Niemandskinder - Lisa Brönnimann - E-Book

Niemandskinder E-Book

Lisa Brönnimann

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Beschreibung

Lisa weiß nicht, wer ihre Mutter ist, aber die muss sie hassen, sonst hätte sie sie bestimmt niemals allein gelassen. Seit sich Lisa erinnern kann, wird sie zwischen verschiedenen Pflegestellen hin und her geschoben, ihre Eltern hat sie nie kennengelernt. Mit fünf Jahren kommt sie zu einer neuen Pflegemutter, die sie und die anderen Kinder unbarmherzig quält. Sie prügelt, ertränkt ihre Opfer fast in kaltem Wasser oder sperrt sie tagelang in eine finstere Kammer.

Es ist eine harte Kindheit voller Arbeit und Entbehrungen - und das in den 1970er-Jahren in der Schweiz. Dahinter steht ein politischer Skandal. Bis 1981 ordneten die Schweizer Behörden "fürsorgerische Zwangsmaßnahmen" an: Arme und uneheliche Kinder oder Waisen wurden in Heimen und Pflegefamilien untergebracht und mussten dort als "Verdingkinder" arbeiten. Lisa Brönnimanns Schicksal steht stellvertretend für Tausende Betroffene.

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Seitenzahl: 398

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24NachwortFürsorgerische Zwangsmaßnahmen in der Schweiz vor 1981Dank

Über das Buch

»War sie mal wieder nicht brav?«, lachte der Nachbar, wenn die Pflegemutter Lisa Brönnimann im Garten mit eiskaltem Wasser übergoss. Sobald Lisa ihre Arbeiten nicht schnell genug erfüllt, wird sie bestraft, denn sie ist ein Verdingkind und ihrer Pflegemutter hilflos ausgeliefert. Als uneheliches Kind nahmen die Schweizer Behörden sie ihrer Mutter weg und gaben sie in die Obhut von Bauern. Fremde sollten das Mädchen erziehen, fern vom „liederlichen Lebenswandel“ der Mutter – und fern von ihrer Liebe. Lisa Brönnimann erlitt eine Kindheit voller Missachtung und Gewalt, wie sie viel zu viele durchmachen mussten.  

Über die Autorin

Lisa Brönnimann, geboren 1965 im Kanton Bern, wurde ihrer Mutter nach der Geburt weggenommen, weil diese nicht verheiratet war. Sie wurde 1972 zwangsadoptiert und musste bei verschiedenen Bauern als Verdingkind arbeiten. Erst im Jahr 2000 lernte sie ihre leibliche Mutter kennen. Heute ist Lisa Brönnimann verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Seit Jahren engagiert sie sich für die Rechte der Opfer von Zwangsadoptionen.

Lisa Brönnimann

mit Ulrike Renk

Niemandskinder

Verdingt und verachtet. Meine Kindheit in der Schweiz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Titelillustration: © getty images/Rosmarie Wirz

Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4082-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Dieses Buch widme ich den vielen anderen Fremdplatzierten,

denen Gleiches oder Ähnliches widerfahren ist. Ich habe es für die geschrieben, die nicht so viel Glück hatten wie ich und im Suizid Erlösung suchten.

Es ist auch ein Buch für die Mütter und Väter, denen die Kinder entrissen wurden und die, genau wie meine Mutter, verzweifelt gegen die Mühlen der Bürokratie angekämpft haben.

Und vor allem widme ich dieses Buch meinen Kindern und meinem Mann, die in guten wie in schlechten Zeiten zu mir halten.

Prolog

Herbst 1998

Der Postbote klingelt. Ich öffne. Ein Einschreiben. Mein Herz klopft. Ein Einschreiben? Das ist nie etwas Gutes. Vielleicht ein Brief vom Gericht oder vom Amt? Mit zitternden Fingern unterschreibe ich, nehme den dicken Brief in Empfang, drehe ihn in meinen Händen. Er ist von einem Anwalt aus Zürich, einem Anwalt, dessen Namen ich nie zuvor gehört habe. Was will er von mir?

Solche Briefe sind immer schlechte Nachrichten, das habe ich in meinem Leben gelernt.

Ich nehme den Umschlag mit nach oben, lege ihn auf den Küchentisch, koche mir einen Tee. Der Brief liegt auf dem Tisch und wiegt schwer. Doch ich kann ihn nicht öffnen, nicht einfach so. Zu viel ist passiert in meinem Leben, zu viele Enttäuschungen, zu viele schlimme Dinge wurden über meinen Kopf hinweg entschieden und in Briefen niedergelegt.

Was mag dies nun sein?

Ich erwarte keine amtliche Post, nichts von einem Anwalt.

Ich schütte Zucker in meinen Tee, rühre um, setze mich an den Tisch, nehme den Brief in die Hände. Er ist schwer, dick, darin sind mehrere Blätter, nicht nur eins. Ich taste mich an den Seiten entlang, versuche zu spüren, was in dem Briefumschlag stecken mag. Ein zweiter, kleinerer Brief, so scheint es mir. Mich schaudert es, aber die Neugier überwiegt. Ich nehme das Küchenmesser und schneide vorsichtig an der Kante entlang. In dem Umschlag stecken ein Schreiben und tatsächlich noch ein weiterer unbeschrifteter Briefumschlag.

Den Briefumschlag lege ich vor mich hin, das Schreiben falte ich vorsichtig auseinander, streiche darüber, hole tief Luft.

Dann lese ich.

Liebe Frau Brönnimann,

mein Name ist XXX, und ich bin Anwalt in Zürich. Sie kennen mich nicht.

Ich bin beauftragt worden, Sie zu kontaktieren, und zwar von Ihrer leiblichen Mutter, Rosina Brönnimann. Ihre Mutter hat Sie über Jahre verzweifelt und vergeblich gesucht und nun endlich gefunden.

Meine leibliche Mutter? Mir fällt die Kinnlade herunter. Ich bin Anfang dreißig, und meine Mutter hat in meinem bisherigen Leben nie eine Rolle gespielt. Sie hat mich geboren und sofort danach weggegeben. Sie hat mich nie gewollt, war nie für mich da.

Jedes Kind hat eine Mutter, die es zur Welt bringt. Und jedes Kind wünscht sich eine Mutter, die es liebt, umsorgt, für es da ist. Ich hatte eine Mutter, die mich gebar. Aber ich hatte nie jemanden, der für mich da war. Ich war ein Verdingkind, ein Niemandskind. Nicht gewollt, nicht geliebt, nicht geachtet.

Ich wurde herumgereicht wie ein Wanderpokal. Ich hatte Aufgaben zu erfüllen, Arbeiten zu verrichten, aber geliebt, einfach nur geliebt, wurde ich nie. Danach habe ich mich mein Leben lang gesehnt, ohne zu wissen, wie es sich anfühlte.

Meine Mutter – eigentlich sind meine Gefühle, was sie betrifft, ganz klar. Von früh auf habe ich zu hören bekommen, dass sie ein Luder war, verdorben und verlogen. Sie war eine Hure, eine Frau, die ein Kind nach dem anderen von verschiedenen Männern bekam und die Kinder immer sofort nach der Geburt weggab, weil sie sie nicht haben wollte.

Meine Mutter wollte mich nicht. Nie. Das fährt mir gerade wieder durch den Kopf. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, versuche die Tränen zurückzudrängen. Zu viele Tränen habe ich schon geweint. Sehnsuchtsvoll. Verzweifelt. Voller Wut und Hass.

