Natur. Einsamkeit. Glück. - Barbara Willen - E-Book

Natur. Einsamkeit. Glück. E-Book

Barbara Willen

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Beschreibung

Alleinsein ist Freiheit, da ist sich die ehemalige Marketingmanagerin und passionierte Abenteuersportlerin Barbara Willen sicher. Erst in der ungezähmten Natur – fernab von Menschenmengen, Stress und Hektik des Alltags – findet sie Ruhe und Kraft. Nur alleine kann sie wirklich glücklich, kann sie wirklich sie selbst sein. Auf einer Reise nach Finnland verliebt sie sich, löst sich von ihrem alten Leben in der Schweiz und zieht in die arktische Wildnis, nördlich des Polarkreises. Hier, in der kargen Abgeschiedenheit, und auf abenteuerlichen Fernreisen in die ganze Welt erkennt Barbara Willen schließlich, was sie wirklich braucht: Sie trennt sich und zieht in die nordschwedische Einsamkeit. Dort lebt sie seitdem – nur umgeben von ihren acht Huskies – in einem portablen Tiny House in der abgeschiedenen, rauen Schönheit Skandinaviens. Das nächste Geschäft ist 25 Kilometer entfernt, um sie herum keine Menschenseele. Der ungewöhnliche Lebensentwurf einer beeindruckenden Frau, der das gesellschaftlich immer relevantere Thema Einsamkeit aus einem neuen Blickwinkel betrachtet: Denn das bewusste, selbstgewählte Alleinsein in einer hektischen, lauten Welt ist eine Notwendigkeit – und Ausdruck der allergrößten Freiheit.    

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Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Barbara Willen

Natur. Einsamkeit. Glück.

Mein Leben in der Wildnis Lapplands

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Barbara Willen zieht es seit frühester Jugend in die Natur. Die Begegnungen mit Menschen strengen sie an, der Alltag als Marketingleiterin in der Schweiz ist laut und stressig. Kraft

schöpft sie dagegen schon immer aus der Stille und Weite der unberührten Natur. Die raue Schönheit Skandinaviens hat es ihr besonders angetan. Als sie sich auf einer Reise nach Finnland verliebt, gibt sie mit Mitte 20 kurzerhand ihr altes Leben auf und zieht zu ihm in die arktische Wildnis, nördlich des Polarkreises. Hier, in der kargen Abgeschiedenheit, und auf abenteuerlichen Fernreisen in die ganze Welt, entdeckt sie schließlich, was sie wirklich braucht: Alleinsein! Sie trennt sich und zieht in die nordschwedische Einsamkeit. Erst dort – in ihrem abgelegenen Tiny House – findet sie Kraft, Freiheit und Glück!

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Ausblick

»Nur im Alleinsein können wir uns selber finden. Alleinsein ist nicht Einsamkeit; sie ist das größte Abenteuer!«

 

Hermann Hesse

 

 

 

Es ist Mitternacht, und die Sonne strahlt immer noch einladend auf die menschenleere Landschaft herab. Die Oberfläche des Sees ist plan wie eine Glasscheibe. Nicht die kleinste Welle kräuselt sich. Tiefgrüne Bäume spiegeln sich darauf und die schneebedeckten Hügel.

Ich sitze auf meinem hölzernen Bootssteg, tauche genüsslich meine Füße abwechselnd in das klare Wasser und sehe gelassen zu, wie das Nass von meiner Haut abperlt. In der Ferne erkenne ich zwei Reiher, und vielleicht entdecke ich irgendwo am Ufer ein Rentier.

Ich atme die saubere Luft ein, schließe die Augen und lasse mich in das kühle Wasser gleiten. Dann schwimme ich weit hinaus. Ich habe keine Furcht, weil ja weit und breit nichts und niemand ist. Ich schwimme mutterseelenallein in dieser unberührten Natur. Das ganze Panorama hat etwas Unwirkliches, wirkt wie eine perfekt bearbeitete gigantische Fototapete. Aber das hier ist alles echt, und es gibt keine Umweltverschmutzung, man hört keine Autos, keinen Discolärm, kein Stimmengewirr. Nichts. Nur das Plopp, wenn ein Fisch auftaucht, oder in Ufernähe das Knarren der Äste, wenn ein Eichhörnchen übermütig herumhüpft. Ansonsten ist hier nichts, nur Ruhe, diese fantastische Stille, und es gibt mich, als Teil dieser spektakulären und unberührten Natur.

