlin

Kontakt: [email protected]

Inhaltsverzeichnis
Suizid
Vorwort
Das Kino
Institut zur Behandlung von Selbstmördern
Das Leben nach dem Tode
Das Opfer
Die Strafe der Hölle
Der Krieg ist vorüber
die mär von den zwei schwestern und dem weshalb nur
Vogelleim – eine seltsame Wintergeschichte
Frank Stenzer
Sternenlos
Und am Ende liegt Freiheit
Und ewig grüßt das Murmeltier
Abyssus abyssum invocat
Das Messer
Der rätselhafte Fall der Susi W.
Eine Tochter von Kolchis
Hotel Thanata
Das Haus
Nachtmahr
Eine zweite Chance
Der perfekte Selbstmord
Über die Autoren
Danksagung und Ausblick

Vorwort

 

Im kommerziellen Verlagswesen ist oftmals kein Platz für Experimente oder Risiken. Das betrifft nicht nur unbekannte Schriftsteller, sondern noch mehr heikle Themen. Was sich nicht massentauglich verkaufen lässt, wird gemieden. Somit ist es wohl kein Zufall, dass sich eine nicht-kommerzielle Benefiz-Anthologie diesem stiefmütterlich behandelten und doch so präsenten Thema widmet.

 

Erste Reaktionen auf mein zweites Anthologieprojekt waren: „Suizid und Phantastik passen nicht zusammen.“ // „Bei dem Thema bin ich raus.“

Bemerkenswert, wie ich finde. Über Krieg und Gemetzel, Morde und Vergewaltigungen, Krankheit und Leid, kurz gesagt über jede noch so dunkle Facette menschlichen Erlebens und Verhaltens wird schonungs- und hemmungslos geschrieben. Keine Gräueltat ist zu unmoralisch oder schade dafür, um nicht in einem modernen Horror- oder Fantasyroman für höhere Auflagenzahlen herzuhalten. Aber Suizid … Selbstmord … Freitod? Das geht doch nun wirklich nicht. Da ist der Spaß aber vorbei. Damit möchte doch kein Leser unterhalten werden!

 

Ist es die eigene Betroffenheit, mit der man sich nicht beschäftigen möchte? Eine moderne Konvention? Suizid fragt nicht nach Konventionen. Er stellt die Grundfesten unserer Existenz infrage.

 

Ist es nicht Zeichen der Verleugnung und des krampfhaften, verdrängenden Umgangs mit dem Suizid, dass eine Zusammenstellung von Geschichten darüber einer gesonderten Erläuterung und Rechtfertigung zu bedürfen scheint? Verdienen nicht alle, die das Thema direkt oder indirekt berührt, ebenso eine literarische Verarbeitung, eine künstlerische Auseinandersetzung?

 

Jeder der teilnehmenden Autoren hat mit dem Suizid seine ganz persönliche Umgangsweise, seine individuellen Einstellungen, Phantasien und möglicherweise Erfahrungen, die in seine Erzählung einfließen.

 

Denn erst das Wissen um den eigenen Tod und alle sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Grenzen machen den Menschen zum Menschen.

 

 

Das Kino

von Gregor Samsa

 

Es war für einen Apriltag ungewöhnlich kalt. Frierend ging ich durch die fremden, verlassenen Straßen der Vorstadt. Ich war in meinem Leben noch nie in dieses Viertel gekommen. Abweisend standen die niedrigen alten Häuser und versteckten ihre nichtssagenden Fassaden hinter dem Regenvorhang. Wer mochte in diesem trostlosen Stadtteil wohnen? Ab und zu trieb der Wind wie mit unsichtbarer Hand eine schemenhafte Gestalt über das holprige Pflaster, die sich rasch hinter der nächsten Ecke verlor, ehe man sie deutlicher erkennen konnte. Unablässig blies mir der raue Nordwest die eisigen Tropfen ins Gesicht. Es war richtig ungemütlich.

 

Ich war froh, als ich mich unter dem Vordach eines kleinen Kinos unterstellen konnte. Mit einem Taschentuch trocknete ich mein Gesicht ab. Ich war ordentlich durchgefroren. Kleine Rinnsale liefen in den Falten meiner Kleidung entlang. Erst jetzt merkte ich, dass ich bis auf die Haut nass war. Ehrlich gesagt verspürte ich keine große Lust, noch länger draußen in diesem Wetter herumzulaufen. Mein Blick fiel auf den Schaukasten, der sich neben dem Eingang befand. Szenenfotos und ein Plakat waren darin angebracht. Es schien ein Krimi zu sein, denn ein Toter lag da, doch Genaues war nicht auszumachen – die Scheibe war angelaufen. Außerdem war fraglich, ob die Bilder zum laufenden Programm gehörten; sie sahen schon ganz verstaubt und verblichen aus. Wer weiß, wann sie das letzte Mal gewechselt wurden. Aber im Grunde genommen war es mir völlig gleich, was hier gespielt wurde. Hauptsache, ich saß im Trockenen.

Ich drückte die Klinke herunter und lehnte mich gegen den schweren Türflügel, von dem schon die Farbe abblätterte. Er klemmte etwas, aber dann ging er mit einem Ruck auf. Ich stand im Vorraum. Er war leer – kein Wunder bei diesem Wetter.

Im Kassenraum saß eine weißhaarige ältere Frau und schlief. Ihre Brille war halb von der Nase gerutscht; in einer Hand hielt sie noch das Strickzeug. Ich musste erst mehrere Male energisch gegen die Scheibe klopfen, ehe sie hochfuhr. Entgeistert schaute sie mich an, als sei ich ein Gespenst. „Da sind Sie ja endlich“, murmelte sie und schob sich die Brille zurecht, „wir dachten schon, Sie kommen nicht mehr.“ Sie schien noch halb zu schlafen. Aus was für seltsamen Träumen mochte ich sie hochgeschreckt haben? Ich kaufte die billigste Karte und ein Programm und ging hinein.

 

Eine junge Frau stand am Einlass. Ihr dünner Körper wirkte zerbrechlich. Sie war unnatürlich geschminkt, sodass ihr Gesicht noch bleicher wirkte und die Schatten unter den Augen hervortraten. Ihre dürre Hand riss meine Karte ab. „Wann beginnt eigentlich die Vorstellung?“, fragte ich. „Sowie Sie drin sind“, antwortete sie mit heiserer Stimme, „gehen Sie nur hinein!“ Mit Verwunderung registrierte ich, dass sie hinter mir die Tür abschloss. Ich klopfte gegen die Scheibe. „Wieso schließen Sie schon ab?“, rief ich ihr durch das Glas zu, „Sie wissen doch gar nicht, ob noch jemand kommt.“ Sie schüttelte bestimmt den Kopf. „Nur für Sie hatte ich noch offen gelassen. Nach Ihnen kommt niemand mehr.“ Das Verhalten der Frau kam mir merkwürdig vor. In mir stieg ein unbestimmtes Misstrauen auf. Eine innere Stimme warnte mich vor etwas.

 

Aufmerksam schaute ich umher. Das Foyer war nur schwach erhellt. In einer Ecke standen wie vergessen vier alte Plüschsessel. Auf der anderen Seite war ein ehemaliger Verkaufsstand. In einer Vitrine lagen einige uralte Keksschachteln. Auf allem lag eine dicke Schicht Staub, als wäre das Kino seit Langem nicht mehr besucht worden. An den Wänden hingen alte Fotos eines Schauspielers. Irgendwie kam er mir bekannt vor, doch ich konnte mich nicht erinnern, in welchem Film ich ihn gesehen hatte.

Ich stieg ein paar Stufen hoch und geriet in einen stockfinsteren Gang. Vorsichtig tastete ich mich an der Wand entlang und lauschte. Ich vernahm keinen Laut. Das Programm schien also noch nicht zu laufen. Da streifte plötzlich etwas Weiches mein Gesicht. Ich zuckte zusammen. Es war ein Vorhang. Ich schob ihn zur Seite und stand in einem kleinen Zuschauersaal. Auch hier war es ziemlich dunkel, aber mittlerweile hatten sich meine Augen daran gewöhnt. Erstaunt stellte ich fest, dass sich außer mir keine Menschenseele im Kino befand. Es wunderte mich, dass man überhaupt für einen Einzelnen spielen wollte. Es war auf jeden Fall ungewöhnlich.