Und nun liegt da dieser Brief. Von dieser Frau. Angeblich hat sie mich jahrelang gesucht.

Ich war da, aber wo warst du, Mutter?, durchfährt es mich wie ein schmerzender Blitz. Ich nehme den Umschlag, drehe ihn in meinen Händen. Dann schließe ich die Augen. Draußen spielen die Kinder, meine Töchter. Sie lachen und kreischen vor Vergnügen. Ich bin zwar keine perfekte Mutter, das war ich nie, aber welche Mutter ist das schon? Ich mache Fehler, aber ich bin da für meine Kinder. Das war ich immer. Und du, Mutter, frage ich in die Stille – wo warst du, als ich dich brauchte? Was willst du jetzt von mir?

Was?

Die Frage steht wie gemalt in der Küche vor mir. So wie der ungeöffnete Brief auf dem Tisch liegt. Ein echter Brief, kein Traum und keine Halluzination. Oft habe ich mir ein Zeichen von meiner Mutter gewünscht, doch jetzt? Es ist zu spät. Ich will es nicht mehr.

Ich lebe mein Leben, habe meine eigene Familie. Ich brauche keine Mutter. Nicht mehr. Nicht jetzt.

Ihre Mutter hat Sie über Jahre verzweifelt und vergeblich gesucht und nun endlich gefunden.

Das hat der Anwalt geschrieben. Mein Bauch krampft sich zusammen, meine Hände sind schweißkalt. Vorsichtig nehme ich den Briefumschlag in die Hände, betaste ihn.

Dann reiße ich ihn auf. Eine Postkarte ziehe ich heraus, handgeschrieben. Die Handschrift meiner Mutter, meiner leiblichen, wirklichen Mutter. Zitterig ist diese Schrift, als hätte es sie viel gekostet, die paar Zeilen zu schreiben.

Ich muss die Tränen aus den Augen wischen, bevor ich lesen kann, aber es sind keine Tränen der Rührung. Ich bin wütend, voller Hass. Ich habe mein Leben über dreißig Jahre lang allein gemeistert, und jetzt kommt DIE?

Was will sie jetzt von mir? Gebraucht hätte ich sie, die Mutter, damals, als ich klein war. Jetzt aber?

Braucht sie mich? Das kann sie vergessen.

Ich nehme die Postkarte, lese.

Meine liebe Tochter,

endlich habe ich dich wieder …

Liebe Tochter? Ich springe auf, schreie voller Wut. Liebe Tochter? Wie kann sie so etwas wagen? Ich zerreiße die Karte in Fetzen, zerstreue sie über den Tisch. Schlage mit den Fäusten gegen die Wand. Was für eine Frechheit von dieser Frau, mit so süßlichen Worten zu kommen. Liebe Tochter … sie kennt mich nicht, weiß nichts von mir, von meinem Leben. Sie weiß nicht, was ich alles habe durchmachen müssen, nur weil sie mich nicht haben wollte und mich weggab.

Aber ich … ich musste es durchmachen.

Endlich habe ich dich wieder.

»Nichts hast du!«, schreie ich voller Wut. »Mich schon gar nicht. Ich kenne dich nicht, will dich nicht kennen. Für mich bist du tot! Tot, tot, tot!«

Ich schmeiße den Anwaltsbrief und die Papierfetzen in den Müll, nachdem ich mich beruhigt habe, verdränge alle Gedanken an die Frau, die sich meine Mutter nennen mag und mir viel Leid angetan hat, als sie mich weggab. Die zugelassen hat, dass ich zum Verdingkind wurde.

Kapitel 1

September 1970

Ich bin fünf Jahre alt, heiße Lisa und spreche Deutsch und Französisch. Ich lebe mit »Mutti«, »Vati« und meinen »Geschwistern« auf einem Winzerhof in der Romandie, der französischsprachigen Schweiz. Ich kann mich nicht an die Zeit davor erinnern, aber ich weiß, dass ich kein leibliches Kind der Familie bin, obwohl ich so behandelt werde.

»Na, du schielender Zwerg, möchtest du noch etwas essen?«, fragt mich die Winzerin liebevoll. »Du bist viel zu klein und zu dünn für dein Alter. Und du musst doch groß und stark werden.«

»Warum?«, frage ich neugierig.

»Damit du später so arbeiten kannst wie die großen Mädchen, wie Annabelle.«

Darüber denke ich kurz nach. Wir kommen vom zweiten Frühstück. Meine Aufgabe ist es, dafür den Tisch zu decken und auch nachmittags, wenn es eine weitere Zwischenmahlzeit gibt. Jetzt sind wir wieder im Weinberg, und die dicken, glatten Trauben glänzen in der Sonne. Die Blätter der Reben leuchten gelb, rot und orange. Es ist wunderschön hier, denke ich verzückt und schaue hinunter zum See, in dem sich die Berge spiegeln.

»Was ist auf der anderen Seite der Berge?«, frage ich. »Und wie kommt man dahin? Was passiert mit den Trauben, die ich aufsammle? Und wieso färben sich die Blätter jetzt und bleiben nicht grün?«

Ich stelle viele Fragen, und die meisten werden ehrlich beantwortet.

Meine Aufgabe besteht darin, die Trauben, die am Boden liegen, aufzusammeln und in die Hutte zu tun, eine Art Holzgefäß, das ich auf dem Rücken trage. Wenn es voll ist, bringe ich es zu den großen Behältern und entleere es dort. Dann sammle ich weiter.

Alle sind im Weinberg unterwegs – der Winzer und seine Frau, die drei leiblichen Kinder, einige Gastarbeiter und wir fünf Verdingkinder. Ich bin die Jüngste, und die Arbeit, die ich zu verrichten habe, ist nicht schwer.

Kurz nach drei Uhr am Nachmittag ruft mich die Winzerin, ich soll schnell den Tisch decken.

Es gibt Speck, Brot und Früchte, Sirup für uns Kinder und Kaffee oder Tee für die Erwachsenen. Nach dem Essen gehen alle gestärkt wieder in den Weinberg.

Die Sonne sinkt über die Bergkette, alles leuchtet noch einmal viel intensiver auf, die Farben scheinen kräftiger zu werden. Die Winzerin nimmt uns Kindern die Hutten ab, und wir dürfen noch eine Weile Fangen zwischen den Reben spielen. Es ist für mich wie im Paradies. Doch dann wird es dunkel, und wir alle gehen zurück zum Personalhaus, das oben am Hang steht. Die weißgetünchten Mauern des dreistöckigen Hauses leuchten uns entgegen. Das Haus ist zweckmäßig eingerichtet, es gibt ein Radio und einen Schwarz-Weiß-Fernseher und für uns Kinder Kartenspiele, Puzzle, Würfelspiele. Im Hof können wir Boccia oder Fußball spielen oder die Springseile benutzen. Von Montag bis Samstag gehen wir zur Weinlese, am Sonntag müssen wir in die Kirche. Im Weinberg kann ich mich bewegen, kann rennen und springen – das kommt mir entgegen, denn stillhalten fällt mir schwer.

Es ist Sonntag, und Annabelle kämmt mir wie jeden Tag die goldbraunen Haare, flechtet sie zu Zöpfen.

