Nicht meines Vaters Kind - Esther Kurfürst-Mantei - E-Book
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Esther Kurfürst-Mantei

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Beschreibung

Mit dreizehn Jahren erlebt Esther den Schock ihres Lebens. Ein Schulfreund sagt völlig unvermittelt: "Weißt du eigentlich, dass dein Vater nicht dein richtiger Vater ist?" Endlich begreift sie, weshalb ihr jüngerer Bruder stets vorgezogen wird, sie so anders aussieht und sich nicht ganz zugehörig fühlt. Natürlich möchte Esther nun die ganze Wahrheit wissen, aber die Mutter schweigt. Und so beginnt ein jahrelanger Kampf: um Liebe, Anerkennung und das Wissen um die eigenen Wurzeln. Denn nur so kann Esther inneren Frieden finden ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung und DanksagungZitatKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13

Über dieses Buch

Mit dreizehn Jahren erlebt Esther den Schock ihres Lebens. Ein Schulfreund sagt völlig unvermittelt: »Weißt du eigentlich, dass dein Vater nicht dein richtiger Vater ist?« Endlich begreift sie, weshalb ihr jüngerer Bruder stets vorgezogen wird, sie so anders aussieht und sich nicht ganz zugehörig fühlt. Natürlich möchte Esther nun die ganze Wahrheit wissen, aber die Mutter schweigt. Und so beginnt ein jahrelanger Kampf: um Liebe, Anerkennung und das Wissen um die eigenen Wurzeln. Denn nur so kann Esther inneren Frieden finden …

Über die Autorin

Esther Kurfürst-Mantei wurde Mitte der 1970er-Jahre in der damaligen DDR geboren. Durch Zufall erfuhr sie, dass sie nicht das leibliche Kind ihres Vaters ist. Jahrzehntelang hat sie für ihr Recht auf Wahrheit gekämpft und schließlich ihre algerischen Wurzeln gefunden. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Düsseldorf.

Esther Kurfürst-Mantei

NICHT MEINES VATERS KIND

Wie ich nach langer Suche endlich meine Wurzeln und mich selbst fand

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Die Geschehnisse in diesem Buch haben sich so abgespielt wie geschildert.

Zum Schutz ihrer Rechte wurden die Namen einiger Personen geändert.

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Matthias Auer, Bodmann-Ludwigshafen

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngenunter Verwendung von Motiven von © NadyaEugene/shutterstockund © Eladora/shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1500-3

luebbe.de

lesejury.de

Widmung und Danksagung

Für Torsten, Annika und Simon, die mit ihrer Liebe, ihrer unendlichen Geduld und ihrem neugierigen freien Geist mein Leben so besonders machen.

Dieses Buch gäbe es nicht ohne meine Familie, meinen Bruder Zoheir, meine Freundinnen, Andrea – und meinen Mut.

Es steht das Recht der Mutter auf ihr Geheimnis gegen das Recht der Tochter zu wissen, wer ihr Vater ist … Die eine Frau braucht die Lüge, die andere die Wahrheit wie die Luft zum Atmen.

Gisela Heidenreich, Paar- und Familientherapeutin

Kapitel 1

»Weißt du eigentlich, dass dein Vater nicht dein Vater ist?!«

Ich spiele mit meinem Freund Matthias an einem kleinen Weiher hinter unserem Haus. Wir bauen einen Staudamm aus Ästen und Blättern und stehen engagiert wie ein professioneller Bautrupp im knietiefen Wasser.

Warum sagt Matthias das? Und warum gerade jetzt, frage ich mich und habe keine Erklärung. Für mich kommt der Satz urplötzlich, aus heiterem Himmel, und ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen.

»Mein Vater ist nicht mein Vater? Was soll das?«, murmle ich nach einer Pause leise vor mich hin und schaufle jetzt bewusst ganz schnell mit beiden Händen Laub aus dem kleinen Zulauf, der den Weiher mit Wasser versorgt, um mich abzulenken. Denn ich weiß nicht, wie ich auf diesen Satz reagieren soll.

Matthias ist ein sehr guter Freund. Er sagt so etwas nicht einfach dahin. Wir sind beide dreizehn Jahre alt, wohnen im selben Viertel und gehen zusammen zur Schule. Häufig unternehmen wir nachmittags etwas zusammen. Heute sind wir bereits seit Stunden mit unserem aufwendigen Bauvorhaben beschäftigt.