Suchend blickte ich mich um. Eine Platzanweiserin war nirgends zu sehen – wozu auch. Ich setzte mich auf den erstbesten Platz. Es war vollkommen still. Offenbar hielt man es für überflüssig, vor Beginn der Vorstellung Musik einzuspielen. Ich schlug das Programm auf und versuchte, die Schrift zu entziffern, doch die Dunkelheit war zu groß. Ich musste mich also überraschen lassen. Schweigend saß ich da und wartete. Die Stille war unnatürlich. Ich saß eine ganze Weile da und döste vor mich hin, aber allmählich wurde ich ungeduldig. „Warum fangen sie nicht endlich an?“, fragte ich mich, „zumal sie schon die Tür abgeschlossen haben, weil keiner weiter kommt.“ Im selben Moment ging wie auf Stichwort das Licht aus und die Vorführung begann. Es schien eine ganz moderne Art Film zu sein.

 

Das Gesicht eines Mannes war in Großaufnahme zu sehen. Stumm starrte er mich von der Leinwand an, ohne einen Ton zu sagen. Sein Blick hatte etwas Lauerndes, als warte er auf etwas Bestimmtes, während um seinen Mund ein ironisches Lächeln spielte. An wen bloß erinnerte er mich? Sein Aussehen war mir vom ersten Moment an unsympathisch, ohne dass ich dafür hätte eine Begründung geben können. Noch immer sprach er kein Wort.

„Das ist wohl ein Stummfilm?“, brummte ich unwillig vor mich hin.

„Nein“, antwortete da zu meinem großen Erstaunen der Mann, „ich habe nur gewartet, bis du fragst.“

Ich war überrascht. Der Trick war wirklich verblüffend. Es bestand kein Zweifel – der Mann hatte auf meine laut gestellte Frage reagiert und geantwortet. In der Tat ein merkwürdiger Zufall. Unwillkürlich drehte ich mich um und vergewisserte mich, dass der Mann tatsächlich von hinten auf die Leinwand projiziert wurde.

„Wie ist das nur möglich?“, entfuhr es mir.

„Ganz einfach“, antwortete der Mann, „das ist nur Psychologie. Wir haben im Voraus berechnet, was du für Fragen stellen wirst und wann und konnten so schon vor längerer Zeit die Antworten auf Film aufnehmen.“

„Und das funktioniert?“

„Natürlich“, erläuterte er, als handele es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. „Es gibt nichts Zufälliges im Leben. Jeder Mensch ist vorprogrammiert. Und deshalb können wir uns heute hier unterhalten, obwohl ich dich vermutlich niemals kennenlernen werde.“

 

Ich wurde neugierig. Natürlich hatten sich die Fragen, die ich gestellt hatte, ganz aus der Situation ergeben. Jeder andere hätte vermutlich genauso reagiert. Der ganze Dialog musste notwendigerweise scheitern, wenn ich nicht mehr solch simple Fragen stellen würde. Aber auf jeden Fall war es ein interessanter Versuch der Filmschöpfer, den Zuschauer mit in das Geschehen einzubeziehen. Bestimmt hielt der Film noch viele Überraschungen parat. Ich beschloss, den Mann zu testen.

„Wenn du im Voraus weißt, was ich fragen werde“, wandte ich mich an ihn, „musst du ja auf jede Frage eine Antwort wissen.“

„Sicher“, entgegnete er.

 

Ich triumphierte. Mit einer einzigen Frage konnte ich ihn widerlegen. „Sage mir, wieso ich jetzt in diesem Kino bin!“

Sein Gesicht wurde ernst. „Weil du heute hier sterben wirst.“

 

Jäh fuhr ich von meinem Platz hoch. Was ging hier eigentlich vor? Das Kino war unheimlich. Und ich war ganz allein hier. Vorsichtig schlich ich mich zum Ausgang. Er war verschlossen. Angst packte mich. Ich rüttelte an sämtlichen Türen. Vergebens!

Der Mann auf der Leinwand begann schallend zu lachen. Sein Lachen jagte mich durch den Saal. Ich rannte hinaus in das Foyer und rüttelte an der Eingangstür. Sie gab nicht nach. Da hämmerte ich mit beiden Fäusten gegen die Scheiben. Es musste eine Art Panzerglas sein. Oder waren meine Kräfte so schwach? Im Kassenraum sah ich die ältere Frau sitzen und noch immer schlafen. Hörte sie mich denn nicht? Aber die schlief ja gar nicht, die war ja tot!

 

Entsetzt wankte ich in den Saal zurück und ließ mich auf einen Platz sinken. Mein rechtes Handgelenk schmerzte. Ich bemerkte, dass meine Hand voll Blut war. Ich musste mich irgendwo gerissen haben. Der Mann auf der Leinwand hörte auf zu lachen.

„Nach unserer Berechnung ist ihr Anfall jetzt vorüber. Sie sehen, wir wissen genau Bescheid.“

Ich war schockiert. Die Vorstellung, dass jemand meine geheimsten Gedanken erraten konnte, beunruhigte mich zutiefst. Und doch schien es so zu sein. Die Fähigkeit der Filmschöpfer, meine Reaktionen vorherzusehen, grenzte ans Fantastische. Umso mehr erschreckte mich die düstere Voraussage. Ich zweifelte nicht länger, dass die Drohung ernst gemeint war. Was waren das für Übermenschen, die so furchtbare Geheimnisse wussten, die solch unheimliche Macht besaßen? Mir fiel ein, dass der Mann der Schauspieler auf den Fotos im Foyer war, aber das war jetzt nebensächlich. Denn mich beschäftigte vielmehr die Frage, wie ich dem Phantom auf der Leinwand entgehen könnte.

 

Grübelnd saß ich auf meinem Platz. Und ich hatte das Gefühl, als rege sich etwas leise hinter mir. Ich hielt den Atem an. Behutsam schien sich etwas näher zu schleichen. Ich wollte mich umdrehen, aber eine übermächtige Angst verhinderte es. Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Ein Lufthauch streifte meinen Nacken. Atmete da nicht etwas hinter mir? Unter Aufbietung all meiner Willenskraft drehte ich mich mit einem Ruck um. Ich war allein. Feindlich umgab mich die Dunkelheit. Nichts regte sich. Wo lauerte mein unsichtbarer Gegner? Die Stille wirkte tödlich. Meine Nerven waren gespannt. Ich konnte nichts Verdächtiges feststellen, doch ich war sicher, dass sich mein Mörder schon in nächster Nähe aufhielt. Wer mochte es sein? Wer konnte ein Interesse haben, mich zu töten?

„Wer dich umbringen wird, möchtest du wissen?“

Ich zuckte zusammen. Wieder einmal hatte der Mann auf der Leinwand meine tiefsten Regungen durchschaut.

„Ich will es dir verraten“, raunte er geheimnisvoll, „du selbst wirst es tun!“

Ich lachte unsicher. „Ich habe keineswegs die Absicht, Selbstmord zu begehen.“

Er lächelte überlegen. „Du wirst es tun“, flüsterte er, „nur deshalb bist du doch gekommen. Greif in deine Manteltasche!“

Unwillkürlich befolgte ich seine Anweisung. Ich brachte ein Rasiermesser zum Vorschein. Wie kam es in meine Tasche? Ich hatte doch nie eines besessen. War es mir von jemandem heimlich zugesteckt worden? Oder hatte ich es tatsächlich in einem dunklen, unbewussten Drang gekauft, ohne es wahrzunehmen? Zu welchem Zweck? Ich benutzte doch nur Trockenrasierer. Gab es wirklich in mir einen selbstzerstörerischen Trieb, von dessen Vorhandensein ich nichts geahnt hatte? Ich wusste, ich wollte mir nicht das Leben nehmen – wovor hatte ich dann Angst? Der Mann auf der Leinwand war nur ein Stück Film. Von wem sollte mir Gefahr drohen? Von mir selbst?

 

Ich wollte den Mann etwas fragen, doch ich zitterte plötzlich vor dem Klang meiner eigenen Stimme. Was war mit mir los? Ich wollte aufstehen, fand aber nicht die Kraft dazu. Ich schloss die Augen. Grauen erfasste mich, eine Ahnung des letzten furchtbaren Geheimnisses. Es war wie ein riesiger, drohender Abgrund, in den mich meine Angst wie ein Schwindelgefühl hineintrieb. Ich musste diesen unheilvollen Bann zerstören, oder ich war verloren.

„Versuch auszubrechen!“, höhnte der Mann, als hätte er wieder meine Gedanken erraten. „Zerre an deinen unsichtbaren Ketten! Sie halten besser als der festeste Stahl, denn sie sind geschmiedet aus dem Dunkel deiner Zukunft, aus deinem Verhängnis, das Tod heißt. Du kannst nicht dir selbst entfliehen, deinen Gedanken, die wir errechnet haben, deinem Schicksal, das unvermeidlich ist, deinem Tod, dem du unaufhaltsam entgegentaumelst. Und dein Tod wird besonders grässlich sein.“

Ich schluckte. Meine Kehle war trocken. Ich hatte ein Gefühl, als säße mir das Messer schon am Halse. Was war dies für ein schrecklicher Film? Wie würde es enden? Gab es wirklich keinen Ausweg aus dieser unwirklichen Situation? Wieso wussten die Filmschöpfer alle meine Fragen, alle Reaktionen im Voraus? Woher kannte man mich? Wieso konnten sie wissen, dass ich heute hier ganz allein im Kino sein würde? Es war doch reiner Zufall! Irgendwo steckte da eine Unlogik. Was passte hier nicht zusammen?