»Halt still«, ermahnt sie mich. »Nun hör doch auf zu zappeln«, sagt sie lachend und hält mich fest.

Ich schiebe die Unterlippe vor. »Jetzt kann ich noch zappeln, gleich nicht mehr.«

Alle zusammen gehen wir hinunter ins Dorf zur Kirche. Ich fürchte die Gottesdienste, aber nicht wegen der Worte oder der Lieder. Gleich muss ich zwischen Maria und Joëlle sitzen, darf mich nicht bewegen, höchstens ein wenig mit meinen Beinen schaukeln. Dabei würde ich lieber tanzen und singen.

»Sei still, du störst den Pfarrer!«, mahnt Maria mich mehr als einmal.

Dann endlich wird der Segen erteilt, und ich springe erleichtert auf. Das Wetter ist schön; wir werden ein Picknick am See machen.

Die Erwachsenen trinken Wein, wir Kinder bekommen Traubensaft. Den mag ich gar nicht, er ist sehr sauer und ein wenig bitter. Es gibt aber frisches duftendes Brot, Speck und Wurst, süße Butter und Marmelade.

Einer der Männer holt Bocciakugeln hervor, und dann wird gespielt. Joëlle nimmt mich mit zum Ufer des Sees, wir ziehen Schuhe und Strümpfe aus und baden unsere Füße im klaren, kalten Wasser. Die Männer erzählen sich Witze, es wird viel gelacht. Ich verstehe die meisten Witze nicht, aber ich lache trotzdem, denn ich fühle mich geborgen und wohl.

Später stimmt jemand ein Lied an, alle singen nun gemeinsam lustige und manchmal auch traurige Lieder. Ich kuschele mich in Marias Schoß, sie steckt meine Haare zu einem Kranz auf.

»Ach, ist das schön«, denke ich, als ich abends im Bett liege und den Tag Revue passieren lasse, »so eine schöne Zeit. Was habe ich nur für ein Glück.«

Wieso denke ich das? Davor kann ich nicht glücklich gewesen sein, wenn ich mich hier so wohlfühle. Aber was war davor? Ich weiß es nicht mehr, und sosehr ich auch versuche, mich daran zu erinnern, es will mir nicht gelingen. Mir scheint, ich hätte schon ewig hier gelebt, doch das stimmt nicht, das weiß ich wohl. Aber nun, so denke ich, werde ich für immer hierbleiben und ein Teil dieser Familie sein. Froh kann ich einschlafen.

Am Montag beginnt der Tag früh, die Arbeit ruft. Doch es macht mir nichts, ich bin froh, eine Aufgabe und einen Platz in der Gemeinschaft zu haben.

Nach dem Abendessen schauen die Männer die Nachrichten im Fernsehen, dann müssen wir leise sein. Wir machen den Abwasch und räumen auf. Ist das getan, dürfen wir nach Herzenslust im Hof spielen, wenn es das Wetter zulässt. Bei Regen sitzen wir zusammen am Tisch, spielen Brettspiele oder würfeln. Und wir lachen.

Der 25. September ist ein bewölkter Tag. Ich schaue immer wieder nach oben zu den Wolken, die an den Gipfeln der Berge festzuhängen scheinen, und hoffe, dass es nicht regnet.

»Kleine Lisa?«, ruft der Winzer mich plötzlich.

Was will er nur von mir? Ich hüpfe zu ihm, zeige ihm meine Hutte, die schon wieder halb gefüllt ist.

Er nimmt sie mir lächelnd ab. »Die brauchst du nicht mehr«, sagt er. »Du wirst abgeholt. Komm, meine Frau hat zum Abschied eine Überraschung für dich.«

Eine Überraschung? Was kann das wohl sein? Ich höre nur dieses Wort, das mich, wie wohl alle Kinder, verzückt. Dass er vom Abschied gesprochen hat, nehme ich nicht wahr.

Schnell springe ich ihm voraus zum Haus oben am Hang. Dort steht im Hof das Auto des Winzers. Will er wegfahren?, fährt es mir durch den Kopf. Und dann sehe ich den kleinen Koffer neben dem Auto stehen. Es ist mein Koffer. Ich bleibe stehen. Wofür braucht er meinen Koffer? Aber er kann ihn ruhig haben, denke ich. Jetzt sehe ich auch die Winzerin – sie hält eine Puppe in der Hand, eine wunderschöne Puppe mit blonden Haaren. Ist das die Überraschung? Ist diese Puppe etwa für mich? Ich kann den Blick nicht davon abwenden, ich habe noch nie eine eigene Puppe besessen. Langsam gehe ich auf die Winzerin zu und bemerke kaum die Frau, die neben ihr steht.

»Hallo, Lisa«, sagt die fremde Frau und tritt mir entgegen. Sie steht nun vor der Winzerin. »Ich bin Rosmarie, und ich werde dich nach Meienried begleiten. Dort erwarten dich deine Pflegeeltern schon sehnsüchtig.«

Was sagt sie da? Pflegeeltern? Was ist mit der Puppe? Ist das nun meine Puppe? Ich kann gar nichts anderes denken, doch die Winzerin gibt sie mir nicht. Ist sie doch nicht für mich?

Der Winzer packt meinen Koffer in das Auto.

»Du musst mitkommen«, sagt Rosmarie. Ich schaue sie zum ersten Mal richtig an. Sie sieht elegant aus mit ihrem Mantel und der Handtasche, aber ihr Gesicht ist hart, selbst wenn sie lächelt. Sie lächelt nur mit dem verkniffenen Mund, nicht mit den Augen.

Langsam begreife ich, dass ich wegfahre, dass ich den Hof verlassen soll, weil irgendwo irgendwer auf mich wartet. Aber ich bin doch hier zu Hause?

Verwirrt sehe ich den Winzer an.

»Nun steig ein«, sagt er und klingt fast ärgerlich. Zum ersten Mal scheint er böse mit mir zu sein. »Nun mach schon. Ich habe nicht alle Zeit der Welt.«

»Sag Auf Wiedersehen«, meinte Rosmarie. »Und steig ins Auto«, fügt auch sie hinzu.

Mein Magen krampft sich zusammen, als hätte ich zu viele bittere und unreife Trauben gegessen. Dies ist ein Abschied für lange Zeit, spüre ich plötzlich. Vielleicht sogar für immer. Steig bloß nicht in das Auto, sagt mir meine innere Stimme.

»Wie lange willst du noch da stehen?« Der Winzer wird jetzt wütend. »Mach schon!«

»Nein!«, rufe ich und klammere mich an das Bein des Winzers. »Nein, bitte nicht! Ich will nicht weg. Ich bleibe hier. Hier ist doch mein Zuhause, ihr seid doch meine Familie.«

»Du musst fahren!«

»Warum muss ich weg?«

»Warum? Warum? Frag nicht immer, es ist halt so.« Er schüttelt mich ab, packt mich. »Steig endlich ein.«

Schließlich setzt er mich in das Auto. Auch Rosmarie steigt schnell ein. Ich kann das alles gar nicht fassen, Tränen füllen meine Augen, und verzweifelt drehe ich mich um, als er den Hang hinunter zum Dorf fährt. Die Winzerin ist stehen geblieben, sie hat kein Wort des Abschieds gesagt, sie hat mir nicht geholfen. Warum? Ich verstehe es nicht, spüre nur die wachsende Verzweiflung in mir.

