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Nicht ohne meine Schwestern E-Book

Celeste Jones

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Beschreibung

Kristinas, Celestes und Julianas Familie ist die Sekte "Kinder Gottes", in der sie den Misshandlungen und dem Missbrauch durch erwachsene Sektenmitglieder hilflos ausgesetzt sind. Die Schwestern werden schon früh voneinander getrennt und leben in verschiedenen Missionsstationen der Gemeinschaft. Sie träumen von einem Wiedersehen, fürchten aber den Zorn Gottes, wenn sie sich dem Willen der "Familie" widersetzen.

Schonungslos offen erzählen die Schwestern von den seelischen Grausamkeiten und der Gewalt unter dem Deckmantel des Glaubens. Ihre Geschichte ist voller schmerzlicher Erinnerungen, aber auch das Zeugnis einer mutigen Befreiung und der Weg in ein neues Leben.

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Über dieses Buch

Kristinas, Celestes und Julianas Familie ist die Sekte »Kinder Gottes«, in der sie den Misshandlungen und dem Missbrauch durch erwachsene Sektenmitglieder hilflos ausgesetzt sind. Die Schwestern werden schon früh voneinander getrennt und leben in verschiedenen Missionsstationen der Gemeinschaft. Sie träumen von einem Wiedersehen, fürchten aber den Zorn Gottes, wenn sie sich dem Willen der »Familie« widersetzen.

Schonungslos offen erzählen die Schwestern von den seelischen Grausamkeiten und der Gewalt unter dem Deckmantel des Glaubens. Ihre Geschichte ist voller schmerzlicher Erinnerungen, aber auch das Zeugnis einer mutigen Befreiung und dem Weg in ein neues Leben.

Celeste Jones, Kristina Jones und Juliana Buhring

Nicht ohne meine Schwestern

Gefangen und missbraucht in einer Sekte – unsere wahre Geschichte

Aus dem Englischen von Hedda Pänke

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2007 by Green shirt Ltd.

Titel der englischen Originalausgabe:

„Not Without My Sisters“

Originalverlag: HarperElement, An Imprint of HarperCollinsPublishers

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © 2009 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Ann-Kathrin Schwarz

Textredaktion: Monika Hofko, Scripta Literatur-Studio München

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Juliana Buhring

Bildtafelteil: Abb. 1-18: © Green shirt Ltd.; Abb. 19: © 2007 by Susan Greenhill

eBook-Erstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7517-1678-9

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

ERSTER TEILCelestes Geschichte

1Daddys kleines Mädchen

2Loveville

3Ein Leib

4Hinter Mauern

5Indoktrination

6Im Zwiespalt der Gefühle

ZWEITER TEILJulianas Geschichte

7Zerrissene Familienbande

8Das fünfte Rad am Wagen

9Unter der Knute

10Bitte adoptiert mich

DRITTER TEILKristinas Geschichte

11Ein Doppelleben

12Fahrende Missionare

13Missbrauchte Liebe

14Die Flucht

VIERTER TEILAufbruch in die Freiheit

15Verstecken spielen

16Die Suche nach Celeste

17Gegensätzliche Positionen

18Bittersüßes Wiedersehen

19»Täuschung im Dienste der Wahrheit«

20Zwei Väter

21Ein neuer Führungsstil

22Das Haus der offenen Muschi

23Magersucht

24Ein Traum wird wahr

25Gerechtigkeit – eine Illusion?

26Die Perle von Afrika

27Die Befreiung

28Ein Adler in der Schlinge

29Die Macht der Liebe

NACHWORT

BILDTEIL

Für unsere Schwester Davida

Meiner Schwester in Trauer:

Wie gut ich dich verstanden habe.

Die Qual in deinen Augen;

Den Schmerz, die Verzweiflung.

Du hast einen aussichtslosen Kampf geführt,

und du hast ihn verloren

und bist gestorben.

Ich werde für dich die Tränen

vergießen über ein Leben,

das du nie mehr leben wirst.

Die Tränen, die du nie mehr vergießen kannst.

Madonna des Leidens,

vom kalten Gewand des Todes umfangen.

Ich habe mit dir geweint.

Jetzt weine ich für dich.

Denn ich kann noch weinen.

Der Lauf der Tränen hat sich gewandelt.

Schlafe, meine Schwester,

weine nicht mehr.

Inschrift auf Davidas Grabstein, Juliana 2005

Mit Tinte geschriebene Lügen können keine Tatsachen verschleiern, die in Blut geschrieben wurden.

Lu Xun (1881–1936)

VORWORT

IM JANUAR 2005 starb unsere Schwester Davida an einer Überdosis Drogen. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Davidas Tod erschütterte uns alle tief, obwohl wir ihr Leid und ihre Verzweiflung nachempfinden konnten. Jede von uns hat auf ihre Weise mit Erinnerungen an schmerzliche Verluste, Misshandlungen und Hilflosigkeit zu kämpfen, da wir unter dem unheilvollen Einfluss einer religiösen Sekte aufwuchsen: den »Children of God« oder »Kindern Gottes«.

Von frühester Kindheit an hat man uns systematisch misshandelt: physisch, psychisch, emotional und sexuell. Wir wurden von unseren Eltern getrennt und gemeinschaftlich in dieser Organisation aufgezogen, die auch als »The Family« oder »Die Familie« bekannt ist.

Im Gegensatz zu unseren Eltern, die alle Brücken zu ihrem früheren Leben abgebrochen hatten, bekamen wir nie eine Chance, unseren Lebensweg selbst zu bestimmen. Isoliert von der Umwelt, wurden wir von Angst beherrscht – von Angst vor den Behörden, vor der Polizei, vor Ärzten und Sozialarbeitern und von der noch viel größeren Furcht vor dem Zorn Gottes, der uns drohte, sollten wir die »Familie« jemals verlassen.

Unsere Kindheit wurde von einem Mann bestimmt: David Berg. Einem Mann, dem wir zwar nie begegneten, der aber ständig um uns war wie ein unsichtbarer Geist. Er war die verhängnisvolle und verderbliche Macht hinter den »Kindern Gottes«. David Berg betrachtete sich gern als gütige Vaterfigur und bezeichnete uns als »Kinder Davids«. Er sah sich in der Nachfolge von König David und des Propheten Moses und nannte sich »Moses David« oder kurz »Mo«. Die Kinder waren gehalten, ihn »Großvater« zu nennen. Er war das Oberhaupt unserer Gemeinschaft, die Leitfigur, der Prophet, »unser Licht in der Finsternis«. Die Regeln, die wir zu befolgen hatten, waren von seinen Worten bestimmt. Wir lasen jedes Detail über sein Leben, seine Visionen, seine Neigungen und Abneigungen, über die Frauen, mit denen er schlief, über die Kinder, an denen er sich verging. Schon in einem sehr frühen Alter lernten wir seine Worte auswendig und widmeten jeden Tag viele Stunden der Lektüre seiner Schriften, den Mo-Briefen. »Word Time«, »Lektüre«, war ein wesentlicher Teil unseres täglichen Lebens. Es wäre schwer, wenn nicht sogar unmöglich, über unser Leben zu schreiben, ohne den beherrschenden Einfluss zu erwähnen, den David Berg auf unser Schicksal hatte.

Von Geburt an wurden wir darauf getrimmt, die Gebote und Regeln der Sekte zu befolgen. Uns blieb keine Wahl, und wir kannten nichts anderes. Niemals hörten wir unseren Vater eine eigene Meinung äußern, immer hieß es: »Großvater hat gesagt …« Wurden wir bestraft, dann geschah es, weil wir gegen Mos Gebote verstoßen hatten; wurden wir gelobt, dann dafür, dass wir uns wie »treue Jüngerinnen« benahmen. Unser Vater war Berg blind ergeben und sein Glaube an die Vorhersagen und Prophezeiungen des Mannes unerschütterlich. Falls er sich jemals fragte, ob etwas davon echt war oder ob es sich nur um Hirngespinste – Lug und Trug – handelte, so hat er es zumindest nie erwähnt, nicht einmal hinter verschlossenen Türen.

Berg lehrte, dass Geburtenkontrolle eine Rebellion gegen Gott sei, und so wurden innerhalb weniger Jahre Tausende von Kindern in der Sekte geboren. Er prahlte damit, dass wir die »Hoffnung der Zukunft« wären – eine ganz neue Generation, rein und unverdorben von der Außenwelt. Man sagte uns, es sei ein großes Privileg, in die »Familie« hineingeboren worden zu sein und darin aufwachsen zu dürfen, frei von den Zwängen des »Systems«, wie die Welt außerhalb der Sekte genannt wurde. Es sei unsere Bestimmung, Gottes Endzeitkämpfer zu werden und unser Leben der guten Sache zu widmen. Berg sagte voraus, dass die Welt 1993 untergehen werde und wir künftig im Paradies zur Elite gehören würden. Da unserem Leben auf Erden nur eine kurze Frist zugemessen war, gestattete man uns nicht, einfach nur Kinder zu sein. Man unterdrückte unsere Individualität, und wir waren lediglich Werkzeuge, derer man sich bediente, um die kollektiven Ziele der Sekte zu unterstützen.