Wir waren bis jetzt richtig eifrig dabei, haben aber auch viel zusammen gelacht. Meistens über uns selbst, weil uns immer mal wieder etwas umgefallen ist oder wir so heftig im Wasser geplanscht haben, dass wir beide pitschnass wurden. Zum Glück ist es Sommer und die Nässe macht uns nichts aus. Im Gegenteil, wir genießen die Abkühlung.

Aber jetzt ist unser Projekt nicht mehr so wichtig.

Ich sehe, dass meine Hände zittern, und beobachte voller Anspannung, wie die aus dem Laub gespülte tiefbraune Erde über meine Finger rinnt.

»Wieso sagst du das?«, frage ich Matthias dann direkt, möchte aber, dass es sich eher beiläufig anhört.

»Ich habe gehört, dass deine Mutter das zu meiner Oma gesagt hat!«, meint Matthias und versucht dabei, einen riesengroßen Ast zur Seite zu wuchten, was ihm aber nicht gelingt, denn der Ast rutscht vom Ufer herunter ins Wasser und blockiert den Abfluss.

»Verdammt«, flucht er und probiert gleich erneut, das schwere Gehölz ans Ufer zu zerren.

»Du spinnst doch«, zische ich kopfschüttelnd. »Ich weiß doch, wer mein Vater ist!«

Ich spreche ganz ruhig und wundere mich selbst darüber, dass meine Stimme so unbeteiligt klingt.

Äußerlich unberührt nehme ich zwei Äste und stecke sie als Begrenzung in die Erde.

»Wann hast du das denn gehört?«, frage ich dann.

»Letzte Woche schon. Ich hatte ganz vergessen, es dir zu sagen …«

Mein Herz pumpert nun rasend schnell.

Das klingt plötzlich so ernst, so wahr. Aber was soll das überhaupt? Was bedeutet das alles?

Ich verstehe natürlich, was Matthias gesagt hat, kann es aber nicht einordnen.

Mein Vater ist nicht mein Vater? Was heißt das? Was ist er denn dann? Und wenn mein Vater nicht mein Vater ist: Wer ist mein Vater?

»So ein Quatsch!«, sage ich jetzt, denke aber im selben Moment ganz besorgt: Und wenn es doch so ist?

Was ist, wenn mein Vater wirklich nicht mehr mein leiblicher Vater ist? Zerbröselt dann mein ganzes Leben?

Ich kann nicht mehr. Alles dreht sich um mich, und ich fühle mich schlecht.

Ich will weg. Sofort.

Ich werfe die Äste, die ich gerade zur Festigung des Damms in die Erde stecken wollte, achtlos ans Ufer, wische mir die nassen Hände an meiner Hose ab und renne los.

Ich will nach Hause, so schnell wie möglich.

»Esther? Was ist los? Wo willst du denn hin?«, höre ich Matthias’ Stimme. Aber ich gebe keine Antwort. In meinem Kopf dreht sich nur noch ein Gedanke schneller und schneller: Ich muss die Wahrheit wissen! Jetzt. Gleich. Alles andere ist unwichtig.

»Esther? Nun warte doch …«, ruft mir Matthias nach, aber ich warte nicht, drehe mich nicht einmal mehr um. Ich will nach Hause. Ich brauche Klarheit.

Ich laufe, so schnell ich kann. Meine Beine fliegen nur so über den Boden, immer schneller und schneller. Ich sehe schon unsere Straße, das Eckhaus von Bergemanns, den Klinkerbau der Müllers, die Schule. Noch drei Hauslängen, dann bin ich daheim, dann bekomme ich eine Antwort auf das Ungeheuerliche, das Matthias da gerade herausposaunt hat.

Mein Vater soll nicht mein Vater sein. Das kann nicht stimmen. Oder doch?

Ich flitze durch den Garten, schneller, als ich es mir jemals vorstellen konnte. Aus den Augenwinkeln sehe ich meinen Vater, der in der Garage mit einem Rasenmäher hantiert. Er winkt mir zu, aber ich reagiere gar nicht darauf, sondern renne durch den Hauseingang und die Stufen zu unserer Wohnung hoch, stoße die Tür auf und düse in die Küche, in der meine Mutter gerade abwäscht.