 

Plötzlich durchzuckte mich eiskalt die Lösung des Geheimnisses. Das war gar kein Film! Der Mann war hier im Kino und beobachtete mich. Das erklärte alles: seine richtigen Antworten auf meine Fragen. Sein Verhalten auf meine Reaktionen. Jetzt verstand ich auch, warum man nach mir die Tür verschlossen hatte. Der Mann bluffte. Statt meiner hätte es jede beliebige andere Person sein können, die zufällig hier hereingeraten wäre. Natürlich durfte kein weiterer Zuschauer hinzukommen und stören. Ich beschloss, dem Mann die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Ich war gespannt, wie er reagieren würde, wenn er sich durchschaut sah.

 

„He, komm heraus und zeige dich!“, rief ich, „ich weiß, dass du hier bist und lebst.“

Der Mann auf der Leinwand lächelte. „Du hast recht“, sprach er, „ich bin hier im Kino. Nur – ich lebe nicht, ich bin schon tot.“

„Was ist das schon wieder für ein linker Trick?“, fragte ich, „glaubst du, du kannst mich noch länger an der Nase herumführen?“

„Überzeuge dich!“, sprach er mit sanfter Stimme, „hast du noch nicht bemerkt, was sich vorn neben der Leinwand befindet?“

Ich erhob mich misstrauisch und ging langsam nach vorn. Neben einem alten Klavier stand ein schwarzer Sarg. Wegen der Dunkelheit hatte ich ihn bisher nicht entdeckt.

„Was ist? Hast du Angst? Öffne ihn!“

Ich bezwang meine Furcht und hob den schweren Deckel. Im Sarg lag tot der Mann, das Gesicht grässlich verzerrt.

Entsetzt fuhr ich zurück, dumpf polterte der Deckel zu. Meine Hände zitterten.

„Glaubst du nun, dass du sterben wirst?“, fragte der Mann. „Du siehst, ich bin tot; ich kann dir nichts antun. Ich sage dir lediglich die Wahrheit. Willst du mir deshalb böse sein?“

Ich schwieg verwirrt und ging langsam auf meinen Platz zurück. Auf drastische Weise hatte der Mann meine Hypothese widerlegt. Ich hatte ihn unterschätzt. Aufs Neue kam mir das Unheimliche der Situation zum Bewusstsein. Ein Toter versuchte, mir das Leben zu nehmen! Er war tot, und doch fürchtete ich die nächsten Stunden. Worin bestand seine Macht über mich?

 

„Du hast Angst vor der Wahrheit“, bemerkte der Mann. In mir stieg verzweifelte Wut auf. Konnte ich denn keinen Gedanken denken, den der Mann nicht schon vorher wusste?

„Deine Wahrheit ist nicht meine Wahrheit“, entgegnete ich trotzig, „und Angst habe ich überhaupt nicht, denn ich weiß, dass ich nicht sterben werde.“

„Wieso?“, fragte er erstaunt, „bist du unsterblich?“

„Nein, ich meine, ich werde nicht heute hier sterben.“

„Ach“, fragte er, „kennst du deine Sterbestunde?“

Ich schwieg.

„Nein, du kennst sie nicht“, fuhr er fort, „für einen Sterblichen wie dich wird die Todesstunde bis zum letzten Moment ein unerforschliches Geheimnis bleiben. Wir wissen es besser. Noch heute wirst du dir das Leben nehmen, du kannst gar nicht anders.“

„Und wenn ich nun gar nicht sterben will?“

„Ha, ha, hat der Tod jemals einen Menschen nach seiner Erlaubnis gefragt? Die Freiheit endet dort, wo der Tod beginnt. Du wirst sterben, so sehr du dich auch gegen diese Tatsache sträuben magst. Es gibt ewige, unumstößliche Naturgesetze, die keiner ändert – auch du nicht.“

 

Ich überlegte. Ich musste Zeit gewinnen. Meine Lage war keineswegs rosig. Ich war allein, in der Gewalt eines Toten. Und er schien keineswegs ungefährlich. Bevor ich etwas unternahm, brauchte ich mehr Klarheit.

„Sage mir, woher wusstest du im Voraus, dass ich allein im Kino sein würde?“

Der Mann tat erstaunt. „Allein? Sieh dich um! Rings um dich her sitzen viele Menschen. Du bemerkst sie nur nicht.“

„Aber wieso?“

„Jeder, der stirbt, ist ganz allein.“

„Aber die Menschen – sehen sie mich denn nicht? Warum helfen sie mir nicht?“

„Sie beobachten dich. Doch sie verstehen dich nicht. Wer könnte je den Tod begreifen?“

„Aber der Film?“

„Sie sehen den gleichen Film wie du. Nur – du deutest etwas anderes hinein. Die anderen sehen zur selben Zeit einen Unterhaltungsfilm. Hörst du nicht ihr Lachen? Nein, du vernimmst nur die Stille des Todes, nur du kannst seinen Ruf vernehmen, der tief aus deinem Innersten kommt, denn du sehnst dich zu sterben.“

 

Ich spürte immer deutlicher, dass man versuchte, mich zu manipulieren. Es war nicht in erster Linie mein Leben, was bedroht war. Ich war in Gefahr, mich selbst zu verlieren. Man versuchte, mein Wesen zu zerstören, mich dazu zu bringen, mich selbst aufzugeben.

Gerade das würde ich nicht tun. Ich war bereit zu kämpfen. Ich beschloss, mich ganz auf mein Ich zu verlassen, auf meine Logik, auf meine Gefühle. Und eines wurde mir immer klarer: Der Mann konnte alles noch so genau vorausberechnen, eine Möglichkeit entzog sich seiner Kalkulation: dass der Mensch sich ändert, sich entwickelt. Darin lag meine Chance. Bisher war ich nur auf meine Rettung bedacht gewesen. Darauf musste der Mann seinen Plan aufgebaut haben. Ich musste anders sein, ungewöhnlich, mich selbst und meine kleinliche Angst überwindend. Dann würden meine Fragen nicht mehr mit seinen Antworten übereinstimmen.

Zwar war die Situation verwirrend und undurchsichtig, doch mir war bewusst, dass der Mann nur Macht über mich hatte, wenn ich sie anerkannte, wenn ich auf sein Gerede einging, wenn ich ihm Glauben schenkte. Ich beschloss, ihn zu ignorieren, so zu tun, als existiere er nicht. Was wollte er dann gegen mich ausrichten?

 

Ich setzte mich bequem im Sessel zurecht und schaute vor mich hin.

„Dir hat es wohl vor Schreck die Sprache verschlagen?“, fragte der Mann, doch sein Lachen klang erstmals unsicher.

Ich schwieg und beachtete ihn nicht. Wir würden sehen, wer die stärkeren Nerven hatte: ich – oder der Tote. Ich wusste, ich zwang den Mann jetzt, etwas zu unternehmen. Er musste ans Ziel gekommen sein, bevor der Film zu Ende war. Wie mochte er wohl weitergehen, wenn ich nicht mehr mitspielte?

Eine Weile saß ich da, ohne dass etwas geschah. Plötzlich flammte das Licht auf. Mein Blick fiel auf das Programm in meiner Hand. Ich sah auf einem Foto – mich selbst, zusammengesunken in einem Kinosessel. Ich lachte laut. Einfallsreich war der Mann, das musste man ihm lassen, aber das zog bei mir nicht mehr. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mich umzubringen.

Das Licht erlosch wieder. Was mochte der Mann jetzt wohl auf Lager haben? Mir war es gleich, ich ließ mich nicht mehr erschüttern. Für einen Lebensmüden war ich verdammt munter. Nach einiger Zeit leuchtete auf der Leinwand ein Dia auf: „Bitte beeilen Sie sich mit dem Selbstmord! Draußen warten noch viele andere, die an die Reihe kommen wollen.“

Aha, der Mann wurde nervös.

 

Nervös? Wie konnte er das? Er war doch tot? Wo lag hier der Denkfehler? Mein Hirn arbeitete fieberhaft. Ich musste das Geschehen logisch erfassen, mich nicht vom Schein täuschen lassen. Fakt war, dass der Mann unsicher geworden war. Also musste er leben, das war die einzige vernünftige Erklärung. Je länger sich das Ganze abspielte, umso mehr stieg die Unwahrscheinlichkeit, dass alle Antworten schon vorher aufgenommen worden waren. Doch was war mit dem Toten im Sarg? Wie reimte sich das zusammen?