Den größten Schaden fügte uns Bergs »Gebot der Liebe« zu. Gott war Liebe, und Liebe war gleichbedeutend mit Sex. Sich einem anderen Menschen körperlich hinzugeben, galt als höchster Ausdruck von Liebe. Da das Alter in Bergs »Gebot der Liebe« kein Tabu darstellte, wurden die Kinder der »Familie« zur Befolgung seiner pädophilen Philosophie genötigt. Seine eigenen Kinder und Enkelkinder litten gleichermaßen unter seinen inzestuösen Neigungen.

In diesem Buch schildern wir unsere emotionale Reise von der frühesten Kindheit, als wir in die Sekte hineingeboren wurden, durch unsere Teenagerjahre, in denen uns zunächst insgeheime, dann aber immer größere Zweifel kamen, bis zu dem Punkt, an dem wir uns schließlich zu befreien versuchten wie Schmetterlinge aus einem klebrigen Spinnennetz. Es ist eine Geschichte von Dunkel und Licht, von der Versklavung der Seele, von Erlösung und Befreiung. Wir haben es überstanden – viele andere nicht. Tausende Kinder aus der zweiten Generation der »Familie« mussten mit den verheerenden Folgen des blinden Vertrauens ihrer Eltern in einen Anführer fertig werden, der behauptete, die Stimme Gottes auf Erden zu sein. Diejenigen, die den Mut aufbrachten, offen über ihre Leiden zu sprechen, wurden von ihren ehemaligen Peinigern geschmäht und verleumdet. Wir hoffen, dass Sie beim Lesen unserer Geschichte die Stimmen der Kinder hören, die zum Verstummen gebracht werden sollten.

Celeste Jones, Kristina Jones, Juliana Buhring

England 2007

EINLEITUNG

DIE SEKTE »KINDER GOTTES« entstand Ende der Sechzigerjahre unter den Hippies und Aussteigern von Huntington Beach im Süden Kaliforniens. Ihr Gründer David Berg kam 1919 in Oakland in Kalifornien zur Welt. Seine Mutter Virginia Lee Brandt Berg war eine gefeierte Predigerin der Christian Missionary Alliance. 1944 heiratete Berg Jane Miller, eine Jugendarbeiterin bei der Baptistischen Kirche. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes wurde Berg Pastor an einer Christian Missionary Alliance Church in Arizona, wurde jedoch nach nur zwei Jahren seines Amtes enthoben, angeblich wegen eines Sexskandals. Diese Maßnahme begründete seine lebenslange Verbitterung über kirchliche Institutionen.

Im Dezember 1967 zog Berg mit seiner Familie – seiner Frau Jane, später »Mutter Eva« genannt, und ihren vier Kindern Deborah, Faithy, Aaron und Hosea – zu seiner achtzigjährigen Mutter nach Huntington Beach. Sie hatte dort einen Coffeeshop namens Light Club eröffnet und bot den Hippies, Surfern und Aussteigern, die sich am Pier versammelten, neben Sandwiches auch erbauliche Predigten an. Aber als das brave Saubermann-Image des Light Club bei den langhaarigen Hippies auf wenig Gegenliebe stieß, erkannte Mrs Berg eine Chance für Sohn und Enkelkinder, die jungen Leute mit dem anzusprechen, was sie wirklich bewegte: die Musik und das leidenschaftliche Aufbegehren ihrer Zeit. Innerhalb kurzer Zeit zogen David Berg und seine Familie die Jugendlichen mit Parolen und Botschaften gegen das System und den Vietnamkrieg in Scharen an.

Bei Fahrten quer durch die Vereinigten Staaten gelang es der Gruppe, immer mehr Anhänger zu gewinnen, und sie gründete bald an vielen Orten kleine Gemeinden. In den Medien fanden ihre Aktivitäten große Beachtung, und nachdem sie in einigen Artikeln »Kinder Gottes« genannt worden war, übernahm die Gruppe diesen Namen.

Nach etlichen Affären mit einigen seiner Anhängerinnen fand Berg in seiner jungen und ambitionierten Sekretärin Karen Zerby alias »Maria« eine glühende und bedingungslose Gefährtin. Nachdem er seine von ihm getrennt lebende Frau Jane und seine verstorbene Mutter öffentlich als »Alte Kirche« gebrandmarkt hatte, bezeichnete er Maria und die »Kinder Gottes« als die »Neue Kirche« und sich selbst als den letzten Propheten der Endzeit. Er legte sich das Pseudonym »Moses David« zu und setzte sich so mit König David und dem Propheten Moses gleich, der die Kinder Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft (dem »System«) in das Gelobte Land geführt hatte. Berg beschloss die Gründung einer Dynastie. Seine zahlreichen Residenzen erhielten den Namen »The King’s House«, und er krönte sich und Maria zu König und Königin.

Viele Jahre lang leitete ein Gremium die Sekte, vornehmlich Angehörige von Berg, die allgemein »Königliche Familie« genannt wurden. Von den Verwandten erwartete er, dass sie ihm und den anderen Sektenführern unbedingten Gehorsam leisteten. Der einzige Kontakt zwischen Berg und seinen Sektenmitgliedern erfolgte durch seine zahlreichen Schriften mit dem Titel Mo Letters, Mo-Briefe, in denen er seine Glaubensgrundsätze, Überzeugungen und Anordnungen für die richtige Gemeindeführung ebenso kundtat wie seine Prophezeiungen und Offenbarungen, die ihm angeblich direkt von Gott zuteilwurden.

Anfang der Siebzigerjahre gerieten die »Kinder Gottes« ins Visier der Medien und der Behörden, da Eltern bei ihren Kindern bedenkliche Persönlichkeitsveränderungen festgestellt hatten, nachdem diese sich der Sekte angeschlossen hatten. Noch beängstigender war die Tatsache, dass jeder Kontakt zu den Familienangehörigen abgebrochen wurde und manche Kinder sogar bei Nacht und Nebel verschwanden und jahrelang nicht wieder auftauchten.

Um der negativen Publicity und möglichen Gerichtsverfahren zu entgehen, floh Berg nach Europa und empfahl seinen Anhängern, sich ebenfalls abzusetzen. In einem Massenexodus verließ die Gruppe die Vereinigten Staaten, um in anderen Ländern zu missionieren und neue Sektenmitglieder zu rekrutieren, zunächst in Europa. 1972 kamen Berg und Maria nach England.

Weil er immer mehr um seine persönliche Sicherheit besorgt war, zog er sich allmählich von seinen Anhängern zurück und hielt seine Aufenthaltsorte geheim. In dieser Zeit der Abgeschiedenheit experimentierten Berg und Maria mit einer neuen Methode, um mit Hilfe des Sex Konvertiten und Anhänger zu gewinnen, dem berüchtigten »Flirty Fishing«. Indem er in seinen Briefen ihre Erfahrungen dokumentierte, machte Berg die Sektenmitglieder nach und nach mit seinen Vorstellungen bekannt. Darüber hinaus veröffentlichte er eine neue Offenbarung: das »Gebot der Liebe«. Berg erklärte, dass die Zehn Gebote überholt seien. Alles, was aus Liebe geschah (auch Sex), war in Gottes Augen heilig. Ehebruch, Inzest, außerehelicher Sex und Geschlechtsverkehr mit Kindern waren keine Sünde, wenn sie »aus Liebe« geschahen. Er forderte die Befolgung seines Gebots der Liebe und des Flirty Fishing, und von den Anhängern wurde verlangt, nach diesen Vorstellungen zu leben oder sich von ihm zu trennen. Daraufhin verließen zwei Drittel der Mitglieder die Sekte und markierten damit das Ende der »Kinder Gottes« und den Beginn der »Family of Love«, der »Familie der Liebe«.

1979 enthüllte Berg in einem Brief mit dem Titel »Sex in meiner Kindheit«, dass ein Kindermädchen ihn als Kleinkind mit oralen Praktiken bekannt gemacht habe, was ihm höchst angenehm gewesen sei. Er betonte, so etwas sei völlig normal, ganz natürlich und daran sei absolut nichts Verwerfliches. In den folgenden Jahren wurden in weiteren Mo-Briefen und anderen Publikationen der »Familie der Liebe« die Forderung erhoben, dass Kindern sexuelle Kontakte mit anderen Kindern und Erwachsenen erlaubt sein sollten – und viele Erwachsene in der Familie hörten diese Botschaft mit Freuden und setzten sie in die Tat um.

***

Christopher Jones kam im Dezember 1951 in der Nähe von Hameln in Deutschland zur Welt, als Sohn von Glen Jones, einem Offizier der britischen Armee, und Krystina, einer jungen Polin, die er bei einem Einsatz in Palästina kennengelernt hatte. Nach dem Besuch eines Internats in Cheltenham ging er an das Rose Burford College, um Schauspieler zu werden. Nach vier Semestern brach er das Studium ab und trat 1973 den »Kindern Gottes« bei. Er hatte mit sieben verschiedenen Frauen fünfzehn Kinder, darunter Celeste, Kristina und Juliana, und gehört der Sekte immer noch an.

Rebecca Jones wurde im März 1957 als Tochter einer gutbürgerlichen Familie im Süden von England geboren. Ihr Vater Barry Home war Bauingenieur, ihre Mutter Margaret eine überzeugte Hausfrau. Obwohl die Eltern nicht religiös waren, schickten sie Rebecca mit fünf Jahren in die örtliche Sonntagsschule. Mit zwölf wurde sie Lehrerin an der Sonntagsschule und zwei Jahre später getauft. Noch in der Schule kam Rebecca mit den »Kindern Gottes« in Berührung, trat ihnen mit sechzehn bei, lernte unseren Vater kennen und heiratete ihn 1974. Sie bekamen drei gemeinsame Kinder, darunter Celeste und Kristina, bevor sie sich trennten. 1987 verließ Rebecca die Sekte.

