Nicht schon wieder Liebe - Susan Andersen - E-Book
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Nicht schon wieder Liebe E-Book

Susan Andersen

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Beschreibung

Veronica Davis fällt einfach kein besser Ausdruck ein: Sie ist unfroh! Nur aus Verantwortungsgefühl arbeitet sie wieder in der Bar ihrer Familie. Und jetzt ist da dieser neue, äußerst ruppige Barkeeper Cooper Blackstock. Ein richtiges Ärgernis, auch wenn der aufregende Typ ein einziger Angriff auf die Hormone einer Frau ist. Dann aber erhält Veronika Drohbriefe, und Cooper drängt sich als Bodyguard in ihr Leben: Das macht Veronikas Tage zwar nicht gerade friedlicher, aber ihre Nächte umso heißer ...

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Kurzbeschreibung:

Veronica Davis fällt einfach kein besser Ausdruck ein: Sie ist unfroh! Nur aus Verantwortungsgefühl arbeitet sie wieder in der Bar ihrer Familie. Und jetzt ist da dieser neue, äußerst ruppige Barkeeper Cooper Blackstock. Ein richtiges Ärgernis, auch wenn der aufregende Typ ein einziger Angriff auf die Hormone einer Frau ist. Dann aber erhält Veronika Drohbriefe, und Cooper drängt sich als Bodyguard in ihr Leben: Das macht Veronikas Tage zwar nicht gerade friedlicher, aber ihre Nächte umso heißer ...

Susan Andersen

Nicht schon wieder Liebe

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © der Originalausgabe 2002 by Susan Andersen

Published by Arrangement with Susan Andersen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Ins Deutsche übertragen von Elke (Pane-)Bartels

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-331-1

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Für die beste kleine Brainstormerin

in den kontinentalen Vereinigten Staaten

(und möglicherweise sogar im gesamten bekannten

Universum).

Gewidmet, von ganzem Herzen,Caroline Cross,

weil sie mich wieder und wieder um die Klippen

des Wahnsinns herumgelotst hat,

weil sie mich aus so vielen Sackgassen befreit hat,

dass ich sie schon gar nicht mehr zählen kann,

und für ihre hoch geschätzte Freundschaft.

Und zum Andenken an Auntie Jean,die ich so schmerzlich vermisse.

SUSIE

Die Kindheit ist das,

was wir unser restliches Leben lang

hinter uns zu lassen versuchen.

UNBEKANNTER VERFASSER

1

Das Wimmern von Countrymusic und der Geruch nach Zigarettenrauch und Bier trafen Veronica Davis wie ein Schlag an den Kopf, als sie sich durch die Tür der Honky Tonk Bar in der Baker Street schob. Die altbekannten Geräusche und Gerüche versetzten sie abrupt in die Vergangenheit zurück und bombardierten sie mit einer Unmenge von Erinnerungen.

Keinen sonderlich angenehmen.

Sie blieb gleich hinter der Tür im Eingang stehen und holte ein paar Mal tief und bewusst ruhig Atem, während sie beobachtete, wie ein dünner Rauchschleier in dem Luftzug, den sie beim Hereinkommen erzeugt hatte, an ihr vorbeischwebte. Der Rauch waberte und wirbelte durch den Raum, nahm die mehrfarbigen Schattierungen der Neonreklame für Whisky an, die in der matt erleuchteten Bar als Dekoration gelten konnte. Auf den Tischen flackerten Votivkerzen in Behältern, von denen Veronica hätte schwören können, dass es dieselben rauchfleckigen Gläser waren, die schon vor zwölf Jahren dort gestanden hatten.

Die Musik brach für einen kurzen Moment ab, während die Jukebox auf einen neuen Titel umschaltete. Stimmen hoben und senkten sich, Kugeln klickten auf dem Billardtisch in der Ecke, und Gläser klirrten leise, als eine Kellnerin leere Gläser von einem Tisch räumte und auf einem Tablett stapelte. Eine plötzliche Aufwallung von Panik nahm ihr fast den Atem, und sie musste sich nachdrücklich ins Gedächtnis rufen, dass sie lediglich kurz hereinschauen wollte, um sich mit dem neuen Barkeeper/Geschäftsführer bekannt zu machen, den Marissa eingestellt hatte, und sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie die Bar lief. Sie hatte zwar etliche Jahre hier gearbeitet, hatte aber bestimmt nicht vor, es jemals wieder zu tun; also gab es nicht die geringste Veranlassung, sich so zu fühlen, als müsste sie auf der Stelle kehrtmachen und die Flucht ergreifen.

Als die Kellnerin das Tablett mit den leeren Gläsern auf einer Hand balancierte und sich über den Tisch beugte, um verschüttetes Bier aufzuwischen, erinnerte Veronica sich nur zu deutlich daran, wie klebrig die Tische ständig zu sein schienen, ganz egal, wie oft man sie abwischte. Und als eine lärmende Gruppe von Männern an einem anderen Tisch anzügliche Bemerkungen über die Art machte, wie die Kellnerin ihre Jeans ausfüllte, erinnerte sich Veronica auch wieder an die nervenaufreibenden Kommentare, die sie damals ständig anhören musste.

O Gott! Angesichts der Umstände, die sie nach Fossil zurückgeführt hatten, hätte sie nicht gedacht, dass sich ihr Magen noch aufgewühlter anfühlen könnte, als es ohnehin schon der Fall war. Aber sie hatte sich geirrt. Obwohl sie nie vergessen hatte, wie es war, den ungeniert grapschenden Händen betrunkener Männer auszuweichen, war es doch schon lange her, dass sie damit hatte fertig werden müssen, und die magenaufwühlende Aktualität war längst verblasst.

Doch jetzt stürmte alles wieder auf sie ein, als sie zusah, wie einer der Männer den Umstand, dass die Kellnerin beschäftigt war, ausnutzte, um ihr Hinterteil zu tätscheln. Ein alter, vertrauter Geschmack ohnmächtiger Wut stieg in Veronicas Kehle auf, als der Mann seine Freunde angrinste und die wohl gerundete Pobacke der jungen Frau kräftig drückte. Erbost marschierte Veronica los.

Sie blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als das voll beladene Tablett der Kellnerin plötzlich mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf die Tischplatte krachte. Es stieß gegen den Kerzenhalter, der über den Tisch schlitterte, aber glücklicherweise zum Stehen kam, ehe er über die Kante kippen und auf dem Fußboden zersplittern konnte.

»Jetzt reicht’s mir aber, verdammt noch mal!« Die wütende Stimme der Cocktailkellnerin war laut und deutlich in der plötzlich eingetretenen Stille zu hören. Sie langte blitzschnell hinter sich, kratzte mit langen, knallrot lackierten Fingernägeln über die Hand des Mannes und wirbelte zu ihm herum, als er sie ruckartig zurückzog.

Der Betrunkene schrie voller Empörung auf und sprang auf die Füße, sodass sein Stuhl scharrend über den Fußboden rutschte. »Du elendes Miststück!« Er starrte ungläubig auf die Blutstropfen, die aus den Kratzwunden auf seinem Handrücken hervorzuquellen begannen. Dann ballte er die Hand zur Faust und hob den Arm, als wollte er die Frau schlagen.

Mit einem erstickten Laut des Protests auf den Lippen versuchte Veronica, der Frau zu Hilfe zu kommen. Doch ehe sie sich an den Gästen vorbeidrängen konnte, die von ihren Plätzen aufgestanden waren, um einen besseren Blick auf den Tumult zu bekommen, donnerte eine tiefe Männerstimme durch den Raum.

»Schluss damit!«

Wie alle anderen hielt auch Veronica jäh inne, aufgehalten durch die reine, absolute Autorität, die eine ganze Bar mitten in der Bewegung hatte erstarren lassen.

Dann sah sie die Person, die dafür verantwortlich war, und konnte sie nur verblüfft anstarren.

Wow! Das musste Cooper Blackstock sein, der neue Barkeeper, den Marissa eingestellt hatte, damit er künftig die Bar führte.

Er war groß und kräftig und sah geradezu gefährlich aus mit diesen zu Schlitzen verengten, abschätzend dreinblickenden Augen, dem eigensinnigen Kinn, dem granitharten Körper und diesen hohen, ausgeprägten Wangenknochen, die so scharfkantig aussahen, als könnte man sich an ihnen schneiden. Und dann dieses Haar! Veronica konnte einfach nicht aufhören, auf sein Haar zu starren, als er hinter der Theke hervorkam, denn es war anders als alles, was sie jemals auf den Köpfen der Karrieremänner gesehen hatte, mit denen sie bislang ausgegangen war.

Du lieber Himmel, färbte er seine Haare etwa? Die erwachsenen Männer in dieser Kleinstadt im Osten Washingtons würden nicht im Traum daran denken, etwas so Weibisches zu tun, aber dieser Haarschopf hier musste ganz einfach gefärbt sein.

