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1933 erschien das abstoßende Machwerk »Juden sehen dich an« des Rassisten Johann von Leers. Ein Jahr später erscheint in Paris - aus gutem Grund anonym - das Buch »Nazi-Führer sehen dich an«, geschrieben von dem damals 38-jährigen jüdischen Exilanten Walter Mehring. Das Buch des großen Romanciers Mehring ist leider kein fiktionales Buch. Vielmehr enthält es 33 biographische Porträts (mit zeitgenössischen Fotos) von damaligen Größen des Nationalsozialismus - zugespitzt, satirisch, geschliffen. Profunde politische Analyse und sein großartiger Stil machen aus dem Band ein erstaunliches, geradezu seherisches Buch. Es sind Porträts von Personen, von denen man später (leider) noch viel hören sollte, unterteilt in »Die Götter« (von Goebbels und Göring bis Hess und Hitler), »Die Halbgötter« (von Prinz August Wilhelm bis Himmler) bis zu den »Drahtziehern« (von Hjalmar Schacht bis von Papen). Das absolut faszinierende Dokument aus der Zeit, als der Nationalsozialismus gerade die Macht an sich riss.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
WALTER MEHRING
Walter Mehring (* 29. April 1896 in Berlin; † 3. Oktober 1981 in Zürich) war ein jüdisch-deutscher Romancier und einer der bedeutendsten satirischen Autoren der Weimarer Republik. Seit den 20er-Jahren attackierte er in seinen Gedichten und mit satirischer Prosa den deutschen Militarismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus.
Die Originalausgabe ist 1934 bei Editions du Carrefour, Paris, erschienen.
© Stiftung für Kultur und Jugend, Zürich; Nachlass Walter MehringDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.
© dieser Ausgabe 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Redaktion: Birgit Knape, Anne-Marie Stöhr
Gestaltung und Satz: Arnold & Domnick, Leipzig
Umschlagabbildung: Covermotiv des Originals (Edition du Carrefour, 1934)
von Paul Urban
Umschlaggestaltung: Burkhard Finken, Stuttgart
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-4574-5
E-Book pdf 978-3-8062-4655-1
E-Book ePub 978-3-8062-4656-8
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Impressum
Vorwort
DIE GÖTTER
Adolf Hitler
Ernst Röhm
Hermann Göring
Dr. Paul Joseph Göbbels
DIE HALBGÖTTER
Rudolf Hess
Dr. Wilhelm Frick
Alfred Rosenberg
R. Walther Darré
Frank II
Prinz August Wilhelm
Dr. Robert Ley
Heinrich Himmler
DIE PROVINZGÖTTER
Franz Ritter von Epp
Julius Streicher
Hermann Esser
Edmund Heines
Graf Helldorf
Paul Hinkler
Scheppmann
Wilhelm Kube
Manfred von Killinger
Martin Mutschmann
Karl Kaufmann
Dietrich Klagges
Dipl.-Ing. Gottfried Feder
DIE HEROEN
Albert Leo Schlageter
Horst Wessel
BETROGENE BETRÜGER
Die beiden Hindenburgs
Franz von Papen
Alfred Hugenberg
DIE DRAHTZIEHER
Der »junge« Thyssen
Dr. Hjalmar Schacht
Generaldirektor Kurt Schmitt
Nachwort
Bildnachweis
Unter den Opfern, die der Münchener Hitlerputsch am 9. 11. 1923 gekostet hat, steht an zwölfter Stelle verzeichnet Theodor von der Pfordten, Landgerichtsrat. In der Tasche dieses Toten vor der Feldherrenhalle wurde ein Aktenstück gefunden. Es trug die Aufschrift »Verfassungsentwurf« und enthielt 31 Paragrafen. Die wichtigsten davon waren:
§ 1) Die Verfassung des Deutschen Reichs und die nach dem 9. November 1918 erlassenen Verfassungen der Länder sind aufgehoben.
§ 2) Die Staatsgewalt, die Gesetzgebung, Vollzug der Gesetze, die gesamte Verwaltung und die militärische Befehlsgewalt sind im Reich und in den Ländern auf Verweser übergegangen.
§ 3) Alle parlamentarischen Körperschaften sind aufgelöst. Wer an einer hiernach aufgelösten Körperschaft teilnimmt, wird mit dem Tode bestraft.