Ich lebe inmitten dieser Postkartenpracht, die übrigens nicht an der nächsten Ecke zu Ende ist oder am gegenüberliegenden Ufer. Nein, diese wunderschöne Natur breitet sich viele Hundert Kilometer um mich herum aus. Ich kann in jede Richtung wandern, und diese Idylle ist immer spektakulär, einmalig, und ich habe sie nahezu für mich allein. Denn hier, in Lappland, kann man tagelang wandern, ohne dass einem jemand begegnet. Vielleicht taucht ein Elch auf, der sich imposant aus dem Gebüsch reckt. Oder man entdeckt ein Rentier, das sich an den frischen Gräsern erfreut. Man kann dem Gesang der Singschwäne lauschen und balzende Seeadler beobachten. Ansonsten ist man für sich, kann die saubere, klare Luft einatmen, die herrlichen Farben sehen, Moose und Gräser fühlen, frische Tannentriebe riechen, leckere Moltebeeren naschen und mit allen Sinnen genießen, was diese herrliche Natur uns schenkt. Denn es stört nichts. Man ist bei sich, kann sich mit dem sättigen, was in einem steckt, das genießen, was man hat, an sich wachsen und von sich lernen, was man schon immer lernen wollte. In dieser Einsamkeit hier oben am Polarkreis gewinnt man Erkenntnisse, die einen sicher durch das Leben tragen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie schön es ist, hier zu leben. Ich habe meinen Platz gefunden, auch wenn es etwas länger gedauert hat …

Kapitel 1

Hörst du, was ich höre?« Meine kleine Schwester Käthi stupst mich an die Schulter. Widerwillig zurre ich die Kapuze meines Schlafsacks auf und schiebe vorsichtig meinen Kopf heraus.

»Was meinst du?«, murmele ich und sehe sie irritiert an.

Käthi verdreht die Augen.

»Na, hör doch mal!« Sie deutet mit dem Zeigefinger unter das Zeltdach. »Es regnet, und das nicht zu knapp!«

In dem Moment verstehe ich, was sie meint: Der Regen tröpfelt nicht, er prasselt auf unser kleines Zweipersonenzelt. Wir haben in den Berner Alpen übernachtet, auf knapp 3000 Metern Höhe, mit Blick auf den Wildstrubel. Die Temperaturen sind mit zwölf Grad mehr als okay, aber Regen ist das, was ich jetzt am wenigsten mag.

»Nicht schon wieder!«, maule ich vor mich hin. »Es hat doch schon gestern stundenlang gegossen, und wir waren pitschnass, als wir das Zelt aufgebaut haben. Ich habe keine Lust, noch mal so aufgeweicht zu werden.« Allein der Gedanke an die klammen Socken heute Nacht reicht mir schon. Laut Wettervorhersage sollte doch jetzt eigentlich die Sonne scheinen.

Käthi kuschelt sich noch tiefer in ihren Schlafsack, grinst mich aber schelmisch an. »Meiner großen Schwester macht doch Regen angeblich nichts aus, zumindest sagt sie das immer.«

»Papperlapapp. Heute hat die große Schwester jedenfalls keine Lust darauf, nass zu werden. Wie spät ist es denn?«

»Halb sieben. Ich wette, dass Vati gleich zum Frühstück ruft. Das bisschen Regen bringt ihn doch nicht aus der Planung.«

»Bisschen ist gut«, antworte ich und lasse mich wie Käthi ebenfalls wieder in die warme Hülle meines Schlafsackes zurückfallen. »Ich möchte gar nicht aufstehen.«

»Das sagst du aber Vati. Ich glaube nicht, dass wir wegen des kleinen Schauers unsere Tour abbrechen.«

»Kleiner Schauer?«

»Na gut, du hast recht, es regnet seit Stunden. Komisch, die Wettervorhersage hat für heute doch nur Sonnenschein und ein paar Quellwolken vorausgesagt. Von Regen war da weit und breit nichts zu sehen.«

»Wie sagt Vati immer so schön: ›Die Natur lässt sich nicht voraussagen.‹ Am besten wir kuscheln uns noch mal ein, bevor wir in einer halben Stunde heraus aus dem Sack müssen. Ich freue mich jedenfalls auf das Frühstück. Vati zaubert uns bestimmt etwas Leckeres.«

»Im Regen?«

»Er findet doch immer ein trockenes Eckchen, damit es uns an nichts fehlt. Weißt du noch, als wir auf einer der letzten Touren in einer Höhle gegessen haben? Das war doch aufregend.«

»Ja stimmt! Und einmal stand nur das Kochzeug in der Felsspalte und wir mit unseren dicken Regenjacken davor. Das war zwar unbequem, aber die Suppe, die Mutti in der Nische gezaubert hat, hat trotzdem klasse geschmeckt.«

»Genau, dann zeigen wir nachher mal wieder, dass wir ›nicht aus Zucker sind‹, wie Vati immer sagt, und bis dahin lass uns noch ein bisschen träumen.«

Es ist Sonntag, und seit Freitag sind wir in den Bergen unterwegs. Wir, das ist unsere kleine Wanderfamilie, mein Vater Fritz, meine Mutter Meta und meine drei Jahre jüngere Schwester Katharina, die wir alle nur Käthi nennen. Solange ich denken kann, sind wir nahezu jedes Wochenende unterwegs. Ich erinnere mich sogar noch daran, dass mich mein Vater in der Kraxe über die steilsten Bergwege getragen hat, und natürlich hatten unsere ersten Schuhe gleich ein Wanderprofil.