Serena Buhring wurde im Oktober 1956 in der Nähe von Hannover in Deutschland geboren. Ihr Vater war Architekt und ihre Mutter eine begabte Musikerin, die Klavier, Geige und Cello spielte. Serena reiste als Hippie durch Indien, wo sie sich den »Kindern Gottes« anschloss. Unseren Vater lernte sie nach dessen Trennung von Rebecca kennen und hatte mit ihm drei Kinder, unter ihnen Juliana. Serena ist noch immer Mitglied der Sekte.

ERSTER TEIL

Celestes Geschichte

1 Daddys kleines Mädchen

ICH SPIELTE ALLEIN im Vorgarten eines weißen Hauses nahe dem kleinen Fischerdorf Rafina in Griechenland. In unserem Garten standen drei Olivenbäume, ein Aprikosen-, ein Feigen- und ein Pfirsichbaum, alle schwer beladen mit Früchten. Ich saß im Schatten einer großen, alten Pinie. Von der Sonne war die Erde knochentrocken und ausgedörrt, und ich vergnügte mich damit, mit einem Stein Bilder in den Sand zu zeichnen. Ich war fünf Jahre alt.

An meine Mutter konnte ich mich kaum erinnern, nur daran, dass sie Gitarre spielte und »Jesus liebt mich, das weiß ich, weil die Bibel es mir sagt« sang, während ich mit meiner jüngeren Schwester Kristina auf einem Etagenbett spielte – doch das war in einem anderen Land. Ich hing sehr an Mum und sprach jeden Tag von ihr, obwohl ich sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich vermisste sie, meine Schwester und meinen kleinen Bruder David. Verzweifelt klammerte ich mich an die Hoffnung, dass Mum zurückkommen würde, und fragte meinen Dad immer wieder: »Warum hat sie uns verlassen?«

»Mum hat beschlossen, mit einem anderen Mann zusammenzuleben, aber ich konnte mich nicht von dir trennen. Du warst die Älteste, und wir standen uns doch immer besonders nah, oder?« Ich nickte, denn ich liebte Dad genauso wie meine Mum, aber ich fand es ungerecht, mich zwischen ihnen entscheiden zu müssen.

»Und was ist mit Kristina und David?«, wollte ich wissen.

Dad nahm mich in die Arme. »Sie waren zu klein«, erklärte er mir. »Sie brauchten noch die enge Nähe ihrer Mutter.«

Dad verbrachte täglich viele Stunden in dem provisorischen Aufnahmestudio im Keller unseres Hauses und produzierte und arbeitete als Discjockey für die Radiosendung Music with Meaning. Deshalb hatte ich ein Kindermädchen, eine junge Deutsche, die Serena hieß. Ich konnte sie nicht leiden und machte ihr das Leben so schwer wie möglich, indem ich mich allem verweigerte, was sie vorschlug. Serena hatte lange, glatte dunkle Haare und braune Augen, die durch eine Brille mit dicken Gläsern vergrößert wurden. Die arme Serena. Obwohl sie ihr Möglichstes tat, mich für sich zu gewinnen, war ich fest entschlossen, sie nicht zu mögen. Ich fand, dass sich ihr deutscher Akzent komisch anhörte, und sie versuchte ständig, mich mit Weizenkeimen und ungesüßtem Joghurt zu füttern und mir löffelweise Lebertran einzuflößen, dessen Geruch und Geschmack ich nicht ausstehen konnte.

Wir gehörten den »Kindern Gottes« an, einer streng geheimen Glaubensgemeinschaft mit Verbindungen, die sich über die ganze Welt erstreckten. Der Anführer und Prophet hieß David Berg. Wir kannten ihn unter dem Namen »Moses David«, mein Dad nannte ihn »Mo«, und ich nannte ihn »Großvater«. Er schrieb uns vor, was wir sagten, taten und dachten, sogar unsere Träume. Alles in unserem Leben, selbst die belanglosesten Details wie unser Essen, wurde von Mo diktiert. Er hatte erklärt, dass wir uns gesund ernähren und auf weißen Zucker unbedingt verzichten sollten, und Serena richtete sich begeistert nach seinen Vorschriften. »Davon bekommst du starke Knochen und Zähne«, sagte sie zu mir, aber damit schmeckte es auch nicht besser. Sie war nicht grausam, aber streng, und ich betrachtete sie als unwillkommenen Eindringling in mein Leben. Als sie zu uns kam, hatte Dad mir gesagt, dass sie drei Monate bleiben würde, und ich zählte die Tage bis zu ihrer Abreise.

An dem Tag, als ich unter der Pinie spielte, hob ich plötzlich den Kopf und sah, wie Dad und Serena auf die Veranda traten. Sie standen sehr nah beieinander, und ich spürte instinktiv, dass irgendetwas zwischen ihnen knisterte.

»Schätzchen, ich muss dir etwas Tolles sagen.« Während mein großer, gut aussehender Dad, den ich mehr liebte als alles auf der Welt, das sagte, drehte er sich um und zog Serena in seine Arme.

Als ich auf die beiden zuging, bemerkte ich das Strahlen in ihren Gesichtern. Oh nein, stöhnte ich unhörbar. Das sieht gar nicht gut aus.

»Wir haben beschlossen, uns zusammenzutun«, verkündete mein Dad mit einer Stimme, die für meinen Geschmack viel zu glücklich klang. »Serena wird deine neue Mutter.«

»Nein!«, schrie ich. »Ich hasse sie!« Ich konnte es nicht einmal über mich bringen, ihren Namen auszusprechen. »Ich will meine Mutter wiederhaben. Warum kann sie nicht zu uns zurückkommen?« Ich brach in Schluchzen aus, drehte mich um, rannte in eine Ecke des Gartens und drehte ihnen den Rücken zu.

Besorgt kam Dad mir nach. Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Süße, du weißt, dass deine Mutter für immer fort ist. Sie kommt nicht zurück.«

»Aber ich will mit meiner Schwester und meinem Bruder zusammen sein. Es ist einfach gemein.« Schmollend schob ich die Unterlippe vor.

»Aber du hast hier so viele Schwestern und Brüder, mit denen du spielen kannst«, wandte Dad ein.

»Das ist nicht dasselbe«, protestierte ich.

»Wir sind alle eine Familie. – Denk an deine Unterlippe. Du wirst noch darüber stolpern, wenn du nicht aufpasst.«

Ich lächelte dünn, wenn auch nur, um Dad einen Gefallen zu tun.

Mo sagte, dass wir unsere natürlichen Familien nicht überbewerten sollten. Unsere Brüder und Schwestern bei den »Kindern Gottes« seien unsere wahre Familie. Aber ich wollte auf meine Mutter, Kristina oder den kleinen David nicht verzichten, auch wenn ich allmählich vergaß, wie sie aussahen.

Auf dem einzigen Foto, das Dad von Mum hatte, stand sie hinter einem Zwillingsbuggy, in dem ich neben meiner kleinen Schwester saß. Ich betrachtete das Bild intensiv. Mum hatte Haare, die ihr bis zur Taille reichten, blaue Augen und ein strahlendes Lächeln.

»Sie ist sehr schön«, sagte ich. »Und das da ist meine Schwester?« Wegen der schlechten Qualität des Fotos konnte ich ihr Gesicht nicht genau erkennen. Kristina war noch klein, ungefähr ein Jahr alt, mit zwei Zöpfchen. Ich war achtzehn Monate älter und sah ihr sehr ähnlich. Jede von uns hatte ein hübsches Baumwollkleidchen an und einen Sonnenhut auf dem Kopf. So angestrengt ich auch auf das Foto starrte, ich konnte nicht die leiseste Erinnerung an sie heraufbeschwören, und ich fühlte eine bohrende Leere in meinem Inneren.

Dad erzählte mir, wie er und Mum uns immer mitnahmen, wenn sie auf der Straße Menschen bekehren wollten. »Ich schob den Kinderwagen Leuten in den Weg, drückte ihnen eine Broschüre in die Hand und erzählte von Jesus und wie sie gerettet werden konnten. Inder lieben nun einmal Kinder, und ihr habt so niedlich ausgesehen. Die Leute haben euch in die Backen gezwickt und mit euch geplaudert. Sie fanden, dass sie nicht unhöflich sein konnten, wenn ihr wie zwei kleine Engel zu ihnen aufschaut.«

»Hast du ein Bild von David?«, wollte ich wissen.

»Das wurde aufgenommen, als er gerade drei Monate alt war«, antwortete Dad und zeigte mir ein kleines Schwarz-Weiß-Foto.

»Oh, ist der süß«, rief ich aus. »Sieh dir doch nur seine Pausbäckchen an!« David lag auf dem Bauch und stützte breit lächelnd den Kopf auf seine dicken Ärmchen.

Meine eigenen Erinnerungen waren nur spärlich, wie eine Reihe flüchtiger Schnappschüsse. Vieles von dem, was ich wusste, hatte mir Dad in unseren seltenen gemeinsamen Momenten erzählt. Dabei kletterte ich auf seinen Schoß, und er gab ausgewählte Bruchstücke preis, die sich nach und nach zu einem größeren Bild zusammenfügten. Aber es war immer nur das halbe Bild; über Mum erzählte er mir kaum etwas.

