Night Rebel 3 - Gelübde der Finsternis - Jeaniene Frost - E-Book

Night Rebel 3 - Gelübde der Finsternis E-Book

Jeaniene Frost

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Beschreibung

Die Leidenschaft vereint sie – doch werden dunkle Mächte sie auseinanderreißen? Das fulminante Finale der neuen Reihe von »New York Times«-Bestsellerautorin Jeaniene Frost!

Der unzähmbare Vampir Ian hat mit der Gesetzeshüterin Veritas endlich eine würdige Gegenspielerin gefunden – und eine leidenschaftliche Geliebte. Gemeinsam haben sie ihren schlimmsten Feind besiegt. Doch nachdem Veritas sich gegen ihre ehemaligen Ideale stellen und Ian nur knapp den Fängen der Unterwelt entkommen konnte, müssen beide herausfinden, was sie bereit sind, füreinander aufzugeben. Und ob ihre Liebe ausreicht, um alle Hindernisse zu überwinden ...

Die Trilogie um Ian & Veritas bei Blanvalet:

Night Rebel. Kuss der Dunkelheit

Night Rebel. Biss der Leidenschaft

Night Rebel. Gelübde der Finsternis

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Seitenzahl: 463

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Buch

Der unzähmbare Vampir Ian hat mit der Gesetzeshüterin Veritas endlich eine würdige Gegenspielerin gefunden – und eine leidenschaftliche Geliebte. Gemeinsam haben sie ihren schlimmsten Feind besiegt. Doch nachdem Veritas sich gegen ihre ehemaligen Ideale stellen und Ian nur knapp den Fängen der Unterwelt entkommen konnte, müssen beide herausfinden, was sie bereit sind, füreinander aufzugeben. Und ob ihre Liebe ausreicht, um alle Hindernisse zu überwinden …

Die Autorin

Jeaniene Frost ist eine »New York Times«- und SPIEGEL-Bestsellerautorin, ihre Romane erscheinen in 20 Sprachen. Neben dem Schreiben liest Jeaniene gerne, schaut sich Filme an, erkundet alte Friedhöfe und macht Roadtrips. Sie lebt mit ihrem Mann in Florida.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

JEANIENE FROST

GELÜBDE DER FINSTERNIS

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Wolfang Thon

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Night Rebel 3. Wicked All Night« bei Avon, an imprint of HarperCollins, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Jeaniene Frost

Published by arrangement with Avon, an imprint of HarperCollins Publishers LLC

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Umschlagmotive: Shutterstock.com (Ernstafan; Comaniciu Dan); iStock.com/Instants

JB Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25988-4V001www.blanvalet.de

Für Matt. Einmal mehr.Aus all den bereits genannten Gründenund zu vielen neuen, um sie aufzuzählen.

1

Hätte sich vor einer Woche ein Dämon in mein Zimmer teleportiert, wäre ich sofort zur nächsten Waffe gesprintet. Aber jetzt blickte ich kaum auf, als sich im Dunkel des Schlafzimmers ein großer, attraktiver Mann manifestierte, mit mitternachtsbraunen Augen, kurz geschnittenen schwarzen Locken und einer Haut im satten dunkelbraunen Ton von Rauchquarz.

»Hast du mehr Blut gebracht?«, fragte ich ihn.

Ashael kickte einen Aktenkoffer über den Boden in meine Richtung. Ich öffnete ihn und war erleichtert, darin mehrere Blutbeutel zu finden.

»Danke.« Ich hängte den erstbesten Beutel an den Transfusionsständer neben mir. Das war die letzte Zutat, die ich für meinen Zauber brauchte. Alles andere war bereit.

Dann sah ich zu, wie ein feines rotes Rinnsal durch den Transfusionsschlauch in den bewusstlosen Vampir auf dem Bett strömte. Bitte, flehte ich stumm und kämpfte mit den Tränen. Bitte, lass diesen Zauber wirken!