Kurz geschnitten, stachelig hochstehend wie bei einem Punkrocker, in einem hellen, nordischen Blond, das sich fast weiß von seinem Gesicht abhob, das für Januar erstaunlich gebräunt war. Dennoch waren seine kühn geschwungenen Augenbrauen und seine dichten, fransigen Wimpern schwärzer als die Seele des Teufels, seine Haut olivfarben und seine Augen von einem undurchdringlichen Zartbitterschokoladenbraun.

Fossil war eine konservative Stadt, und die Kundschaft des Tonk konnte gnadenlos sein mit jemandem, der so ungewöhnlich aussah wie dieser Typ hier, deshalb musste er wegen seines bizarren Aussehens schon öfters angeeckt sein. Aber wenn dieser Schert-euch-zum-Teufel-Blick in seinen Augen irgendetwas zu bedeuten hatte, dann dies, dass ihn keine Meinung außer seiner eigenen interessierte. Er marschierte mit einem aggressiven Ausdruck Marke »Ich bin, wie ich bin, und wenn euch das nicht passt, dann könnt ihr mich mal kreuzweise!« durch die Menge, und Leute, die sich keinen Fingerbreit von der Stelle gerührt hatten, als Veronica der Kellnerin zu Hilfe kommen wollte, wichen jetzt so bereitwillig zurück wie das Rote Meer vor Moses, als Blackstock näher kam.

Der Betrunkene streckte seine Hand zur Begutachtung aus, als der Barkeeper an seinem Tisch erschien. »Hier, sehen Sie sich bloß mal an, was sie mit mir gemacht hat!«, beschwerte er sich. Die spöttischen Bemerkungen seiner Saufkumpane, dass er sich von einer Frau hatte schlagen lassen, fachten seinen ohnehin schon brodelnden Zorn noch stärker an, und er blähte sich auf wie ein Zwerghahn. »Ich sollte ihren Arsch verklagen!«

»Sie sollten Ihre Finger von ihrem Arsch lassen und froh sein, wenn sie nicht Sie wegen sexueller Belästigung verklagt!« Cooper hob den umgekippten Stuhl auf und stellte ihn mit einem dumpfen Knall an den Tisch zurück. Er starrte den Mann durchbohrend an. »Sie schulden ihr eine Entschuldigung.«

»Ich soll mich bei ihr entschuldigen? Das soll ja wohl ein Witz sein! Hier, sehen Sie sich das doch mal an – sie hat mich blutig gekratzt!«

»Verdammt richtig, genau das habe ich getan«, stimmte die Kellnerin zu. »Ich habe nämlich die Nase gestrichen voll von diesen Idioten, die meine Titten und meinen Hintern für öffentliches Eigentum halten. Also, weißt du was, Kumpel?« Sie drängte sich an dem Barkeeper vorbei, um sich vor ihrem Widersacher aufzubauen. »Ich will deine lausige Entschuldigung nicht. Behalt’ sie für dich und steck sie dir von mir aus in den Arsch!«

Dann riss sie sich mit einer energischen Bewegung die weiße Schürze herunter, die sie um die Hüften trug, wandte sich wieder zu Cooper um und knallte ihm das Kleidungsstück mit solcher Wucht gegen den Magen, dass sich ein schwächerer Mann vor Schmerz gekrümmt hätte. »Ich kündige! Du zahlst mir nicht genug für diesen Scheiß hier.«

»Rosetta, warte! Tu mir das nicht an, bitte!« Er zerknüllte die Schürze hilflos in seiner großen Faust, als er zusah, wie sie hinter die Theke marschierte, einen Moment dahinter verschwand, als sie sich bückte, und dann mit ihrer Tasche in der Hand wieder auftauchte. »Nun komm schon. Wir kriegen das schon irgendwie geregelt –«

»Nein. Kriegen wir nicht! Mir stehen diese Schwachköpfe bis hier! Ich werd’ mir einen Job besorgen, wo ich mich nicht andauernd mit Typen herumärgern muss, die ihre Persönlichkeit auf dem Boden einer Flasche finden.«

In demonstrativer Solidarität trat Veronica aus dem Weg, als die Kellnerin an ihr vorbeistürmte und auf den Ausgang zustrebte. Als sie sah, wie die Tür hinter der Frau zuschwang, fühlte sie sich zum ersten Mal, seit sie aus Schottland nach Hause zurückgekehrt und mit der Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer Schwester Crystal empfangen worden war, wieder ein klein wenig aufgemuntert. Gut gemacht, Rosetta! Veronica hatte schon gar nicht mehr zählen können, wie oft sie sich danach gesehnt hatte, genau wie Rosetta einfach alles hinzuwerfen und zu gehen. Aber ihr war nichts anderes übrig geblieben, als weiterzumachen, denn dies war Daddys Bar, und Daddy war ein Chauvinist der alten Schule gewesen, der von solchen Dingen nichts hatte hören wollen. Und ihre Liebe zu ihm hatte sie schlichtweg eingesperrt.

Sie war jetzt drauf und dran, sich ebenfalls abzuwenden und hinauszugehen. Der Barkeeper würde mit Sicherheit zu wenig Personal haben und wahrscheinlich stärker eingespannt sein als der Teilnehmer eines Sado-Maso-Festivals in seinen Ketten, während er versuchte, dafür zu sorgen, dass alle Gäste rasch bedient wurden. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass er überhaupt einen Moment Zeit haben würde, und schon überhaupt nicht dafür, ihr eine genaue Übersicht über die geschäftliche Lage der Bar zu geben.

Und dennoch ...

Wenn sie jetzt ginge, würde sie vielleicht nie mehr zurückkommen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Crystal, die die Dauerparty, die das Tonk nun einmal war, immer in vollen Zügen genossen hatte, konnte Veronica sich nicht daran erinnern, sich jemals an diesem Ort wohl gefühlt zu haben. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nie wieder einen Fuß in den Laden gesetzt.

Aber Crystal war nicht mehr da, und Veronica hatte einer Verpflichtung nachzukommen; es wurde also höchste Zeit, sich wie eine erwachsene Frau zu benehmen und die Sache durchzuziehen. Sie wappnete sich im Geiste und ging auf den Tresen zu.

Sie wartete eine Weile ab, bis sich das Gedränge der Gäste, die ihre leeren Gläser zum Nachfüllen hergebracht hatten, allmählich wieder aufzulösen begann. Dann, als der Barkeeper dem Letzten in der Schlange einen Drink einschenkte und das Glas über die Theke reichte, straffte Veronica ihre Schultern.

Er blickte auf, als sie vortrat, und musterte sie anerkennend von oben bis unten. »Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich würde mich an diese Haut erinnern, wenn ich sie schon einmal gesehen hätte.« Sein Blick schien jeden einzelnen Quadratzentimeter ihrer Haut abzutasten, bevor er schließlich aufsah, um ihr in die Augen zu blicken. »Was kann ich für Sie tun?«

Veronica blinzelte. Wow! Es wunderte sie, dass die Männer von Fossil ihre Frauen nicht hinter Schloss und Riegel hielten, wenn dieser Kerl frei herumlief, denn selbst sie konnte die geballte Sinnlichkeit spüren, die er in Wellen ausstrahlte, und dabei war er überhaupt nicht ihr Typ. »Sind Sie Mr. Blackstock?«, fragte sie.

»Ja, aber nennen Sie mich ruhig Coop«, erwiderte er einladend und schenkte ihr ein blitzendes Lächeln, das erstaunlich charmant war für jemanden mit so wachsamen Augen. »Ich bin nämlich immer versucht, mich nach meinem Dad umzusehen, wenn ich höre, wie mich jemand Mister nennt, und dabei ist mein Dad schon lange, lange tot.« Dann wurde er plötzlich ganz geschäftsmäßig. »Da Sie meinen Namen kennen«, sagte er, »nehme ich an, dass Sie wegen eines Jobs hier sind.«

»Nein!« Veronica wich hastig einen Schritt rückwärts und riss die Hände hoch, als könnte sie auf diese Weise schon die bloße Vorstellung abwehren. Nein, nein und nochmals nein! Nach ihrem Collegeabschluss hatte sie sich geschworen, dass sie Zeit ihres Lebens nie wieder einen Drink servieren würde.

Es war ein Schwur, den sie eisern gehalten hatte, und sie war fest entschlossen, ihn auch weiterhin zu halten, und zwar bis zu dem Tag, an dem man ihre Leiche in den kalten, harten Erdboden senken würde.

Als sie jetzt sah, wie Cooper Blackstocks dunkle Brauen bis zu seinem blonden Haaransatz hochschnellten, zwang sie sich, ihre abwehrend hochgezogenen Schultern zu entspannen und ihre Hände wieder sinken zu lassen. Herrgott noch mal, Davis, reg dich ab! Du solltest vielleicht mal versuchen, den Idiotenquotienten hier nicht künstlich in die Höhe zu treiben. »Es tut mir Leid, ich hätte mich wohl besser erst einmal vorstellen sollen.« Mit hoch erhobenem Kopf und einem verstohlenen Ziehen an ihrem eleganten Wollblazer, mit dem sie sich daran erinnern wollte, dass sie es immerhin ganz schön weit gebracht hatte, trat sie erneut an den Tresen. »Ich bin Veronica Davis. Ich wollte nur kurz hereinschauen, um zu sehen, wie der Laden läuft.«

Cooper Blackstock erstarrte. Oder zumindest glaubte sie, dass er das tat, doch der Augenblick kam und ging so schnell, dass sie sich fragte, ob sie sich das vielleicht nur eingebildet hatte, denn im nächsten Moment schien er wieder vollkommen entspannt, sein Lächeln genauso lässig und charmant, wie es noch eine Sekunde zuvor gewesen war. Sie stieß einen müden Seufzer aus. Es war ein sehr langer und anstrengender Tag gewesen, und die Erschöpfung ließ sie offensichtlich Dinge sehen, die gar nicht existierten.