Ich muss erst ein paarmal tief durchatmen, bevor ich halbwegs verständlich einen Satz herausbekomme.

»Matthias … er … hat gesagt …«

»Esther, huch, was ist denn los? Ist etwas passiert?«, will meine Mutter wissen und sieht mich irritiert an. »Also, nun mal etwas langsamer. So verstehe ich nichts.«

Sie trocknet sich die Hände am Geschirrtuch ab und kommt ganz ruhig auf mich zu.

»Was ist denn los?«, fragt sie mich und nimmt mich liebevoll in den Arm.

»Matthias …« Ich japse immer noch nach Luft. »Stimmt es … stimmt es … dass Papa nicht mein Vater ist?«

Jetzt ist es heraus. Ich habe es geschafft und atme schwer weiter, während ich ungeduldig auf die Antwort warte.

Meine Mutter lässt mich abrupt stehen und stellt sich schnell wieder ans Waschbecken.

Wieso antwortet sie nicht? Warum zögert sie?

Und dann höre ich ihre Stimme, wie von fern, und meine Mutter sagt etwas völlig anderes als das, was ich erwartet habe.

Statt einem überraschten »Was soll das denn jetzt?« meint sie nur knapp: »Und was, wenn es so wäre?« – und taucht dabei die Hände ins Abwaschwasser, um mit ihrer Arbeit weiterzumachen, als sei nichts geschehen.

In meinem Kopf dreht sich alles. Ich bekomme meine Gedanken nicht mehr sortiert, und ehe meine Mutter auch nur noch einen weiteren Satz sagen kann, laufe ich aus der Küche.

»Esther, warte doch!«, höre ich sie rufen und dann noch zweimal: »Esther, Esther!«

Aber ihre Stimme wird immer leiser, weil ich ganz schnell wegrenne, aus dem Haus hinaus ins Freie. Ich will in die Garage, zu meinem Vater.

Mit wenigen Sätzen bin ich bei ihm. Er sieht mich ebenfalls überrascht an, weil er sich vermutlich meine Hektik nicht erklären kann.

»Was ist denn los?«, will er wissen.

Aber statt ihm eine Antwort zu geben, platze ich sofort damit heraus, was Matthias und meine Mutter in mir losgetreten haben.

»Du hast mir gar nichts mehr zu sagen. Du bist nämlich nicht mein Vater …«

Mein Vater ist nur kurz überrascht.

Mit dem Schraubenzieher in der Hand sieht er mich an, ganz ruhig, ganz besonnen.

Ich weiß, dass meine Augen fast schon feindselig blitzen. Ich bin sauer, geladen, unfassbar aufgewühlt und sehr gespannt, was er jetzt sagt. Insgeheim hoffe ich, dass er alles abstreitet, »Bist du verrückt« oder »Was soll der Unsinn« erwidert. Aber er sagt, genau wie Mutti, etwas, das ich überhaupt nicht erwarte.

»Weißt du, Esther, es ist eine Kunst, ein Kind großzuziehen, aber es ist keine Kunst, ein Kind zu zeugen …«

Ich höre den Satz, verstehe ihn aber nicht. Wie bei einer gewaltigen Explosion fliegt mir gerade mit lautem Getöse mein Leben um die Ohren.

Und jetzt? Was soll ich denn jetzt machen? Wohin gehöre ich nun?

Vati legt den Schraubenzieher zur Seite und kommt auf mich zu. Er breitet dabei die Arme aus, und ich weiß, was das bedeutet. Er will mich festhalten, mir Sicherheit geben. Aber ich will nicht in seine Arme kommen. Jetzt nicht mehr. Ich will auch nicht festgehalten werden. Nicht von ihm. Wer ist er überhaupt?

Aber ich weiß auch nicht, was ich stattdessen will. Ich weiß nichts. Nicht, wohin mit meiner Energie, mit meinen Gedanken, mit mir.

Und ich mache, was mir bisher geholfen hat. Ich drehe mich um und renne weg.

»Esther, Esther«, höre ich jetzt auch meinen Vater rufen. »Esther, nun warte doch!«

Aber ich kann nicht warten. Ich kann keine Ruhe, keinen Stillstand vertragen.

In mir herrscht eine große Leere. Mein Kopf ist wie ausgeschaltet. Ich bin irgendwie gar nicht mehr da.