Ich musste dahinterkommen. Ich beschloss, alles noch einmal genau zu rekonstruieren. Ich ging nach vorn zum Sarg und überlegte. Jedes Detail war wichtig. Wie bei einer Zaubervorführung hatte jede Kleinigkeit ihren Grund. Warum stand der Sarg gerade hier? Ich blickte mich um. Mir fiel auf, dass ich von hier aus nicht die Leinwand sehen konnte. War das Zufall?

„Bemühe dich nicht! Du kriegst es ja doch nicht raus!“

Ich trat einige Schritte zurück. Der Mann war wieder auf der Leinwand zu sehen. Mir war klar, er wollte mich ablenken. Er musste gemerkt haben, dass ich neben den Sarg getreten war. Das konnte keine Vorherberechnung mehr sein. Der Mann lebte. Ich spürte es mit jedem Nerv. Doch wie konnte er mich von der Leinwand aus anlächeln, wenn er zugleich tot im Sarg lag?

 

Moment mal! Wieso zugleich? Blitzartig begriff ich, warum der Sarg so platziert war, dass ich von dort nicht die Leinwand sehen konnte. Als ich den Deckel geöffnet hatte, hatte sich der Mann verstellt und das Gesicht verzerrt. Er hatte folgerichtig mit meinem Entsetzen gerechnet. Er musste ein genialer Wahnsinniger sein, anders war sein Tun nicht zu erklären. Und mir wurde klar, dass er eine tödliche Gefahr für mich darstellte. Er würde nicht eher ruhen, bis er mich vernichtet hatte. Er oder ich – eine dritte Möglichkeit existierte nicht.

 

Ich weiß heute nicht mehr, woher ich meine Entschlossenheit nahm. Mit festem Griff packte ich das Rasiermesser. Behutsam öffnete ich den Sarg. Der Mann lag totenähnlich, wie vorhin. Doch ich ließ mich nicht mehr verwirren. Mit einem raschen Schnitt trennte ich seine Kehle durch – ein Röcheln bewies die Richtigkeit meiner Theorie.

Ich untersuchte den Sarg und entdeckte an der Innenseite des Deckels eine Fernsehkamera und ein Mikrofon. Nun betrachtete ich die Leiche genauer und bemerkte, dass das Totengesicht eine Maske war. Ich zog sie weg. Das echte Gesicht kam zum Vorschein, genauso in maßlosem Entsetzen verzerrt wie die Maske.

 

Wie erschrak ich, als plötzlich die Stimme des Mannes ertönte. Von der Leinwand aus lachte er mich an. „Ha, ha, du hast mich getötet. Doch hast du damit die Wahrheit besiegt? Die Wahrheit kann man nicht töten. Und ich bin die letzte schreckliche Wahrheit. Hast du durch deine Tat etwas geändert am unumstößlichen Urgesetz, dass du sterben wirst? Hebst du es auf, indem du denjenigen tötest, der dir die Wahrheit ins Gesicht schreit?“

„Ha, du willst die Wahrheit sein?“, rief ich wütend. „Ich werde dir eine bessere Wahrheit entgegenhalten. Dir geht es gar nicht darum, dass ich sterbe, du willst nur verhindern, dass ich sinnvoll lebe! Mich täuschst du nicht mehr. Lüge und Schein bist du, nichts als leerer Schein. Was ich jetzt sehe, ist wirklich ein Film. Doch ich werde auch deinen falschen Schein vernichten, denn er ist das Gefährlichste an dir.“

Ich stürzte zur Leinwand vor und zerschnitt sie mit dem Rasiermesser in kleine Fetzen.

Dahinter kam eine Bühne zum Vorschein. Das Licht des Mannes fiel auf eine Tür. Ich klinkte. Sie war unverschlossen. Ich gelangte in einen schwach erleuchteten Gang. Noch einmal glaubte ich, den Mann zu erblicken, als ich um die Ecke bog. Doch es war ein Spiegel. Als ich nähertrat und mich im Glas betrachtete, sah ich nur mich.

Durch den Heizungskeller gelangte ich in einen Hof. Ich trat durch eine Toreinfahrt auf die Straße. Ich war frei.

Es war schon Nacht. Der Regen hatte aufgehört. Am Himmel leuchteten einige vereinzelte Sterne. In der Ferne bellte ein Hund.

 

Später hatte ich das Kinomehrmals gesucht, es jedoch – da ich mir die Straße nicht gemerkt hatte – nie mehr gefunden.

Institut zur Behandlung von Selbstmördern

von Gregor Samsa

 

Der Direktor empfing mich mit einem strahlenden Lächeln, als begrüße er einen alten, lange erwarteten Freund, und sagte mit liebenswürdiger, weicher Stimme:

„Willkommen in unserem Hause! Es freut mich, dass Sie endlich zu uns gefunden haben. Womit können wir Ihnen dienen? Halt, sagen Sie nichts! Lassen Sie mich raten! Sie möchten etwas Außergewöhnliches. Einen modernen Tod, doch auch eine gewisse Romantik. Nein, schweigen Sie! Ich weiß genau, was Sie bewegt. Ein Mensch wie Sie möchte nicht einen alltäglichen Tod sterben, nicht wahr! Ich sehe es Ihnen an, Sie sind Individualist. Ein Träumer und Draufgänger zugleich. Sie möchten einen Tod, der ganz einmalig ist, einen spektakulären Tod, einen Tod, der letzten Endes doch noch irgendeinen Sinn hat. Für Sie und für die Menschheit. Lassen Sie sich zunächst eines versichern:

Ihr Freitod wird sinnvoll sein. Für Sie, weil er Sie von Ihren Qualen erlöst, für die Menschheit, weil Sie ein Vorbild sind, einer, der mehr Mut hat als die anderen, die stumpfsinnig vor sich hin vegetieren. Ihr Tod wird ein Fanal sein, andere aufrütteln und sie anspornen, Ihnen nachzueifern. Nein, widersprechen Sie nicht! Sie fragen sich, wie Ihr Wunsch erfüllt werden soll? Ich bitte Sie, verlassen Sie sich ganz auf unser Haus und unsere langjährigen Erfahrungen. Sie werden mit Ihrem Tod zufrieden sein. Wir verfügen über eine Skala von Selbstmordarten, an die Sie nicht einmal im Traum dachten. Exquisit! Ich sehe Besorgnis in Ihren Augen? Keine Angst, Ihr Tod wird für Sie nicht unerschwinglich sein. Wenn Sie vielleicht gütigst einen Blick auf unsere Preisliste werfen möchten?“

 

Er reichte mir mit gewinnendem Lächeln einen umfangreichen Katalog über den Schreibtisch und schaute mich erwartungsvoll an.

Ich nutzte die Gelegenheit, dass ich endlich zu Worte kam, um erst einmal einiges klarzustellen. „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor“, sprach ich entschieden, doch zugleich behutsam, um den Direktor schonend auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. „Ich habe keineswegs die Absicht, Selbstmord zu begehen. Ich bin Reporter des Magazins Holiday und möchte einen Artikel über Ihr Institut schreiben.“

„Sie wollen sich gar nicht das Leben nehmen?“, meinte der Direktor enttäuscht. In seinen bisher so feurigen Augen war jeder Glanz erloschen.

„So ist es“, sagte ich mit Nachdruck, „hier ist mein Presseausweis.“

Ich reichte ihm meine Karte über den Tisch. Er blickte mich noch immer verständnislos an. Seine buschigen Augenbrauen zuckten nervös. Ich hatte ihn offensichtlich aus dem Konzept gebracht. „Presse also“, murmelte er verdattert vor sich hin. Doch dann blitzten seine Augen wieder auf. „Sie wollen eine Reportage schreiben? Über unser Haus?“

Ich nickte. Er steigerte sich langsam wieder in seine euphorische Stimmung. Sein Redefluss, der kurze Zeit ins Stocken geraten war, sprudelte wieder unvermindert wie zuvor.

 

„Das ist eine gute Sache, die Sie da vorhaben. Schreiben Sie über alles, was Sie hier sehen! Ich bin Ihnen gern in jeder Weise behilflich. Welche Informationen benötigen Sie? Was interessiert Sie am meisten?“ „Ich würde als Erstes gern wissen, auf welche Weise Ihre Kunden zu Ihnen finden.“ „Sie sprechen da gleich einen ganz wichtigen Punkt an. Uns liegt es natürlich sehr am Herzen, jeden möglichen Selbstmordkandidaten bei uns zu betreuen. Viele finden von ganz allein den Weg zu uns, denn durch Inserate und Werbeschriften sind wir ziemlich bekannt. Selbstverständlich haben wir rund um die Uhr geöffnet, denn viele Menschen entschließen sich gerade nachts oder in den frühen Morgenstunden zum Selbstmord. Eine weitere wichtige Möglichkeit der Kontaktaufnahme ist unsere Telefonberatung für Lebensmüde. Den meisten Anrufern geben wir natürlich den Rat, direkt zu uns zu kommen, denn hier an Ort und Stelle haben wir die besten Möglichkeiten der Behandlung. Aber selbstverständlich geben wir auch gern kostenlos einige Tipps für den Selbstmord in den eigenen vier Wänden.