»Sie wollen wissen, wie der Laden läuft?«, verlangte Coop kühl zu wissen. »Okay, ich werd’s Ihnen sagen, Lady – im Moment nicht so berauschend. Aber jetzt, wo ich Sie im Visier habe, geht’s wieder bergauf. Hier!« Er warf ihr irgendetwas zu, und sie hob unwillkürlich die Hand, um es aus der Luft zu fangen, bevor es sie ins Gesicht traf. »Binden Sie sich die da um«, wies er sie an. »Und dann machen Sie sich an die Arbeit. Wir haben zu wenig Personal.«

Sie blickte entgeistert auf die weiße Schürze in ihrer Hand, dann ließ sie sie so abrupt fallen, als wäre sie eine Kakerlake, und hob mit einem Ruck den Kopf, um Coop entsetzt anzustarren. »Ich serviere keine Drinks!«

»Hören Sie zu, Prinzessin, ich habe eine Kellnerin, die sich krankgemeldet hat, und eine andere, die gerade eben fristlos gekündigt hat. Wenn Sie wollen, dass das Tonk zumacht und die Einnahmen einer Nacht verliert, okay, dann ist das ganz allein Ihre Entscheidung. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mir hier den Buckel krumm schufte, während Sie zu vornehm dazu sind, sich Ihre lilienweißen Hände schmutzig zu machen und ein paar Gläser zu schleppen.«

Sie funkelte ihn böse an, doch er zuckte lediglich mit seinen muskulösen Schultern und griff nach dem Bierkrug, den ihm ein Gast am Ende der Theke zum Nachfüllen hinhielt. Er stellte den Krug in die Spüle, nahm einen sauberen und hielt ihn schräg unter einen Zapfhahn. Veronica beobachtete das Spiel seiner Muskeln an den Unterarmen unter den hochgeschobenen Ärmeln seines buttercremefarbenen Pullovers, als, er den Bierstrom aus dem Zapfhahn regulierte und den Krug füllte, und starrte finster auf seine grobknochigen Handgelenke und die schiere Größe seiner derben, schwieligen Hände.

Wer war dieser Kerl mit dem Körper eines Farmers und dem Blick eines Kriegers, dass er sich einbildete, er könnte ihr vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte? Was gab ihm das Recht, ihr mit der Schließung der Bar zu drohen? Genau genommen war sie hier die Inhaberin, und das machte sie zu seiner Chefin. Wenn hier irgendjemand Befehle erteilen sollte, dann ja wohl sie.

Aber sie war einfach zu erschöpft und mitgenommen, um sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Besonders mit jemandem, der ganz so aussah, als würde er einen ordentlichen Kampf genießen, je gemeiner und schmutziger, desto besser. Ganz zu schweigen davon, dass auch er einfach kündigen könnte wie Rosetta – und das wäre nun wirklich das Sahnehäubchen auf ihrem Kuchen, das ihr zu ihrem Glück gerade noch gefehlt hätte.

Und trotzdem hinderte sie das nicht daran, sich über sein Verhalten zu ärgern. Er kannte sie doch überhaupt nicht. Er hatte ja nicht die geringste Ahnung, wie hart sie gearbeitet hatte, um von hier wegzukommen; also, wie konnte er es wagen, sie anzusehen, als ob sie sich zu fein für ehrliche Arbeit wäre?

Wenn sie klug war, würde sie jetzt einfach auf dem Absatz kehrtmachen und gehen, so wie sie es schon längst hätte tun sollen, und zum Henker mit der Bar! Sollte der verdammte Laden doch vor die Hunde gehen, das war ihr doch wirklich schnurzegal!

Außer ... außer dass die Honky Tonk Bar das Erbe ihrer Nichte Lizzy war, nun da Crystal nicht mehr da war.

Tot. Ein jäher Schmerz durchzuckte Veronica, schnitt wie ein Messer in ihr Herz. Ihre Schwester war im vergangenen Monat ermordet aufgefunden worden, und Lizzys Vater, Eddie Chapman, war das Verbrechen zur Last gelegt worden. Und nur um die Dinge so richtig haarig zu machen, war Eddie wenige Stunden, nachdem der Richter bei der Voruntersuchung entschieden hatte, dass ein hinreichender Tatverdacht für ein Gerichtsverfahren vorlag, aus der Stadt verschwunden.

Und hatte seine Tochter damit praktisch als Waise zurückgelassen.

Nun ja, aber zum Glück war sie, Veronica, ja noch da. Sie straffte die Schultern. Zum Glück hatte Lizzy ja immer noch sie. Und sie war es ihrer Nichte schuldig, das Tonk in Gang zu halten, bis sie einen Käufer für die Bar finden konnte. In Anbetracht der Sachlage und der verschlungenen Wege, die das Rechtssystem ging, wusste nämlich nur Gott allein, ob das Kind jemals etwas von Eddies Anteil bekommen würde. Daher war Veronica fest entschlossen, jeden roten Heller zusammenzukratzen und alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um Lizzys Zukunft zu sichern.

Sie bückte sich und hob die Schürze vom Boden auf. Sie richtete sich wieder auf, zog ihren Blazer aus und faltete ihn sorgfältig zusammen, dann band sie sich die Schürze um die Taille und griff nach einem Tablett. Dabei begegnete sie dem dunkeläugigen Blick des Barkeepers, der mitten im Einschenken innegehalten hatte, um sie mit einem finsteren Blick Marke »Tempo! Setz endlich deinen Hintern in Bewegung, Mädchen!« zu bedenken. Bastard, dachte sie.

Doch laut ließ sie es bei einem »Hier« bewenden und reichte ihm ihren Blazer und ihre Handtasche. »Wo soll ich anfangen?«

Veronica war völlig erledigt und am Ende ihrer Kräfte, als die Bar an diesem Abend endlich schloss. Erschöpft band sie ihre Schürze ab, warf sie in den Korb unter der Theke und sammelte ihre Habseligkeiten ein. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, Coop einen giftigen Blick zuzuwerfen, und ihrer Meinung nach hatte der Mann eindeutig seine Berufung als Sklaventreiber verfehlt. Wortlos wandte sie sich ab und schleppte sich müde zur Tür.

»Nacht, Prinzessin.«

Sie machte eine unmissverständliche Geste über ihre Schulter, und sein gedämpftes Lachen folgte ihr zur Tür hinaus.

Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, lag direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, eine Tatsache, die sie früher oft bedauert hatte, für die sie in diesem Moment jedoch dankbar war. Sie fischte den Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss die Haustür auf.

Als sie das Haus betrat, wäre sie beinahe über die Koffer gestolpert, die sie früher an diesem Abend im Flur abgestellt hatte. Sie war zu spät in die Stadt gekommen, um Lizzy noch abholen zu können, deshalb hatte sie nur schnell ihr Gepäck abgestellt und war dann über die Straße in die Bar gegangen. Sie hatte schlicht und einfach vorgehabt, den lästigen Pflichtbesuch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Danach hatte sie geplant, wieder zurückzukommen, ihre Koffer auszupacken und ins Bett zu fallen, um sich für den kommenden Tag richtig auszuschlafen.

So viel zu ihren ausgeklügelten Plänen. Müde stolperte Veronica ins Wohnzimmer und knipste eine Lampe an. Dann blinzelte sie mehrmals und wollte ihren Augen nicht trauen.

Sicher war es bloß, weil sie nach der Dunkelheit im Flur von der plötzlichen Helligkeit geblendet war, dass alles im Zimmer so merkwürdig blechern schimmerte. Doch als sie die Augen verengte, um noch einmal ganz genau hinzusehen, wurde nichts matter oder gedämpfter. »O Gott!«

Der Raum war über und über mit roter Velourstapete und goldschimmernden Stoffen dekoriert, und alles, was nicht niet- und nagelfest war, schien bis auf den letzten Millimeter vergoldet zu sein. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Anhäufung von kitschigem Plunder an einem einzigen Ort gesehen.