»Warum?«, frage ich wieder, als wir am Bahnhof ankommen.

»Meine liebe kleine Lisa«, sagt der Winzer, der jetzt wieder ganz freundlich klingt. »Du bekommst nun eine nette Mami und einen Papi. Die haben mehr Zeit für dich als wir. Aber wir werden dich im Winter besuchen kommen, das verspreche ich dir.« Nun gibt er mir die Puppe, die seine Frau auf den Beifahrersitz gelegt hat, und küsst mich auf die Wange. Seine Haut fühlt sich rau an, die Bartstoppeln kitzeln. Das alles nehme ich wie durch einen Nebelschleier wahr. Rosmarie packt meine Hand; sie hält mich so fest, dass es wehtut. Mit der anderen Hand nimmt sie meinen Koffer entgegen, nickt dem Winzer zu und zieht mich in das Zugabteil.

»Ich will keine andere Mami und keinen anderen Papi«, rufe ich verzweifelt. »Du bist doch mein Papi!«

Der Winzer schüttelt nur den Kopf, dreht sich um und geht. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, und ich sinke erschöpft auf die Sitzbank. Ich presse die Puppe an mich. Sie ist wunderschön, mit blauen Augen und blonden Locken. Sie ist das erste Geschenk meines Lebens, und vielleicht kann sie mir Trost spenden. Tränen laufen über meine Wangen, und ich fühle mich ganz und gar verlassen.

Ich hatte keine Zeit, mich mit dem Abschied anzufreunden, konnte mich noch nicht einmal von den anderen verabschieden. Wenn sie abends fröhlich vom Weinberg ins Haus kommen, werde ich einfach nicht mehr da sein. Werden sie mich vermissen?, frage ich mich. Und ich hatte gedacht, dass der Winzer und seine Frau, die immer so freundlich zu mir waren, mich geliebt hätten. Doch nun wird mir klar, dass die Liebe nur gespielt war. Es war alles geheuchelt. Wem kann ich noch trauen? Worauf kann ich mich verlassen, wenn noch nicht einmal mein Bauchgefühl stimmt?

Rosmarie sitzt mir gegenüber und mustert mich. Ich will nicht mit ihr reden. Sie hat mich abgeholt, sie bringt mich weg von meinem Zuhause. Ich hasse sie.

Rosmarie scheint meine Gedanken zu erraten. Sie holt ein Schokoladenbrötchen aus ihrer Tasche.

»Magst du?«, fragt sie mich.

»Nein!« Trotzig schüttele ich den Kopf. Sie soll merken, dass ich kein freundliches Kind bin. Vielleicht denkt sie dann, dass mich die Pflegeeltern doch nicht haben möchten, und bringt mich zurück? Dieser Gedanke lässt kurz Hoffnung in mir wachsen, doch mit einem fiesen Grinsen zerstört Rosmarie diese sofort.

»Wer nicht will, der hat schon«, sagt sie und isst das Brötchen voller Genuss selbst.

Oh, wie gerne hätte ich die Schokolade gehabt, ich liebe Schokolade! Doch nun ist es zu spät. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, aber ich schlucke es trotzig hinunter. Rosmarie soll nicht merken, wie sehr sie mich quält. Ich schaue nach draußen, beachte sie die ganze Fahrt über nicht mehr. Ich hasse sie, sie ist eine böse Frau, sie hat mir mein Paradies genommen.

Irgendwann steigen wir aus, fahren mit dem Postauto weiter. Und dann müssen wir von Safnern im Kanton Bern, wo das Postauto hält, bis zum Willer Meienried marschieren – gute vierzig Minuten.

Kapitel 2

Rosmarie zieht mich die Straße entlang. Ihre Hand hält meine fest umklammert.

»Nun mach schon!«, treibt sie mich immer wieder zur Eile an.

Meine Füße sind schwer, und in meinem Bauch rumort es. Ich weiß nicht, wohin wir gehen, ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussehen wird. Hin und wieder stolpere ich.

»Pass doch auf, du machst dich dreckig, du dummes Ding«, herrscht mich Rosmarie dann an.

Die Angst in meinem Bauch wächst, mein Herz pocht. Nur die Puppe halte ich fest an mich gedrückt. Den ganzen Weg über habe ich überlegt, wie ich sie nennen will. Gabi, sie heißt Gabi. Sie ist meine einzige Verbindung zum Winzerhof in Gland und jetzt schon mein größter Trost.

Wir gehen eine Einfahrt hoch zu einem Bauernhof. Der Hof ist dreckig, die Wände des Hauses sind grau und feucht. Kein Vergleich zu dem schönen, weißgetünchten Personalhaus in Gland, von dem ich komme. Ich rümpfe die Nase, es stinkt nach Kuhdung und Hühnermist und noch Schlimmerem. In der Ferne höre ich einen Fluss rauschen. Noch weiß ich nicht, dass es die alte Aare ist.

Ein Bauer und eine Bäuerin stehen im Hof und erwarten uns wohl schon, als wir zu ihnen stapfen.

»Na endlich«, sagt der Bauer ungeduldig. Er ist dick, ungepflegt und riecht streng. Seine Wangen sind schlecht rasiert, von grauen Bartstoppeln übersät. »Das wurde aber auch Zeit. Beeil dich, Kind, ich muss in den Stall«, sagt er und schüttelt meine Hand. »Willkommen bei uns. Du kannst uns Mutti und Vati nennen.« Er nimmt den Koffer, trägt ihn ins Haus und verschwindet in den Stall.

Die Bäuerin nickt mir zu. Ihre Haare sind grau, ihr Gesicht voller Falten. Wie alt mag sie sein? Sehr alt, will mir scheinen. Auch der Hof ist alt, das Haus klein und abgewohnt. Durch die Tür kommt man direkt in die Küche. Ich folge der Bäuerin, schaue mich neugierig um. In der Küche stehen eine Eckbank und ein Tisch. Daneben ist die Stube. Auf dem Holzboden liegt ein abgetretener Teppich, eine verwohnte Biedermeier-Sitzgruppe steht um einen runden Tisch, in der Ecke ein Kachelofen, der behagliche Wärme ausstrahlt. An der Wand steht ein dunkles Büfett, rechts und links davon hängen Porträts an der Wand – Verwandte der Familie, erklärt die Bäuerin kurz. Rechts und links davon gehen die beiden kleinen Schlafzimmer ab. Die Bäuerin schiebt einen Vorhang zur Seite, eine wirkliche Tür gibt es nämlich nicht.

»Das ist euer Zimmer«, erklärt sie mir.

Ich schaue hinein. Zwei Betten stehen dort. Verwundert schaue ich sie an.

»Der Bub schläft auch hier«, sagt sie. »Ein Verdingbub.«

Das Zimmer ist bedrückend klein und dunkel. Nur ein winziges Fenster gibt es, das zum Hof führt.

»Ich muss mal«, sage ich leise. »Wo ist bitte das Bad?«

Die Bäuerin lacht. »Ein Bad? Herrschaftszeiten. Dort ist die Waschschüssel und der Krug.« Sie weist auf eine kleine Kommode. »Der Abort ist im Hof. Komm.«

Sie zeigt mir das kleine Häuschen. Dort ist ein Brett mit einem Loch, auf das man sich setzen muss. Ich bleibe mit meinem Po kleben, es stinkt entsetzlich. Auch Klopapier von der Rolle suche ich vergebens, stattdessen liegt dort ein Stapel alter, zerrissener Zeitungen. Damit soll ich mich säubern? Doch solange ich auch suche, ich finde nichts anders und nehme deshalb ein Stück der Zeitung.