Viel Erfolg hatte auch unsere ‚Aktion Freitod‘. Jeder, der mindestens zwei Selbstmordkandidaten warb, bekam seinen Tod bei uns umsonst. Hauptsächlich in minderbemittelten Schichten der Bevölkerung wurde von dieser Möglichkeit reger Gebrauch gemacht. Werbung ist natürlich auch in unserem Geschäft notwendig, aber das Wichtigste ist unser guter Ruf. Erfreulicherweise sind die Selbstmordraten seit Jahren ansteigend, was nicht zuletzt auf das Wirken unseres Hauses zurückzuführen ist.“

 

„Entschuldigen Sie bitte, mir ist ehrlich gesagt eines noch nicht ganz klar: Wozu benötigt ein Selbstmörder Ihr Institut und bezahlt obendrein noch viel Geld, wenn er sich zu Hause bequem selbst umbringen kann?“

„Ja, ich weiß, was Sie denken – früher ist man immer ohne diese Einrichtungen ausgekommen, wozu sollten wir sie jetzt brauchen? Das ist der übliche Einwand jener Gleichgültigen, die ihr Herz jedem Fortschritt, jeder Verbesserung verschließen. Die Bedürfnisse des Menschen wachsen schließlich. Wir haben mit unserem Haus eine wichtige Marktlücke geschlossen. Ich kann Ihnen versichern: Man braucht uns – sowohl die Gesellschaft als auch die Selbstmörder. Sie müssen das Problem psychologisch sehen. Selbstmörder sind von ihrer Veranlagung her feige und unschlüssig. Sie sind nicht fähig, mit ihrem kleinen Leben, das ihnen gegeben wurde, fertigzuwerden. Andererseits finden sie nicht den Mut, sich zu töten. Im Gegenteil, sie haben sogar eine panische Angst vor dem Tode. Sehen Sie, und diese Angst müssen wir ihnen nehmen. Hier setzt die Arbeit unseres Hauses ein. Die Selbstmordkandidaten rufen uns an oder kommen gleich selbst zu uns. Sie wissen nicht ein noch aus, können sich für keine Todesart recht entscheiden, haben weder die Kraft zum Leben noch zum Sterben. Da stehen sie nun, hilflos und unsicher, voll Furcht, einmal in ihrem Leben eine eigene Entscheidung treffen zu müssen. Man erwartet unseren helfenden Rat, ist dankbar, dass jemand ihre Angelegenheiten in die Hand nimmt. Die meisten haben jeglichen Halt verloren und vertrauen sich uns grenzenlos an. Zuerst wird der Betreffende von einem unserer erfahrenen Psychologen in Empfang genommen. Man führt mit ihm eine offene Aussprache über sein Problem, um die letzten Zweifel auszuräumen und ihm klarzumachen, dass jedes Weiterleben sinnlos und in seiner Situation der Freitod der einzige Ausweg ist.“

 

„Ist solch ein Rat nicht sehr bedenklich? Vielleicht gibt es in vielen Fällen doch noch eine andere Möglichkeit?“

„Nein, wir betreiben unseren Kunden gegenüber keine Schwarzmalerei, wir erhellen ihnen nur klipp und klar, wie die Tatsachen sind. Und Tatsache ist, dass diese Leute ihre Probleme nur dann bewältigen, wenn sie sich selbst ändern. Und das ist eben völlig ausgeschlossen. Dies schaffen die stärksten Persönlichkeiten kaum, wie sollte es den charakterschwachen Selbstmordkandidaten gelingen? Wohl könnten wir viele überreden, weiterzuleben, aber schon sehr bald ständen sie wieder vor der gleichen Misere. Sie haben sich dann monate- oder jahrelang herumgequält, nur um sich letzten Endes doch umzubringen. Diesen Ausweg empfinden wir als inhuman – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Aber zum Glück gibt es unsere Institute. Der Tod wird in der Literatur und im Alltag zumeist als etwas Schreckliches und Hässliches dargestellt. Wir bemühen uns, das Schöne des Sterbens hervorzuheben. Sterben bedeutet Frieden, bedeutet Harmonie, bedeutet Vollendung. Das Sterben ist Selbstverwirklichung der Persönlichkeit. Erst im Tode findet der Mensch zu sich selbst. Sehen Sie, all diesen Lebensmüden, die nicht die Kraft aufbringen, Hand an sich selbst zu legen, helfen wir, aus dem ungeliebten Leben zu scheiden. Wir erleichtern ihnen im Grunde genommen nur diesen allerletzten kleinen Schritt, zu dem sie sich ja in Wahrheit schon längst entschlossen haben.

Wichtig ist schon allein, dass wir als Fachleute die Menschen am besten über die möglichen Todesarten beraten können. Anhand unserer umfangreichen Kataloge helfen wir dem Einzelnen, eine Todesart zu wählen, die ihm nicht so schrecklich vorkommt. Damit wird schon den meisten ein großer Teil ihrer Angst genommen. Manche haben auch aus religiösen Gründen Vorbehalte, Hand an sich zu legen, da Selbstmord Sünde sei. Andere wieder finden es ehrenhafter, im Kampfe zu fallen. Alle diese Kunden können wir zufriedenstellen. Denn wir realisieren auch die ausgefallensten Wünsche. So wollte vor Kurzem ein Kandidat unbedingt mit einem Rennauto gegen eine Mauer rasen. Ein Russe wiederum wollte im Wodka-Rausch erfrieren. Wir hatten zwar einige Probleme mit der Beschaffung von Schnee im Sommer, aber auch dieser Kunde wurde von uns wunschgemäß bedient. Hier sehen Sie auch wieder deutlich die Bedeutung unseres Hauses: Wir kultivieren den Freitod. Früher waren die Selbstmorde ziemlich einfallslos und barbarisch. Es gab praktisch nur das Erhängen, Ertrinken, Erschießen, mit Gas vergiften. Wir haben die Skala beträchtlich erweitert. Vorige Woche erst suchte uns eine junge Dame wegen Liebeskummer auf. Sie wählte eine Kammer voll Jasminblüten. Sie schlief sanft ein und starb durch den betäubenden Duft. Welch ein schöner Tod. Wie poetisch erdacht! Wer bekäme da nicht Lust, ebenfalls aus dem Leben zu scheiden?

Freilich gibt es andererseits auch manche, die gerade das Grässliche des Sterbens hervorgehoben haben wollen. Sie bitten uns um einen qualvollen Tod. Oder sie wünschen die Verstümmelung ihres Körpers. Vor einiger Zeit hatten wir einen Kunden, der durch Ertrinken aus dem Leben schied. Auf seinen Wunsch trieb sein Körper noch mehrere Wochen als Wasserleiche in unserem romantischen Teich unter den Trauerweiden zwischen blühenden Seerosen dahin.“

 

„Aber sind solche aufwendigen Todesarten nicht sehr teuer? Werden damit nicht noch im Tode soziale Ungleichheiten aufrechterhalten, denen eigentlich die meisten gerade durch ihr Sterben entrinnen wollen?“

„Sie müssen das unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten“, entgegnete der Direktor. „Ausgesprochene Luxusselbstmorde sind eigentlich die Ausnahme, da unsere Kunden meist weniger wohlhabenden Gesellschaftsschichten angehören. Doch diejenigen, die bei uns teure Sterbearten buchen, finanzieren ja damit unser Haus und ermöglichen so auch Minderbemittelten, unsere Dienste in Anspruch zu nehmen. Und auch in erschwinglicheren Preisklassen bieten wir eine reiche Auswahl. Dazu kommen regelmäßig unsere preisgünstigen Sonderangebote. Eine weitere Sparmöglichkeit sind Rabatte für Familienselbstmorde. Zu Weihnachten erheben wir nur ein Drittel des normalen Preises. Und außerdem erhält unser Haus zahlreiche Spenden, durch die wir selbst völlig Mittellosen einen schlichten Freitod verschaffen können. Hinzu kommen noch öffentliche Gelder für die Beseitigung von Obdachlosen, Asozialen und Trinkern.