»Verdammt, Crystal«, flüsterte sie vor sich hin. »Warum Lizzy nicht gleich in einem billigen Puff aufwachsen lassen? Die Einrichtung dort könnte wohl kaum geschmackloser sein als hier.« Sie starrte in ungläubigem Erstaunen auf die Tischlampe, die sie gerade eingeschaltet hatte: Sie war mit grellroten verblühenden Rosen bemalt und mit Blattgold verziert und triefte förmlich vor tropfenförmigen Kristallanhängern, die dort, wo sie sie mit ihrer Hand gestreift hatte, leise klirrend aneinander schlugen. Sie griff nach einem scharlachroten Samtkissen, auf dessen Vorderseite mit glitzerndem Goldfaden die Aufschrift Reno, Die größte Kleinstadt der Welt aufgestickt war, und befingerte die dicken goldfarbenen Quasten, während sie sich im Raum umsah und auch nur einen einzigen Einrichtungsgegenstand zu finden versuchte, der eine neutrale Farbe aufwies und nicht mit Schnörkeln, Gold, Troddeln oder Fransen verunziert war. Doch was auch immer sie erblickte, eins schien knalliger und scheußlicher zu sein als das andere, und sie war bis auf den Grund ihrer kunstverständigen Restauratorinnenseele entsetzt. Wann, zum Teufel, hatte Crystal bloß all diesen Ramsch angehäuft? Als sie, Veronica, das letzte Mal hier zu Besuch gewesen war, war das Haus noch nicht mit diesem Zeug voll gestopft gewesen.

Veronica überkam plötzlich eine wilde, unbeherrschbare Wut.

»Wenn das nicht mal wieder typisch für dich ist, Crystal! Du hattest ja nie auch nur für drei Pfennig Geschmack. Und gesunden Menschenverstand erst recht nicht, nicht ein Fünkchen! Du musstest ja partout all deine dämlichen Tricks abziehen, stimmt’s? Gott, ich kann einfach nicht glauben, dass du so eine hirnlose Schnepfe bist!« Als ihr bewusst wurde, dass sie in der Gegenwart gesprochen hatte, schüttelte sie wütend den Kopf. »Warst, meine ich. Ich kann einfach nicht glauben, was für eine blöde, rücksichtslose Gans du w-warst ...«

Trauer und Schmerz überwältigten sie wie aus heiterem Himmel, und sie brach weinend auf der mit Goldfransen verzierten Brokatcouch unter einem riesigen schwarzen Samtbild eines Stierkämpfers zusammen, das Kissen an ihren Bauch gedrückt. Sie krümmte sich vornüber und schluchzte auf ihre Knie, und ihre Tränen flossen in einem unaufhaltsamen Strom, der feuchte, sich immer weiter ausbreitende Flecken auf ihrer Khakihose hinterließ.

Ach, Gott, ach Gott. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass ihre Schwester tot war. Und nicht nur tot, was ja ohnehin schon schwer genug zu akzeptieren war, sondern auch noch ermordet. Das war etwas, was nur in Filmen und Büchern passierte – aber nicht Menschen, die man kannte.

Es war kein Geheimnis, dass Crystal nicht unbedingt die netteste Frau der Stadt gewesen war, und sie hatten oft heftig miteinander gestritten. Aber trotz alledem war Crystal schließlich ihre Schwester gewesen. Kostbare Erinnerungen hatten sich ihrem Gedächtnis eingeprägt, Erinnerungen an Augenblicke, in denen Crystal ausgesprochen lieb gewesen war oder die fürsorgliche große Schwester oder auch so ungeheuer witzig und komisch, dass Veronica sich vor lauter Lachen beinahe in die Hose gemacht hätte. Crystal hatte es wirklich nicht verdient, so zu sterben, unter den unerbittlich zudrückenden Händen eines blindwütigen Mannes ihr Leben auszuhauchen.

Ein plötzliches Geräusch draußen auf der hinteren Veranda ließ Veronica mit einem Ruck den Kopf heben. Schniefend setzte sie sich auf, wischte sich mit den Handflächen die Tränen von den Wangen und fuhr mit dem Zeigefinger unter ihren Augen entlang. Von ihrem Platz aus konnte sie geradewegs durch den Türbogen der Küche bis zur Hintertür sehen, aber dort gab es nichts zu sehen. Sie zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war es nur eine von Mrs. Martelucchis Katzen.

Dann glitt der Schatten eines Mannes über die von einer Jalousie verhüllte Scheibe in der Hintertür, und Veronicas Herz schlug einmal hart gegen ihren Brustkorb, bevor es wie verrückt zu hämmern begann. Der Türknauf der Hintertür drehte sich, und sie fuhr mit einem Satz von der Couch hoch, wobei das Kissen von ihrem Schoß auf den Fußboden fiel. Hektisch suchend sah sie sich nach etwas um, was sie als Waffe benutzen konnte, und schnappte sich eine protzige goldfarbene Kopie einer Erte-Statuette. Mit wild klopfendem Herzen und einem dicken Kloß im Hals, der ihr fast den Atem abschnürte, schlang sie beide Hände um den Fuß der Statuette und nahm instinktiv die Haltung des Schlägers ein, die sie beim Baseballspielen auf dem Sandplatz hinter »Murphy’s Feed and Seed« gelernt hatte. Die Hintertür schwang knarrend auf.

Muskulöse Schultern und stachelig hochstehendes blondes Haar, von der Außenlampe beleuchtet, aktivierten in ihrem überlasteten Hirn eine Synapse des Wiedererkennens, einen Augenblick bevor eine tiefe, ironische Stimme sagte: »Na, durchstöbern Sie den Laden schon nach Wertgegenständen, Prinzessin?«

Sie hätte ihm trotzdem beinahe die Statuette über den Kopf gezogen, weil er ihr einen derart mörderischen Schreck eingejagt hatte. Jetzt atmete sie ein paar Mal tief durch in dem Versuch, ihr rasendes Herz wieder so weit zu beruhigen, dass es in einem normalen Rhythmus schlug, und zwang sich, ihre Hand mit der Statuette vorsichtig sinken zu lassen. Sie weigerte sich jedoch, die schwere Figur ganz aus der Hand zu geben. »Was wollen Sie, Blackstock? Und was fällt Ihnen ein, einfach so in Crystals Haus hereinzutanzen, als gehörte der Laden Ihnen?«

Seine Stimme war voller Belustigung, als er erwiderte: »In gewisser Weise gehört er mir tatsächlich – zumindest ein Teil davon. Ich wohne nämlich im oberen Stockwerk.«

Veronica schnappte schockiert nach Luft. »Wie bitte?«

Er schloss die Tür und marschierte durch die Küche, um im Türbogen stehen zu bleiben. Die Hände in die Taschen seiner Jeans gesteckt, lehnte er sich mit einer Schulter gegen den Türrahmen und schenkte Veronica ein schiefes kleines Lächeln, das unerklärlicherweise einen Schauer der Erregung über ihr Rückgrat rieseln ließ. »Ich sagte, ich wohne hier«, wiederholte er. »Ms. Travits hat mir die Wohnung im Dachgeschoss vermietet, als sie mich eingestellt hat, um die Bar zu führen.«

Marissa hatte das getan? Du lieber Himmel, Mare, was hast du dir bloß dabei gedacht?

Dann bekam Veronica plötzlich Schuldgefühle. Sie schuldete Marissa mehr, als sie jemals wieder gutmachen konnte, weil sie die Dinge am Laufen gehalten hatte, als niemand wusste, wo Veronica war oder wie man sie erreichen konnte, um sie von Crystals Tod zu benachrichtigen. Marissa hatte unendlich viel mehr für sie getan, als man von einer alten Freundin erwarten konnte, indem sie sich um Angelegenheiten gekümmert hatte, die zu erledigen man ihr niemals hätte zumuten sollen.

Aber diesem großkotzigen Schrank von einem Kerl eine Wohnung in dem Haus zu vermieten, in dem Veronica und Lizzy vorläufig würden wohnen müssen, war keiner von Marissas schlaueren Schachzügen gewesen, und Veronica hatte nicht die Absicht, sich damit zu abzufinden. Sie machte einen Schritt auf Coop zu, legte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen, und sagte energisch: »Ich schlage vor, Sie schlafen sich jetzt erst einmal richtig aus, weil Sie nämlich gleich morgen losziehen und sich auf die Suche nach einer anderen Wohnung machen werden.«

Er besaß die Dreistigkeit, laut aufzulachen. »Vergessen Sie’s, Zuckerschätzchen – ich habe einen Mietvertrag unterschrieben. Wenn Sie ein Problem mit dem Arrangement haben, dann ziehen Sie doch aus.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich! Lizzy hat schon genug durchmachen müssen – sie braucht jetzt dringend Kontinuität und sollte wenigstens weiterhin in ihrem alten Zuhause bleiben dürfen.«

Ein seltsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und seine Stimme klang verächtlich, als er sagte: »Soll ich Ihnen etwa abkaufen, dass Sie ernsthaft um das Wohl Ihrer Nichte besorgt sind?«

Er hätte ihr ebenso gut eine Ohrfeige verpassen können, und Veronica riss mit einem Ruck den Kopf zurück. »Wie war das bitte? Was haben Sie da gerade gesagt?«

»Nichts.« Er zuckte die Achseln, seine Miene völlig ausdruckslos. »Vergessen Sie’s.«

»Den Teufel werde ich tun! Was sollte das heißen?«

»Das sollte heißen, dass Sie zumindest in einem Teil Ihrer kleinen Ansprache Recht hatten, Süße – ich brauche jetzt tatsächlich erst mal eine ordentliche Mütze voll Schlaf.«

Kochend vor Wut und Frustration beobachtete Veronica, wie er sich lässig vom Türrahmen abstieß, auf dem Absatz kehrtmachte und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufeilte.