Was, fährt es mir durch den Kopf, wenn ich nachts muss? Muss ich dann hier in den Hof? In die Dunkelheit? Das ist ja gruselig!

Die Bäuerin hat vor der Tür gewartet. »Machst du eine lange Sitzung?«, fragt sie ungeduldig. »Nun komm schon, ich zeige dir den Rest.«

Über das Tenn, eine Art Aufgang, kommt man in den ersten Stock des Hauses. Hier werden das Heu und das Stroh gelagert. Es riecht nach Sommer, nach der Frische der vergangenen Tage, nach Sonne und Wiesen. Am liebsten würde ich mich in das Heu fallen lassen, aber die Bäuerin zieht mich weiter zum Stall nebenan.

Dort stehen die sechs Milchkühe und ein Dutzend Hühner.

Wir gehen zurück zum Haus. Verblüfft schaue ich mich um. Wo gibt es Spiele? Einen Fußball oder wenigstens ein Springseil? Ich sehe nichts davon.

Rosmarie nickt zu allen kargen Erklärungen der Bäuerin.

»Lisa wird es hier gut haben. Aber du wirst dich schicken müssen, Lisa«, sagt sie und sieht mich streng an.

Ich soll mich schicken? Was meint sie damit? Ein wenig bin ich froh, dass Rosmarie zum Abendbrot bleibt. Schließlich kenne ich sie schon ein paar Stunden länger als jeden anderen hier.

Ich helfe den Tisch decken, dann setzen wir uns, auch der Bauer kommt, und das erste Mal sehe ich den Verdingbuben, mit dem ich mir das Zimmer teilen werde. Er ist ein paar Jahre älter als ich, sehr hager, und sein Gesicht ist fast knochig. Am linken Arm hat er einige rötliche Striemen.

Ob er wohl in die Büsche gekrochen ist? In die Beeren?, frage ich mich.

Er schaut mich nur kurz an und senkt dann den Blick. Den ganzen Abend sagt er kein Wort.

Ich aber kann mich nicht halten. »In Gland hatten wir einen Fernseher, nach dem Essen wurden die Nachrichten gesehen. Habt ihr auch einen Fernseher? Gibt es hier auch Weinberge? Ich liebe die Weinberge. Ich habe am See gewohnt, das war wunderschön«, sprudelt es aus mir heraus.

»Lisa«, fährt mich Rosmarie wütend an. »Sei still! Du bist unhöflich.«

»Warum?«, frage ich verdutzt.

»Kinder haben zu schweigen, wenn Erwachsene reden!«

Es hat aber gar niemand geredet. Also fahre ich unbekümmert fort. »Mit mir lebten noch Annabelle, Marie und Joëlle auf dem Weingut«, erzähle ich. »Wir haben immer ganz wunderbare Spiele gespielt. Und wir durften im Hofe seilspringen …«

»Jetzt sei endlich ruhig«, ermahnt mich der Bauer, der nun mein Vati ist, streng. »Kinder am Tisch, still wie ein Fisch!«

Für mich ist es neu, dass nur Erwachsene sprechen dürfen. Warum ist das so? Der Kloß in meinem Bauch, der sich etwas gelöst hatte, wird wieder größer. Ich schaue zu dem Jungen, dem anderen Verdingkind, aber er würdigt mich keines Blickes, isst hastig.

»Ich muss jetzt gehen«, sagt Rosmarie und gibt Bäuerin und Bauer die Hand. Mir streicht sie kurz über den Kopf, aber es ist eine harte, keine zärtliche Geste, und ich zucke zurück. »Auf Wiedersehen.«

Und dann geht sie in die Dämmerung, die Auffahrt hinunter und um die Ecke. Ich möchte hinter ihr herrennen, mit ihr zusammen gehen. Ich möchte wieder zurück nach Gland. Dort würden wir jetzt den Tisch abräumen …

»Komm, Kind«, sagt die Bäuerin, »hilf mir den Tisch abräumen und beim Spülen. Dort ist das Tuch, du kannst abtrocknen.«

Ich atme tief ein und aus, dann drehe ich mich um, nicke. Abräumen und aufräumen, das kann ich, auch abtrocknen. Es hat etwas Vertrautes, auch wenn hier alles so anders ist, als ich es kenne.

Der Verdingbub setzt sich an den nun sauberen Tisch, zieht einen Ledertornister hervor und holt Hefte und Bücher heraus.

»Er macht seine Schulaufgaben«, sagt die Bäuerin und zieht mich in die Küche. Dort steht ein Herd, der durch Kohlen beheizt wird, er hat aber auch drei elektrische Platten.

»Der macht es hier warm«, sagt die Bäuerin stolz. »Musst immer schön Holz nachlegen.«

Ich nicke, auch wenn ich nicht so recht weiß, was sie von mir will. Sie drückt mir ein Trockentuch in die Hand und beginnt das Geschirr zu spülen.

»Wie heißt denn der Bub?«, will ich wissen.

»Adrian.«

»Und wie alt ist er?«

»Dreizehn, denk ich.«

»Wie lange ist er schon hier?«

»Jetzt hör aber auf zu fragen«, schnauzt sie mich an. »Arbeite lieber. Willst doch fleißig sein.«

Ich nicke verdattert. »Gibt es noch mehr Kinder hier?«, frage ich dann doch. »Und was kann ich spielen und mit wem?«

»Bist nicht zum Spielen da.«

Ich erzähle wieder ein wenig vom Winzerhof, wie wir abends Karten gespielt haben. »Kannst du Mau-Mau?« Ich schlucke, räuspere mich, hänge ein leises »Mutti?« an die Frage. Sie hatten doch gesagt, ich soll sie Mutti und Vati nennen. Es fühlt sich seltsam an.

»Mau-Mau? Das machen die Katzen.« Mutti lacht, ein bitteres Lachen. »Genug gefragt, ab ins Bett!«

Ich gehe in das kleine Zimmerchen. Mein Bett ist bezogen, der Koffer steht daneben. Viele Sachen habe ich nicht. Ich ziehe vorsichtig die Schubladen der Kommode auf. Die oberen Fächer sind gefüllt, darin liegen Adrians Sachen. Die beiden unteren Schubladen sind leer. Ich lege meine Kleidung hinein, schiebe den Koffer in die Ecke. Dann ziehe ich meinen Schlafanzug an, nehme Gabi und lege mich ins Bett. Gabi ist wie Gland – wie die Menschen dort. Sie ist hübsch und schön und neu. Hier hingegen ist alles alt und heruntergekommen. Es riecht muffig, und die Bettwäsche ist ein wenig klamm. Ich ziehe die Decke bis zum Hals, die Locken meiner Puppe kitzeln meine Nase, aber um nichts in der Welt würde ich sie loslassen. Sie gibt mir Halt und erinnert mich an das Schöne, an das Paradies, in dem ich bis heute gelebt habe.

Vielleicht, denke ich, wird es hier auch schön. Irgendwie.

Jemand zieht den Vorhang zur Seite – Adrian, der Verdingbub. Schnell macht er den Vorhang wieder zu, zieht sich schweigend aus und steigt ins Bett. Der Mond scheint ein wenig durch das Fenster; sein Licht wirft sonderbare Schatten, und mir kriecht ein Schauer den Rücken hoch, als würde mich dort jemand mit kalten Fingern berühren.