Aber das Geld spielt für die Selbstmordkandidaten meist nur eine untergeordnete Rolle. Wir haben im Gegenteil viele Kunden, die unserem Hause aus Dankbarkeit ihr Vermögen vermachen. Auch aus Kreisen der Industrie fließen uns reichlich Gelder zur Förderung unserer edlen Aufgabe zu. Unsere Häuser sind ein beliebtes Anlageobjekt für Kapital. Sie werfen nicht nur einen enormen Gewinn ab, sie sind auch absolut krisensicher. Ja, gerade in schlechten Jahren steigt die Zahl der Selbstmordwilligen stark an. Doch es geht uns natürlich nicht in erster Linie um die Einnahmen. Dass wir nicht selbstsüchtig denken, ersehen Sie schon aus der Tatsache, dass wir auch bereitwillig telefonisch praktische Ratschläge erteilen. Unser Motto lautet: ‚Aus Liebe zu den Selbstmördern – wählt einen schöneren Tod!‘

 

Doch unsere Bewegung braucht viel Geld, damit wir in allen Teilen der Welt solche Häuser einrichten können. Zwar haben wir schon erhebliche Pionierarbeit geleistet, doch gerade die Entwicklungsländer haben noch einen großen Nachholbedarf. Veraltete Stammestraditionen und das Gefüge der Großfamilie lassen viele Menschen auf einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Freitod verharren. Es bedarf einer konsequenten, zielgerichteten Arbeit, um in jenen Ländern die Zahl der Selbstmorde entscheidend zu steigern. In unseren Breiten scheint dieses Problem halbwegs gelöst, denn die Freitodrate ist in den letzten Jahren konstant im Steigen begriffen, was wir uns nicht zuletzt als unser Verdienst anrechnen. Diese Häuser hier sind erst ein bescheidener Anfang. In allen Ländern der Welt werden wir unsere Bewegung entfalten, bis in die letzte Urwaldhütte unsere Aufklärungsarbeit forcieren.“

 

„Sie würden also das freiwillige Ausscheiden aus dem Leben in jedem Fall als etwas Positives ansehen?“

„Zweifellos. Der Freitod ist unveräußerliches Grundrecht des Menschen. Er ist Ausdruck der Demokratie und der absoluten Freiheit. Zugleich ist er ein Zeugnis der Reife des Einzelnen, seiner Selbsteinsicht in die Notwendigkeit. Der Mensch entscheidet hier bewusst und ganz allein über sein Leben, überlässt seinen Tod nicht mehr dem blinden Zufall. Es ist praktisch ein Prozess der Selbstbefreiung aus den Fesseln des Ichs. Ich weiß nicht, wie Sie über den Selbstmord denken.“

Er schaute mich prüfend aus seinen graublauen Augen an. „Haben Sie noch nie in sich den Wunsch verspürt, alles hinzuwerfen und Schluss zu machen mit all der sinnlosen Schinderei?“

 

„Wie geht es dann weiter, wenn sich die Leute im Gespräch mit Ihnen für eine bestimmte Todesart entschieden haben?“, fragte ich rasch, um das Gespräch von diesem heiklen Punkt wegzuführen. Ich war schon ein wenig besorgt, dass der Direktor in seinem Eifer seine Überredungskünste an mir ausprobieren würde.

Zum Glück griff er gleich begierig die neue Frage auf. Sein Redefluss war wirklich kaum einzudämmen.

„Sehen Sie“, rief er, „hier zeigen sich sofort wieder alle Vorteile unseres Institutes. Der Kandidat braucht nicht unnötige Wege in Kauf zu nehmen zum Ordnen seiner persönlichen Angelegenheiten. Wir haben alle Fachleute gleich im Haus. Zunächst besprechen wir mit den Kunden alle Einzelheiten der Beerdigung, der Trauerfeier, der Gestaltung der Grabstätte etc. Viele legen einen großen Wert auf solche Details. Selbstverständlich ist unser Service erstklassig. Ja, ich glaube fast, viele nehmen sich nur deshalb bei uns das Leben, weil sie normalerweise nie in den Genuss solch einer schönen, ergreifenden Feier kommen würden. Selbstverständlich haben wir auch Spezialisten für alle notwendigen praktischen Dinge. Ein Notar hilft beim Abfassen eines Testaments, Priester jeder Konfession stehen für die Beichte und die letzte Ölung zur Verfügung. Viele Kandidaten haben noch spezielle Wünsche wie Abschiedsbriefe. Beliebt ist es, einen letzten Gruß für die Angehörigen auf Tonband zu sprechen. Natürlich muss auch die finanzielle Seite geklärt werden. Außerdem muss jeder eidesstattlich versichern, keine Schulden zu hinterlassen, denn wir müssen verhindern, dass sich die Leute heimlich aus der Welt stehlen, ohne mit ihrem Gewissen und ihren Finanzen ins Reine gekommen zu sein.“

 

„Geben es die Schuldner denn so ohne Weiteres zu?“

„Ja, die Menschen sind ehrlicher, als Sie glauben. Gerade ein Selbstmörder hat einen übergroßen Hang zur Ehrlichkeit. Der Tod ist die letzte große Wahrheit. Keiner möchte gern mit einer Lüge aus dem Leben scheiden.“

„Und was tun Sie, wenn Schulden vorhanden sind?“

„Wir reden dem Betreffenden gut zu, erst die Schulden abzuarbeiten und dann später zu uns wiederzukommen. Wir machen ihm klar, wie verwerflich eine Flucht vor der Verantwortung ist. Desgleichen hindern wir Verbrecher am Selbstmord, damit sie abgeurteilt und gehenkt werden können. Sie sehen, wir wollen nicht den Freitod um jeden Preis.“

„Wie geht es dann weiter?“

„Sind alle Probleme bereinigt, unterzeichnet der Betreffende mit uns den Vertrag über seinen Tod. Es ist eine sehr feierliche Zeremonie, denn der Kandidat trifft ja die wichtigste Entscheidung seines Lebens.“

 

„Töten Sie nur Leute, die den Vertrag unterschrieben haben?“

„Nein, eine Ausnahme sind entmündigte Greise und Kinder. Hier stellt der Betreuer oder Erziehungsberechtigte den Antrag und bestimmt die Todesart. Erst vorige Woche haben wir ein verkrüppeltes Mädchen totgeschlagen. Kinder können sich aber auch selbst ohne Einwilligung der Eltern zum Freitod entscheiden. Wir haben zum Beispiel überraschend viele Schüler, die eine übermächtige Angst vor der Schule haben, vor den Lehrern, vor ihren Eltern wegen schlechter Zensuren. Es ist überhaupt interessant, dass die meisten Selbstmörder entweder sehr jung sind oder alte Leute. Das mittlere Alter scheint in gewisser Weise geschützt durch Abstumpfung.“

„Interessant. Was geschieht nach dem Unterzeichnen des Vertrages?“

„Dann geht es in feierlichem Zug durch den Tunnel. Dort wird mit goldenen Lettern der Name des Kandidaten angebracht, der dort für ewig nun von seiner beispielhaften Entschlossenheit künden wird. Wer einmal diesen Tunnel durchschritten hat, kehrt nicht mehr zu den Lebenden zurück.“

 

„Hm, was geschieht denn nun, wenn es sich jemand nach all dem doch noch anders überlegt? Kommt das nicht auch manchmal vor?“

„Eigentlich nicht. Denn unsere psychologische Behandlung ist so bis ins letzte Detail durchdacht, dass unsere Kunden danach nur noch einen einzigen Wunsch verspüren: so rasch wie möglich zu sterben. Glauben Sie, unsere Leute verstehen ihr Handwerk.“

 

„Zugegeben. Aber wenn nun wider alle Erwartung doch ein Kandidat weglaufen will?“

„Kann er ja gar nicht. Die Ausgänge sind ja alle abgesperrt. Ja, sehen Sie, das ist eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Der Selbstmörder ist vom psychologischen Typ her der große Zauderer. Es ist daher nicht völlig ausgeschlossen, dass er unmotiviert plötzlich anderen Sinnes wird und auszubrechen versucht. Selbstverständlich wenden wir keine Gewalt an. Der Betreffende soll ja freiwillig aus dem Leben scheiden. Es geht nur darum, den kritischen Moment des letzten Aufflackerns des Lebenswillens zu überwinden. Erfahrungsgemäß ist der Anfall schon nach wenigen Minuten vorüber, sodass der Kandidat nach ein wenig gutem Zureden wieder zum Sterben bereit ist.“

 

„Ja, aber es kann doch in ganz seltenen Ausnahmefällen vorkommen, dass der Betreffende hartnäckig auf seinem Willen beharrt und wieder nach Hause möchte.“

Der Direktor verzog unwillig das Gesicht. Ganz offensichtlich war ihm dieser Punkt ausgesprochen unangenehm.