§ 4) Entlassene (Amtsinhaber) dürfen bei Todesstrafe Amtshandlungen nicht mehr vornehmen.
§ 6) Alle deutschen Männer und Frauen vom 16. bis 50. Lebensjahr sind zum öffentlichen Arbeitsdienst verpflichtet, jeder deutsche Mann vom 18. bis zum 45. Lebensjahr zum Hilfspolizeidienst […]
§ 11) Die Pressefreiheit ruht vorerst. Alle Zeitungsunternehmen und Druckereien können geschlossen, ihre Einrichtungen können für die Allgemeinheit beschlagnahmt werden. Jede der Staatsgewalt und ihrer Maßnahmen abträgliche Äußerung wird mit Strafe und Enteignung des Verlages geahndet.
§ 12) Alle Parteien und politischen Vereine […] sind aufgelöst, desgleichen alle Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Verbände. Ihre Vermögen sind beschlagnahmt.
§ 13) Aussperrungen und Arbeitseinstellungen werden mit dem Tode bestraft.
§ 14) Das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der Angehörigen des jüdischen Volkes kann beschlagnahmt werden.
§ 16) Die Landesverweser treffen schleunigst Maßnahmen zur Säuberung und Entlastung der Städte, Bäder, Fremdenorte, insbesondere zur Entfernung aller sicherheitsgefährlichen Personen und unnützen Esser. Diese sind nach Bedarf in Sammellager zu bringen und nach Möglichkeit zu gemeinnützigen Arbeiten heranzuziehen. Wer sich der Überführung entzieht […] wird mit dem Tode bestraft.
§ 18– 21) Allgemeine Bankensperre – Börsen bis auf weiteres geschlossen – Grundstücke dürfen nur mit Genehmigung der Bezirksverwaltungsbehörden veräußert werden – Alle Preissetzungen von Erzeuger- und Unternehmerverbänden sind aufgehoben. Luxusstätten und Luxusbetriebe sind zu schließen.
§ 27) Wer vom Reichsverweser oder Landesverweser in Reichs- oder Landesacht erklärt wird, genießt im deutschen Reich keinen Rechtsschutz. Wer einem in Acht Erklärten Hilfe leistet, wird mit dem Tode bestraft.
Man findet in diesem Verfassungsentwurf viele Dinge, die das Dritte Reich später verwirklicht hat:
Öffentlichen Arbeitsdienst – Beschlagnahme der Druckereien – Sammellager (inzwischen sind sie in Konzentrationslager umgetauft worden) – Aufhebung des Postgeheimnisses – Haussuchungen usw. Einiges allerdings, was der Landgerichtsrat v. d. Pfordten und mit ihm später Millionen für selbstverständliche Programmpunkte des Dritten Reichs gehalten haben, ist nicht erfüllt worden.
Die Banken waren keine Minute gesperrt – die Börsen nicht geschlossen, der Grundstücksverkauf geht im Dritten Reich ebenso gut oder so schlecht wie vorher – die Preissetzungen der Erzeuger- und Unternehmerverbände sind keineswegs aufgehoben – die Luxusstätten und Luxusbetriebe sind nicht geschlossen, nur dass darin jetzt die Uniformen der SS- und SA-Führer vorherrschen.
Dafür ist ein Punkt weit hinaus über das, was der Amtsgerichtsrat v. d. Pfordten vorgesehen hat, erfüllt. Man muss nicht von dem Reichs- oder Landesverweser in Acht und Bann getan werden, um keinen Rechtsschutz zu genießen. Auf Millionen Antifaschisten und Juden ist der Bannstrahl geworfen, allein weil sie Antifaschisten oder Juden sind.
Der Amtsgerichtsrat v. d. Pfordten hat viele Nachahmer gehabt, die Verfassungsentwürfe machten. Nicht jeder kann im Einzelnen behandelt werden. Aber eines dieser Dokumente darf nicht in Vergessenheit geraten. Es trägt den Namen »Boxheimer Dokument«. Es ist 1931 bekannt geworden. Die beiden Verfasser waren die nationalsozialistischen Landtagsabgeordneten Schäfer und Dr. Best.