Ich laufe die Treppe hinauf in unsere Wohnung, stürze in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett. Hier, in meinem geschützten Bereich, muss ich versuchen, das gerade Erlebte irgendwie einzuordnen.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort liege. Aber irgendwann höre ich die Stimme meiner Mutter, höre das Klicken des Türgriffs, das Klopfen. Aber ich schließe nicht auf. Ich will jetzt nicht sprechen.

»Esther, machst du bitte die Tür auf!«, fordert mich meine Mutter zum wiederholten Male auf. Aber ich will nicht machen, was sie sagt, so wie sonst immer. Heute ist alles anders. Heute bin ich kein liebes Mädchen mehr, das immer genauso ist, wie man es sich wünscht. Es ist ja auch nichts mehr so, wie ich es mir wünsche.

»Esther, bitte öffne jetzt. Ich möchte mit dir sprechen!«, höre ich erneut die Stimme meiner Mutter. Aber ich reagiere nicht, sondern schalte auf stur.

Schließlich aber gebe ich dann doch nach und öffne die Tür, da ist Mutti allerdings schon weg. Also lege ich mich wieder aufs Bett, und bald schon tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf: Erst vor drei Tagen, am vergangenen Freitag, war es noch richtig schön mit meinem Vater. Die Erinnerung an diesen Tag läuft noch einmal wie ein herrlich bunter Film in meinem Kopf ab.

*

»Seht mal, jetzt kommt meine Tochter!« Ich höre Papas dunkle, kräftige Stimme schon am Eingang des kleinen Lokals mit dem lustigen Namen »Schwansee-Schlösschen« und blicke suchend umher.

Es ist Freitagabend und das Lokal um diese Zeit rappelvoll. Wirt Edgar, ein rundlicher Mann mit Halbglatze und Brille, steht hinter dem Tresen und nickt mir zur Begrüßung freundlich zu. Zwei Kellnerinnen servieren leckeres Essen, im Hintergrund läuft fröhliche Schlagermusik.

Mein Vater, ein sportlicher schlanker Mann mit blondem Lockenkopf und immer lustig blinzelnden blauen Augen, sitzt am anderen Ende des Schankraums mit drei Freunden am Tisch und strahlt mich an. Als sich unsere Blicke treffen, beugt er sich zur Seite und breitet seine Arme weit aus, damit ich ihn liebevoll begrüßen kann.

Es ist unser kleines Ritual, und ich mag es, dass er sich so sichtbar freut, wenn ich komme, und auch jedes Mal sichtlich stolz auf mich ist. Auch heute hat mein Vater trotz des Trubels nur Augen für mich.

»Da ist ja mein kleiner Sonnenschein«, sagt er liebevoll, als er mich fest in seine Arme nimmt, richtig knuddelt und mir dabei einen Kuss auf die Wange gibt. Dann zieht er mich neben sich auf die Bank, und ich kann ein bisschen zusehen, wie die vier Männer Karten spielen.

Mein Vater ist jeden Freitagabend in diesem Lokal. Es ist nur wenige Meter von unserem Wohnhaus in Weimar entfernt, und wenn ich nur oft genug frage, wann Vati endlich nach Hause kommt, sagt Mutti meistens: »Lauf schnell rüber und frage ihn selber.«

Ich flitze dann sofort los, weil ich immer gern mit meinem Vater zusammen bin, aber auch, weil er seinen Freunden immer ganz stolz von mir erzählt. Er lobt mich, und ich höre es gern.

Auch an diesem Freitag teilt er ihnen wieder eine tolle Neuigkeit aus der Schule mit: »Esther hat einen ganz wunderbaren Aufsatz geschrieben. Sie ist schon eine richtig gute Autorin!«

Er klopft mir anerkennend auf die Schulter, und Klaus, einer der drei Freunde, geht gleich darauf ein.

»Fantastisch, Esther, das passt ja perfekt zu unserer Heimat, der berühmten Dichter-und-Denker-Stadt Weimar. Kannst du uns wieder ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe aufsagen?«

Klaus sieht mich aufmunternd an.

»Du kannst dir eins aussuchen. Nimm das, was du am besten kannst. Wir freuen uns«, meint er lächelnd.

Ich lasse mich nicht lange bitten, denn ich bin gut in Deutsch.