„Natürlich kann es vorkommen, dass jemand vertragsbrüchig wird und uns unverrichteter Dinge verlässt. Wir können ihn nicht mit Gewalt halten. Aber diese Fälle sind untypisch. Außerdem ist der Mann dann noch lange nicht verloren. Wir geben keinen auf. Öftere Hausbesuche mit geduldigen Aussprachen führen gewöhnlich früher oder später dazu, dass das verirrte Schaf wieder zu uns zurückfindet. Außerdem – wovon will er leben? Die meisten haben ja ihr letztes Geld bei uns angelegt. Und die Zeit arbeitet für uns. Denn der Betreffende löst ja nicht seine Probleme, indem er von uns wegläuft. Die Konflikte sind ja nach wie vor vorhanden. Schon sehr bald verdichten sie sich in solchem Maße, dass dem Geflohenen gar keine andere Chance mehr offenbleibt als der Weg zu uns zurück. Wohl kann er vor uns fliehen, nicht aber vor sich selbst. Wer einmal mit dem Selbstmordgedanken spielte, kommt nicht mehr davon los. Nur manchmal werden sie verunsichert durch eine völlig grundlose Angst vor dem Augenblick des Sterbens. An diesem Punkt setzt eben unsere Mission ein – den Kandidaten jene Angst zu nehmen, ihnen den Tod als etwas Verlockendes darzustellen.

Auch Sie sollten von unseren Möglichkeiten Gebrauch machen, wenn Sie es mit Ihrer Reportage ernst meinen. Sie können nur dann lebensnah berichten, wenn Sie persönlich alles erfahren, wenn Sie sich selbst umbringen lassen. Das muss man einfach selbst erleben. Nur so vom Erzählen bekommen Sie nicht annähernd den richtigen Eindruck. Wenn Sie wirklich Berufsehre haben, scheuen Sie nicht die kleine Mühe, um Ihre Leser umfassend zu unterrichten. Sie werden unsere Einrichtung erst dann richtig zu schätzen wissen. Wir treiben die Menschen nicht zum Selbstmord, wir humanisieren ihn bloß.“

 

„Wäre es nicht humaner, den Menschen zu helfen, indem man ihre Umwelt ändert?“

„Nein“, widersprach er entschieden, „erstens ist das gar nicht unsere Aufgabe. Für uns steht allein der Mensch, das Individuum im Mittelpunkt. Es ist unser Prinzip, nie in die Belange der Umwelt einzugreifen. Und außerdem – die Umwelt den Selbstmördern genehm zu machen, hieße ja, ihre Umgebung so krank zu machen wie die Lebensmüden.“

 

„Sie halten demnach Selbstmörder für Kranke?“

„Kranke? Sie sind verdammte Schwächlinge, von denen die Welt gesäubert werden muss. Zum Glück beseitigen sie sich zum großen Teil selbst. Wir helfen nur ein wenig nach.“

 

„Sie halten also Selbstmörder für schädlich?“

„Natürlich. Eine Leistungsgesellschaft wäre ohne eine Einrichtung wie die unsere nicht denkbar. Was sollte sonst mit den Schwachen geschehen, die nicht mit der Entwicklung Schritt halten können? Es ist eine natürliche Auslese, die zur Gesundung des Volkskörpers notwendig ist. Denn es ist ja im Grunde nur Sozialmüll, was sich bei uns einfindet. Es sind letzten Endes immer die Erfolglosen, die Versager, die sich das Leben nehmen wollen. Die Gesellschaft muss von diesen nicht Lebenstüchtigen befreit werden. Der Einzelne muss die Kraft haben, Schluss zu machen, wenn er dem Fortschritt im Wege steht.

Dieses Gerede, die Welt müsse menschenfreundlicher gestaltet werden, ist doch ausgesprochen fortschrittsfeindlich. Die Naturvölker sind da konsequenter. Die Eskimos werfen ihre Neugeborenen ins Eiswasser, nur die stärksten überleben diese Prozedur. Oder betrachten Sie die Einwohner der Südsee. Auf bestimmten Inseln macht man einmal im Jahr den Palmentest: Jeder Alte wird in die Krone einer Palme gesetzt, worauf die Familienmitglieder kräftig am Stamm schütteln. Nur die noch rüstigen Greise haben genug Kraft, sich festzuhalten. Diese Naturmenschen müssen so brutal sein, weil sie nicht über unsere Einrichtung verfügen.

Wir sind humaner. Alles ist freiwillig. Wir fördern die Selbsteinsicht des Menschen, ohne seine Freiheit einzuschränken.“

 

„Schränken Sie diese Freiheit nicht ein, indem Sie dem Lebensmüden das Leben nehmen?“

„Nein. Sie müssen das dialektisch sehen. Man kann die Freiheit nur realisieren im Prozess ihrer Aufhebung, ihrer Negation. Dies ist eben die freie Entscheidung, mit der Sie zwar Ihre Freiheit verwirklichen, aber eben einschränken auf eine Variante. Sie können sich zwar die Freiheit der Entscheidung bewahren, indem Sie sich nicht entscheiden. Aber wenn Sie sich nie entscheiden, haben Sie Ihre Freiheit nie benutzt. Sehen Sie, das ist wie mit dem Geld. Sie können seinen Wert auch erst realisieren, indem Sie ihn aufheben, negieren, nämlich wenn Sie das Geld ausgeben, um sich etwas zu kaufen. Sie können Ihr Geld natürlich auch im Sparstrumpf lassen bis zu Ihrem Tode. Dann haben Sie sich die Freiheit der Entscheidung gelassen, bis Sie sie nicht mehr nutzen konnten. Ähnlich liegt der Fall bei einem Menschen, der nie Selbstmord begeht. Er gleicht der geizigen alten Frau, die sich nie von ihrem Reichtum trennen kann, alles bis zuletzt im Sparstrumpf behält und dabei nicht die Tragik erkennt, dass gerade dadurch alles Sparen umsonst ist.

Erst indem der Selbstmörder sein Leben aufhebt durch die bewusste Entscheidung, realisiert er seine Persönlichkeit. Wir üben ja daher auch keinen Druck auf ihn aus. Der Kandidat entscheidet sich aus freiem Willen. Es ist sein persönlicher Entschluss, den wir respektieren. Und selbst wenn wir durch sanfte Überzeugung etwas nachhelfen – was nur in geringem Maße geschieht, denn einen verzweifelten Menschen zum Selbstmord zu überreden, ist nicht allzu schwer – so ist der Betreffende schließlich doch selbst schuld an seiner Situation. Er ist es doch, der mit dem Leben nicht fertig wird. Uns kann dabei kein Vorwurf treffen.

Ich will Ihnen ein Gleichnis geben. Ein Angler sitzt an einem schönen Sonnentag am Ufer eines Flusses und hat seine Angel ausgeworfen. Nun kommt ein Fisch dahergeschwommen und sieht den fetten Wurm. Obwohl der Fisch deutlich den Haken erkennen kann, erscheinen ihm die Vorteile des Zubeißens und Verschlingens des Wurmes größer als die damit verbundenen Nachteile. Er könnte genauso gut vorbeischwimmen, ohne dass ihm jemand einen Vorwurf machen würde. Will man jetzt etwa dem Angler eine Schuld zusprechen? Er hat den Fisch in keiner Weise gezwungen. Er hat ihm nur die Möglichkeit verschafft. Es ist des Fisches freier Entschluss, anzubeißen. Damit übernimmt er auch die Verantwortung für alles Folgende. Verstehen Sie, was ich mit dieser Geschichte ausdrücken will? Die Selbstmörder sollen nicht immer so tun, als wären sie Opfer. Schließlich gibt es Tausende anderer Menschen, die sich nicht das Leben nehmen.“

 

„Sie empfinden es also als Lauf der Gerechtigkeit, wenn die Selbstmörder beseitigt werden?“

„Selbstverständlich! Lebensmüde sind eine Gefahr für die Mitmenschen. Wie oft reißen sie durch Verzweiflungstaten Unschuldige mit in den Tod! Denken Sie nur an Gasexplosionen. Den unkontrollierten Selbstmorden muss ein für alle Mal Einhalt geboten werden. Sie sehen hier wieder einmal, wie ungeheuer wichtig unser Haus ist. Ich will hier nicht einmal die Gefährdung der Umwelt durch die Lebensmüden so in den Vordergrund rücken. Viel wichtiger als Rechtfertigung unserer Einrichtung sind ästhetische Gesichtspunkte. Es ist einfach abstoßend und beleidigend für den Geschmack anderer Menschen, wenn die Leichen in der Gegend herumliegen oder an den Bäumen hängen. Spontane Selbstmorde haben freilich auch Vorteile. Sie sind ein natürliches Ventil. Zum Glück gab es bisher zu allen Zeiten entschieden mehr Selbstmörder als Revolutionäre. Und wissen Sie, warum der Zustrom zu uns so groß ist? Wir geben diesen Entwurzelten eine Heimat, geben ihnen endlich das Gefühl zu wissen, wo sie hingehören. Auch Sie werden dieses Glücksempfinden verspüren, wenn Sie sich erst einmal entschlossen haben, unsere Dienste in Anspruch zu nehmen.“