Kurz drauf höre ich, dass auch die Bauersleute zu Bett gehen. Die schwere, alte Holztür mit den Eisenbeschlägen, die zu ihrem Schlafzimmer führt, knarrt laut. Sie öffnen sie, schließen sie aber nicht.

»Schlafen Mutti und Vati jetzt?«, frage ich Adrian leise.

Er brummt nur.

»In Gland, wo ich herkomme, war es so schön. Da hatten wir ein Badezimmer und Türen, nicht nur einen Vorhang.«

Adrian sagt nichts.

»Es war so schön dort. Alle Tage waren wir in den Weinbergen. Annabelle hat mir jeden Tag die Zöpfe geflochten, und wir haben abends oft Karten gespielt, das war lustig. Spielst du auch Karten?«

Ich starre in die Dunkelheit, warte vergeblich auf eine Antwort. Spricht er denn gar nicht? Das ist ja seltsam, denke ich. Aber ich bin doch froh, dass ich nicht ganz alleine bin. Das Mondlicht wirft merkwürdige Schatten, die mich ängstigen. Ist dort auf dem Hof jemand? Vielleicht gibt es hier ja unheimliche Gestalten oder gar Geister?

»Mutti und Vati sind wohl sehr nett«, sage ich nachdenklich. »Aber der Hof ist hässlich. Alt und dreckig, in Gland war es viel schöner.«

Adrian schnaubt. »Nett? Na, warte nur ab«, sagt er, dreht sich zur Wand und schläft ein. Ich kann seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge hören.

Ich hätte ihm gerne noch von der Fahrt erzählt, von der gemeinen Rosmarie, die mein Schokobrötchen genüsslich verspeist hat. Von all den Dingen, die ich gesehen habe, als ich aus dem Zugfenster geschaut habe, von der Fahrt im Postauto und so weiter.

Mein Kopf ist voll mit Gedanken und Eindrücken, aber es ist niemand da, mit dem ich sie teilen könnte. Ich drücke meine Puppe Gabi an mich, sie ist mein Trost.

Morgens um fünf werden wir geweckt. Es ist ungewohnt früh, ich bin noch erschöpft von der Reise, fühle mich fremd und allein. Das Zimmer ist kalt, ein Badezimmer gibt es nicht, und fröstelnd wasche ich mich schnell an der Waschschüssel, die auf der Kommode steht. Das Wasser ist eisig. Hier gibt es keine Annabelle, die mir die Haare kämt. Ich flechte meine Zöpfe selbst, aber es will mir nicht gut gelingen.

In Gland schlafen sie noch. Und wenn sie gleich aufstehen, wird dort fröhlich gelacht und erzählt. Der Gedanke an Gland treibt mir Tränen in die Augen, aber zum Trauern habe ich keine Zeit.

»Nun komm schon«, ruft die Bäuerin verärgert. »Was brauchst du denn so lange?«

Adrian hat sich schnell angezogen und ist nach draußen geeilt. Vor der Schule muss er dem Bauern im Stall helfen. Ich habe der Bäuerin zur Hand zu gehen.

Sie drückt mir einen Lappen in die Hand, den ich verwundert ansehe.

»Tisch abwischen!« Sie folgt mir, beobachtete mich. »Doch nicht so. Mach es ordentlich!«, schreit sie mich an. »Du kannst aber auch gar nichts. Hat man dir nichts beigebracht, oder bist du dumm?«

Entsetzt starre ich sie an. Was soll ich denn sagen? Ich weiß nicht, was sie von mir will.

»Komm in die Küche«, sagt sie nun. »Deck den Tisch.«

Ich habe vergessen, wo die Besteckschublade ist, schaue mich suchend um. Die Bäuerin wird immer wütender, zeigt mir die Schublade.

Draußen ist es noch dunkel. Plötzlich höre ich den Bauer brüllen.

»Du Sauhund!«, schreit er. »Lumpenhund! Drecksviech, hast du nicht besser putzen können?«

Mir wird ganz kalt. Ich lasse vor lauter Schreck die Messer fallen, dabei meint der Bauer ja nicht mich, sondern Adrian. Er hatte gestern zwei Milchkannen im Hof am Brunnentrog ausgewaschen, doch der Bauer meint, sie wären noch schmutzig.

Klirrend fallen die Messer zu Boden.

»Was soll das? Bist du blöd?«, schreit nun die Bäuerin und versetzt mir eine Ohrfeige, dass ich hinfalle. Zuerst bleibt mir vor lauter Schreck die Luft weg, doch dann strömen die Tränen. Ich springe auf. Laufe in das Schlafzimmer und werfe mich aufs Bett. Ich bin so einsam, so verzweifelt, und meine Wange brennt wie Feuer. Die Bäuerin kommt mir nach, zieht mich an meinen Zöpfen zurück in die Küche. Mein ganzer Kopf schmerzt, ich kann nicht aufhören zu weinen.

»Du Tschingg«, brüllt sie, »jetzt wird gearbeitet und nicht ausgeruht. Jetzt weht ein anderer Wind, du Vagabund!«

Ich kenne die Worte nicht. Was ist ein Tschingg, ein Vagabund? Und warum ist sie so böse mit mir? Warum tut sie mir weh? Immer noch schluchzend helfe ich das Frühstück zuzubereiten. Der Bauer und Adrian kommen, schweigend wird gegessen. Adrian wirft mir einen langen Blick zu. Jetzt weiß ich, was er gestern Abend mit: »Warte nur ab!«, gemeint hat. Ich habe Angst.

Adrian geht nach dem Frühstück in die Schule, ich muss der Bäuerin helfen. Wir putzen die Küche, machen die Betten, wischen Staub und nehmen die Böden auf. Dann muss ich Gemüse schälen und für das Mittagessen zubereiten. Nach dem Mittag muss wieder abgewaschen werden, dann wird das Abendessen vorbereitet, danach wieder abwaschen und aufräumen. Die Bäuerin zeigt mir, wie ich Holz in den Ofen zu legen habe. Es ist ab nun meine Aufgabe, den Ofen jeden Morgen vor allem anderen mit Holz zu befüllen.

Jeden Tag ist es das Gleiche. Die Arbeit an sich ist nicht schwer, aber die Bäuerin ist meist unfreundlich. Nur langsam gewöhne ich mich an mein neues Leben. Glücklich bin ich nicht. Ich habe keine Freundinnen, darf nicht spielen und toben. Ich habe nur meine Gabi, meine Puppe, die tagsüber schön zugedeckt in meinem Bett schläft. Gabi kann ich alles erzählen – meine Gedanken, meine Fragen kann ich ihr stellen, auch wenn sie nicht antwortet. Sie hilft mir, die Sehnsucht nach Gland auszuhalten. Gabi ist so etwas wie meine Familie, ich liebe sie innig.

Adrian taut ein wenig auf. Manchmal reden wir miteinander. Den Sonntagnachmittag, wenn alle Arbeit getan ist, dürfen wir frei verbringen. Er nimmt mich mit an das Ufer der Aare oder zu einem Baggersee in der Nähe. Oft werfen wir Steine oder Stöcke in das fließende Wasser. Ich muss an den schönen Genfer See denken, in dem sich die Berge spiegeln, überhaupt sehne ich mich sehr nach Gland zurück. Aber jetzt ist hier mein Zuhause, auch wenn ich mich nicht wohlfühle. Hier muss ich jetzt leben, mit Mutti und Vati – so nenne ich sie inzwischen.