Die Magie nahm ihren Lauf, sobald das Blut Ians Venen erreichte und den Zauber entfaltete. Ich presste meine Nägel in die Handflächen. Bitte, bitte, bitte …

Ich stieß ein ersticktes Geräusch aus, als Ians halb verschrumpelter Arm sich allmählich veränderte und von einem nahezu skelettartigen Zustand zu seinem normalen, muskulösen Erscheinungsbild zurückkehrte. Ganz langsam folgte sein Körper; er verlor die schockierende Hagerkeit der letzten zehn Tage und blühte wieder zu seiner gesunden, kraftvollen Konstitution auf.

»Ja!«, schrie ich und bekam vor Erleichterung weiche Knie.

Wir hatten endlich unseren schlimmsten Feind bezwungen, aber Dagon hatte einen letzten bösen Trick für uns auf Lager gehabt. Zuerst dachte ich, alles sei in Ordnung. Dagon war tot, Ian hatte mich von dem Vampirkonzil losgeeist und es davon abgehalten, mich zu exekutieren, und wir befanden uns in Mencheres’ Haus in den Hamptons, wo wir sicher waren. Natürlich hatte Dagons Falle Ian schwer verwundet, aber Ian war ein Vampir, und Vampire erholten sich von allem – außer von Enthauptungen oder von Silber, das ihr Herz zerfetzte.

Zumindest glaubte ich das.

Es stellte sich jedoch heraus, dass es eine weitere Verletzung gab, von der sich Vampire nicht mehr erholten. Mit welcher Form von schwarzer Magie Dagon die verdammte Falle versehen hatte, wusste ich nicht, aber Ian war davon am schlimmsten betroffen, weil er uns daraus befreit hatte. Vielleicht hatte mich meine zweite Natur so geschützt, dass mir die tödliche Magie nichts anhaben konnte, die mit der Falle verknüpft gewesen war. Mir ging es jedenfalls gut, aber Ian war seit dem Tag, an dem er mich rettete, ohne Bewusstsein.

Bisher war er weder aufgewacht noch von seinen furchtbaren Verletzungen genesen. Ganz egal, mit welchem Zauber ich der tödlichen Magie beizukommen versuchte – Ians Zustand hatte sich nur verschlechtert.

Bis jetzt.

»Es funktioniert«, jubilierte ich. »Allen Göttern sei Dank, es funktioniert!« Ich hatte mein ganzes Wissen, jeden einzelnen meiner magiegesättigten Edelsteine, all meine Kraft und eine ganze Reihe gestohlener Artefakte in diesen letzten Zauber gesteckt. Bei der Beschaffung der letzten Zutaten hatte ich mir ein paar neue Feinde gemacht, aber das kümmerte mich nicht. Ians magisch verwüsteter Körper heilte endlich, endlich wieder. Oh, ich konnte es kaum erwarten, dass er die Augen öffnete! Ich brannte so darauf, seiner Stimme zu lauschen, sein Lächeln zu sehen und ihn lachen zu hören … doch Moment mal. Was ging da vor sich?

Ians Körper fiel plötzlich wieder zusammen und verschrumpelte.

»Nein!« Ich packte seinen Arm, als hätte ich ihn so davon abhalten können, wieder zu welken.

Ich verwelkte mit ihm, als ich zusehen musste, wie sich Ians eben noch regenerierter Körper zurückverwandelte, bis fast nur Knochen und Sehnen übrig waren. Der Perlenschimmer seiner Haut bekam nun einen grauen Unterton, und sein dichtes braunes Haar wirkte ausgeblichen und spröde wie altes Heu. Wer ihn so gesehen hätte, wäre überzeugt gewesen, eine Leiche zu sehen.

»Nein!«, schrie ich und ließ Ians Arm los. Er war so fragil, dass er gebrochen wäre, wenn ich ihn noch länger gehalten hätte.