»Klar kann ich das!«, sage ich selbstbewusst und lege gleich los mit der ersten Strophe von Der Erlkönig:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

Es ist der Vater mit seinem Kind;

Er hat den Knaben wohl in dem Arm,

Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Ich rattere den Text ohne Stocken auswendig herunter, und die vier Männer hören mir aufmerksam zu.

»Bravo«, lobt mich Vati schon nach den ersten Versen. »Das hast du wirklich wunderbar gemacht. Der Herr von Goethe wäre bestimmt mächtig stolz auf dich.«

Ich sehe etwas verlegen zu Boden, genieße aber innerlich die Zuwendung und rezitiere gleich weiter:

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –

Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?

Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif …

Die Männer hören bis zum Schluss geduldig zu.

»Bravo!«, ruft Klaus am Ende und winkt Ute, eine der beiden Kellnerinnen, zu uns an den Tisch.

»Für die schöne Vorführung hat unsere Esther eine Belohnung verdient …«

Er nickt mir zu.

»Such dir ein leckeres Getränk aus, etwas, das du gern magst.«

»Oh ja, gern. Dann nehme ich eine Maracuja-Brause«, sage ich leise und freue mich über die Einladung.

Vati zieht jetzt für mich einen Stuhl an den Tisch, und ich genieße meine Brause und das Zusammensein.

Aber mein Vater und ich bleiben heute nicht mehr lange. Ich schaue noch zu, wie die vier das Skatspiel beenden, und dann gehen wir ganz gemütlich nach Hause. Mein Vater legt dabei wie immer schützend den Arm um meine Schulter und stellt mir viele interessierte Fragen, was ich so sehr an ihm liebe.

»Was gefällt dir denn im Moment im Deutschunterricht besonders gut?« Oder: »Wie kommst du mit deiner neuen Lehrerin, Frau Neuhoff, zurecht?« Vati will immer alles ganz genau wissen. Ich mag das und schätze diese gemeinsame Zeit, in der ich allein mit ihm unterwegs bin. Denn es ist die Zeit, in der es nur um mich geht, die Zeit, in der ich meinem Vater ganz nah bin.

»Esther, du hast das Gedicht wirklich sehr schön aufgesagt. Du bist eine richtig gute Schülerin«, sagt Vati. »Ich bin sehr stolz, dass du in allen Fächern eine Eins oder eine Zwei im Zeugnis hast.«

Dabei sieht er mich anerkennend von der Seite an, und ich bin richtig selig.

Ich gebe mir ja auch Mühe, gute Noten zu schreiben. Ich gebe mir überhaupt immer Mühe, ein »gutes Kind« zu sein – und dass es klappt, bestätigen mir meine Eltern häufig …

»Und das Tolle: Bei dir klappt alles wie von selbst. Man muss sich gar nicht groß kümmern«, meint er, bleibt stehen und sieht mir in die Augen. »Aber, Esther, manchmal mache ich mir auch Gedanken, ob du dir nicht zu viel vornimmst.«

Ich weiß genau, was er meint.

»Wie schaffst du das alles?«, hat mich nämlich auch Oma Gerda erst vor Kurzem gefragt, weil sie glaubt, dass ich zu vieles gleichzeitig unternehme. Aber das stimmt nicht.

»Nein, Vati, mach dir keine Sorgen. Ich schaffe das«, erwidere ich ruhig. »Weißt du, ich mag es, nach der Schule unterwegs zu sein, und ich habe auch gern einen ausgefüllten Tag mit vielen neuen Projekten.«

»Was machst du denn im Moment alles?«, hakt Vati nach, nimmt meine Hand und geht weiter.

»Ich gehe in die Christenlehre, das macht mir richtig Spaß. Wir lesen die Bibel, aber wir beten, singen und spielen auch zusammen.«

»Ja gut, aber du lernst auch noch Blockflöte und Schlagzeug …«

»Genau, und ich spiele Handball und Tischtennis und trainiere für Leichtathletik.«

Vati stöhnt gespielt auf.