Vati ist ausgebildeter Bergführer und hat uns von klein auf mit dem Gebirge, seinen Tücken und Gefahren und seiner grandiosen Schönheit vertraut gemacht. Was wir wandern und ersteigen, geht deutlich über das normale Maß hinaus. Mit drei Jahren habe ich schon drei Stunden und 700 Höhenmeter geschafft, da war Käthi noch bei Vati im Tragesitz. Mit sieben Jahren konnte ich bereits auf das Albristhorn und den Gsür klettern, und mit zwölf Jahren durfte ich stolz auf dem Wildhorn posieren.

Wenn ich zurückblicke, stammen die meisten meiner Erinnerungen aus den Bergen, und ganz ehrlich: Das hat mich geprägt. Schon seit ich zehn Jahre alt bin, helfe ich meinem Vater bei der Tourenplanung, mache auch viele eigene Vorschläge. Vati freut sich riesig darüber, und so spornen wir uns gegenseitig an, immer mehr zu wagen.

Während meine Mutter zu dieser Zeit auf Käthi Rücksicht nimmt und zurückhaltender sein muss, wagen wir uns zu zweit häufig ganz hoch hinaus, meistern auch heikle Situationen, und ich lerne viel darüber, welche Gefahren es in den Alpen gibt und wie man mit ihnen umgeht.

Gefährlich ist zum Beispiel ein plötzlicher Wetterumschwung. Wenn Nebel aufzieht und die klare Sicht fehlt, ist es brisant. Dann gelten Vatis Notfallregeln: Sofort weg von exponierten Stellen, runter vom Grat und idealerweise in einen schützenden Wald. Und ganz wichtig: Nicht in die Dunkelheit kommen!

Wenn man es nicht schafft, wieder einen sicheren Blick zu haben, muss man ein Lager aufschlagen. Vati hat uns gezeigt, wie man ein Biwak baut, um sogar bei Minusgraden unbeschadet durch die Nacht zu kommen. Oder wie man bei Plusgraden sicher unter einem Felsvorsprung übernachten kann. Mit ihm haben wir erlebt, wie unberechenbar Steinschläge sind, und gelernt, woran man ein sicheres Gelände erkennt.

Es ist keine Frage, diese Touren sind mein Leben. Morgens den Rucksack aufschnallen und losgehen, einfach nur in der Natur einen Fuß vor den anderen setzen, bis sich ein ganz bestimmter Rhythmus einstellt, man einfach nur läuft, läuft, läuft. Das mag ich. Ich liebe es, wenn mein Vater irgendwo abseits in den Bergen eine Gämse entdeckt und wir uns hinsetzen und das Tier beobachten. Ich mag es, wenn wir einen Enzian sehen und uns an seiner Farbe erfreuen. Es ist herrlich, wenn der Adler am Himmel kreist und im Winter ein Schneehase vorbeihoppelt. All das ist wunderbar und macht mich glücklich. Und wenn ich irgendwann in luftiger Höhe auf einem Felsvorsprung stehe, die frische reine Luft einatme und auf ein Tal hinabsehe, dann umarme ich die Welt voll innerer Zufriedenheit, Dankbarkeit, Glück. Und das obwohl schon der ganze Weg mein Glück war. Es ist ergreifend, wenn man die Postkartenmotive aus den Schweizer Alpen Woche für Woche selber sieht. Graues Steinmassiv mit schneebedeckten Spitzen vor einem tiefblauen Himmel, dazu sattgrüne Wiesen, in die hineingestreut Orchideen und Glockenblumen blühen. Man kann sich nicht daran sattsehen. Niemand kann das.

Obwohl es natürlich nicht immer nur eitel Sonnenschein und Wanderromantik gibt, sondern es in den Bergen auch recht beschwerlich werden kann. Es ist nicht lustig, im Winter bei tiefen Minusgraden und starkem Schneefall mit Tourenskiern durch den Tiefschnee steile Berge hochzusteigen, weil Vati noch schnell einen Umweg vorgeschlagen hat. Es ist auch nicht lustig, in einer der Alpenklubhütten in den Sicherheitsräumen zu campen, weil alles andere nicht geöffnet ist. Es ist furchtbar stickig darin, und ich bin jedes Mal sicher, diesen abgestandenen Geruch mein Leben lang nicht mehr zu vergessen. Und die morgendlichen Tütensuppen, die uns Mutti auf dem Gaskocher bereitet, sind auch nicht gerade das kulinarisch ausgefeilte Erlebnis, wenn man schon eine Woche unterwegs ist und immer dasselbe essen muss. Ich spreche jetzt gar nicht von den zahllosen Blasen an den Füßen und den schwarz geränderten Zehennägeln, die selbst die besten Bergschuhe nicht vermeiden können.

Genauso wenig vergnüglich ist es, wenn man, wie wir gestern, nach einer mehrstündigen Wanderung pitschnass in sein Zelt krabbelt und die Zehen und Finger so klamm sind, dass man sie nicht mehr spürt. Man liegt zusammengekauert im Schlafsack, alles ist feucht, und man weiß, dass einem die ganze Nacht nicht mehr richtig warm werden wird. Da macht sich auch Unzufriedenheit und manchmal auch purer Groll breit. »Denke an etwas Schönes«, rät uns mein Vater immer, aber das geht nicht. Mein Kopf macht in solchen Momenten, was er will. Ich denke alles Mögliche: Warum habe ich keine Ersatzsocken dabei? Was kann ich noch zweckentfremden, um die Füße zu wärmen? Wie um Himmels willen bekomme ich die Kälte aus den Knochen? Aber eines denke ich nie: Wäre ich bloß nicht hierhergekommen. Es ist wirklich wahr, aber ich habe noch nie bereut, überhaupt gewandert zu sein. Da kann ich leise vor mich hin fluchen, aber nie stelle ich das Glück, in den Bergen zu sein, infrage.