Vielleicht um sie für mich lebendig zu erhalten, bat ich Dad oft, mir zu erzählen, wie er und Mum sich kennengelernt, wie sie geheiratet hatten und wie ich geboren wurde. Ohne großen Erfolg; erst als ich erwachsen war, erfuhr ich endlich die ganze Geschichte.

»Deine Mum war jung und sehr schön, gerade siebzehn Jahre alt, als wir heirateten. Ich war zweiundzwanzig.«

Ich war immer voller Fragen. »Und dein Dad?«

Dad erzählte mir, dass sein Vater Jurist und Militärrichter bei der britischen Armee gewesen war. An seine Mutter konnte er sich kaum erinnern, da er sie mit vier Jahren verloren hatte und sein Vater bald nach ihrem Tod eine neue Ehe eingegangen war. Er und sein Halbbruder wurden in ein Internat in Cheltenham geschickt.

»Im Internat war ich ziemlich rebellisch. Ich wurde sogar von der Schule verwiesen, weil ich eine Protestaktion initiiert hatte, bei der sich einige von uns in der Haupthalle verbarrikadierten.«

»Warum? Wogegen hast du denn protestiert?«, fragte ich.

»Die Männer von der Schulaufsicht haben uns bei fast jeder Gelegenheit verprügelt, ganz gleich, was wir getan hatten. Nachts kamen sie in die Schlafräume und leuchteten uns mit der Taschenlampe ins Gesicht, um uns zu wecken. Diese ungerechte Behandlung hatten wir satt und beschlossen, uns dagegen zu wehren.«

Nach dem Rauswurf schrieb er sich an einer Schauspielschule in London ein und reiste in den Ferien durch Europa. »Ich war auf der Suche nach dem Sinn des Lebens«, fügte er erklärend hinzu.

Ernst und gespannt lauschte ich seinen Schilderungen, wie er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens viele spiritistische Bücher gelesen und sich mit Okkultismus und Meditation befasst hatte.

Ich erschauerte. Von Mo war uns unablässig eingehämmert worden, dass Drogen und Alphabettafeln für spiritistische Sitzungen gefährlich waren, weil sie dem Satan die Tür zu unserem Geist öffnen konnten.

Dad schloss seine Schilderung von diesen Jahren mit dem Geständnis: »Am Ende war ich tief deprimiert und desillusioniert vom Leben.«

»War der Besuch der Schauspielschule denn nicht dein großer Wunsch?«

»Sie konnte mir nichts geben. Ohne den Herrn ist alles bedeutungslos. Nichts als Schall und Rauch, mein Schatz.«

An diesem Tiefpunkt bekam er eines Tages Besuch von einem Freund, der gerade aus Istanbul zurückgekommen war. Der junge Mann hatte vorgehabt, zu Fuß nach Indien zu pilgern, war aber unterwegs von den »Kindern Gottes« bekehrt worden und nun nach England zurückgekehrt, um Gottes Wort zu verbreiten.

Dad war verblüfft über die einschneidende Veränderung im Wesen seines früher leicht wirren und von Drogen benebelten Freundes. Jetzt schien er selbstsicher zu sein, zielstrebig und voller Energie. »Das hätte er alles den ›Kindern Gottes‹ zu verdanken, sagte er. Das hat mich neugierig gemacht.«

In der Hippie-Ära mit ihrem Wunsch nach Liebe und Frieden wirkte die von den »Kindern Gottes« verbreitete Botschaft faszinierend: ein neues Leben in Christus zu finden, auszusteigen, in Gemeinschaft zu leben, dem Konsum zu entsagen und alle Besitztümer zu teilen, genau wie die ersten Jünger. Doch hier ging es nicht bloß um eine weitere fanatische amerikanische Sekte – es war Gottes Endzeitarmee, die Elite, die eine verlorene und dringend der Rettung bedürftige Welt durch ihre dunkelste Stunde geleiten wollte.

Die »Kinder Gottes« glaubten, dass mit dem nahenden Ende der Welt alles andere Streben im Leben sinnlos war. Das überzeugte Dad. Er verschenkte fast alles, was er besaß, und tauchte mit einem kleinen Koffer auf der Schwelle einer Kommune in Hollingbourne in Kent auf, bereit für sein künftiges Leben als Jünger.

In der Erinnerung begannen seine Augen zu strahlen. »Es war unglaublich. Man lebte unter einem Dach und teilte sämtliche Dinge wie die ersten Christen in der Apostelgeschichte. Es war die Familie, nach der ich immer gesucht hatte.«

Von den Mitgliedern wurde verlangt, dass sie sich für ihr neues Leben einen biblischen Namen wählten. Dad entschied sich für Simon Peter. Seine Aufgabe bestand nun darin, auf die Straßen hinauszugehen und Zeugnis abzulegen. Das war die Bezeichnung für ihre Bekehrungsversuche. Gegen eine Spende Broschüren zu verteilen, wurde »Litnessing« genannt.

Um Einfälle nie verlegen, dachte sich Dad eine neue Masche für das Spendensammeln aus. Lachend erzählte er mir davon. »Ich verkleidete mich als Clown mit einer dicken roten Knollennase und einem witzigen Hut mit einem wippenden kleinen Plastikvogel.«

Er zog eine Grimasse, hob die Hand und wedelte mit den Fingern über dem Kopf. »Ich wette, du hast wahnsinnig komisch ausgesehen«, kicherte ich.

»Bestimmt, aber vergiss nicht, ich war ein Clown. Clowns müssen komisch aussehen. Ich sprang den Passanten in den Weg und brachte sie zum Lachen, bevor ich ihnen ein Traktat überreichte und um eine Spende bat. Ich wurde ein Top-Spendensammler. Jede Woche brachte ich der ›Familie‹ Hunderte von Pfund ein.«

Lachend versuchte ich mir vorzustellen, wie sich Dad in London zum Clown machte, in einer Stadt, an die ich mich nicht erinnern konnte, obwohl ich dort geboren war. Da Betteln und Hausieren gesetzlich verboten war, bekam Dad oft Probleme mit der Polizei. Natürlich konnte er in dem, was er tat, nichts Unrechtes erkennen. Er befolgte nur Gottes Gebot.

Dad berichtete mir, dass er meine Mum in Hollingbourne kennengelernt hatte, da sie am selben Tag wie er der Kommune beigetreten war. In ihrem jugendlichen Idealismus hielt sie die »Kinder Gottes« für eine ehrbare Missionierungsgesellschaft. Sie war erst sechzehn und in der Schule von der Sekte angeworben worden. Bevor meine Eltern legal heirateten, wurden sie von den »Kindern Gottes« »vermählt«. Nach drei Tagen Flitterwochen im Lake District zogen sie in ein großes Haus in Hampstead, das die Sekte übernommen hatte.

Dad nutzte seine Schauspielausbildung bei seinen Auftritten für die »Kinder Gottes« und zitierte ganze Passagen aus den Mo-Briefen, den Botschaften des Propheten, die als Leitfaden für uns Jünger regelmäßig an alle Kommunen verschickt wurden. Mein Vater liebte seine Auftritte, und seine Begabung machte ihn bald zu einer Art Star innerhalb der Gruppe. Angespornt von seinem Erfolg, nahm er etliche der Mo-Briefe auf Kassette auf und schickte sie unter dem Titel Wild Wind an andere Kommunen, damit die Jünger sie sich anhörten. Während Dad vollauf beschäftigt und zufrieden war, ging es meiner mittlerweile schwangeren Mutter ziemlich schlecht, und es muss eine große Erleichterung für sie gewesen sein, als ich nach drei Tage andauernden, heftigen Wehen am 29. Januar 1975 in einem kleinen Mansardenzimmer des Hauses in Hampstead zur Welt kam.

Ihre Aufgaben als junge Eltern hielten Mum und Dad nicht davon ab, die Welt zu retten. Missionierungsteams wurden ausgeschickt, und in einer »Prophezeiung« erhielten meine Eltern den Auftrag, nach Indien zu gehen. Jünger durften keinen eigenen Willen haben, sondern hatten dem Willen Gottes zu folgen, indem sie beteten und dann von Ihm mit Prophezeiungen belohnt wurden. Diese Prophezeiungen versahen alle Entscheidungen, die getroffen werden mussten, mit dem Stempel des Göttlichen.

In Wahrheit waren von den britischen Behörden Untersuchungen über die Aktivitäten der Sekte eingeleitet worden, vor allem über ihr aggressives Spendensammeln und Missionieren. Daher hatte Mo den Jüngern befohlen, Großbritannien zu verlassen und sich nach besseren Möglichkeiten umzusehen, beispielsweise in Indien, Südamerika und dem Fernen Osten – Gegenden, in denen die Behörden weit weniger daran interessiert sein würden, was eine Gruppe westlicher Aussteiger trieb.

Nach der Ankunft in Indien zog unsere kleine Familie in eine Wohnung in Bombay, die über drei Zimmer verfügte, die wir mit zwei weiteren Paaren und zwei alleinstehenden Brüdern teilten. Nach ein paar Wochen fanden meine Eltern eine Zweizimmer-Wohnung in Khar, einem anderen Bezirk von Bombay. Da ständig andere Jünger bei uns übernachteten, herrschte meistens drangvolle Enge. Bis auf zwei Betten, einen Tisch und Stühle im Wohnzimmer gab es kaum Möbel.