2

James Cooper Blackstock erwachte am folgenden Morgen auf die gleiche Art und Weise, wie er immer aufwachte: aus tiefem Schlaf zu sofortigem, hellwachem Bewusstsein, und das im Bruchteil einer Sekunde. Er drehte sich auf den Rücken und starrte stirnrunzelnd an die Zimmerdecke, als er sich darüber klar wurde, dass das Erste, was ihm an diesem Morgen durch den Kopf ging, absolut identisch war mit dem, was ihn gestern Abend unmittelbar vor dem Einschlafen als Letztes beschäftigt hatte – Veronica Davis.

Verdammt. Sie hatte überhaupt kein Recht, seine Gedanken so mit Beschlag zu belegen; also, was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Coop schlug die Bettdecke zurück und erhob sich auf die Füße, dann reckte und streckte er sich ausgiebig, bis seine Gelenke knackten. Er kratzte sich am Bauch, strich ein paarmal geistesabwesend über seine morgendliche Erektion und strebte Richtung Badezimmer. Okay, es lag wahrscheinlich nur daran, dass ihr Aussehen noch nicht einmal annähernd dem entsprach, was er sich vorgestellt hatte. Er hatte nämlich eine Frau erwartet, die genau wie ihre verstorbene Schwester war. Obwohl er Crystal nie persönlich kennen gelernt hatte, hatte er in den vergangenen Wochen eine Menge über ihre Extravaganz und ihren unverhohlenen Sexappeal gehört. Wer hätte da gedacht, dass sich Klein Miss Veronica als ein Wesen entpuppen würde, das stattdessen mehr wie eine moderne Ausgabe von Schneewittchen aussah, mit diesem glatten schwarzen Haar, diesen graugrünen Augen und dieser weißen Haut?

Oh, Mann, diese zarte, weiße, streichelweiche Haut!

Coop griff nach seiner Zahnbürste und runzelte finster die Stirn. Im Grunde war es eine Schande, eine solch kindsköpfige Milde an eine Davis zu verschwenden. Denn Veronica mochte sich zwar in Khakihosen, schlichte weiße T-Shirts und zierliche Ballerinas kleiden; sie mochte sogar eine durchaus passable Vorstellung von einer Prinzessin geben, die zu niederer Sklavenarbeit gezwungen wurde, nur weil er sie gebeten hatte, ein paar Drinks zu servieren. Aber in jener Hinsicht, auf die es ankam, war sie genau wie ihre Schwester Crystal. Sie war letztendlich auch nur eine Davis, ein egozentrisches Biest, das sich für nichts und niemanden interessierte außer für sich selbst.

Coop putzte sich die Zähne und sprühte sich Deo in die Achselhöhlen. Dann verteilte er eine Portion Rasierschaum auf seinen Wangen und griff nach seinem Rasiermesser. Er mochte Crystal zwar nie kennen gelernt haben, doch er kannte sie trotzdem zur Genüge. Er hatte bei seiner Mutter einiges über die Methoden von Frauen gelernt, die mit aller Macht danach strebten, sozial aufzusteigen; und nach allem, was er so über Crystal gehört hatte, hätte sie wohl sogar seiner Mutter noch das eine oder andere beibringen können. Doch es waren nicht einfach nur alte Vorurteile, die seine Meinung beeinflussten. Er kannte den Typ Frau, der Crystal war, auch aus Briefen und Telefongesprächen mit seinem Halbbruder Eddie, der trotz der Tatsache, dass er als Alleinerbe des reichsten Mannes von Fossil aufgewachsen war, wahrscheinlich der netteste Kerl in Gottes weitem Erdenrund war.

Und unglücklicherweise auch einer, dessen naiver Glaube an das Gute in jedem Menschen ihm eine Unmenge Schmerz eingebracht hatte.

Coop glaubte nur sehr selten an das Gute in irgendjemandem, und vor allem Crystal hatte diese Art von Vertrauen nicht verdient. Mit achtundzwanzig hatte sie seinen damals zwanzigjährigen Halbbruder verführt. Coop hatte den starken Verdacht, dass sie absichtlich schwanger geworden war, damit Eddie sie würde heiraten müssen, nur dass Eddies Vater diesen Plan im Keim erstickt hatte. Dennoch hatte sie ihren Kopf durchgesetzt, indem sie Lizzy, die sein Bruder mehr als sein eigenes Leben liebte, als Trumpfkarte und Druckmittel benutzt hatte. Und wenn das nicht so ziemlich alles sagte, würde Coop seine ihm von der Marine zugeteilten Springerstiefel fressen.

Crystal war ein Luder gewesen, eine Frau, die andere ausgenutzt und es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, mit allen Tricks zu arbeiten, um zuallererst einmal ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Verdammt, sie war praktisch ein wandelnder Mord gewesen, der nur darauf wartete zu geschehen. Aber Cooper wusste auch, dass es nicht Eddie war, der sie ermordet hatte, und er war nach Fossil gekommen, um das zu beweisen.

Dass er diese Räume im Haus der Davis’ hatte mieten können, war ein unerwarteter Glücksfall gewesen. Fast zwei Wochen lang hatte er das gesamte Haus für sich allein gehabt und jedes Zimmer gründlich durchgekämmt, auf der Suche nach Beweismaterial, das es ihm ermöglichen würde, seinen Bruder zu entlasten. Aber der einzige Beweis, den er bisher gefunden hatte, war der, dass Crystal narzistisch und nur mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Sämtliche Schränke quollen förmlich über von ihren Kleidern, und er war auf unzählige protzig gerahmte Fotos gestoßen, auf denen sie mit ihren blond gesträhnten, hochtoupierten braunen Haaren zu sehen war, ihr Make-up fingerdick, ihre Jeans so hauteng, als wären sie mit Farbe auf ihren Körper gesprüht, ihre Blusen bis zur gesetzlich gerade noch zulässigen Grenze aufgeknöpft.

Von Lizzy dagegen hatte er gerade mal ein Foto gefunden. Coop hielt mitten in der Bewegung inne, die Rasierklinge über seinem Adamsapfel schwebend, und atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen und so zu verhindern, dass er etwas abschnitt, was er in Zukunft vielleicht noch brauchen würde. Aber, verdammte Pest noch mal! Sein Bruder hatte sämtliche Mittel, die ihm zur Verfügung standen, in den Versuch gesteckt, das Sorgerecht für seine Tochter zu bekommen, und die Tatsache, dass man ihn stattdessen des Mordes an ihrer Mutter beschuldigt hatte, bewies doch nur wieder, dass es verdammt wenig Gerechtigkeit auf der Welt gab.

Als Coop unten in der Küche ein Geräusch hörte, wusch er sich rasch den restlichen Rasierschaum vom Gesicht, stieg in seine Jeans und zog sich einen Pullover über den Kopf. Veronica war kein bisschen besser als ihre Schwester, und obwohl er an dem Tag vor mehr als siebzehn Jahren, an dem er das Haus seiner Mutter verlassen hatte, endgültig aufgehört hatte, sich über Frauen aufzuregen, hatte Klein Schneeweißchen ihn vergangenen Abend doch beinahe auf hundertachtzig gebracht.

Als der weichherzige Trottel, der er war, hatte er fast ein schlechtes Gewissen bekommen, als er hereingekommen war und festgestellt hatte, dass er sie drüben im Tonk so hart rangenommen hatte, dass sie vor Erschöpfung geweint hatte. Aber dann war sie so unverschämt gewesen, sich auf Lizzy zu berufen und sie als Vorwand zu benutzen, um ihn zu zwingen, die Wohnung zu räumen, und da hatten sich sein Schuldbewusstsein und sein Mitleid schlagartig in Luft aufgelöst. Wenn sie wirklich so verdammt besorgt um ihre Nichte gewesen wäre, hätte sie ihren Hintern schon vor einem Monat in Bewegung gesetzt und wäre nach Fossil zurückgekommen.

Er verdrängte den Gedanken, dass ausgerechnet er es nötig hatte, so zu reden, und verließ das Badezimmer. Herrgott noch mal, es war ja nun wirklich nicht so, dass er vorgehabt hätte, seine Identität als Eddies Halbbruder geheim zu halten, als er nach Fossil gekommen war. Aber als er erfahren hatte, dass Lizzy nicht in ihrem eigenen Zuhause lebte, weil ihre Tante Veronica Besseres zu tun hatte, als zurückzukommen und sich um sie zu kümmern, war er nach The Bluff hinaufgefahren, um sich der Frau vorzustellen, die sich des Kindes angenommen hatte. Bevor er jedoch mehr hatte tun können, als seinen Namen zu nennen, hatte Marissa Travits ihn irrtümlich für einen Bewerber um die freie Stelle in der Spelunke gehalten, und da war ihm der Gedanke gekommen, dass das Tonk ein idealer Ort wäre, um Informationen zu sammeln, die ihm helfen würden, Eddies Namen reinzuwaschen.