Und Ian war nicht zerbrechlich. Er war der stärkste, schlaueste, mutigste, erotischste und dickköpfigste Mann, den ich jemals kennengelernt hatte. Er hatte ausnahmslos alle Hürden genommen, die man ihm in den Weg gestellt hatte. Einmal hatte er sogar den Tod besiegt, und deshalb durfte es nicht sein, dass er an Dagons Zauber zugrunde ging, nachdem er alles andere überwunden hatte. Es durfte einfach nicht sein!

Ashael stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es tut mir so leid, meine Schwester.«

Erst jetzt merkte ich, dass ich weinte. Es war jenes atemlos japsende Schluchzen, das niemand ausstoßen möchte, und schon gar nicht vor Publikum. Aber aufhören konnte ich nicht. Ausgerechnet ich, weithin als die kälteste, gefühlloseste Gesetzeshüterin der Vampirwelt bekannt, war nicht imstande, das Schluchzen in den Griff zu bekommen, das meinen ganzen Körper schüttelte.

Ich hatte restlos alles in diesen Zauber gelegt, doch es hatte nicht ausgereicht. Dagon triumphierte noch aus dem Grab heraus. Er hatte mich schon einmal zusehen lassen, wie Ian starb. Jetzt zwang Dagon mich wieder dazu, ihn sterben zu sehen – falls ich keinen anderen Weg entdeckte, um die Magie aufzuhalten, die ihn unerbittlich dahinraffte.

Ich werde einen Weg finden!, schwor ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Und wenn ich keinen anderen Weg fände, würde ich mir eben selbst einen bahnen.

Ashael tätschelte mir beruhigend den Rücken. Als Dämon war er wahrscheinlich nicht darin geübt, andere zu trösten, aber trotz fehlender Praxis machte er seine Sache ziemlich gut.

»Ich bin okay«, sagte ich, als es mir endlich gelungen war, den Schmerz so weit zu verdrängen, um sprechen können, anstatt zu schluchzen. Dann wechselte ich das Thema, denn wenn ich mich weiter darauf konzentrierte, dass mein Zauber gescheitert war, würde ich wieder die Fassung verlieren. »Hattest du Glück bei der Suche nach unserem Vater?«

Es war eigenartig, »unser« Vater zu sagen. Jahrtausendelang war ich davon überzeugt gewesen, keine Geschwister zu haben. Aber dann hatte ich vor einem Monat herausgefunden, dass Ashael mein Halbbruder war, auch wenn seine andere Hälfte von den Dämonen und meine von den Vampiren abstammte.

»Nein. Er hat auf keine meiner Beschwörungen reagiert.«

»Wie kann er uns beide so ignorieren?«, fragte ich. »Nein, ganz im Ernst, wie schafft er das nur? Wenn du mit meinem Blut die richtigen Symbole zeichnest und mich bei meinem wahren Namen rufst, muss ich kommen – und das habe ich von meinem lieben, alten Paps geerbt. Wie kann er also mehrfach ignorieren, wenn wir ihn mit dem Blutritual herbeirufen?«

Ashael zuckte mit den Schultern. »Er verkörpert den Strom zwischen Leben und Tod. Wer weiß, wozu er imstande ist?«

»Eben! Und deshalb müssen wir ihn finden. Unser Vater ist vielleicht das einzige Wesen, das stark genug ist, um Ian zu heilen.«

Ashael und ich mochten mit allen unseren Versuchen gescheitert sein, aber unser Vater war ein Gott des Jenseits. Er hatte Ian früher schon von den Toten auferstehen lassen, deshalb sollte es ihm auch gelingen, ihn zu heilen.

»Ich werde ihn finden«, sagte Ashael. Dann kam ein mitleidiger Ausdruck in seine dunklen Augen. »Aber ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird. Falls Ian nicht so lange überlebt …«

»Das wird er«, fiel ich ihm ins Wort und unterdrückte einen neuen Tränenschwall.

Mit Weinen war Ian nicht zu helfen. Es raubte mir nur die Energie, die ich für seine Rettung brauchte. Ian hatte sich auch in aussichtslosen Situationen nie davon abbringen lassen, mich zu retten. Jetzt wollte ich ihn nicht im Stich lassen.