Mum war wieder hochschwanger, doch bis zur Geburt schliefen sie und Dad auf Laken, die sie auf dem Fußboden ausbreiteten, weil die Matratzen voller Wanzen waren. Häufig hielten sich bis zu zwanzig Personen in der Wohnung auf, und Mum gab sich große Mühe, damit der Hausbesitzer nichts davon merkte. Meine Schwester kam im Juni 1976 in einem nahe gelegenen Privatkrankenhaus zur Welt und erhielt den Namen von Dads Mutter: Kristina. Obwohl ich erst achtzehn Monate alt war, liebte ich sie vom ersten Moment an. Ich legte mich neben sie auf Mums Laken und bedeckte sie zärtlich mit schmatzenden Küssen. Ich wurde die in ihre kleine Schwester vernarrte »Ältere« und sah Mum gern dabei zu, wie sie Kristina wickelte und stillte. Für mich war sie Nina.

Für Dad stellten viele Dinge in Indien einen gewaltigen Kulturschock dar. Obwohl er als Hippie auf Zypern und in Israel gewesen und quer durch Europa gereist war, hasste er die Hitze, den Schmutz und die Krankheiten, denen er in Bombay ausgesetzt war. Er zog sich eine böse Hepatitis zu und verbrachte nach Kristinas Geburt einige Wochen im Krankenhaus.

»Das schlechte Wasser und das Essen machten mich krank. Ich bekam eine schwere Diarrhö, durch die ich bis auf die Knochen abgemagert bin. Und ich fand es beschämend, als Ausländer auf den Straßen Broschüren anbieten zu müssen wie ein Bettler, wo es bereits unendlich viele andere Bettler gab und Kinder, die kein Dach über dem Kopf hatten und nichts zu essen«, erzählte er mir.

Genug Essen zu beschaffen erwies sich für meine Eltern und die anderen Sektenmitglieder als großes Problem. Zunächst hatten sie kaum Geld, weil sie sich mit dem Verkauf der Broschüren über Wasser halten mussten. Manchmal konnten sie sich tagelang nichts anderes leisten als Reis und Linsen, oder sie mussten an Marktständen um übrig gebliebenes Obst und Gemüse bitten. Natürlich war das für die »Kinder Gottes« kein Betteln. Als Auserwählte Gottes hatten sie ein Anrecht darauf, den Reichtum der Erde gratis zu bekommen. Aber arme Bauern um Almosen zu bitten, empfand Dad als entwürdigend. Dennoch hielt er seine Abneigung gegen das Spendensammeln unter den Ärmsten der Armen für eine Eingebung des Teufels, der ihn dazu verleiten wollte, seiner Berufung zu entsagen.

Während er weiterhin stoisch durch die Gluthitze von Bombay marschierte, bemühte sich Dad, seiner Rolle mehr Sinn zu geben. Er war intelligent und hatte eine gute Ausbildung genossen. Danach hatte er begonnen, für den örtlichen Radiosender zu arbeiten und dort Jingles zu schreiben. Mo zufolge stand die »Letzte Schlacht von Armageddon« kurz bevor, und wenn Dad sich nicht ein bisschen beeilte, würde er nicht einmal die Menschen in Indien retten.

Plötzlich erinnerte er sich an die Wild Wind-Kassetten, die ihm in London viel Lob eingebracht hatten. Es war sogar davon die Rede gewesen, das Radio zu nutzen, um die Botschaft weiterzuverbreiten. Ihm kam die Idee, eine Reihe von halbstündigen Sendungen aufzunehmen, die er Music with Meaning nennen und Lokalsendern anbieten würde. Er könnte die Programme im Alleingang produzieren, die Texte schreiben, sie vortragen und als DJ fungieren.

Von Anfang an hatten die »Kinder Gottes« Musik als Köder benutzt, um Interesse zu wecken und Aufmerksamkeit zu erregen. Gemeinsames Singen zum Lob Jesu wurde »Inspiration« genannt und gehörte zum Alltag der Jünger. Die Gemeinschaft zog viele Musiker und andere Künstler an, darunter auch Jeremy Spencer, den ehemaligen Gitarristen von Fleetwood Mac, der eines Tages auf der Straße bekehrt wurde und eine Konzerttournee abbrach, um in eine Kommune in San Francisco einzutreten. Statt um Rock’n’Roll ging es nun um Songs, die auf der Bibel und den Mo-Briefen basierten. Dad beschloss, sein Talent für die Weiterverbreitung von Gottes Wort einzusetzen. Eine ihn vollauf befriedigende Aufgabe war genug Motivation für ihn, in Indien zu bleiben.

Mit sichtlichem Stolz erzählte mir Dad von der Verwirklichung seiner Pläne. »Wir boten Radiosendern Music with Meaning kostenlos an. Ich wusste, dass ein gut gemachtes Musikprogramm die Botschaft cool rüberbringen und junge Hörer anziehen würde. Anstatt mich in der brütenden Hitze durch die Straßen zu schleppen, um vor einer Handvoll Leute Zeugnis abzulegen und in der Woche vielleicht ein oder zwei Seelen zu bekehren, konnte ich Millionen erreichen!«

»Das war eine großartige Idee, Dad«, rief ich und fand ihn einfach wundervoll.

Als Mo von den Sendungen erfuhr, lobte er Dad für seinen Pioniergeist und half bei der Finanzierung des Projekts. Mein Vater hatte den Propheten persönlich nie kennengelernt – das war nur wenigen seiner Anhänger vorbehalten –, aber seine Nachrichten und Anordnungen wurden uns durch die Mo-Briefe oder die sogenannten »Hirten« übermittelt. Dad arbeitete Tag und Nacht für seine Radiosendungen, während sich Mum um meine Schwester und mich kümmerte. Mittlerweile erwartete Mum ihr drittes Kind und fühlte sich gar nicht gut. Aber trotz ihrer Schwangerschaft musste sie weiterhin in die Hitze hinaus, um mit dem Verkauf von Broschüren Geld zu verdienen. Täglich legte sie viele Kilometer zu Fuß zurück und schob meine Schwester im Kinderwagen vor sich her.

Viele von Mos Anhängern waren ihren Partnern treu wie meine Eltern, und bewahrten sich eine Art von Privatsphäre, obwohl die beschränkten Wohnverhältnisse in den Kommunen das kaum zuließen. Aber 1978 erreichte die Kommunen einer von Mos Briefen aus dem Jahr 1974, in dem er erklärte, wir seien alle »eine Familie«, in der es Gott zufolge so etwas wie Ehebruch nicht gab. Sex sei der höchste Ausdruck von Liebe und Hingabe, und es wurde »Teilen« genannt. Die »Kinder Gottes« waren inzwischen die »Familie der Liebe«, und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Manchen Jüngern fiel es schwer, sich an die neuen Freiheiten zu gewöhnen, während andere nur zu gern die Chance ergriffen, Sex mit wechselnden Partnern zu haben. Meine Eltern begannen, mit anderen Partnern zu schlafen, obwohl ich glaube, dass Dad daran mehr Gefallen fand als Mum. Mit zwei kleinen Kindern und schwanger mit einem dritten, stand Sex ohnehin nicht ganz oben auf ihrer Liste. Aber Mum war eine überzeugte Gläubige und befolgte die Gebote des Propheten gehorsam, obwohl sie mit heftigen Eifersuchtsgefühlen zu kämpfen hatte. Sie fühlte sich vernachlässigt und ungeliebt und verfiel darüber hinaus nach der Geburt meines Bruders David im April 1978 in eine tiefe Depression. Als der zuständigen »Hirtin« auffiel, wie still meine Mutter geworden war und wie traurig sie aussah, wollte sie wissen, ob etwas nicht stimmte. Mum vertraute ihr an, dass sie sich in ihrer Ehe zunehmend unglücklich fühlte. Die Hirtin erzählte dies einem der Oberen, und meine Mutter wurde weggeschickt, um sich über den Fortgang ihrer Ehe Gedanken zu machen. Eben war Mum noch bei mir gewesen, im nächsten Moment brach sie mit David zu einer Kommune in Madras auf.

Sechs Wochen später kehrte Mum in Begleitung eines jungen Mannes aus Madras zurück, eines Bruders aus Australien mit Namen Joshua, der sich unsterblich in sie verliebt hatte. Das führte zu weiteren Komplikationen in der Beziehung meiner Eltern zueinander und schließlich zu ihrer Trennung.

Eines Morgens erschien unerwartet die Polizei in unserer Wohnung und forderte die ausländischen Bewohner auf, das Land unverzüglich zu verlassen. Offenbar waren einige der zur Sekte bekehrten jungen Inderinnen so schockiert und beunruhigt über die in den Kommunen herrschende Promiskuität, dass sie sich ihren Eltern anvertrauten, die prompt Anzeige erstatteten. Auf Ersuchen verzweifelter Eltern im Westen, die nach ihren vermissten Kindern suchten, schaltete sich Interpol ein. Hastig packten wir unsere Habseligkeiten zusammen, und die Kommune wurde geschlossen.

Mum und Joshua beschlossen, mit Kristina und David nach England zurückzukehren. »Aber ich habe darauf bestanden, dass du bei mir bleibst«, sagte Dad. »Von dir konnte ich mich nicht trennen.«

Mein Vater sah so gut aus, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass ihn jemand freiwillig verließ. Aber obwohl er mich meinen Geschwistern vorgezogen hatte, war ich untröstlich über den Verlust meiner Mutter.