Manchmal sage ich ein französisches Wort oder einen Satz, es fährt so aus mir heraus, ohne dass ich nachdenke. Ich spreche ja auch Französisch, nicht nur Deutsch.

»Oh mon Dieu!«, rufe ich aus, als mir etwas aus der Hand rutscht. Vati packt mich, legt mich über seine Knie, zieht mir die Hosen herunter und schlägt mit seiner mächtigen Hand auf den nackten Po.

»Dir werde ich das ausländische Geschwätz schon noch austreiben, du Tschingg, du Lumpenhund von einer Hure!«, brüllt er, und wieder landet die Hand klatschend auf meiner Haut. Ich schreie, es brennt, es tut so weh. »Abtreiben und verbrennen sollte man so ein Lumpenpack wie dich!«, schreit er und stößt mich zu Boden. Ich ziehe die Hose hoch, laufe in unser Zimmer und verkrieche mich mit Gabi unter dem Bett. Zitternd und keuchend vor Schmerz lausche ich, ob seine schweren Schritte mir folgen, ob er mich weiter schlagen wird. Doch er lässt mich in Ruhe.

Mittags, nach dem Essen, legt sich Vati hin, um ein wenig zu schlafen. Dann müssen wir ganz leise sein. Die Tür zum Schlafzimmer bleibt angelehnt. Ich soll an diesem Mittag das Besteck polieren und will Vati nicht bei seinem Mittagsschlaf stören, deshalb schließe ich die Tür. Sie quietscht und knarrt laut. Erschrocken bleibe ich stehen, wie angewachsen, und kann mich nicht rühren. Und da kommt Vati auch schon aus dem Schlafzimmer gelaufen, schlägt mir mit der Faust ins Gesicht. Ich huste und würge, mein Mund ist voller Blut. Schnell laufe ich in unser Zimmer, spucke den Zahn, den er mir ausgeschlagen hat, in die Hand.

»Ist ja nur ein Milchzahn«, sagt Mutti. »Der wäre eh bald ausgefallen.« Ihre Worte sollen mich wohl trösten, aber der Schmerz und die Angst vor Vati sitzen inzwischen tief in mir.

Es wird November und immer kälter. Wir haben Doppelfenster eingehängt, um die Kälte etwas abzuhalten. Jeden Morgen um fünf krieche ich zitternd aus dem Bett und eile in die kalte Küche. Dort muss ich Holz nachlegen und den Ofen anfachen. Der Ofen heizt schnell und gut, und zum Frühstück ist es angenehmer, dann sind auch die Eisblüten an den Fenstern geschmolzen.

Aber eines Morgens vergesse ich das Holz aufzulegen. Es ist bitterkalt im Haus.

»Was?«, ruft Mutti. »Hast den Ofen vergessen? Na warte!« Sie geht in unser Zimmer und reißt Gabi, die ich gut zugedeckt habe, aus dem Bett. »Sieh genau hin«, sagt Mutti. »Dies geschieht mit faulen Tschinggelis, die nicht arbeiten!« Sie rennt in die Küche und stopft Gabi in den Ofen, in dem mittlerweile das Holz lodert. Ich sehe mit weit aufgerissenen Augen zu, schreie vor Entsetzen.

»Das nächste Mal«, droht Mutti, »wirst du darin geschmort.«

»Meine Gabi!«, brülle ich.

»Spielsachen brauchst du hier nicht, ist eh rausgeschmissenes Geld!«

»Meine liebe, liebe Gabi!« Ich renne zum Ofen, will meine Puppe retten.

Aber Mutti packt meinen Arm, zieht mich weg und schüttelt mich durch, dass mir Hören und Sehen vergeht. »Du dummes Ding, willst du dich verbrennen? So nützt du uns nichts mehr! Mit dir hat man nichts als Ärger!«

Sie hält mich fest. Ich starre zum Ofen. Tränen fließen und lassen sich nicht zurückhalten. Gabis Haare, die langen blonden Locken, die ich so gerne gekämmt habe, fangen Feuer, dann ihr Rock. Gabi wird schwarz, zieht sich zusammen und schmilzt. Es stinkt nach verbranntem Gummi, und schwarze Wolkenschwaden wabern durch die Küche. Ich sinke zu Boden, weine haltlos und verzweifelt. Etwas in mir zerbricht, wie ein dünnes Glas. Mutti reißt schimpfend Türen und Fenster auf, doch ich höre sie gar nicht.

Bis zu diesem Moment bin ich immer noch fröhlich gewesen, habe gerne gelacht und gesungen. Doch an diesem Tag vergeht mir das Lachen. Ich werde stiller und stiller und immer nachdenklicher. Egal, wie sehr ich mich auch anstrenge, ich mache alles falsch. Ich versuche lieb und arbeitsam zu sein, aber es will mir nicht gelingen.

Sie sind böse, wird mir klar.

»Mutti, ich hasse dich!«, schreie ich ihr entgegen. »Du bist nicht meine Mutti!«

Fortan nenne ich sie nur noch mit Namen, was ihnen nicht gefällt. Aber ich kann sie nicht mehr Mutti und Vati nennen.

Zum Glück habe ich Adrian. Er ist inzwischen wie ein Bruder zu mir, versucht mich zu beschützen. Nachts schieben wir unsere Betten aneinander, sodass er meine Hand halten kann, bis ich einschlafe, denn ich habe ja keine Gabi mehr, die ich festhalten kann.

»Was ist ein Tschingg?«, frage ich ihn leise. »Was ist eine Hure?« Das sind alles Namen, die das Bauernpaar mir und meiner Mutter geben. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber ich spüre, dass es Schimpfworte sind.

Nie habe ich bisher über meine Mutter nachgedacht, doch jetzt rede ich mit Adrian über sie.

»Eine schlechte Frau muss es sein, wenn die Bauersleute sie so beschimpfen. Sie haben gesagt, dass meine Mutter keine Kinder mag, sie sogar quält. Streit mit allen soll sie haben«, sage ich nachdenklich. »Sie ist unordentlich, arbeitslos und stiehlt. Ich kann froh sein, dass ich nicht bei ihr aufwachsen muss, oder?«

»Hier ist es auch nicht viel besser«, meint Adrian leise.

Doch meine Meinung zu meiner Mutter verfestigt sich. Sie muss eine böse, eine schlechte Frau sein. Warum hat sie mich nur geboren, frage ich mich immer wieder. Darauf finde ich keine Antwort.

Kapitel 3

November 1970

Es wird kälter, der Winter kommt. Mit der Zeit stelle ich fest, dass die Bäuerin auch gute Seiten an sich hat. Wenn ihr Mann sich zum Mittagsschlaf hinlegt, setzt sie sich in die Stube an den warmen Kachelofen. Der kleinen, eher zierlichen Frau sieht man gar nicht an, wie kräftig sie ist. Ihr Gesicht ist voller Verbitterung, aber manchmal lächelt sie auch oder singt leise ein Lied aus alten Zeiten.

Wenn wir zusammen am Kachelofen sitzen, zeigt sie mir voller Geduld, wie man strickt und näht. Ich bin oft ungeschickt, habe bisher noch keine Handarbeiten verrichtet, doch sie erklärt es mir wieder und wieder.