Ashael ließ sich auf keine Diskussionen ein. Er neigte nur den Kopf. »Wie du meinst. Aber Ians Zustand ist dein Handicap, weil viele Feinde hinter dir her sind. Das Vampirkonzil will deinen Tod, seit es weiß, was du bist, und du hast mein Angebot zurückgewiesen, die Räte abzuschlachten, um …«

»Das tue ich immer noch«, sagte ich, tätschelte ihm aber trotzdem die Hand.

Ein Menschenbruder hätte mir vielleicht einen Blumenstrauß mitgebracht, um mich aufzumuntern. Mein Dämonenbruder wollte mir einen Strauß aus den Körperteilen meiner Feinde schenken. Gruselig, schon, aber lieb gemeint, auch wenn seine Art, Gefühle auszudrücken, nicht ganz so … lieb war.

»Na schön, das Konzil wird also nicht abgeschlachtet«, sagte Ashael und klang enttäuscht. »Ganz abgesehen von dem Todesurteil, das sie über dich verhängt haben, sind da noch Dagons Verbündete, die sich an dir rächen wollen. Und du hast dieses andere Problem.«

Anderes Problem. So konnte man einen unerwünschten göttlichen Verlobten auch nennen. Er verkörperte ein Problem, über das ich am wenigsten reden wollte.

»Darum werde ich mich kümmern, sobald Ian wieder gesund ist.«

Ashael verzog das Gesicht. »Dann darfst du aber kein Loch mehr in das Jenseits stoßen, damit Phanes nicht wieder auf dich aufmerksam wird.«

Tatsächlich? Dann musste ich mir für heute Abend wohl etwas anderes vornehmen.

Letzteres sprach ich nicht laut aus. Ashael hatte keinen Sarkasmus verdient.

»Ich danke dir«, sagte ich stattdessen.

Ein leichtes Lächeln hob seine Mundwinkel. »Für meine Schwester tue ich alles.«

Es fühlte sich noch etwas seltsam an, das zu hören. Aber gar nicht mal so schlecht, und das war das Gefühl, an das ich mich halten wollte.

»Willst du wieder weg?«

Ashael blieb nie lange. Die salzige Meeresluft vom nahen Strand verbrannte ihn. Wenn Ashael nicht nur zur Hälfte ein Dämon gewesen wäre, hätte er es überhaupt nicht aushalten können. Und genau deshalb hielten wir uns noch im Haus von Ians Sire in den Hamptons auf. Seine Strandlage machte es dämonensicher, und keiner der Gesetzeshüter, die nach mir suchten, wäre auf die Idee gekommen, dass ich mir ein feudales Ferienhaus als Versteck ausgesucht hatte.

Ashael nickte. »Ich treffe mich mit einem Bekannten, der vielleicht Näheres über unseren Vater weiß. Ich sollte zurück sein, bevor der Morgen dämmert.«

Ich nickte. Ashael zögerte, dann legte er mir die Hand auf die Schulter.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Veritas. Du bringst so viel Energie für ihn auf und vernachlässigst dich dabei. Ian würde bestimmt nicht wollen, dass du so lange über ihn wachst, bis du selbst daran kaputtgehst. Er würde von dir verlangen, dass du dich schlafen legst, dass du etwas isst, spazieren gehst, eine Runde mit dem Auto fährst oder etwas anderes tust, als ihm unentwegt beim Schlafen zuzusehen. Du weißt, dass ich recht habe.«

Wahrscheinlich hatte er das. Aber wenn ich schlief, schreckte ich schreiend aus Albträumen hoch, in denen Ian vor meinen Augen zu Staub zerfiel. Außerdem war jeder Tropfen Blut, den ich verzehrte, ein Tropfen weniger, der Ian vielleicht geholfen hätte, wieder zu Kräften zu kommen, um gegen Dagons Zauber zu kämpfen. Ich wusste, dass Ian den Kampf fortsetzte – auch wenn er nicht bei Bewusstsein war. Das spürte ich an seiner Energie, die unter der schwarzen Magie brodelte, die ihn vernichten wollte. An manchen Tagen kam es mir vor, als wäre der schwache Puls seiner Energie das Einzige, was mich davon abhielt, den Verstand zu verlieren.