Zumal mein Vater auch recht rigoros ist. Als wir zur Vorbereitung auf die Konfirmation regelmäßig zum Gottesdienst mussten, hat sich Vati ganz locker darüber hinweggesetzt. »In den Bergen bist du Gott näher als in der Kirche«, hat er gemeint und »Los geht’s« gerufen. Wir haben dann alle unsere Rucksäcke gepackt und sind losgestiefelt. Der Gottesdienst fand ohne uns statt, und ich und drei Jahre später auch Käthi haben jeweils mächtig Ärger bekommen. Bei mir blieb es aber nicht nur bei einer strengen Ansprache, ich musste meine Abwesenheit sogar mit sozialen Strafstunden in einem Gehörlosenheim abarbeiten.

Mein Vater hat sich darum jedoch nicht geschert. Die Natur ist für ihn das höchste Gut und der Aufenthalt darin das größte Glück, und niemand soll versuchen, ihn und seine Lieben davon abzuhalten. Für Vati ist die Natur gottgegeben und nur eine Leihgabe an uns Menschen. Deshalb geht er äußerst achtsam mit allem um, was er dort vorfindet. Er ist Vegetarier und liebt Tiere über alles. Er tötet keinen Käfer und keine Mücke und trägt beim Wandern jeden Wurm vom Weg an die Seite, damit ihm nichts passiert. Unsere Katze Tüppi hat bei uns das Paradies. Mutti teilt seine Ansichten, ist aber nicht in allen Dingen so konsequent wie er, was man daran erkennt, dass sie schon mal ein Würstchen isst.

Übrigens ist mein Vater auch Hobby-Ornithologe und strahlt über das ganze Gesicht, wenn er einen Vogel in Ruhe beobachten kann. Dazu kommt sein ungeheures Pflanzenwissen. Ich behaupte, es gibt kein Kraut, zu dem er uns nicht schon sein Wissen mitgeteilt hat. Er weiß, was wann wo wächst, wie man es nutzt und auch gegen welche Krankheiten und Zipperlein die Pflanze zum Einsatz kommen kann. Wenn wir uns mal den Fuß verstauchen oder an den Steinen eine Wunde ratschen, kommt Vati sofort mit seinem Kräuterapothekenwissen, lindert Schmerzen, heilt Wunden. Die Natur mit allem, was darin wächst und sich bewegt, ist sein Leben, und nichts kann ihm das streitig machen.

Aber auch jenseits der Berge spielt die Natur bei uns eine große Rolle. Wir wohnen in einem wunderschönen Haus in Uetendorf, einem idyllischen Ort in der Nähe von Thun, und haben einen herrlichen Garten, in dem leckerstes Obst und Gemüse wächst.

So oft es geht, verbringen wir hier unsere Zeit unter freiem Himmel. »Wir leben aus dem Garten«, wie Mutti immer sagt – heißt auch, wir arbeiten dort. Nach der Schule sind wir immer im Einsatz, denn mehr als die Hälfte unserer Nahrung ernten wir selber. Und ernten heißt nicht schneiden oder pflücken und gut ist. Nein, was wir aus dem Garten gewinnen, wird unter Muttis fachmännischer Leitung weiterverarbeitet. Wir entkernen Kirschen, zerteilen Kürbisse, putzen Beeren, trocknen Stangenbohnen. Wir frieren und kochen ein, und in unserem Keller züchten wir Endiviensalat.

Was dazu führt, dass wir uns schon als Kinder gut auskennen. Wenn wir etwas essen, wissen wir, wie man es pflanzt, pflegt und erntet. Wir sind richtige kleine Experten und lernen von unseren Eltern jeden Tag neue Kniffe und Tricks.

Ich glaube, meine Eltern wären am liebsten komplette Selbstversorger. »Wir lassen uns nicht von irgendwelchen Firmen vorschreiben, wie wir leben sollen«, sagt mein Vater immer, und bei uns gilt die Devise: »Man kauft nur, was man wirklich braucht.« Meine Mutter bessert Kleidung lieber aus, als sie wegzugeben. Mein Vater repariert alles so lange, bis wirklich nichts mehr zu retten ist. Das gilt für den Spaten im Garten genauso wie für den Rucksack oder das Bett. Ob etwas modern ist oder nicht, schick oder unansehnlich, spielt überhaupt keine Rolle. Hauptsache, es erfüllt noch seinen Zweck.