Und das würde Lizzy am Ende sehr viel mehr nützen als ein Onkel, an den sie sich nicht einmal mehr erinnern würde, da sie ihn nur ein oder zweimal gesehen hatte, als sie noch ein Baby war. Besonders ein Onkel, der überhaupt nicht mit kleinen Mädchen umzugehen verstand.

Coop eilte die Hintertreppe hinunter, blieb dann jedoch am Fuß der Treppe wie angewurzelt stehen. Veronica saß breitbeinig auf einem Stuhl am Küchentisch, ihr Oberkörper über die Tischplatte drapiert. Ihr Haar war ein zerzaustes Durcheinander, und ihr Kinn war auf ihre Faust gestützt, während sie mit trüben, schlafverquollenen Augen auf die gurgelnde Kaffeemaschine starrte.

Er hatte etliche hauchdünne, aufreizende kleine Nachthemden gesehen, als er Crystals Kommodenschubladen durchsucht hatte, aber Veronicas Aufzug stand in keinerlei Beziehung zu irgendeinem dieser Fummel. Stattdessen trug sie einen türkisfarbenen Thermo-Pyjama und dicke Wollsocken. Anscheinend teilte sie die Vorliebe ihrer Schwester für Kleidung, die ihre erotischen Reize zur Schau stellte, nicht.

Und deshalb ärgerte es ihn umso mehr, dass es ihn trotzdem fast erregte, als er sie in etwas sah, was praktisch nicht viel mehr als eine farbige lange Unterhose war.

Er zog scharrend einen Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauf nieder. »Ich erwarte Sie heute Abend um Punkt acht Uhr im Tonk.«

»Erwarten Sie von mir aus, so viel Sie wollen.« Sie hatte müde die Augen geschlossen, doch jetzt öffnete sie das eine wieder und starrte ihn über den Tisch hinweg an. »Wenn Sie Glück haben, werden Sie mich dort vielleicht sogar sehen.«

»Vielleicht? Verdammt noch mal, das könnte Ihnen so passen! Wir waren schon knapp an Personal, bevor Rosetta gekündigt hat – und jetzt wird es wirklich eng. Wir brauchen sehr viel mehr Hilfe, als wir momentan haben, und das bedeutet, dass Sie einspringen müssen, Prinzessin, bis sich jemand auf die Stellenanzeige meldet, die ich aufgegeben habe.«

Jetzt waren ihre beiden Augen offen, und ihrem Ausdruck nach war sie alles andere als zufrieden mit ihm. Das kam ihm gerade recht, weil er von ihr auch nicht gerade entzückt war.

Dann kniff sie die Augen zusammen, bis sie kaum mehr als ein Funkeln von Grün zwischen dichten dunklen Wimpern waren, und blickte ihn finster an. »Hören Sie zu, Knackarsch –«

Er setzte sich mit einem Ruck auf seinem Stuhl auf und langte blitzschnell über den Tisch, um ihr Handgelenk zu packen und auf die Tischplatte zu drücken. »Wie haben Sie mich gerade genannt?«

»Oh, tut mir schrecklich Leid – mögen Sie etwa keine Kosenamen? Gott, und ich liebe es geradezu, Prinzessin, Süße oder Zuckerschneckchen genannt zu werden!«

»Zuckerschätzchen«, korrigierte er sie. Er fühlte, wie es belustigt um seine Mundwinkel zuckte. »Aber Zuckerschneckchen ist auch nicht schlecht; werde ich mir merken müssen.« Er ließ seine Fingerspitzen prüfend über ihren Unterarm gleiten. Ihre Haut fühlte sich genauso zart und seidenglatt an, wie sie aussah, und er hörte augenblicklich auf damit und zog seine Finger wieder unter ihrem lockeren Pyjamaärmel hervor. Wohl wissend, dass sie eine wütende Reaktion von ihm erwartete, zog er stattdessen nur lässig eine Braue hoch und schenkte ihr sein freundlichstes Guter-alter-Kumpel-Lächeln. »Okay, na schön, dann von mir aus Knackarsch. Eigentlich ist das sogar ein Titel, mit dem ich mich durchaus anfreunden könnte – wenn man bedenkt, wie gut er zu mir passt, und alles.«

»Na toll«, knurrte sie angewidert und zog ihre Hand unter seiner hervor. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, als das Gluckern der Kaffeemaschine verstummte, und ging zur Anrichte, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken. »Vielleicht sollte ich Sie stattdessen einfach nur Mr. Bescheiden nennen.«

Coop stellte fest, dass ihm dieser Schlagabtausch ein bisschen zu viel Spaß machte, und stand ebenfalls auf. »Sie können mich von mir aus nennen, wie es Ihnen gerade in den Kram passt«, sagte er und starrte auf sie hinunter. »Sorgen Sie einfach nur dafür, dass Sie um Punkt acht im Tonk sind.«

Dann wandte er sich ab und verließ die Küche, ehe ihm diese schläfrigen grünen Augen und diese herausfordernde Haltung noch weismachen konnten, dass er es hier mit einer Sorte Frau zu tun hatte, die ganz anders war, als er glaubte.

Eine Stunde später stand Veronica im Schlafzimmer und rümpfte angewidert die Nase über den Gestank, der von ihrem Blazer ausströmte. Sie hatte sich den penetranten Geruch nach Zigarettenrauch von ihrer Haut und aus ihrem Haar gewaschen, aber ihre gute Jacke stank noch immer danach, und sie warf sie beiseite, um sie später in die Reinigung zu bringen. Vielleicht würde sie im Tonk arbeiten müssen, bis sie eine neue Kellnerin gefunden hatten, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie jeden Abend mit diesem scheußlichen Geruch in Kleidern und Haaren zu Lizzy nach Hause zurückkommen würde. Was für ein Beispiel würde sie dem Kind damit geben? Sie zog sich fertig an, dann machte sie sich auf die Suche nach dem Telefonbuch.

Eine Stunde später verließ sie das Haus in der Baker Street und fuhr zu Marissa. Es war gut zwölf Jahre her, seit sie in dieser verschlafenen Kleinstadt gelebt hatte, aber sie schien sich zwischen ihren einzelnen Besuchen zu Hause nie sonderlich verändert zu haben. Sicher, einige der Obstplantagen an beiden Enden der Stadt hatten inzwischen neuen Wohnsiedlungen Platz gemacht, entlang der Hauptstraße hatten ein paar weitere Fast-Food-Lokale aufgemacht, und gleich hinter der 1-82 war ein neuer Big K gebaut worden. Aber dennoch war Fossil noch immer ein ziemlich hinterwäldlerisch anmutendes Kaff. Und die Ebenen und Hügel in der Umgebung der Stadt trugen noch immer die gleichen deprimierenden schlammbraunen und staubgrauen Farbschattierungen des Winters zur Schau.

Die Birken reckten ihre kahlen Äste jedoch einem kristallblauen Himmel entgegen und warfen ihre verkürzten Schatten auf die Straßen und Gehwege. Winterliches Sonnenlicht strömte durch die Windschutzscheibe ihres Wagens, als Veronica durch die Stadt fuhr, eine willkommene Abwechslung von dem um diese Jahreszeit meist dicht bewölkten Himmel über Seattle, wo sie jetzt lebte.

Und wo sie auch weiterhin zu leben gedachte, und zwar mit Lizzy, sobald sie einen Käufer für die Bar und das Haus gefunden hatte.

Wenige Minuten später bog sie in eine kreisförmige Einfahrt hinter einem großen, aus Holz und Flussgestein erbauten Haus ein und stellte den Motor ab. Dann saß sie einfach nur für einen Moment da und starrte gedankenverloren auf die Rückseite des feudalen Hauses. The Bluff, wie diese Gegend mit Ausblick auf die Stadt und den Fluss hieß, war der Stadtteil, in dem die Reichen wohnten, und Veronica konnte nie so ganz über die Tatsache hinwegkommen, dass ihre älteste Freundin jetzt hier wohnte, und das schon seit einiger Zeit. Marissa hatte es wahrhaftig weit gebracht, wenn man bedachte, dass sie einmal in der Baker Street gewohnt hatte, in einem Haus, das so eng an Veronicas gequetscht war, dass sie den niedrigen Zaun zwischen den beiden Grundstücken früher immer als eine Art Trittstein von der einen Hinterveranda zur anderen benutzt hatten.

Veronica lächelte vor sich hin. Die niedrige Steinmauer, die die Grenze zwischen Marissas Grundstück und dem ihres nächsten Nachbarn markierte, war etwas ganz anderes als der wackelige, windschiefe Holzzaun in der Baker Street, und man konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass niemand sie jemals so benutzte, wie sie und Marissa damals ihren Holzzaun benutzt hatten. Es könnte eine Frau glatt umbringen, wenn sie versuchen würde, zwischen diesen weit auseinander liegenden Häusern mal eben von einer Veranda zur anderen zu hüpfen.

Umbringen. O Gott. Veronicas Lächeln verschwand schlagartig. Sie schalt sich für ihren erschreckenden Mangel an Feingefühl in Bezug auf den Tod ihrer Schwester, während sie die Hand nach dem Türgriff ausstreckte. Wie hatte sie das schon so schnell wieder vergessen können? Sie hatte doch erst vor zwei Tagen davon erfahren.