Der eine von ihnen, Schäfer, hat im Jahre 1931, angeekelt von der Fäulnis des nationalsozialistischen Apparates, das Dokument an die Öffentlichkeit gebracht. Er wurde am 17. Juli 1933 im Frankfurter Stadtwald ermordet aufgefunden. Er gehört zu den 2000 Opfern, die im Dritten Reich ohne »Rechtsschutz« hingemeuchelt wurden. Der andere, Dr. Best, ist inzwischen zum Polizeikommandeur von Hessen avanciert.
Das Boxheimer Dokument enthüllt bereits – mit prophetischer Sicht – die gemeinsten Gräuel, die das Dritte Reich wahr gemacht hat; in der einleitenden Bemerkung heißt es:
»Für den Fall eines kommunistischen Putsches treten folgende Bestimmungen in Kraft:«
Und dann folgen unzählige Bestimmungen, die inzwischen im Dritten Reich Wirklichkeit geworden sind.
Schon 1931 und früher hat die »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« den angeblichen kommunistischen Putsch »vorgesehen«. Im Boxheimer Dokument ist die Taktik der Reichstagsbrandstiftung vorweggenommen.
Am 30. 1. 33 ist Hitler Reichskanzler geworden. Erst seit dem 28. 2. 33, dem Tage nach dem Reichstagsbrand, ist er wirklich an der Macht. Nahezu zehn Jahre, nachdem in der Tasche des toten Landgerichtsrates v. d. Pfordten der erste »Verfassungsentwurf« gefunden wurde. Diese zehn Jahre des Kampfes um die Macht sind ausgefüllt mit einer Kampagne von Versprechungen nach allen Seiten, die in der Politik beispiellos ist. Ein heiliger Nikolaus der Politik, trug der Nationalsozialismus vor der Machtergreifung in seinem Korbe für jeden etwas. Für den Handwerker und kleinen Geschäftsmann die Beseitigung des Warenhauses und die »Brechung der Zinsknechtschaft«. Für den Arbeiter Lohnerhöhung und den »Deutschen Sozialismus«. Für die Industrie die Zerstörung der Gewerkschaften und die Vernichtung der Arbeiterparteien. Für den Kleinbauern die Streichung der Steuerschulden. Und für den Großgrundbesitzer Riesensubventionen.
Die Politik nach der Machtergreifung ist einfach charakterisiert mit der Feststellung, dass die Versprechungen der Großindustrie und den Großagrariern gegenüber in reichlichem Maße verwirklicht werden, während die den Arbeitern, Angestellten, Handwerkern, den Kleingewerbetreibenden und Bauern gegebenen Versprechungen nicht erfüllt werden; dass diesen Schichten vielmehr neue Lasten teils aufgebürdet wurden, teils drohen.
Wer sind nun die Männer, die zwischen den gehaltenen und den gebrochenen Versprechungen hindurch das Schiff des Dritten Reichs lenken? Sind es die, deren Namen die Welt kennt: Hitler, Göring, Göbbels, Röhm, Frick? Oder stehen hinter ihnen andere, stärkere Mächte, dieselben, die hinter der Szene schon im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit das Geschehen in Deutschland bestimmt haben? Das Buch gibt auf diese Frage Antwort.
Den Autoren dieses Buches wurde eine Bedingung gestellt: ihre Fantasie zu zügeln. Als sie das Material verarbeiteten, das in diesem Buch enthalten ist, erkannten sie, wie richtig diese Bedingung war. Wie kläglich ist die stärkste Fantasie gegenüber den Tatsachen des Dritten Reichs!
Der Plan, dieses Buch herauszugeben, entstand, als die ersten Exemplare eines neudeutschen Kunstproduktes über die Grenze gelangte: der Schmähschrift »Juden sehen dich an«. Das vorliegende Buch sollte eine Antwort auf »Juden sehen dich an« werden. In der Arbeit ist es gewachsen. Es ist ein Brevier des Dritten Reichs geworden. In 33 Biografien. Das Buch berichtet nicht über die Gräuel in Deutschland, nicht vom Reichstagsbrand, das ist in den Braunbüchern bereits geschehen. Hier handelt es sich darum, zu zeigen: die Männer am Ruder und ihre Antreiber. Sie sind geschildert nach dokumentarischem Material. Es mag unglaubhaft scheinen, dass unter den Führern des Dritten Reichs so viele kriminelle Verbrecher, Psychopathen, Morphinisten zu finden sind. Wir belegen diese Erscheinung mit Dokumenten.