 

„Warum nehmen Sie sich nicht selbst das Leben?“

„Ich habe auf dieser Welt noch eine wichtige Mission zu erfüllen. Die Menschen brauchen mich. Ich kann das alles hier nicht einfach im Stich lassen. Wissen Sie, ich habe zwar kein schlechtes Einkommen, aber in Wahrheit übe ich meinen Beruf aus Idealismus aus. Können Sie mir sagen, was es Schöneres gibt, als den Menschen zu helfen? Und die Leute sind dankbar für unsere Dienste. Dieser Dank ist es, der uns alle Opfer und Mühen unseres Berufes vergessen lässt.“

 

„Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Institut beliebt ist?“

Er lächelte. „Nun, ich würde unsere Beliebtheit mit der eines Zahnarztes vergleichen. Nur ungern begibt man sich hin, dann, wenn es sich schon gar nicht mehr vermeiden lässt. Und doch ist man dankbar, dass einem – wenn auch auf schmerzliche Weise – geholfen wird. Wir brauchen die Zahnärzte, und wir brauchen die Selbstmordinstitute. Ich hoffe, dass dies in Ihrer Reportage deutlich zum Ausdruck kommt. Ach, übrigens, könnten Sie uns schon eine kleine Anzahlung geben?“

„Anzahlung? Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich nicht die Absicht habe, mir das Leben zu nehmen.“

„Ach ja, richtig. Aber vielleicht ändern Sie noch Ihre Meinung. Sie sind doch ein intelligenter Mensch und müssten nach allem, was Sie hier erfahren haben, jede Lust zum Weiterleben verloren haben. Ziehen Sie die richtigen Schlussfolgerungen! Stehen Sie nicht länger abseits! Und bedenken Sie auch, wie die Wirkung Ihrer Reportage gesteigert würde, wenn Sie sich zum Freitod entscheiden. Das wäre die beste Werbung.“

„Und wie soll ich die Reportage schreiben, wenn ich tot bin?“

„Pfeifen Sie auf Ihre Reportage! Sie wissen doch genau, dass Sie gar kein Talent zum Schreiben haben. Für ewig würden Sie ein Stümper bleiben. Dann schon lieber gleich aufhängen.“

„Nein, danke! Lieber ein Trottel sein und leben, als ein Obertrottel und mich umbringen.“

„Sie verdienen gar nicht, dass Sie leben. Sie wissen Ihr Leben überhaupt nicht sinnvoll zu nutzen. Was klammern Sie sich noch verzweifelt an etwas, das Sie längst verspielt haben? Finden Sie ein einziges Mal den Mut zu einem männlichen Entschluss! Für Feiglinge ist kein Platz mehr. Wir werden nicht länger dulden, dass Sie unrechtmäßig behalten, was Ihnen gar nicht zusteht. Entweder Sie nehmen sich jetzt das Leben, oder wir werden dafür sorgen, dass Sie über die Klinge springen!“

 

Er zog ein langes Messer aus seiner Jacke hervor.

„Sind Sie verrückt?“, rief ich, doch schon ging er auf mich los.

„Ha, ich werde Dir jetzt zeigen, wie viel dein Leben wert ist!“, rief er, als er sich auf mich stürzte.

 

Wer weiß, wie die ganze Sache ausgegangen wäre, wenn in diesem Moment nicht einige Männer zur Tür hereingesprungen wären und den Direktor überwältigt hätten. Mit viel Mühe gelang es ihnen, den sich heftig Sträubenden hinauszuschaffen. Ich atmete erleichtert auf.

 

„Na, junger Mann, das hätte leicht schiefgehen können“, sprach mich ein weißhaariger, doch energisch wirkender Mann an, „er hat schon mehrere erstochen, die sich nicht freiwillig das Leben nehmen wollten. Er ist unser Sorgenkind. Immer wieder schleicht er sich hier in mein Büro und spielt den Direktor. Aber im Grunde genommen ist er harmlos. Er ist eben bloß von einer fixen Idee besessen.“

„Ich muss mich bei Ihnen und Ihren Leuten bedanken. Wer sind Sie?“

„Ich bin Dr. Bronstein, der Leiter des Institutes zur Behandlung von Selbstmördern. Und Sie sind sicher der Reporter, der uns avisiert war. Ja, vielleicht sehen wir uns ohne lange Vorrede ein wenig im Hause um.“

 

Er machte eine einladende Geste und ging mir voraus durch den langen Korridor. Er öffnete eine Tür. In dem winzigen Zimmer, das mit seinen vergitterten Fenstern eher einer Zelle glich, lag auf einem Bett ein Mann. Mit Händen und Füßen war er an die Bettpfosten gekettet. Durch seinen Mund ging ein Knebel. Der Mann wimmerte.

„Hier sehen Sie einen Fall von schwerer Depression“, erklärte der Direktor, „der Mann hat bereits mehrere Selbstmordversuche unternommen. Er wäre längst tot, hätten wir ihn nicht ans Bett gefesselt.“

„Ist es nicht unmenschlich, ihn so zu behandeln? Wird er nicht noch deprimierter, wenn er Tag und Nacht so gefesselt ist?“

Der Direktor hob bedauernd die Schultern. „Die Hauptaufgabe unseres Hauses besteht darin, Selbstmorde um jeden Preis zu verhindern! In schweren Fällen sind wir leider gezwungen, auch zu solchen drastischen Maßnahmen zu greifen. Dem Menschen helfen heißt hart sein gegen sich selbst und den Mitmenschen. Wir sind human bis zur Brutalität. Wenn Sie den Menschen wirklich helfen wollen, erreichen Sie das nicht mit frommen Sprüchen. Echte Hilfe heißt eben auch, den anderen wider bessere Einsicht zu seinem Besten zu zwingen. Oder wüssten Sie eine bessere Methode?“

„Lassen Sie den Mann doch laufen“, warf ich ein, „vielleicht bessert sich dann sein Zustand.“

 

Dr. Bronstein schüttelte energisch den Kopf. „Selbst wenn Sie in diesem Einzelfall recht hätten – es geht hier um eine prinzipielle Sache. Es kann sich nicht jeder einfach das Leben nehmen, wie es ihm passt. Wo kämen wir da hin? Das wäre Anarchie. Nötigenfalls muss man eben die Leute mit Gewalt daran hindern, Hand an sich zu legen, muss man sie mit Zwang zu normgerechtem Verhalten disziplinieren. Sowie wir ihnen die Freiheit gäben, würden sie sie missbrauchen und sich an den nächsten Baum hängen.“

„Aber hat nicht jeder ein Recht, frei über sein Leben zu entscheiden?“

„Nein, denn das Recht auf Entscheidungsfreiheit setzt ein ungestörtes Urteilsvermögen voraus. Dies ist bei einem potenziellen Selbstmörder eben nicht gewährleistet – im Gegenteil, sein Verhalten beweist vielmehr eine starke Zerrüttung seines gesunden Menschenverstandes. Deshalb müssen wir die Verantwortung für sein Leben übernehmen und die Entscheidungen für ihn zu seinem Besten fällen. Aber solch drastische Maßnahmen wie diese hier sind nur vorübergehend nötig, bis unsere Behandlung erste Erfolge gezeigt hat.“

„Und worin besteht Ihre Behandlung?“

„Zuerst geben wir Spritzen, die abstumpfen und beruhigen. Zugleich führen sie einen gewissen Gedächtnisschwund herbei. Der Gefährdete darf nicht ständig an seine Probleme denken. Aber die wichtigste Therapie ist die Arbeit.“

„?“

„Ja, wir lassen hier die Leute hart arbeiten. Abgesehen davon, dass dadurch die Unkosten mehr als gedeckt werden, ist es die beste Methode, den Leuten wirksam zu helfen. Da kommen sie erst gar nicht dazu, den ganzen Tag herumzugrübeln. Am besten, Sie sehen sich unsere Rehabilitationsabteilung einmal an.“

 

Er führte mich über den Hof zu einer niedrigen Halle. Das Kreischen von Sägen klang uns entgegen. In der Halle war ein Sägewerk untergebracht. Ich beobachtete, wie die Menschen hastig im Akkordtempo ihre schwere Arbeit absolvierten.

 

„Befinden sich hier nur Leute, die einen Selbstmordversuch unternommen haben?“