Dad zog mich an sich und sagte: »Du warst so furchtbar traurig und hast dich nach Mum buchstäblich verzehrt. Nichts konnte dich trösten. Schließlich habe ich versprochen, mit der Wahl einer neuen Partnerin noch zu warten. Für den Fall, dass deine Mutter ihre Meinung ändert.«

Ich glaubte seinen Beteuerungen, ob sie nun ehrlich gemeint waren oder nicht, und seine Worte gaben mir die Hoffnung, dass der Bruch unserer Familie nur vorübergehend war, eine Hoffnung, die ich in den nächsten zwei Jahren über zwei Kontinente im Herzen trug.

Zwei Wochen später flogen wir nach Dubai. Dad war ziemlich verzweifelt, da er Indien inzwischen lieben gelernt hatte und die Zukunft mehr als ungewiss schien. In Dubai erhielt mein Vater überraschend einen Anruf von Mos jüngster Tochter Faithy. Sie war in Griechenland unterwegs gewesen, um nach einem geeigneten Ort für ein neues Projekt zu suchen. Faithy hatte Charisma und Ausstrahlung sowie eine Art, mit Worten umzugehen, die jeden überzeugte. Sie hatte die Absicht, die talentiertesten Musiker, Sänger und Songschreiber zusammenzubringen, um mit ihrer Hilfe weitere Anhänger für die »Familie« zu gewinnen.

»Simon Peter«, begann sie, »Mo ist sehr erfreut über deine Erfolge mit Music with Meaning. Er hat die Absicht, die Produktion der Sendungen zu unterstützen und für ihre weltweite Ausstrahlung zu sorgen.«

Die Programme sollten umfangreicher und sehr viel kommerzieller gestaltet werden, um neue Hörer anzuziehen und sie durch intensive Betreuung an die »Familie« zu binden – mit lokalen Music with Meaning-Clubs, einer Zeitschrift und Einladungen zu Zusammenkünften. Von Faithy persönlich angerufen zu werden galt als große Ehre, und Dad war überglücklich, volle Unterstützung für sein Projekt zu bekommen. Er hatte stets den brennenden Wunsch, neue Seelen zu erreichen und zu bekehren. Nicht unbedingt praktisch veranlagt, war er froh, die Organisation den Anführern der »Familie« überlassen zu können, damit er sich ganz auf die Sendungen konzentrieren konnte.

Und so trafen wir Ende 1979 in Athen ein. Wir überquerten die Halbinsel, um die Ostküste zu erreichen, und der Anblick der hoch in den blauen Himmel ragenden hellen Berge war atemberaubend. Während wir durch dunkle Pinienhaine fuhren, konnte ich das Meer glitzern sehen und die Fischerboote im alten Hafen von Rafina.

Unser Haus war eine der typischen modernen griechischen Villen: weiß getüncht und mit einem roten Ziegeldach. Im Garten wuchsen Obstbäume, struppiges Gras, gelbe Mimosen und Olivenbäume. Gleich in der Nähe am Meer gab es einen großen Campingplatz, das Coco Camp. Die eine Hälfte der Stellplätze wurde von normalen Urlaubern genutzt, die andere war für uns, die »Familie«, gebucht worden. Immer mehr Wohnwagen und Caravans trafen ein, bis ungefähr zweihundert Leute versammelt waren. Es waren Musiker und Techniker, die man eigens ausgewählt hatte, damit sie Dad bei seinem Projekt unterstützten.

Tagsüber lief ich im Freien herum und spielte mit den Kindern auf dem Campingplatz oder am Strand. Wir sammelten große, bunte Kieselsteine, Muscheln, tote Seesterne oder Seeigel. Es gab so unendlich viel zu sehen und zu tun, dass ich von morgens bis abends draußen spielte. Meine Haare wurden tagelang nicht gebürstet, und ich erinnere mich, dass sich irgendwann eine amerikanische Sängerin und Songschreiberin namens Wendy zu mir setzte, um mir mit einem Kamm die verfilzten Locken zu entwirren.

Manchmal lag ich abends stundenlang gelangweilt auf meinem Bett, weil Dad bis spät in die Nacht im Studio mit Faithy Berg und Jeremy Spencer arbeitete, dem früheren Gitarristen von Fleetwood Mac. Faithy hatte beschlossen, ihn als Zugpferd einzusetzen, um Music with Meaning für Radiosender attraktiv zu machen.

Um zu verhindern, dass ich völlig verwilderte, besorgte Faithy eine Reihe von Kindermädchen, damit sie sich um mich kümmerten. Die Erste war eine verheiratete Frau namens Rosa. Ihr folgte Crystal, eine temperamentvolle Amerikanerin mit Schmollmund und schulterlanger hellbrauner Haarmähne. Sie war alles andere als mütterlich, fluchte wie ein Kesselflicker – nicht gerade das, was man von einer guten Christin erwartete – und bekam ständig Schwierigkeiten, weil sie zu viel trank. Crystal behauptete gelegentlich über mich: »Die Kleine ist ein bisschen bockig. Wenn sie will, kann sie entzückend sein, aber wenn nicht, ist sie echt grauenhaft.« Ich gebe zu, dass ich eigensinnig sein konnte – besonders ihr gegenüber. Ich hasste sie, weil ich wusste, dass sie sich Dad schnappen wollte, und war entschlossen, jede zwischen ihnen aufblühende Romanze im Keim zu ersticken. Was mir nicht gelang. Dad hatte eine Affäre mit ihr, aber sie war nur kurzlebig.

Der Einzige, auf den ich hörte, war Dad. Ich liebte ihn mehr als alles auf der Welt und bemühte mich sehr, ihm zu gefallen. Außerdem rechnete ich fest damit, dass meine Mutter jederzeit zurückkommen könnte, obwohl wir uns voneinander verabschiedet hatten und obwohl es so war, als sei sie schon seit einer Ewigkeit fort.

Aber warum konnte ich mich nur nicht an sie erinnern? Warum nicht einmal an den furchtbaren Moment unserer Trennung in Bombay?

Als Dad meine Verzweiflung nicht mehr ertrug, rief er Mum in London an, damit ich mit ihr sprechen konnte.

Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Telefon und konnte kaum glauben, dass ich endlich wieder ihre Stimme hören würde. »Wann kommst du, Mummy?«, fragte ich sehnsüchtig.

»Ich habe dich sehr lieb, Celeste. Ich bemühe mich, bald zu dir zu kommen«, hörte ich eine Stimme am anderen Ende der Leitung, die ich nicht erkannte. »Deine Schwester Kristina und dein Bruder David lieben dich auch und möchten dich gern wiedersehen.«

Sie hatte gesagt, dass sie zu uns zurückkommen würde! Ich war überglücklich.

»Es ist alles ausgemacht«, sagte Dad zu mir, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. »Die Tickets sind schon gebucht. Jetzt dauert es nicht mehr lange, mein Schatz.«

Ich sah Crystal an, die in der Nähe saß, und verkündete triumphierend: »Du brauchst nicht mehr zu bleiben. Meine Mummy kommt wieder zurück.«

Crystal zog ein finsteres Gesicht. Ein paar Wochen später beendete die Leitung der »Familie« – die in allem das letzte Wort hatte, auch in Liebesdingen – die Beziehung, weil sie der Meinung war, Crystal sei nicht gut genug für meinen Vater, ihren neuen Medienstar. Eine Ansicht, der ich aus vollem Herzen zustimmte. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass ich bald wieder mit meiner Mum zusammen sein würde, mit ihr und meinen Geschwistern. Ich sehnte mich danach, dass sie mich zärtlich an sich drückte, mir die Haare bürstete, für mich da war, wenn ich sie brauchte. Aber die Zeit verging, und es geschah – nichts. Es fiel mir sehr schwer, meine Ungeduld zu zügeln. Jeden Tag dachte ich an meine Mutter und fragte Dad nach ihr. Wann kommt sie zurück? Wann ist sie endlich hier? Wann?

Als ich Dad eines Tages zum x-ten Mal nach Mum fragte, konnte er nicht länger aufschieben, mir das zu sagen, was mich in Verzweiflung stürzen musste. »Sie hat es sich anders überlegt. Sie bleibt bei Joshua.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an und spürte, dass mein Herz klopfte und flatterte wie ein verängstigter Vogel. Ich verstand das alles nicht. Warum hatte sie ihre Meinung geändert? Wer war dieser Joshua, der sie uns genommen hatte? Ich konnte es nicht verstehen und wollte mich mit der Endgültigkeit der Trennung nicht abfinden. Meine Erinnerungen an sie waren inzwischen verblasst, ich wusste ja nicht einmal mehr, wie sie aussah – aber sie war meine Mutter, auch wenn ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich war weiterhin fest entschlossen, dass niemand ihren Platz einnehmen sollte, ganz gleich, was geschah.

2 Loveville

WIR BESASSEN EIN KLEINES, zerbeultes Auto, kaum mehr als eine Schrottkiste. Die Rückbank hatten die früheren Eigentümer entfernt (deswegen war es relativ billig gewesen), sodass man auf dem Boden sitzen musste. Mit heruntergelassenen Hosen lagen mein Freund Nicki und ich hinten aufeinander und probierten Sex, wie wir es bei den Erwachsenen gesehen hatten. Wir waren beide fünf Jahre alt. Aber irgendetwas machten wir offensichtlich falsch, und es war nur ein Spiel.