Aber die Liebe zum konsumarmen und unabhängigen Leben kollidiert mit seinem Job. Denn mein Vater verbringt viel Zeit in seinem Büro. Solange ich denken kann, arbeitet er bei der Post und hat sich so in den neuen IT-Bereich hineingefuchst, dass er jetzt dort als Experte beschäftigt ist und das ganze System einrichtet und auf dem Laufenden hält. Deshalb ist er zeitlich eingespannt, und alles rund um Haus und Garten erledigt unsere Mutter. Sie hat früher bei einem Touristikunternehmen gearbeitet, ist aber, seitdem wir Mädchen auf der Welt sind, Hausfrau. Doch auch ihre Zeit reicht einfach nicht aus, um komplett frei zu leben, und so müssen wir wohl oder übel auch Lebensmittel dazukaufen, die in der Eigenherstellung zu viel Aufwand bedeuten würden. Aber meine Eltern machen keinen Hehl daraus, dass sie nur widerwillig in den Supermarkt gehen. Wir sind entsprechend wenig in Geschäften unterwegs. Unser Leben spielt sich im Garten oder in den Bergen ab, aber auf jeden Fall draußen, in der Natur.

Doch diese tiefe Naturverbundenheit und das freie Leben hoch in den Bergen hat uns auch etwas speziell gemacht. Wir sind anders, und je älter ich werde, desto mehr fällt mir das auf. Meine Eltern sind eigenwillig, aber wir Mädchen auch. Das meiste, was die anderen Jugendlichen in meinem Alter »super« und »stark« finden, kenne ich nicht einmal und möchte es auch nicht kennenlernen. Make-up habe ich noch nie benutzt, und es ist mir insgesamt unverständlich, wieso andere die saubere Haut damit verkleistern. Mit Frisuren- und Modetrends kann ich nur wenig anfangen, und Stars als Vorbilder interessieren mich auch nicht. Gut, ich sehe schon, was schick und schön ist, habe aber keine Lust, Zeit dafür zu verschwenden. Ich bin lieber »das Naturkind« und sehe nicht nur anders aus als die anderen, sondern lebe auch anders, was besonders dadurch auffällt, dass ich gern und viel allein bin.

»Findest du schlecht Anschluss?«, hat mich einmal eine Bekannte meiner Eltern gefragt, und ich habe mit der Antwort gezögert, weil ich die Frage nicht verstanden habe. Ich musste überlegen, was sie damit meint. Dass ich keine Freundinnen habe, weil sie nicht mit mir zusammen sein wollen? Dass ich einsam im Sinne von ausgegrenzt und isoliert bin? Dass niemand etwas mit mir zu tun haben will?

Dreimal »nein«! Ich gehe gern zur Schule, habe tolle Freundinnen und verstehe mich mit allen prächtig. Ich brauche nur nicht immer Menschen um mich, sondern komme auch gut mit mir allein aus. Das intensive Miteinander in der Schule ist für mich schon mehr als ausreichend. Ich muss nicht nachmittags noch mit den Kindern im Garten toben oder mit Freundinnen in meinem Zimmer sitzen und Gespräche über Schule und Jungs führen. Ich genieße es, Zeit für mich zu haben und das zu tun, was mir gerade in den Sinn kommt.

Im Sommer bemale ich zum Beispiel auf der Straße Pflastersteine und freue mich daran, wenn der Regen die Farben wegspült. Im Winter baue ich mir mit Schnee die schönsten Figuren und genieße es sehr, sie hübsch mit Ästen und Tannenzapfen zu dekorieren. Ich spiele aber auch stundenlang in meinem Zimmer. Dort habe ich ein kleines Zelt, das ich verschließen kann. Damit habe ich mein Reich und zeige auch äußerlich, dass ich für mich sein will und keine Störung möchte. Ich setze mich gern hinein, ziehe den Reißverschluss zu und lese – am liebsten Bücher über Natur, Pflanzen und Tiere, aber auch über Wetterphänomene oder geologische Besonderheiten. Mich interessiert, wie die Welt aussieht, in der wir leben, und ich träume davon, sie mir einmal ansehen zu können. Meine Familie respektiert meine Art, und mein Umfeld auch. Ich glaube sogar, dass man mich dafür besonders schätzt. Denn bei meinen Mitschülern bin ich so beliebt, dass sie mich sogar zur Klassensprecherin wählen, ein Riesenkompliment.

»Du bist stark und weißt, was du willst«, hat mir unsere Lehrerin daraufhin gesagt. »Du springst nicht auf jeden Trend auf, sondern ruhst in dir. Das macht dich zum Fels in der Brandung des Lebens.«

Ich weiß nicht, ob das so ist. Aber ich bin mächtig stolz, dass ich so eingeschätzt und offenbar dafür auch gemocht werde.

Ich glaube, man kommt auch deshalb mit mir gut zurecht, weil ich mich aus vielen für mich unwichtigen Diskussionen heraushalte und mich stattdessen auf das konzentriere, was mir wichtig ist. Nur wenn jemand meine Meinung hören möchte, sage ich sie ihm. Ansonsten äußere ich mich nicht. Dadurch lenke ich meine Energien auf das, was für mich zählt: Schule, Bücher und die geliebten Bergtouren.