Aber davon konnte ich Ashael nichts erzählen, ohne ihm zusätzliche Sorgen aufzubürden, deshalb sagte ich: »Wenn du weg bist, werde ich einen Strandspaziergang unternehmen. Das habe ich letzte Nacht auch getan. Ich verbringe nämlich meine Zeit keineswegs ausschließlich damit, Ian anzustarren.«

Er lächelte. »Gut. Wir sehen uns, wenn ich zurückkomme.«

Ich rang mir ein Lächeln ab, um seines zu erwidern. »Pass auf dich auf. Bis später dann.«

Er teleportierte sich und war weg. Im nächsten Augenblick verschwand mein falsches Lächeln aus dem Gesicht.

Trotzdem ging ich ein paar Stunden später nach draußen, um zu tun, was ich ihm versprochen hatte. Der nahe Ozean wirkte ohnehin sehr anziehend auf den göttlichen Teil meines Wesens. Die Wellen griffen wie kalte Finger nach meinen Knöcheln, als ich die Brandungszone erreichte. Das war mir egal. Weil es so kalt und spät war, konnte ich davon ausgehen, allein am Strand zu sein. Die übrigen Anwohner der Hamptons waren entweder längst vor dem Winter geflohen oder sie hielten sich geschützt im Inneren ihrer kostspieligen Strandhäuser auf.

Als die nächste Welle meine Füße umspielte, zerlegte ich sie mit meiner Energie in Spiralen, die wie Miniaturwasserspeier um mich herumwirbelten. Und wenn die Wellen in den Ozean zurückflossen, ließ ich die Spiralen hinter ihnen herjagen. Meine Fähigkeit, Wasser zu kontrollieren, war eher angeboren als erlernt. »Angeboren« traf es ganz gut, wenn man bedachte, dass ich sie meiner anderen Hälfte verdankte.

Als ich Mitte zwanzig gewesen war, hatte mich Tenoch, mein geliebter Sire, in einen Vampir verwandelt. Aber ich war schon vorher kein Mensch gewesen. Das hatte ich natürlich nicht gewusst. Ich war zu jung von Dagon versklavt worden, um mich an etwas erinnern zu können, das vor meinem ersten Tod geschehen war.

Dagon hatte mir weisgemacht, dass er mich nach jenem ersten Tod auferstehen ließ, genau wie nach den Hunderten – oder Tausenden? – von Toden, die dem ersten folgten. Ich glaubte ihm, weil Dagon ein mächtiger Dämon war, der viele unglaubliche Dinge vermochte. Erst Jahrzehnte später fand ich heraus, dass Dagon mit meinen Wiederauferstehungen nichts zu tun gehabt hatte. Mein biologischer Vater, der Torwächter des Jenseits, war es gewesen, der mich immer wieder von den Toten zurückgebracht hatte. Dem Wächter verdankte ich auch die Fähigkeiten, von denen viele meinen Sire Tenoch so erschreckt hatten, dass ich sie so lange unterdrückte, bis sie ein separates, zweites Ich in mir entstehen ließen.

Über viertausend Jahre lang wusste außer Tenoch niemand, was ich wirklich war, denn Halbblutvampiren drohte die Todesstrafe. Es wusste auch niemand, wie ich wirklich aussah. Ich hielt meine himmlische Seite hinter der strengen Fassade einer Gesetzeshüterin versteckt und mein wahres, gottähnliches Erscheinungsbild mithilfe eines Glamourzaubers verborgen, der jedem, der mich ansah, eine schlanke, blonde junge Frau vorgaukelte. Beide Verkleidungen hatten es mir ermöglicht, ein sicheres, einsames Leben zu führen … bis Ian auf der Bildfläche erschienen war.