Als sie aus dem Auto stieg, schwang plötzlich die Hintertür auf, und Marissa rannte über die mit Backstein gepflasterte Terrasse zur Auffahrt, während sie mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und vor Freude jubelte. Veronicas Stimmung hob sich schlagartig, und die beiden Frauen trafen sich in der Mitte des Gartens und umarmten einander überschwänglich.

Früher einmal hatten ihre gemeinsamen Freunde sie Pat und Patachon genannt, weil Marissa fast einen Meter achtzig groß und recht füllig gebaut war, während Veronica nur knapp einen Meter vierundsechzig maß und eher zierlich und feinknochig war. Sie passten jetzt zwar von der Statur her kein bisschen besser zusammen als früher, und dennoch fühlte Veronica sich, als wäre sie nach Hause gekommen, als ihre älteste Freundin sie herzlich in die Arme zog und sie an ihren üppigen Busen drückte.

Schließlich trat Marissa einen Schritt zurück und umschloss Veronicas Schultern mit ihren langen, perfekt manikürten Händen, um sie auf Armeslänge von sich abzuhalten, während sie sie prüfend vom Kopf bis zu den Zehenspitzen musterte.

»Du hast dein Haar abgeschnitten«, sagte sie und berührte Veronicas glatten Bob. »Wie schick – gefällt mir wirklich gut. Hast du das in Europa machen lassen?«

»Ja, in Edinburgh.« Dann stiegen die Schuldgefühle, mit denen Veronica seit ihrer Rückkehr von Schottland gelebt hatte, wieder in ihrem Inneren auf, um sie zu überschwemmen. »Ach, Rissa, es tut mir so Leid, dass ich überhaupt nicht daran gedacht hatte, eine Telefonnummer zu hinterlassen, unter der man mich hätte erreichen können. Ich kann einfach nicht fassen, dass Crystals Beerdigung schon fast einen Monat her war, bevor du mich endlich aufspüren konntest.« Sie lachte, aber es war ein kurzlebiges Lachen ohne jeden Humor. »Gott, wenn ich daran denke, wie sehr ich von mir selbst eingenommen war! Die Restaurierung dieses Schlosses war mein großer Durchbruch, und ich hab’ mich echt für die Größte gehalten, weil ich die ganze Arbeit rechtzeitig geschafft hatte und ohne das Budget zu sprengen. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, dass Crystal bereits tot und begraben war, als ich noch damit beschäftigt war, mir lobend auf die Schulter zu klopfen und mir zu den zukünftigen Kunden zu gratulieren, die mir dieses gelungene Projekt einbringen würde.«

Marissa schüttelte sie sanft. »Hör endlich auf damit.«

»Du hast ja Recht, du hast ja Recht.« Veronica holte tief Luft, stieß den Atem wieder aus und trat einen Schritt zurück, während sie die Schultern straffte. »Es geht hier nicht um mich.«

»Natürlich geht es um dich – deine Schwester ist ermordet worden!«

Das traf Veronica mitten ins Herz, doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, es geht um Lizzy, die ihre Mama verloren hat, deren Daddy des Mordes beschuldigt worden ist und deren Tante verschollen war, als sie sie am dringendsten brauchte. Wie geht es ihr überhaupt? Das war in den beiden kurzen Telefongesprächen kaum zu erkennen.«

»Ach, Ronnie, sie bricht mir das Herz.« Marissa ergriff Veronicas Hand und führte sie ins Haus. Sie gingen über den glänzenden Fliesenboden einer Küche, deren Arbeitsplatten aus Granit mit allem möglichen Familien-Krimskrams übersät waren und deren hochmoderner Kühlschrank von kindlichen Kunstwerken nur so strotzte. »Sie verhält sich zwar, als ob überhaupt nichts passiert wäre, aber innerlich muss es ihr verdammt zu schaffen machen. Das Schlimme ist, dass sie nicht nur mit dem Verlust ihrer Eltern fertig werden muss, sondern auch noch mit dem Gerede der Leute. Und du weißt ja, wie diese Stadt sein kann – jeder Hans und Franz kennt jedes einzelne Detail darüber, warum Eddie und Crystal nicht mehr da sind, und hat nichts Besseres zu tun, als sich das Maul darüber zu zerreißen.«

Sie ließen sich auf dem weich gepolsterten Sofa im Wohnzimmer nieder, die Knie hochgezogen und ihre Körper halb gedreht, sodass sie sich gegenseitig ansehen konnten. »Nichts von alledem hat sie jedoch noch weiter in ihr Schneckenhaus hineingetrieben, was schon ziemlich bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, wie schüchtern sie ist.« Marissa zog das Ende ihres dicken sandbraunen Zopfes zuerst glättend durch die eine Faust, dann durch die andere. »Meine Kinder haben mir erzählt, dass einige ihrer Mitschüler ihr in der Schule das Leben ganz schön schwer gemacht haben, aber zum Glück hat Lizzy ja Freunde, die ihr Rückhalt geben. Dessa ist weiß Gott eine grimmige kleine Kämpferin, die Lizzy in jedem Fall beisteht. Und Riley ist neulich mit einer blutigen Nase nach Hause gekommen, weil er Lizzy gegen einen seiner Mitschüler verteidigt hat.«

»Deine Kinder sind echt Klasse, Marissa.«

In den Wangen ihrer Freundin erschienen tiefe Grübchen. »Tja, wer hätte das gedacht? Jedes Mal, wenn ich denke, dass eine Schule mit militärischer Disziplin genau das Richtige für die beiden wäre, drehen sie sich um und tun etwas, was mich so stolz auf sie macht, dass ich platzen könnte.« Sie zuckte die Achseln. »Ich schätze mal, es ist eine Verschwörung mit dem Ziel, zu sehen, wie schnell sie mich in den Wahnsinn treiben können, aber was soll eine Frau dagegen machen?«

Veronica schnaubte verächtlich. »Nun komm schon! Als ob du auch nur die kleinste Kleinigkeit an den beiden ändern würdest, selbst wenn du könntest! Du hast bei ihrer Erziehung wirklich großartige Arbeit geleistet. Es muss ganz schön hart für dich gewesen sein, nachdem Denny tot war.«

»Na ja, zugegeben, manchmal ist es wirklich hart gewesen, aber Dennys Tod liegt nun schon fünf Jahre zurück, und das Leben geht weiter – besonders, wenn man Kinder hat.« Marissa zuckte die Achseln. »Man tut eben einfach, was man tun muss.«

»Also, was du getan hast, ist schon phänomenal. Und dass du dann auch noch meine Probleme auf dich geladen hast...« Veronica streckte die Hand aus und berührte Marissas Schulter. »Ich schulde dir so viel dafür, dass du dich um Lizzy gekümmert und das Tonk in Gang gehalten hast, dass ich gar nicht weiß, wie ich das jemals wieder gutmachen soll.«

»Ach, was, Unsinn!« Marissa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber wo wir gerade vom Tonk sprechen, ist dieser Cooper nicht ein Goldschatz? Und so ein netter Kerl, so ein richtig knuffiger Typ!«

»Ein knuffiger Typ?« Das war nicht unbedingt die Bezeichnung, die Veronica als Erstes in den Sinn gekommen wäre.

»Ja, wirklich. Er ist so charmant, und man kann so gut mit ihm arbeiten, und er trinkt nicht sämtliche Lagerbestände leer, so wie der Kerl, den ich zuerst eingestellt hatte.«

Charmant? Bei jedem anderen außer ihr vielleicht. Und wie war das, bitte? Man konnte so gut mit ihm arbeiten? »Du findest ihn knuffig?«

Marissa lachte. »Okay, ich gebe zu, er sieht nicht gerade aus wie ein Engel –«

»Das kannst du laut sagen. Er erinnert mich an einen dieser Vampire, die im Fernsehen neuerdings so populär sind. Aber nicht diese New-Age-Sensibelchen, die immer versuchen, ihre gemeine, gottlose Art zu bessern. Er ist mehr der Typ hartgesottener Erzschurke, der sich raubend und plündernd einen Weg durch die Masse bahnt.«

»Nee, für einen Vampir ist er zu braun gebrannt«, widersprach Marissa. »Trotzdem, ich hätte nichts dagegen, von ihm geraubt zu werden.« Dann lachte sie und beugte sich vor, um Veronica flüchtig an sich zu drücken. »Ach, V, es ist so schön, dich wieder hier zu haben! Du hattest schon immer so eine großartige Einstellung zu den Dingen.«

»Ich weiß noch nicht so recht, was ich davon halten soll, dass ich wieder hier bin«, gestand Veronica, »aber es ist auf jeden Fall schön, dich wiederzusehen. Und ich muss unbedingt alles wissen, was du mir über die Leute von Fossil erzählen kannst.« Sie rieb mit den Händen über ihre in Khaki gehüllten Schenkel. »Das Tonk hat zu wenig Personal, und dein Goldschatz hat mich informiert, dass ich in der Bar mit anfassen muss, bis wir das Problem mit dem Personalmangel gelöst haben.«