In diesem Buch ist nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt.
ADOLF HITLER
»Ich fasse es als Zeichen eines edlen Gerechtigkeitssinnes auf, dass der französische Ministerpräsident Daladier in seiner letzten Rede Worte des Geistes eines versöhnlichen Verstehens gefunden hat, für die ihm unzählige Millionen Deutsche ehrlich dankbar sind.«
Adolf Hitler, 14. Oktober 1933.
»Der unerbittliche Todfeind des deutschen Volkes ist und bleibt Frankreich.«
Adolf Hitler, Mein Kampf, Ausgabe 1933, Seite 699.
»Der Medizinmann als dämonische Figur kann selbstständiges Denken seiner Anhänger ebenso wenig brauchen wie ehrbewusstes Handeln. Er muss folgerichtig, um seine Stellung zu sichern, das eine wie das andere mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auszuschalten bemüht sein. Er muss alle allzu menschlichen Ängste und hysterischen Anlagen großzüchten; er muss mit Index, Feuer und Schwert alles Forschen unterbinden, das zu anderen Ergebnissen führen kann oder gar zur Befreiung von dem ganzen vom Medizinmann gelehrten Weltbild. Der Medizinmann muss einen Roger Bacon genauso in den Kerker werfen wie einen Galilei, er muss das Werk des Kopernikus in Acht und Bann erklären und alle Gedankensysteme zu vernichten trachten, die Pflicht und Männertreue als lebensgestaltende Mächte behaupten.«
Alfred Rosenberg, Mythos des 20. Jahrhunderts.
Von allem, was bisher über Adolf Hitler geschrieben wurde, lässt sich kaum eine genauere Charakteristik seiner Art und Wirksamkeit denken, als diese Formulierung des treuen Adlatus Rosenberg, die allerdings nicht auf den Führer des Dritten Reichs, sondern auf den katholischen Priester gemünzt ist. Einem Medizinmann hat sich wirklich eine kranke Wirtschaft anvertraut. Allzu menschliche Ängste und hysterische Anlagen hat er großgezüchtet, mit Index, Feuer und Schwert alles Denken unterbunden, das zu anderen Ergebnissen führen kann oder gar zur Befreiung von dem vom Medizinmann gelehrten Weltbild, nämlich dem Weltbild des Rassendogmas.
»Eine glückliche Bestimmung«, nennt Adolf Hitler es, dass ihm »das Schicksal zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies«. Und allerdings, dort lebt ein Menschenschlag, dessen Vorfahren sich nicht gerade nach den Gesetzen der Rassenauslese gepaart haben. So war noch der k. u. k. Zollinspektor Aloys Hitler, des Führers Vater, in erster Ehe mit einer Tschechin (geb. Malya) verheiratet gewesen, in zweiter Ehe mit einer Klara Pölzl (fälschlich in den Braunauer Kirchenmatrikeln als Adolfs Mutter eingetragen), in dritter mit Anna Schicklgruber, der wirklichen Mutter. Der Nationalitätenhass, der ein Symptom der wirtschaftlichen Kämpfe des alten Österreichs war, hat frühzeitig das Denken des jungen Adolf vergiftet. Wenn Hitler in seinen Jugenderinnerungen schreibt: »Das Erzhaus tschechisierte, wo immer nur möglich, und es war die Faust der Göttin ewigen Rechtes und unerbittlicher Vergeltung, die den tödlichsten Feind des österreichischen Deutschtums, Erzherzog Franz Ferdinand, gerade durch die Kugeln fallen ließ, die er selber mithalf zu gießen […]«, so meint er im Grunde Konflikte des Elternhauses: die erste tschechische Frau seines Vaters und seine eigene Mutter, die sein Vater nur geheiratet hatte, um als Beamter das uneheliche Kind zu legalisieren. Denn alle Konflikte seines Lebens – damals die Dumpfheit der kleinbürgerlichen Moral, später den Zusammenstoß mit seinen proletarischen Arbeitsgenossen – hat Hitler stets in Rassenhass umgedeutet. Wenn er sich in Wien verloren und unglücklich fühlt, so trägt die Schuld »die dämonische Erscheinung« zweier armer Kaftanjuden. Wenn Deutschland an den Folgen des unglücklichen Kriegs leidet, so ist schuld daran die »Vernegerung Frankreichs«. Der Medizinmann heilt mit Kurpfuschereien. Die Kirche hat von der ökonomischen Misere durch Verfolgung der Ketzer und Hexen abgelenkt, der Feudalismus durch Kriege, der Kapitalismus hier durch den Rassenwahn. Die Erkenntnisse der wirklichen Ursachen durch Afterwissenschaften zu vernebeln, das ist stets das Ziel aller Herrschenden gewesen. Und stets hat sich ein Besessener gefunden, ein Torquemada in Spanien, ein Gapon in Russland, ein Hitler in Deutschland, der vor der Entscheidung die Massen zurückriss und verwirrte.