Ich kenne es, an Grenzen zu kommen, und ich liebe das Gefühl, sie zu überschreiten und sich und den Berg zu bezwingen. Dieser Sieg, dort hoch oben zu stehen und die Herausforderung angenommen und bewältigt zu haben, löst wunderbare Gefühle aus. Es ist toll, sich etwas beweisen zu können.

Aber ich möchte immer mehr, für meinen Vater häufig zu viel. »Du bist eine nicht zu bremsende Abenteurerin«, sagt er gern, mit nicht immer lockerem Unterton. Wenn er mich bremsen will, soll ich mich fügen. Aber ich bin kein kleines Kind mehr, das sich schnell stoppen lässt. Ich beginne zu argumentieren, zu diskutieren, mich zu messen, was meinem Vater schnell zu viel wird. Vermutlich hat er manchmal einfach Angst um mich.

Ich möchte eben immer mehr erfahren und am liebsten noch schneller, als es mir Vati vermitteln kann. Deshalb gehe ich in Sportlager, besuche Kletterkurse, mache Bergsteigerlehrgänge. Ich will mich trainieren und dabei immer neue Grenzen überschreiten. Denn wenn man oben auf dem Gipfel steht, hat man das Gefühl, dass man alles schaffen kann. Man fühlt sich stark und sicher und denkt: Nichts ist für mich unmöglich.

Aber es geht nicht nur um die Momente, das große Ganze heißt Glück und Zufriedenheit, und genau das haben meine Eltern für uns im Sinn, wofür ich ihnen schon mit 15 Jahren dankbar bin.

»Hey Mädels, was ist los, ihr beiden, aufwachen!« Vati klopft sanft auf die Zeltspitze. »Alles gut?«

»Ja, klar«, antworte ich schnell und ziehe sofort den Reißverschluss auf.

»In fünf Minuten sind wir da.«

Und wir beide sind Glückskinder. Denn kaum haben wir uns aus unseren Schlafsäcken geschält und das Zelt aufgezurrt, treffen uns schon die ersten vorsichtigen Sonnenstrahlen. Der Boden ist zwar noch nass, aber wenn von oben kein Wasser kommt, ist zumindest das schöne Frühstück gerettet, und wir können unkompliziert schlemmen.

Und dann sitzen Mutti, Vati, Käthi und ich um eine kleine Feuerstelle herum, trinken aus unseren Bechern einen warmen Beerentee, knabbern an selbst gebackenem Brot und genießen Vatis wohlschmeckenden Porridge, den er auf unserem winzigen Gaskocher gezaubert hat. Es ist übrigens seine Bergspezialität, und sie schmeckt besonders pfiffig, wenn er noch frisch gepflückte Beeren dazugibt.

Und während wir in der herrlich unberührten Natur in unseren Tag starten, lassen wir uns Zeit und reden. Bei uns Mädels geht es in erster Linie um die Schule. Um gute Noten, nervige Lehrer und natürlich auch den einen oder anderen Jungen. Wir haben ein liebevolles, offenes Verhältnis zu unseren Eltern. Ich glaube, es gibt keine Geheimnisse, sie wissen alles und können damit umgehen. Obwohl wir bei Weitem nicht machen können, was wir wollen. Mutti und Vati sind liebevoll und zugewandt, aber sie stellen auch Forderungen und möchten, dass der Alltag funktioniert. Sie legen Wert auf Disziplin. »Was gesagt ist, wird gemacht«, »Was erledigt werden muss, duldet keinen Aufschub« oder »Der frühe Vogel fängt den Wurm« – alles Sprüche meiner Eltern, an denen wir uns orientieren und die uns den Rahmen geben, in Liebe und Geborgenheit aufzuwachsen.

Meine Mutter nimmt sich viel Zeit, die Schulaufgaben mit uns zu machen, und sie hat immer ein offenes Ohr für uns und sehr, sehr viel Verständnis. Wenn es Ärger gibt in der Schule, ist sie sofort da und richtet alles. Sie ist immer an unserer Seite, und ihre Liebe gibt uns die Kraft, ins Leben zu wachsen. Sie achtet darauf, dass es uns gut geht, und wenn wir bei einer Tour müde und ausgebrannt sind, scheint sie wie aus dem Nichts einen Schokoriegel herbeizuzaubern.

Vati hat auch immer ein offenes Ohr, ist aber mehr für das Organisatorische zuständig. Er regelt die Finanzen, gibt uns Tipps, unser Taschengeld zu verwalten, und erzählt uns, welche Stolpersteine auf dem Weg ins Leben auf uns warten.

Wir haben wunderbare Eltern.

***

Geschafft! Ich habe meinen Schulabschluss in der Tasche! Allerdings ist der Jubel nur kurz, denn ich bin mir, wie wohl die meisten in meinem Alter, nicht sicher, was ich damit machen soll. Es würde mich reizen, als Bergführerin zu arbeiten, aber ich bin 17 Jahre alt, und meine Eltern raten mir zu etwas »Sicherem«. Also bleibe ich bei einem gängigeren Berufsbild und überlege, Kauffrau zu werden.