»Ach je.« Marissa schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie begeistert du warst, als du das gehört hast.«

»O ja.« Veronica schnitt eine Grimasse. »Von der Zeit an, als wir alt genug waren, um einen Mopp zu schwingen, haben Crystal und ich wohl die Hälfte unserer Sonntage dafür geopfert, den Laden sauber zu machen.« Ihre Abneigung gegen das Tonk war eng mit den Erinnerungen an ihren Vater verknüpft – sein Charme, sein mangelnder Ehrgeiz und sein angeborener Chauvinismus waren in ihrem Bewusstsein untrennbar mit der Bar verbunden, die ihrer Familie gehörte. »Aber das brauche ich dir natürlich nicht zu erzählen. Ich habe ja weiß Gott oft genug meinen Ärger über Daddys Vorstellungen von den Aufgaben einer Frau bei dir abgelassen und über Mamas Art, ihn noch darin zu bestärken, indem sie sich weigerte, ihn dazu zu bringen, auch nur einen Finger krumm zu machen.« Sie zuckte entschuldigend die Achseln, weil sie dieses leidige Thema wieder zur Sprache gebracht hatte. »Ich werde im Tonk arbeiten, weil mir gar nichts anderes übrig bleibt, wenn ich einen Käufer für den Laden finden will. Für Lizzy möchte ich jeden Penny aus dem Geschäft herausholen, den ich herausholen kann, damit sie später mal die Freiheit hat, sich auszusuchen, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte. Aber in der Sekunde, in der wir eine neue Kellnerin gefunden haben, bin ich wieder raus aus dem Laden!«

»Hm, weißt du, ich will dich ja bestimmt nicht entmutigen, Liebes, aber die Wirtschaft in unserer Gegend hat in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt. Und das bedeutet, dass es schwieriger geworden ist, Leute für die schlechter bezahlten Jobs zu finden, deshalb könnte es eine Weile dauern, bis ihr eine neue Kellnerin findet.«

»Na toll.« Veronica wurde ganz flau im Magen, doch sie straffte energisch die Schultern und schob diese entmutigende Neuigkeit erst einmal beiseite. »Ist das der Grund, weshalb ich nach Hause gekommen bin, um feststellen zu müssen, dass sich Cooper Blackstock in Crystals Haus eingenistet hat?«

»Ja. Es gibt so gut wie keine freien Mietwohnungen, deshalb dachte ich mir – warum ihn nicht in dieses leere Haus stecken, wo er leicht erreichbar ist und nur einen Katzensprung von der Bar entfernt?«

Weil er mich dort stört. Vor Veronicas geistigem Auge stieg ein Bild von Coop auf, wie er an diesem Morgen ausgesehen hatte: sein hartes, kantiges Kinn ganz glatt rasiert, das blonde Haar störrisch hochstehend, seine dunklen Brauen zu einem finsteren Ausdruck zusammengezogen. Er hatte mehr als seinen gerechten Anteil des Küchentisches für sich beansprucht, als er ihr gegenübergesessen und ihr mit seinen breiten Schultern die Sicht versperrt hatte.

Doch sie verdrängte das Bild wieder. Mit Blackstock würde sie sich später befassen; im Moment hatte sie dringendere Probleme. »Gott, Mare, ich fühle mich, als ob ich mitten in einer Folge von Twilight Zone geraten wäre. Es gibt einen Teil von mir, der sich immer Sorgen darüber gemacht hat, dass es mit Crystal einmal ein böses Ende nehmen würde, aber das waren eher unbestimmte Vorstellungen, verstehst du? Ich hatte zum Beispiel oft Angst, dass sie sich betrunken ans Steuer setzen und mit dem Auto verunglücken könnte, oder dass einer der Männer, mit denen sie ihre ewigen Spielchen getrieben hat, eines Tages plötzlich ausrasten und sie schlagen könnte. Dass er ihr vielleicht ein blaues Auge verpassen oder ihr die Lippen blutig schlagen würde.«

Sie blickte ihre Freundin in fassungslosem Entsetzen an. »Aber dass es so schlimm kommen würde, das hätte ich ganz sicher niemals für möglich gehalten. Wie konnte Eddie das bloß tun? Ich fand immer, er war unglaublich nett und geduldig, denn – machen wir uns doch nichts vor – wir beide wussten doch genau, wie Crystal sein konnte. Aber das hier! Ich meine, ich wusste, dass sie mitten in einem Sorgerechtskampf um Lizzy waren, aber ich hätte doch niemals gedacht ... ich wäre ja nie auf die Idee gekommen ...« Sie strich sich die Haare aus der Stirn zurück und schluckte hart. »Gott, und ich habe ihr sogar noch dazu geraten, ihn Lizzy großziehen zu lassen, weil ich dachte, er wäre besser geeignet als Crystal.«

»Er war ja auch besser geeignet. Ich vermute, er ist plötzlich einfach durchgedreht.«

»Sie sind sich aber sicher, dass er derjenige ist, der es getan hat?« Veronica schüttelte ungeduldig den Kopf. »Klar, natürlich sind sie das – er muss es ja logischerweise gewesen sein, nicht? Wenn er unschuldig wäre, wäre er ja niemals abgehauen und hätte es Lizzy überlassen, ganz allein mit allem fertig zu werden.« Ein bitterer Geschmack machte sich auf ihrer Zunge breit.

»Eddie und Crystal haben sich an dem bewussten Abend in aller Öffentlichkeit ziemlich heftig gestritten«, sagte Marissa sanft. »Eddie hat ihr ein paarmal gedroht. Und später hat die Polizei seine Lederjacke in einem Müllcontainer auf demselben Parkplatz gefunden, wo Crystals Leiche lag. Sie hatte Spuren davon unter ihren Fingernägeln.« Gleich darauf, als ihr klar wurde, was sie gerade eben gesagt hatte, streckte sie den Arm aus und drückte Veronicas Hand. »Entschuldige bitte, V Das war ziemlich gefühllos von mir. Wollen wir nicht lieber über etwas anderes reden, was meinst du?«

»Ja.« Veronica schluckte hart, von dem verzweifelten Bedürfnis erfüllt, die schrecklichen Bilder auszulöschen, die sie in Gedanken vor sich sah. »Hilf mir, jemanden wirklich Gutes zu finden, der auf Lizzy aufpasst, wenn ich arbeiten muss.«

3

Als Marissas Kinder und Lizzy ein paar Stunden später zur Hintertür hereinstürmten, hatte Veronica bereits einige wichtige Entscheidungen bezüglich des Wohls ihrer sechsjährigen Nichte getroffen. Sie musterte Lizzy prüfend und suchte nach Veränderungen, als das kleine Mädchen im Kielwasser des schlaksigen acht Jahre alten Riley hereinkam, der sich lautstark mit seiner Schwester Dessa zankte, deren statisch aufgeladene blonde Locken die Energie ihrer Persönlichkeit aufzunehmen schienen, während sie mit temperamentvoller Heftigkeit stritt. Lizzys goldbraunes Haar war wie immer ordentlich gekämmt, ihre Retro-Jacke und ihre Jeans makellos sauber, ihre Turnschuhe fest zugebunden. Sie war eine interessante Kombination beider Elternteile und hatte Crystals zierliche Statur und feinen Knochenbau geerbt. Veronica dachte, dass Lizzy dünner geworden war, als diese still und in sich gekehrt hinter den lärmenden Travits dreinzockelte. Doch in dem Moment, in dem ihr Blick auf Veronica fiel, hellte sich Lizzys Miene schlagartig auf.

»Tante Ronnie?« Sie blieb wie angewurzelt neben der Küchenanrichte stehen, ihr Rucksack, den sie gerade hatte abnehmen wollen, noch von einer Schulter herabbaumelnd. »Du bist hier!«

Riley und Dessa hörten schlagartig auf zu streiten und fuhren herum, um Veronica anzustarren, die bei ihrem Erscheinen vom Sofa aufgestanden war. Lizzy warf den Rucksack mit einem Plumps auf den Fußboden und rannte quer durch den Raum, hielt dann aber nur wenige Zentimeter vor Veronica plötzlich wieder inne, statt sich ihr in die ausgebreiteten Arme zu werfen. Sie senkte den Kopf und zog ihre schmalen Schultern hoch, während sie durch den seidigen Vorhang ihrer Ponyfransen einen scheuen, unschlüssigen Blick auf ihre Tante warf.

Ihre Unsicherheit tat Veronica in der Seele weh. »Nun komm schon her, du!« Sie riss das Kind in ihre Arme und drückte es fest an ihre Brust. »Ich habe dich so vermisst! Weißt du eigentlich, wie lange es schon her ist, seit wir das letzte Mal zusammen waren? Es sind genau zwei Monate, drei Wochen und –«

»Sechs lange Tage«, ergänzte Lizzy zusammen mit Veronica und legte den Kopf in den Nacken, um zu ihrer Tante aufzusehen, als sie die Litanei ihrer Trennungszeit vervollständigte. Sie entspannte sich in Veronicas Umarmung. »Ich hab’s gestern Abend auf meinem Kalender zusammengezählt.«