Die Furcht vor der Entscheidung hat häufig solchen Ver-Führernaturen zum Aufstieg verholfen. Die Phrase ist eine Stärke Adolf Hitlers gewesen von den Anfängen bis zur Machtergreifung. Er war arm, als er nach Wien kam; ihm »drohte« das Proletarierlos; er aber wollte ein Kunstmaler werden. Sein Mangel an Begabung war groß; ebenso groß war sein Geldmangel. Er avancierte zum »Bildungsoffizier«, wie er selbst seine erste politische Betätigung genannt hat.
»Geschlagen verließ ich den Hansen’schen Prachtbau, zum ersten Mal uneins mit mir selber in meinem jungen Leben. Denn was ich über meine Fähigkeit gehört hatte, schien mir nun auf einmal wie ein greller Blitz einen Zwiespalt aufzudecken, unter dem ich schon längst gelitten hatte […]. In wenigen Tagen wusste ich nun auch selber, dass ich einst Baumeister werden würde.«
Das heißt: Die Wiener Akademie der Künste hatte den jungen Provinzler wegen Talentlosigkeit abgewiesen. Es gibt ein Dokument, das Hitlers Leben und Tätigkeit in den Jahren von 1909 bis 1913 schildert. Sein Freund war zu jener Zeit der Radierer Reinhold Hanisch, der in einem notariell bestätigten Bericht vom 13. November 1933 (Notar Carl Haberda, Wien II) den jungen Hitler als einen Menschen schilderte, der sich eitel als »akademischer Maler« ausgab und sein Geld mit Bilderfälschungen verdiente. Reinhold Hanisch berichtet: »Er [Hitler] erzählte mir, er hätte oft bessere Preise für Bilder erzielt, indem er dieselben in einer Bratröhre vergilbte und die alten Aquarelle dann mit falscher Signatur bekannter Künstler versah […]. Hitler hatte 1912 ein Aquarell fertig gestellt, übergab es mir mit der Bemerkung zum Verkauf, dass es wohl in einem besseren Geschäft der inneren Stadt abzusetzen sei […]. Da er dringend Geld brauchte, sagte er mir, ich solle es für das erstbeste Angebot verkaufen. In der Porzellangasse verkaufte ich beim Rahmenhändler Reiner das Bild für zwölf Kronen«. Hanisch überwirft sich mit Hitler wegen dieser Bilderfälschungen.
Der junge Hitler erscheint in der Schilderung seines einstigen Freundes als ein Mensch, der, sobald er etwas mehr Geld besitzt, die Arbeit sofort stehen lässt und mit zahlreichen jüdischen Freunden im Caféhaus herumsitzt. Bei seinen Bilderfälschungen dienen ihm die Ansichtspostkarten des Wiener Verlags der Brüder Cohn als Vorlagen. Verachtung gegenüber den Proletariern und unbegrenzte Hochachtung für alle »Gebildeten« sind dem jungen entwurzelten Kleinbürger Hitler eigen.
»Am Bau fand mein erstes Zusammentreffen mit Sozialdemokraten statt. Es war schon von Anfang an nicht sehr erfreulich. Meine Kleidung war noch etwas in Ordnung, meine Sprache gepflegt und mein Wesen zurückhaltend.« Noch ist die Kleidung etwas in Ordnung, man kann noch sonntags für etwas Besseres gehalten werden, aber die Sprache ist gar nicht gepflegt. Es ist das grauenvolle Kauderwelsch des Halbgebildeten – bis auf den heutigen Tag.