»Du kitzelst mich ja!«

»Nein, tu ich nicht.«

»Doch. Autsch. Mein Bein steckt fest.«

Ich hörte ein unterdrücktes Lachen, hob den Kopf und sah, dass Nickis Mutter Patience uns durch das Autofenster amüsiert beobachtete. Hastig rappelte ich mich hoch und schob Nicki von mir.

Er entdeckte seine Mutter und wurde puterrot.

»Schon gut, ihr könnt ruhig weitermachen«, sagte sie.

Aber ich war verlegen und kam mir albern vor. Auf einmal war es kein Spaß mehr. Doch Schuldgefühle verspürte ich nicht. Bei der »Familie der Liebe« galt vieles als Sünde, aber Sex gehörte nicht dazu. Mo zufolge war es Gottes Wille, dass alle, selbst neugeborene Babys, sexuelle Erfahrungen machen.

Wenn jemand Dads Music with Meaning einschaltete, hörte sich die Botschaft geradezu idyllisch an: Liebe war die Antwort auf alle Probleme der Welt – Liebe zu geben, in Liebe miteinander zu leben. Mo hatte Dad instruiert, Jesus in den Sendungen nicht zu erwähnen. Das war eine wichtige Strategie, weil viele Hörer nicht wussten, was sie da eingeschaltet hatten und dass die Sendung von einer Sekte produziert wurde, und dann auch noch von einer sehr dubiosen. Doch einige Songs waren da weniger zurückhaltend. Jeremy Spencers Song Too Young for Love basierte auf einem Mo-Brief mit dem Titel Kinderbraut, in dem Mo die Ansicht vertrat, dass Kinder mit elf oder zwölf Jahren alt genug waren für Sex, Heirat und Kinder.

Mo wollte eine neue Generation von Kindern wie ich, die innerhalb der »Familie der Liebe« zur Welt kamen und »das System« nie kennengelernt hatten. Die unbefleckt wären von den Sünden eines früheren Lebens. Um zu beweisen, dass er an dieses Paradies auf Erden glaubte, das er »Loveville« nannte, schickte Berg Mitglieder seiner eigenen Familie zu uns, damit sie mit uns zusammenlebten.

Zunächst einmal war da Faithy, seine jüngste und loyalste Tochter, deren blaue Augen fast fanatisch funkelten. Und dann seine Enkelin, die neunjährige Mene, die zu einem Star von Music with Meaning wurde. Als ich sie zum ersten Mal sah, kam sie mir mit ihren klaren blauen Augen, dem milchweißen Teint und den blonden Haaren vor wie ein Engel. Sie hatte eine zarte, sanfte Stimme und einen verträumten Ausdruck in den Augen und benahm sich wie das perfekte »Familie«-Kind: stets ein Lächeln auf den Lippen, folgsam, die Bibel lesend oder daraus zitierend.

Außer bei Proben oder Aufnahmen im Studio verbrachten wir kaum Zeit miteinander. Nie habe ich mit Mene draußen gespielt. Ich glaube, das war ihr nicht erlaubt.

Jeder beteiligte sich in irgendeiner Form an den Radiosendungen und Videoshows von Music with Meaning, und wie jedes Kind machte es mir Spaß, meine Talente zu zeigen. Es gab Musiker, Techniker, Schneiderinnen und Sekretärinnen. Zu den berühmteren Mitgliedern des Teams gehörten das Ehepaar Peter und Rachel Pioneer, ein Gesangsduo aus Dänemark, sowie die Sängerinnen und Songschreiberinnen Joan and Windy, die keinen Hehl aus ihrer Bisexualität machten. Der Norweger Zack Lightman arbeitete als Kameramann und Beleuchter, während seine Frau Lydia Kostüme und Kulissen entwarf. Sue, eine Amerikanerin mit braunen Augen und einem bezaubernden Lächeln, war die Club-Sekretärin. Jeremy Spencers Frau Fiona galt als »Königinmutter« des Camps. Das Ehepaar lebte mit Antonio zusammen, unserem feurigen italienischen Koch, und Fiona hatte mit den beiden Männern sieben Kinder.

Im Zentrum des Camps war ein Armeezelt aufgestellt. Es diente als Ort für Versammlungen und im Winter, wenn die Abende kühl waren, als Speiseraum. Zwei große Gasöfen erwärmten die Bühne, und als Beleuchtung benutzten wir Kerosinlampen. Um so viele Menschen zu verpflegen, war ein ganzes Team nötig, dessen Aufgabe darin bestand, auf dem Markt und in örtlichen Geschäften Lebensmittel zu schnorren.

Bei warmem Wetter nahmen wir unsere Mahlzeiten an langen Tischen und Bänken unter den Bäumen ein. Das Essen war frisch und schmeckte – im Allgemeinen – köstlich. Unser Frühstück bestand aus Griesbrei, der mit braunem Zucker, Honig oder Melasse gesüßt wurde. Meist kochte Antonio solche einfachen italienischen Gerichte, die selbst für zweihundert hungrige Menschen relativ schnell zubereitet werden können: Pasta mit Tomatensauce oder Eintopf mit Rindfleisch, Kartoffeln und Karotten.

Von den Kindern wurde gutes Benehmen erwartet. Selbst die Jüngsten mussten während der ausgedehnten Versammlungen brav und ruhig auf den harten Holzbänken im Zelt sitzen. Diese Sitzungen waren unglaublich langweilig, und ich flüchtete mich oft genug in die Traumwelt meiner Gedanken. Darüber hinaus fiel es mir ungeheuer schwer, während der langen Gebete die Augen geschlossen zu halten. Also schlug ich beide Hände vors Gesicht und blinzelte durch die Finger.

Sobald Faithy das Leben im Camp organisiert hatte, übertrug sie die Leitung einem Ehepaar, Paul und Marianne Peloquin, um sich in Puerto Rico um eine spanische Version der Sendung – Musica Con Vida – zu kümmern.

Paul und Marianne nahmen ihre Aufgabe ernst – zu ernst. Das kinderlose Ehepaar hatte sich viele Jahre lang vergebens einen Sohn gewünscht. Paul stammte aus Quebec, hatte pechschwarze Haare, braune Augen und sprach Englisch mit starkem französischem Akzent. Er war ein richtiger Charmeur, hatte jedoch ein aufbrausendes Temperament und konnte unvermittelt aus der Haut fahren. Marianne war Französin, eine wohlproportionierte, große Frau mit tief liegenden Augen und einer markanten Nase. Zu ihren Pflichten gehörte es, das Tagesprogramm aufzustellen und jedem seine Aufgaben für den kommenden Tag zuzuweisen.

Wecken war um 7.30 Uhr, und nach dem Frühstück lief ich zum »Blauen Haus« hinüber, unserer Gemeinschaftsschule, deren Anstrich an das verblichene Blau vieler Fischerboote erinnerte. Auf dem Stundenplan standen »Word Time« und dogmatische Unterweisung. Unsere Lehrer waren Johnny Appleseed, Fiona Spencer und Nickis Mutter Patience. Wir bekamen Schautafeln mit biblischen Szenen gezeigt und lasen True Komix – illustrierte Mo-Briefe für Kinder. Normalerweise kam alle zwei Wochen mit der Post eine wahre Flut dieser Briefe und Bücher von Mo und Maria an. Jede Kommune hatte einen Briefkasten, zu dem der für die Kommune Zuständige einen Schlüssel hatte. Es war organisiert wie ein geheimes Kommandounternehmen.

An sonnigen Tagen fand die Lektüre im Schatten der Pinien auf dem Campingplatz statt. Hätten Sonntagsschullehrer diese True Komix zu Gesicht bekommen, wären sie in Ohnmacht gefallen. Sie zeigten unverhüllte Nacktheit und krasse Sexszenen ebenso wie grauenhafte Dämonen und bizarre Traumfantasien, die Mo zufolge den Willen Gottes deutlich machten. »Mo ist der Prophet für die heutige Zeit. Das Sprachrohr, mit dem Er uns Seine neue Botschaft verkündet«, erklärten unsere Lehrer. »Für die System-Christen bleibt der göttliche Geist unerreichbar. Sie sind ›alte Schläuche‹, die den neuen Wein nicht aufnehmen können.«

Gott, Jesus, Engel und der Teufel waren reale Bestandteile unseres Alltags. Unser Wohlverhalten belohnte Jesus, unsere Vergehen bestrafte der Teufel. Unsere Indoktrination war umfassend, und schon der leiseste Zweifel würde dem Teufel Tür und Tor öffnen. An eine Bilderfolge aus den True Komix erinnere ich mich noch genau. Sie zeigte den Teufel als Kobold mit Hörnern und Forke. Ein kleines Mädchen sitzt mit ihm und vier »Zweifelchen« am Tisch, und der Teufel gießt dem Mädchen Tee ein. Auf dem nächsten Bild versinkt das Mädchen im Treibsand und gleitet unrettbar zurück ins »System«, weil der Teufel und seine »Zweifelchen« es in ihren Bann gezogen haben. »Es ist gefährlich, mit dem Teufel Tee zu trinken«, lautete die Botschaft.