»Und, und, und … was kommt denn noch? Hast du mir nicht letzte Woche noch erzählt, dass du auch singen möchtest?«

»Stimmt, ich möchte vielleicht Sängerin werden, und Mutti findet das toll.«

»Ich auch, Esther. Wenn man sich richtig Mühe gibt, kann man alles werden. Aber man darf sich auch nicht verzetteln. Am besten, du schnupperst überall rein, und entscheidest dich dann für das, was dir am besten liegt.«

»Das meint Mutti auch. Sie hat gesagt: ›Es ist alles eine Frage des Willens. Also tu das, was du dir am meisten wünschst.‹«

»Dann nimm dir Mutti als Vorbild, und du wirst es genauso weit bringen.«

»Das will ich auch«, sage ich schnell und drücke ganz fest Vatis Hand. Es sind oft nur wenige Minuten, die wir so vertraut miteinander sprechen, aber sie laden meine Batterien für viele Tage auf.

Denn zu Hause, wenn mein Bruder Jens dabei ist, dreht sich meistens alles um ihn. Wie es mir geht? Was ich in der Schule erlebt habe, wovon ich träume? All das interessiert dann nicht mehr wirklich. Zumindest empfinde ich es so.

»Du bist total eifersüchtig«, neckt mich meine Mutter immer, wenn sie glaubt, dass ich wegen Jens wieder etwas traurig bin. »Das musst du aber nicht«, versucht sie mich dann zu beruhigen. »Ich habe euch beide gleich lieb.«

Ich höre das gern, glaube es aber nicht so recht.

Jens ist jetzt zehn Jahre alt, also drei Jahre jünger als ich, war aber von Anfang an gefühlt dreimal wichtiger.

Seit seiner Geburt dreht sich in unserer Familie alles um ihn. Wenn er sich etwas wünscht, wird es sofort erfüllt. Er bekommt das neueste Spielzeug, darf sich beim Einkaufen sein Lieblingsessen aussuchen und muss auch keinerlei Konsequenzen fürchten, wenn er nicht macht, worum ihn unsere Eltern bitten.

Bei »Bring bitte den Müll raus« laufe ich sofort los. Jens hingegen denkt gar nicht daran, sondern präsentiert sofort eine Ausrede, warum das gerade jetzt überhaupt nicht gehe, und meine Eltern nehmen es hin. Ich komme gar nicht auf die Idee, mir etwas auszudenken. Aber ich kann mir auch vorstellen, was sie mir sagen würden. »Esther, rede nicht lange, sondern mach jetzt einfach. Es ist schon spät.«

Für Jens gelten Sonderregeln, und jede Kleinigkeit ist bei ihm gleiche eine riesengroße Sache.

Und genauso ist es auch an diesem Freitag wieder. Ich erinnere mich noch genau. Wir sind gerade erst durch die Wohnungstür gekommen, als ich schon Muttis Stimme höre.

»Bernd, komm schnell. Jens fühlt sich nicht gut. Er ist ganz blass!«

Mit einem Becher Tee rennt sie an uns vorbei Richtung Kinderzimmer, und mein Vater hat nicht mal mehr Zeit, um in Ruhe seine Jacke auszuziehen. Denn er »muss« sofort zu Jens ins Zimmer gehen. Deshalb lässt er mich natürlich stehen, um gleich hinter meiner Mutter herzulaufen und nach dem angeblichen Notfall zu sehen.

Ich stehe allein im Flur und möchte am liebsten laut »Hallo« rufen. »Hallo, ich bin auch noch da.«

Ich möchte Mutti doch erzählen, wie schön die Zeit im »Schwansee-Schlößchen« war. Aber dafür hat sie jetzt keine Zeit.

Deshalb gehe ich enttäuscht ins Wohnzimmer, schnappe mir ein Buch und lese ein bisschen.

»Mach dich schon mal fertig. Ich sage dir nachher ›Gute Nacht‹«, ruft mir meine Mutter später zu und rennt zum wiederholten Mal eilig an der Tür vorbei in die Küche. »Jens hat übrigens kein Fieber!«, fügt sie noch schnell an.

Ich stelle keine Fragen mehr, sondern husche ins Bad, lege mich anschließend in mein Bett und versuche, mich wegzuschalten, während meine Eltern meinen eigentlich ganz munteren Bruder versorgen. Doch es gelingt mir nicht. Ich höre, wie sie hektisch im Nebenzimmer zugange sind.

»Er hat ganz heiße Wangen«, flüstert mein Vater.

»Ja, aber kein Fieber«, beruhigt ihn meine Mutter. Ich beobachte ihr aufgeregtes Hin- und Herrennen, bis ich entnervt meine Augen schließe und nur noch meine Ruhe möchte.