In diesen Stunden genieße ich ihre Nähe und Wärme, ihre vorübergehende Freundlichkeit. Ich sauge sie auf wie ein trockener Schwamm. In diesen Momenten wünsche ich mir sehnlich, dass sie immer so sein möge – so freundlich und geduldig. Inzwischen habe ich begriffen, dass ich wohl ein schwieriges Kind bin, zu laut und zu ungestüm. Ich verzeihe ihr die Beschimpfungen und Schläge, vielleicht muss das so sein, vielleicht habe ich es ja verdient. Was ich ihr jedoch nie verzeihe, ist, dass sie meine geliebte Gabi verbrannt hat.

Wieder einmal sitzen wir auf der Ofenbank, in unserem Rücken sind die warmen Kacheln, es duftet nach dem Holz, das langsam im Ofen verbrennt, und nach der kräftigen Suppe, die auf dem Herd vor sich hin köchelt.

Die Bäuerin hat ihre Arme um mich geschlungen, hilft mir, die Stricknadeln zu führen.

»So macht man das«, sagt sie und nimmt mit mir zusammen die Maschen auf. »Wenn du das kannst, darfst du dir einen Schal stricken«, verspricht sie mir. »Überhaupt bist du aus deinen Sachen herausgewachsen. Du brauchst dringend neue Winterkleidung. Morgen fahren wir mit dem Postauto in die Stadt und kaufen dir Wintersachen.«

Ich schlucke. Hat sie das wirklich gesagt? Vor lauter Überraschung lasse ich die Nadeln sinken, und die Maschen rutschen herunter.

»Pass auf«, sagt sie. Ich zucke zusammen – wird sie mich schlagen? Doch sie lacht leise, nimmt meine Hände, führt die Zeigefinger wieder nach oben. »Du verlierst sonst deine Maschen.«

Dann steht der Bauer auf, stapft in die Wohnstube, und die Stimmung verändert sich. Rasch legt die Bäuerin das Strickzeug in den Korb.

»Ist der Bub noch nicht da?«, fragt der Bauer und klingt wütend. Ich habe Angst vor ihm, entsetzliche Angst. Obwohl er mich gar nicht meint, hebe ich reflexartig den Arm vor mich.

Adrian ist nachmittags in der Schule. Wenn er zurück auf den Hof kommt, muss er sofort im Stall helfen. Er muss die Kühe melken, ausmisten, füttern. Und sobald er von der Käserei zurückkommt, werden die Milchkannen gereinigt. Jetzt, im Winter, sind seine Hände rot und aufgerissen vom kalten Wasser des Brunnens und der Kälte.

Oft fehlt er in der Schule. Unsere Verdingeltern geben dann Bescheid, dass der arme Bub krank ist. Doch er ist nicht krank, er hat überall Blessuren und Wunden von den Schlägen des Bauern. Der Lehrer bringt meistens die Aufgaben zum Hof, sodass Adrian den Stoff nacharbeiten kann. Leise stöhnend sitzt er dann auf der Bank in der Küche und versucht die Schmerzen zu ignorieren, aber das Sitzen fällt ihm schwer.

Als ich abends ins Bett gehe, glaube ich nicht daran, dass wir wirklich neue Kleidung kaufen werden. Es wäre zu schön, um wahr zu sein.

Doch am nächsten Tag nimmt mich die Bäuerin an die Hand, geht mit mir zum Postauto. Wir fahren in die Stadt. Wir steigen aus dem Postauto und gehen zum Ufer eines Sees. Mein Herz geht auf. Dort hinten sehe ich Weinberge.

»Ist das Gland?«, frage ich voller Sehnsucht.

»Du Dummerchen.« Die Bäuerin lacht. »Das ist doch der Bielersee und nicht der Genfer See. Gland ist ganz weit weg.«

Ich beiße mir auf die Lippe, schlucke meine Enttäuschung hinunter.

Sie nimmt meine Hand, und wir gehen einkaufen. Nein, aussuchen darf ich mir die Sachen nicht, das tut sie. Warm sollen sie sein und zweckmäßig, und natürlich sollen sie nicht zu viel kosten. Aber das ist mir alles egal. Zwei Pullover bekomme ich, eine Manchesterhose, zwei Schürzen, neue Unterwäsche, Winterstiefel und als Krönung einen grauen Filzmantel mit roten Knöpfen und einem roten Gürtel. Ich mag ihn nach der Anprobe gar nicht mehr ausziehen, drehe mich wieder und wieder vor dem Spiegel und bewundere mich. So ein fesches und schönes Kleidungsstück hatte ich noch nie.

Vielleicht, denke ich, mögen sie mich ja doch? Ich sehne mich so nach Liebe und Anerkennung! Wie jedes Kind. Meine Mutter ist schlecht, hat mir ihr schlechtes Blut mitgegeben. Doch ich werde mich jetzt noch mehr bemühen, schwöre ich mir, um die Bauersleute nicht zu enttäuschen. Ich will ein gehorsames Kind sein. Anscheinend mögen sie mich ja doch, sonst hätten sie mir diese schönen Sachen nicht gekauft.

»Da haben Sie aber hübsche Sachen für ihre Enkelin erstanden«, sagt die Verkäuferin, die alles in Tüten packt.

»Das ist ein Verdingkind«, sagt die Bäuerin und schüttelt den Kopf. »Wir tun unser Bestes, mein Mann und ich, damit sie es gut bei uns hat. Aber sie wächst wie Unkraut, und gute Kleidung ist teuer. Können Sie nicht etwas am Preis nachlassen?«

Ich höre die Worte, verstehe sie aber nicht. Nur den Sinn, den verstehe ich: Ich bin ein Verdingkind, niemand, den man liebhat. Und ich koste viel Geld.

Tatsächlich kann die Bäuerin die Verkäuferin erweichen und bekommt die Sachen zu reduzierten Preisen. Sie grinst zufrieden, als wir die Taschen nehmen und gehen.

Die Rückfahrt über schweige ich, denke über das Gehörte nach. Ja, dort sind die Taschen mit all den schönen Sachen, die ich nun anziehen darf. Aber sie wurden mir nicht aus Zuneigung gekauft. Oder vielleicht doch? Irgendwo in meinem Herzen bleibt ein kleines bisschen Hoffnung.

Nach dem Abendessen darf ich meine neue Kleidung präsentieren. Stolz gehe ich vor dem Bauern auf und ab. Er verzieht das Gesicht.

»So viele Sachen?«, raunzt er seine Frau an. »Das kostet doch!«

»Ich hab es reduziert bekommen.«

»Trotzdem, braucht sie so einen Mantel?«

»Der Winter ist hart, und ich kann sie ja nicht in Lumpen rumlaufen lassen. Was sollen denn die Nachbarn sagen?«

Er grummelt. »Trotzdem hätte ein Paar Schuhe gereicht. Jetzt muss ich schauen, wo ich das Geld wieder hereinwirtschafte.«

Ich höre ihm an, dass er missmutig ist, verstehe es aber nicht.

»Siehst du, was wir alles für dich tun?«, fragt er mit kalter Stimme. »Du hast dankbar zu sein, respektvoll und fleißig, hast du das kapiert?«

Obwohl ich nicht recht weiß, was er meint, nicke ich.