»Mit unruhiger Beklommenheit sah ich in solchen Tagen des Grübelns und Hineinbohrens die Masse der nicht mehr zu ihrem Volke zu Rechnenden anschwellen zu einem bedrohlichen Heere.« So spricht der zukünftige Massenführer. Ihn hat die hysterische Angst vor der Masse bis heute nicht verlassen. Hätte man nichts als sein unfreiwilliges Geständnis Mein[!] Kampf, es würde genügen, diesen Mann zu erkennen. »Dazu kommt noch bei vielen die widerliche Erinnerung an das kulturelle Elend dieser unteren Klassen.«
»Mit welch anderen Gefühlen starrte ich nun in die endlosen Viererreihen einer eines Tages stattfindenden Demonstration Wiener Arbeiter […]. In banger Gedrücktheit verließ ich endlich den Platz.« Das sagt der Diktator, der nach Machtantritt dem Arbeiter den ersten Mai raubt und pathetisch gegen »das Vorurteil, dass Handarbeit schänden könne,« protestiert. Der zu Otto Strasser verächtlich höhnt: »Sehen Sie, die große Masse der Arbeiter will nichts anderes als Brot und Spiele, die haben kein Verständnis für irgendwelche Ideale«. Der aber zur erzwungenen Volksabstimmung sich im schlichten Kittel als Arbeiter kostümiert. Gegner haben ihn als »Anstreicher« verächtlich gemacht. Es hätte sein Ehrentitel sein können. Er zog es vor, ein talentloser »Aquarellist« zu sein. Bildung, Kultur, das sind ihm nur Mittel, zum einzigen Zweck, nicht als Proletarier zu gelten. »In dieser Zeit bildete ich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich mir so schuf, nur weniges hinzulernen müssen; zu ändern brauchte ich nichts.« Gar nichts, noch immer spricht er das gleiche abgedroschene Deutsch. »Ich las damals unendlich viel und zwar gründlich.« »Auch hier las und lernte ich viel.« Aber was las er eigentlich? Nichts erwähnt er davon, nur einmal deutet er an, dass er für seine letzten Heller alle ihm erreichbare antisemitische Literatur aufkauft. Kein Zitat beweist, dass er je Marx gelesen habe, dem sein »Lebenshass« gilt. Auch nicht aus seinem apodiktischen Urteil: »So wenig eine Hyäne vom Aase lässt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat«, geht solche Kenntnis hervor. Später lässt er sich neben der Nietzsche-Büste fotografieren, lauscht andächtig den Bayreuther Festspielen, sagt in einer Rede vor Studenten: »Mir ist ein einziger deutscher Militärmarsch lieber als der ganze Unrat eines modernen Neutöners«, und wird in Deutschland gefeiert als der größte »Künstler dieser Zeit«. »So war mir im Alter von 17 Jahren das Wort Marxismus noch wenig bekannt, während mir Sozialdemokratie und Sozialismus als identische Begriffe erschienen. Es bedurfte auch hier erst der Faust des Schicksals, um mir das Auge über diesen unerhörtesten Völkerbetrug zu öffnen.« Ihm hat die Faust des Schicksals das Auge geöffnet; und deutsche Wissenschaftler bescheinigten, dass »er als Denker von eigentümlicher Schärfe und Klarheit zu den großen deutschen Staatsphilosophen gehört«. In den wenigen Stunden, die nach Waffenübung und Judenhetze zum Studium bleibt, bildet sich der deutsche Akademiker an Hitlers Bibel Mein Kampf.