»Gute Wahl! Es schadet nie, wenn man mit Zahlen umgehen kann«, bestätigt mich mein Vater, als ich ihm von meiner Idee erzähle. Meine Mutter spricht mir ebenfalls zu. Sie hält eine kaufmännische Ausbildung für eine gute Grundlage, um ein erfolgreiches Leben darauf aufzubauen.

Ich habe Glück, werde bei Coop, einem bekannten Großhandelsunternehmen, genommen und fühle mich vom ersten Moment an wohl in der Firma.

Aber insgesamt ändert sich wenig. Ich gehe in der Woche morgens statt in die Schule in die Firma, an den Wochenenden nach wie vor weiter in die Berge. Im Winter fahre ich Ski, im Sommer wandere und klettere ich. Ich wohne auch weiterhin in meinem Kinderzimmer, lege das Geld, das ich verdiene, auf die hohe Kante und kaufe mir höchstens Outdoorsachen und Trekkingschuhe.

Das einzig Neue in meinem Leben wird irgendwann Marcel. Er ist ein gleichaltriger Kollege, arbeitet auch als Kaufmann bei Coop und wandert genau wie ich für sein Leben gern. Zudem ist er groß, muskulös und sieht mit seinen halblangen dunkelblonden Haaren immer ein bisschen wie ein Abenteurer aus. Es passt also alles.

Statt mit der Familie streife ich jetzt mit Marcel durch die Natur. Nicht unbedingt zur Begeisterung meiner Eltern, denn leider gefällt er ihnen nicht annähernd so gut wie mir.

Und noch etwas ist neu: Ich habe plötzlich Lust, über den Tellerrand zu schauen und die Welt, von der ich schon so viel gelesen habe, hautnah zu erleben. Mit den Eltern war ich schon mehrmals in Skandinavien, aber auch in Italien und auf Korsika, natürlich immer zum Wandern mit Übernachtungen auf Campingplätzen oder in der Natur. Aber das war alles Europa. Die Welt ist größer.

Meine Freunde surfen an Stränden in Asien, trampen auf amerikanischen Highways oder cruisen durch Australien.

Sie machen mich mutig, und mit Marcel habe ich den passenden Mitstreiter. Ausgerechnet auf dem Wildhorn wird die Idee geboren, für ein Jahr zusammen nach Australien zu gehen. Eine Zeit lang lege ich dafür meinen Verdienst auf die hohe Kante, dann lasse ich mich beurlauben.

»Ein Jahr ist mutig, andere fahren für vier Wochen«, sagt Käthi, und ich kann nicht mal erklären, warum wir gleich ein Jahr verschwinden wollen. Ich weiß aber, warum wir uns für Australien entschieden haben: Wir wollen zwar ganz neue Eindrücke, aber sie sollen in der Natur sein. Wir wollen Weite, Einsamkeit und Abenteuer.

In Australien angekommen, fahren wir mit einem Leihwagen quer über den Kontinent, schlafen meistens im Zelt unter freiem Himmel und wandern Rundtouren. Ich bin aber wieder besonders ehrgeizig, will mir beweisen, dass ich nicht nur erfolgreich die Alpen bezwinge, sondern auch ausgiebige Wanderungen durch die zentralaustralische Wüste meistere. Ich ergötze mich an der Schönheit der tropischen Fische und Korallen in Cairns am Outer Great Barrier Reef und mache gleich eine Taucherlizenz. In der Nähe von Coober Pedy steige ich in eine Opalmine, um das Unter-Tage-Feeling zu erleben. Ich will wie immer nichts auslassen, und wenn eine Herausforderung gemeistert ist, denke ich bereits an die nächste.

Marcel und ich verstehen uns prima. Für uns beide ist es die erste Fernreise. Wir sind allein auf einem fremden Kontinent. Das schweißt zusammen. Dazu verbinden uns die tollen Erlebnisse, die Herausforderungen, das »Rund-um-die-Uhr«-Zusammensein.

Aber zurück in der gewohnten Umgebung hält die Liebe dem Alltag nicht stand. Schon wenige Monate nach unserer Rückkehr gehen wir getrennte Wege. Sehr zur Freude meiner Familie, die sich alle drei nie mit Marcel anfreunden konnten.

Der internationale Wind hat mir gutgetan. Ich spreche jetzt nicht nur gutes Englisch, sondern bin auch offener und aufgeschlossener geworden, fürchte allerdings auf der anderen Seite die Enge. Die riesige Entfernung zwischen den Kontinenten zu erleben hat mir einen Eindruck von der Größe der Erde gegeben und auch davon, dass man es woanders auch gut aushalten kann. Distanz schafft Klarheit, bei mir trifft das zu. Jenseits der Schweizer Grenzen ist es auch schön, und auf der anderen Seite der Erde gibt es viele verschiedene Blickwinkel auf jedes Thema. Das ist neu, das ist spannend, das macht mich frei und neugierig und mutig, mich noch weiter umzusehen. Aber wohin es als Nächstes gehen soll, das weiß ich erst mal nicht. Ich weiß aber, wohin es nicht mehr gehen soll: zu Coop! Das ist vorbei. Zurück ist Rückschritt. Ich will nach vorn.