Ja, ich bin eifersüchtig. Es stimmt. Von Anfang an habe ich ihn als Konkurrenz gesehen.

»Das ist normal bei Erstgeborenen«, hat mir Oma Gerda einmal gesagt. Sie hat recht, denn meinen beiden besten Freundinnen geht es auch so. Sie haben jüngere Geschwister und kennen das Gefühl, immer nur die zweite Geige zu spielen. Wir haben schon häufig darüber gesprochen.

»Alles Quatsch«, würde meine Mutter jetzt sagen. »Wenn du krank bist, dreht sich auch alles nur um dich. Das ist normal.«

Ich glaube das jedoch nicht und schüttle innerlich den Kopf.

Wenn ich alles zusammenzähle, drehen sich unsere Gespräche bei den Mahlzeiten zu neunzig Prozent um Jens und zu zehn Prozent um mich. Entweder weil er etwas angestellt hat und sie sich darüber aufregen oder weil er nichts angestellt hat und sie außer Rand und Band sind, weil er etwas »ach so toll« kann.

»Du bist eben immer lieb«, ist die Erklärung meiner Mutter, wenn ich mich mal wieder beschwere. Meistens streichelt sie mir dabei noch über die Wange. »Man gewöhnt sich eben daran, wenn bei so einem Sonnenschein wie dir alles gut läuft. So einfach ist das …«

Wirklich?

Ich weiß nur, dass ich eine riesengroße Sehnsucht danach habe, auch mal im Mittelpunkt zu stehen, denn solche Momente sind rar. Genau genommen erinnere ich mich nur an einen einzigen: meine Einschulung mit sieben Jahren. Für einen Tag war ich die Nummer eins und sah auch so aus. Ich trug eine schicke schwarze Hose mit weißen Sternchen und eine weiße Bluse und war mächtig stolz auf meine riesengroße Schultüte, vollgepackt mit den leckersten Süßigkeiten. Ich hatte mir eigentlich eine Tüte mit den Schlümpfen oder der Biene Maja darauf gewünscht. Das waren Figuren, die ich aus dem Westfernsehen kannte, das bei uns zwar heimlich, aber regelmäßig läuft. Aber Mutti meinte, die könne sie bei uns in der DDR nicht kaufen.

Also gab es eine Tüte mit »Schnatterinchen« und einen Beutel mit »Pittiplatsch«, beides Figuren, die bei uns im Osten populär sind, und sie war auch wunderschön.

Wow, ich war so stolz. Zumal alle da waren, um mir zu gratulieren. Meine Eltern, klar, aber auch noch viele Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, denn meine Eltern haben beide jeweils sechs Geschwister. Wir sind also insgesamt eine sehr große Familie …

»Es geht ihm gut!«, meint meine Mutter jetzt und holt mich damit aus meinen Gedanken. Ihre Stimme klingt erleichtert.

Sie legt dann eine Kassette von Lionel Richie ein, und wir Kinder nicken zu der sanften Musik ganz entspannt ein.

*

Mit dem Wissen von heute ordne ich viele Zusammenhänge nun ganz anders ein: Denn wenn Vati nicht mein Vater ist, dann bekommt das alles plötzlich Sinn. Dann ist das Gefühl der Zurücksetzung, das mich so lange schon begleitet, nicht falsch. Dann ist alles einfach folgerichtig …

Es klopft wieder an der Tür. »Esther, bitte komme jetzt raus. Ich mache mir Sorgen!«

Mutti steht wieder vor der Tür, und ihre Stimme klingt traurig. Es gibt Abendessen, und sie bittet mich ganz lieb zu kommen.

Dieses Mal lasse ich mich nicht mehr lange bitten, sondern gebe sofort nach und öffne die Tür.

Sie nimmt mich in den Arm und streichelt mein Gesicht. »So, dann komm mal mit. Es gibt deine Lieblingsnudeln!«, sagt sie und führt mich mit dem Arm um die Taille in die Küche. Ich setze mich an den Tisch, zu meiner Familie.

Äußerlich ist alles wie immer. Wir sitzen zusammen und gehen auch rücksichtsvoll miteinander um. »Kannst du mir bitte die Butter geben?« und: »Möchtest du noch von den Nudeln?«

Aber über das höfliche Miteinander hinaus sprechen wir wenig. Wir brauchen wohl alle Zeit, um die Situation zu verarbeiten.