Das ist Hitlers deutsche Kultur: der patriotische Öldruck als Wertmesser der Kunst und das antisemitische Groschenheft als Grundstock der Bildung. Wer ist denn ihr Retter? Kein »Zimmermann«, sondern natürlich ein Baumeister, der ihnen die Fassade neu ankleistert. Wie hat er denn begonnen? Hört ihn selbst: »Wenige Tage nach der Befreiung Münchens wurde ich zur Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim 2. Infanterieregiment kommandiert.« Wollt ihr es noch deutlicher? »Eines Tages erhielt ich von der mir vorgesetzten Dienststelle den Befehl nachzusehen, was es für eine Bewandtnis mit einem anscheinend politischen Verein habe, der unter dem Namen ›Deutsche Arbeiterpartei‹ in den nächsten Tagen eine Versammlung abzuhalten beabsichtige und in der ebenfalls Gottfried Feder sprechen solle; ich müsse hingehen und mir den Verband einmal ansehen und dann Bericht abstatten.« Adolf Hitler war damals ein schlichter Soldat und seine Aufgabe war, »hinzugehen und Bericht abzustatten«, was es mit einem »Arbeiterverein« für eine Bewandtnis habe. Seine erste Versammlungsrede war »Brest-Litowsk« – die vorgesetzte Dienststelle hatte ihm dafür das Material geliefert. Das Militär lieferte noch mehr: Geld und Waffen. Zwei Reichswehroffiziere, Röhm und von Epp, beide dienstlich beauftragt, einen illegalen Militärapparat zu organisieren, versorgten den »Bildungsoffizier« Hitler. Der diente nur als Spitzel in Arbeiterversammlungen. Indes Röhm und Epp an jener Einwohnerwehr arbeiteten, die durch Fememorde die Waffen den nationalen Verbänden erhielten. Die neue Regierung Kahr, die die sozialdemokratische gestürzt hatte, mit dem Polizeipräsidenten Pöhner und dem Leiter der politischen Abteilung Frick blieben die Helfershelfer bis zum großen Hitlerputsch. In der entscheidenden Stunde, als Adolf Hitler mit einem Revolverschuss an die Decke des Münchener Bürgerbräus voreilig das Dritte Reich verkünden wollte, forderte Kahr von dem Rebellen ein Bekenntnis zur Monarchie. Mit gefalteten Händen rief Adolf Hitler: »Jawohl, Exzellenz, gerade an dem Königtum, das in so schamloser Weise dem Novemberverbrechen von 1918 zum Opfer gefallen ist, gilt es, ein schweres Unrecht wiedergutzumachen. Wenn Exzellenz gestatten, werde ich selbst unmittelbar von der Versammlung zu seiner Majestät [dem Prinzen Rupprecht] fahren und ihm mitteilen, dass durch die deutsche Erhebung das Unrecht, das seiner Majestät Hochseligem Vater widerfahren ist, wiedergutgemacht wird« (Aussage Pöhners im Hitlerprozess).
Das ist die ganze Seligkeit des rebellierenden Provinzlers. Freilich auf der Festung, als er seine Memoiren schreibt, bemerkt er voll Grimm: »Diese Devotheit jedoch war ein Fehler unserer ganzen Erziehung, der sich nun an dieser Stelle in besonders entsetzlicher Weise rächte. Denn ihr zufolge konnten sich diese jammervollen Erscheinungen an allen Höfen halten und die Grundlagen der Monarchie allmählich aushöhlen«. Doch er verzeiht rasch. Beim Volksentscheid, Jahre darauf, ist er schon wieder für die Abfindung der so geschmähten Fürsten. Als Hindenburg den Youngplan unterschrieb, sich »für die Youngkolonie entschied«, nahmen Hitler und das erwachende Deutschland »Abschied vom Reichspräsidenten«. Und Strasser durfte im Namen der Partei im Reichstag erklären: »Wir werden von dem Staatsgericht des kommenden Reichs der Deutschen die Köpfe derjenigen fordern, die die Younggesetze unterzeichnen«. Und wieder zwei Jahre später, nun schon von der Gegenresidenz im Luxushotel Kaiserhof aus, erbittet Adolf Hitler bei den Verhandlungen wegen der Machtübernahme devot von demselben Reichspräsidenten, er möge ihm die Straße für eine kleine Bartholomäusnacht freigeben. Denn für alle Situationen hat der Führer zwei Haltungen: unterwürfig betteln oder dreinschlagen mit der Reitpeitsche, die sein Attribut ist. Einen solchen Mann, das hat er im Voraus gewusst, holt man sich in der Stunde der Gefahr, nämlich, als die Vergeudung von einem Volksvermögen im Osthilfeskandal dem Volke »mit der Faust« das Auge zu öffnen droht und hinter den Regierungskreisen immer drohender der Schatten des Generalstreiks der deutschen Arbeiterschaft sich erhebt. Hitler hat sich die Diktatur nicht erobert, er hat sie sich durch einen unterirdischen Verbindungsgang erschlichen.