Als ich in der Zeitung von einem Rezeptionsjob in einem großen Hotel in Thun lese, bin ich begeistert. Ich bewerbe mich sofort, habe Glück und bekomme die Stelle. Ich freue mich auf das internationale Flair, weiß aber auch, dass die Arbeit an der Rezeption allein mich nicht ausfüllen wird. Bei Coop habe ich bereits mit dem Schwerpunkt Marketing gearbeitet, und darauf will ich aufbauen. Die Lösung verspricht eine berufsbegleitende Fachschule, und dort lasse ich mich abends zur Werbefachfrau ausbilden. Was sich so schön anhört, ist allerdings Stress pur. Denn neben der ohnehin schon vielen Arbeitszeit im Hotel drücke ich jetzt noch Abend für Abend die Schulbank. Als ich wenig später einen Job in einer Werbeagentur ergattern kann, greife ich zu und kündige im Hotel. Mit Schule und Job bleibt jetzt wenigstens etwas geregelte Freizeit, und die verbringe ich, wo sonst, in den Bergen. Ich wandere stundenlang, genieße nach den Tagen zwischen PC und Schulbuch, Meetings und Pitches eine grandiose Natur, bei jedem Wetter. Diese Stunden in den Alpen sind meine absolute Kraftquelle.

Kapitel 2

Ein Ausflug im Winter verändert mein Leben. Es ist Anfang Januar und ziemlich kalt, als ich mich nach der sechsten Abfahrt auf einer Alm in meinem Lieblingsskigebiet rund um Adelboden mit einem warmen Tee und einer duftenden Waffel von meinen Pistenabenteuern etwas erholen will. Die Sonne scheint vom nahezu wolkenlosen Himmel. Die Temperaturen sind für die Jahreszeit ungewöhnlich mild. Entsprechend groß ist der Trubel auf der Terrasse. Ich bin etwas ausgepowert und kann dringend eine Stärkung gebrauchen, und so setze ich mich spontan in einer windgeschützten Ecke auf den Boden und genieße die wohltuende Pause.

»Na, das ist aber ziemlich unkompliziert!«, schreckt mich eine dunkle Stimme auf. Ich sehe hoch und blicke direkt in zwei strahlend blaue Augen, die mich freundlich anblinzeln.

»Was meinst du?«, frage ich irritiert.

»Na, du wartest nicht auf einen frei werdenden Platz, sondern hockst dich einfach hin. Das erlebt man hier oben nie!«

Ist das schon unkompliziert, denke ich und mustere mein Gegenüber neugierig.

Der Mann, der mich so heiter anlächelt, ist groß, kräftig und sehr gutaussehend. Er hat seine Schneebrille flott in die dunklen Locken geschoben, den Kragen des Anoraks gelockert und seine Handschuhe lässig in die Hosentaschen gesteckt.

Er scheint meinen taxierenden Blick zu bemerken, geht aber gar nicht darauf ein. »Ich heiße übrigens Micha«, sagt er und streckt mir schwungvoll seine Hand entgegen.

»Ich bin Barbara«, entgegne ich und schlage ebenso schwungvoll ein. »Magst du dich zu mir setzen?«

Micha zögert nicht, drückt mir seinen Kaffeebecher mit einem »Hier, halt mal kurz« in die freie Hand und rutscht an meine Seite.

»Du bist aber auch nicht gerade kompliziert«, flachse ich und gebe ihm augenzwinkernd sein Getränk zurück.

Und dann sitzen wir da, auf dem kleinen holzverkleideten Absatz mit spektakulärem Talblick und erzählen uns aus unserem Leben.

Michael, so heißt meine Zufallsbekanntschaft richtig, ist Schulleiter in einer Gemeinde in der Nähe von Thun. Er ist sechs Jahre älter als ich, sehr gesprächig, ausgesprochen amüsant und ungeheuer einfühlsam. Es fasziniert mich, dass er zu erspüren scheint, was ich sagen will, und mir Antworten auf Gedanken gibt, die noch gar nicht ausgesprochen sind, und so fliegen zwischen uns die Sätze wie Pingpongbälle hin und her. Vermutlich hätten wir noch Stunden dort gesessen. Aber es ist Winter, und als die Sonne hinter einer hartnäckig unbeweglichen Wolke verschwindet, wird uns beiden auch schnell richtig kalt.

»Ich muss los, sonst bin ich bald steif gefroren und komme auf meinen Skiern nicht mehr ins Tal!«, sage ich schließlich.

»Wie ich dich einschätze, wird das nicht passieren. Du beißt einfach die Zähne zusammen und ziehst durch, was du dir vorgenommen hast.«

Ich lächele und nicke. »Richtig! Ich bin hart im Nehmen. Und du?«

»Weniger, deshalb nehme ich auch die Gondel!«, kokettiert er, »und kann auch noch ein bisschen bleiben.«

Aber bevor ich losziehe und wirklich, wie prophezeit, das letzte Mal an diesem Tag ins Tal sause, tauschen wir unsere Telefonnummern aus. Wir sehen uns wieder, das ist uns beiden ganz klar.