Einige der True-Komix-Geschichten handelten von Davidito, Davida und Techi, den Kindern der Königlichen Familie. Wir kannten sie bereits aus den Davidito-Briefen als Beispiele dafür, wie »revolutionäre« Kinder im Sinne Gottes erzogen werden. Mos Sekretärin und zweite Ehefrau »Maria« hatte zwei Kinder: Davidito und Techi. Davidito war nach einem Flirty Fishing mit einem Hotelkellner auf Teneriffa 1975 zur Welt gekommen – nur drei Tage vor mir, und das machte mich sehr stolz. Techis Vater war Timothy, Marias Liebhaber und Mos rechte Hand. Timothy sei engagiert worden, damit er »seinen Samen spendet«, schrieb Mo in seinen Briefen und bezeichnete Techi als seine Tochter. Ihr ungewöhnlicher Name sei ihm in einer Vision gekommen, als ihn während einer Krankheit (kurz vor ihrer Geburt im Jahr 1979) der Geist eines kleinen Mädchens besucht habe. Er erklärte Techi zu einer Reinkarnation und versuchte, diese buddhistische Vorstellung mit den christlichen Doktrinen zusammenzubringen.

Davida war die Tochter von Daviditos Kindermädchen Sarah Keller, die sich selbst Sarah Davidito nannte. Alle drei Kinder gehörten zur Königlichen Familie und wuchsen abgeschottet in Mos Residenz auf. Die Kinder der Königlichen Familie hatten großen Einfluss auf mein Leben. Sie waren für uns Idole, zu denen wir aufblickten, und wir verfolgten ihr Leben in den Mo-Briefen, die wir lasen, mit großem Interesse und großer Neugier.

Nach der Mittagsruhe durften wir draußen spielen. Meine besten Freundinnen waren Renee und Daniella, zwei Schwestern. Ich mochte ihre Mutter Endureth und betrachtete sie als eine Art zweite Mutter. Mit Serena als Stiefmutter konnte ich mich noch immer nicht abfinden, und ich beachtete sie meistens nicht. Vermutlich bildete ich mir ein, ich könnte auf diese Weise so tun, als gäbe es sie gar nicht. Darüber hinaus hatte Serena mit ihrer sechs Monate alten Tochter Mariana alle Hände voll zu tun, und außerdem war sie inzwischen von meinem Vater hochschwanger. Das führte schließlich dazu, dass ich immer mehr Zeit mit Endureth und ihrem Mann Silas verbrachte. Meine Schwester Kristina war ungefähr genauso alt wie Daniella, und ich sprach ständig von ihr, obwohl ich wusste, dass sie mit meiner Mutter und dem kleinen David in Indien war. Durch das Zusammensein mit meinen Freundinnen in ihrer Familienatmosphäre konnte ich mir einreden, ich hätte Schwestern. Tagsüber spielten wir miteinander, und nachts schliefen wir gemeinsam in einem großen Doppelbett hinten im Caravan.

Meine andere Freundin hieß Armi. Wir hätten nicht unterschiedlicher aussehen können. Sie hatte glatte schwarze Haare und braune Augen wie ihre Mutter, eine Amerikanerin mit indianischen Vorfahren. Im Februar 1972 war sie als eines der ersten Kinder innerhalb der »Kinder Gottes« geboren worden. Ihr Vater Jeremiah Russell gehörte zu den ersten fünfzehn Anhängern von Mos Gemeinde in Huntington Beach. Er war Musiker und schrieb Songs für Music with Meaning. Armi hatte die musikalische Begabung ihres Vaters geerbt und das Auftreten eines Stars. Ich wünschte mir brennend, so zu sein wie sie, so gut singen zu können und in ihren Kreis aufgenommen zu werden. Wir lachten über die gleichen Scherze, vertrauten einander unsere Geheimnisse an, und sie brachte mir viele Dinge bei, beispielsweise einen Körper in den richtigen Proportionen zu zeichnen, anstatt den Hals als Dreieck und eine Hand als Kreis. Sie war es auch, die mir dabei half, meinen britischen Akzent loszuwerden und »amerikanisch« zu sprechen wie die meisten anderen Kinder.

Armi und Mos Enkelin Mene teilten das gleiche Schicksal. Ihre Eltern waren von Mo aufgefordert worden, ihre Töchter mit der Zusicherung nach Loveville zu schicken, sie könnten nach sechs Monaten wieder zurückkehren. Doch das geschah nie. Stattdessen blieben sie in der Obhut von Paul und Marianne Peloquin.

Niemand wagte es, gegen Mos Anordnungen aufzubegehren. Er war schließlich der Prophet. Uns wurde die Überzeugung eingebläut, dass wir den Willen Gottes erfüllen, wenn wir seine Anordnungen ausführen. Im Rückblick ist klar, dass wir nur Spielzeuge und sein Gefolge waren, das er dazu benutzte, seinen Ehrgeiz, seine Lust und seine Fantasien zu befriedigen. Als Mo von den Frauen verlangte, nackt für ihn zu tanzen und es auf Video aufzunehmen, rief Paul uns alle zusammen, selbst die dreijährigen Mädchen, um uns Mo-Briefe mit dem Titel »Die Verherrlichung Gottes im Tanz« und »Nacktheit kann sehr schön sein« vorzulesen.

»Dem Herrn sei Dank! Ist es nicht ein ganz besonderes Privileg, für den König tanzen zu dürfen?«

Erregt antworteten die erwachsenen Frauen mit einem vielfachen »Lobet den Herrn« und »Amen« auf Pauls Frage.

Paul fuhr fort: »In diesen Briefen gibt er uns genaue Anweisungen, wie es ausgeführt werden soll. Der Herr sei gelobt.«

In den nächsten Tagen beobachtete ich, wie die Frauen sich Musikstücke und durchsichtige Schleier aussuchten und dann ihre Tänze vorführten. Danach sagte Paul zu den Mädchen: »Das ist für Davidito bestimmt, also zeigt ihm euer bezauberndstes Lächeln.«

Nachdem Armi, Mene, Renee und Daniella für den kleinen Prinzen getanzt hatten, war ich an der Reihe. Paul suchte zwei Songs für mich aus und wickelte mir einen Schleier um den Hals, den ich während des Tanzes ablegen sollte. Er griff zur Kamera und gab mir Anweisungen.

»Beweg dich im Rhythmus der Musik!« Er machte es mir vor. »Winde dich wie eine Schlange, und fahr dir dabei über den Po, Süße.»

Ich ahmte einfach die Bewegungen nach, die ich zuvor bei den erwachsenen Frauen gesehen hatte.

»Gut. Sehr gut! Und jetzt wirf Davidito Luftküsse zu, damit er weiß, dass du ihn wirklich liebst.«

Es fiel mir schwer, seinen Anordnungen zu folgen und gleichzeitig zu lächeln. Es gibt das Video noch immer, und ich habe mir als Erwachsene das sechsjährige Kind angesehen, das ich damals war. Ich starre in die Kamera, als wollte ich sie verführen. Am meisten verblüffte mich der unschuldig-wissende Ausdruck in meinen Augen. Was die Sache in der Rückschau noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass Davidito damals auch erst sechs Jahre war. Das sagt mir, dass Mo, dieser alte Mann, mit den Videoaufnahmen seinen kleinen Namensvetter nach seinem Vorbild formen wollte, während der dreckige alte Mann sich beim Betrachten dieser Tänze seinen Fantasien hingab.

Von da an wurden von uns Mädchen regelmäßig Nacktaufnahmen gemacht und an Mo geschickt. Er teilte uns mit, dass er sie zur täglichen Inspiration um sich haben wollte – ein Euphemismus für Masturbation. Heute weiß ich, wie Mo sich »inspirieren« ließ. Damals ahnten wir nicht, dass er bald an den Punkt kommen würde, an dem er sich seine Lieblingsmädchen aussuchen und bringen lassen würde, damit sie seine persönliche Lust befriedigten. Die Eltern hegten den naiven Glauben, dass die Kinder in »guten Händen« waren, obwohl sie nicht wussten, wo sich ihre Töchter befanden, und obwohl sie nicht einmal mit ihnen in Verbindung treten konnten. Doch das lag alles noch in der Zukunft, und zum Glück wusste ich nicht, welches Schicksal einigen meiner Freundinnen bevorstehen sollte.

Sex war in unserer Welt absolut alltäglich. Die Erwachsenen hatten keinerlei Hemmungen, sich in unserem Beisein zu paaren, und ermutigten uns, zu masturbieren und unseren Körper zu erkunden. Auf diese Weise wurde unsere kindliche Neugierde missbraucht, auch wenn man uns ermahnte, das auf gar keinen Fall vor Fremden zu tun oder in deren Gesellschaft darüber zu reden. »Das System verabscheut Sex«, wurde uns erklärt. »Dort hält man ihn für schmutzig und für eine Sünde.«

Wenn es sehr heiß war, liefen alle im Badeanzug oder in Shorts herum. Ich fand nichts dabei, nur eine Unterhose anzuhaben wie die anderen Kinder. Im Alter von fünf oder sechs Jahren war ich in hohem Maß sexualisiert und ohne jede Scheu oder Scham.

Mein Vater hat sich mir nie in unschicklicher Weise genähert und sich auch nicht vor meinen Augen sexuell betätigt, aber ich nehme an, dass er über die Vorgänge Bescheid wusste. Sein bester Freund war Solomon Touchstone, ein Schlagzeuger, der sonntags mit uns häufig zum Lunch in eine kleine Taverne am Hafen ging. Wie Dad stammte Solomon aus London, und die beiden machten gern Witze in einem derben Cockney-Dialekt. Solomon war nicht groß – etwa einsfünfundsechzig –, gut aussehend, und alle Frauen mochten ihn. Ich auch, denn er war ausgesprochen witzig und schenkte mir seine Aufmerksamkeit.