Irgendwie hatte Ian mein wahres Wesen schon erspürt, bevor zwischen uns auch nur ein einziges Wort gefallen war.

Als mich später die Umstände dazu zwangen, Ian mein wahres Ich zu offenbaren, hatte er weder erschreckt noch so angewidert wie alle anderen reagiert. Es hatte ihn fasziniert und erregt, und danach war er durch nichts mehr davon abzubringen gewesen, mich erobern zu wollen. Ich hatte alles versucht, um mein Herz zu schützen, und musste mich schließlich doch geschlagen geben. Aber da bereitete es mir auch schon keine Sorgen mehr. Mich in Ian zu verlieben, hätte mich buchstäblich in zwei Hälften zerreißen können, weil allmählich meine andere Seite zum Vorschein kam; aber stattdessen war es die Krönung meines sehr langen Lebens. Ich hatte nicht gewusst, dass es möglich war, so glücklich zu sein, und jetzt konnte ich den Gedanken nicht ertragen, ihn zu verlieren. Nicht noch einmal, und … Was war denn mit dem Sand los?

Vor wenigen Sekunden war er noch grau gewesen. Und jetzt goldfarben in allen Schattierungen. Auch die Luft war von goldenen Strahlen erfüllt, als ob die hellste Sonne scheinen würde und den Platz des fahlen Halbmonds eingenommen hätte. Im nächsten Augenblick verteilten sich unzählig viele kleine Sternenlichter in der Luft.

Es war beeindruckend, aber ich konnte nur eines denken: Oh, Mist!

Das kannte ich schon. Es kündigte das Wesen an, das ich in diesem Moment absolut nicht sehen wollte.

Ich wollte zum Ferienhaus fliegen, klatschte aber keine zwei Meter weiter gegen eine muskulöse Brust. Dann hoben mich zwei stämmige Arme in die Höhe, die von riesigen goldenen Schwingen eingerahmt wurden.

»Meine Braut!«, sagte mein unerwünschter, göttlicher Verlobter.

2

Ich sah zu Phanes hinunter. Schwarzes Haar fiel über seine goldenen Augen, seine Haut sah aus wie goldbestäubte Bronze, und seine Gesichtszüge waren so unfassbar schön, dass die meisten Menschen bei seinem Anblick den Drang verspürt hätten, stehen zu bleiben, auf die Knie zu fallen und ihn anzubeten.

So wie es vermutlich schon die alten Griechen getan hatten. Phanes bedeutete nämlich nicht nur »glänzen«. Es war der orphischen Kosmogonie zufolge auch der Name eines griechischen Ur-Gottes gewesen.

Ein selbstgefälliges, angedeutetes Lächeln umspielte Phanes’ Mundwinkel, weil ich ihn unentwegt anstarrte. Großes Ego, fügte ich der Liste aller Dinge hinzu, die ich von ihm wusste – zum Beispiel, dass er sich aufs Teleportieren verstand. Außerdem erinnerte ich mich, wie er bei unserer ersten Begegnung einen Zauber von mir genommen hatte, in dem ich gefangen gewesen war. Er hatte ihn mir abgezupft wie einen Fussel. Aber Phanes irrte sich, wenn er sich einbildete, dass ich ihn bewunderte. Ich versuchte lediglich, die Gefahr einzuschätzen, die von ihm ausging.

Acht von zehn, lautete mein Urteil. Abgesehen von seinem Äußeren, bei dem einem der Kiefer herunterklappte, bewiesen Phanes’ Schwingen zweifelsfrei, dass er kein Mensch war. Dennoch versuchte er nicht, sie zu verbergen. Im Gegenteil – er stellte sie zur Schau.

In meinen über viertausend Lebensjahren hatte ich eines gelernt: Wenn ein Geschöpf so entspannt bleiben konnte, obwohl es sich unbewaffnet in einer unbekannten Umgebung befand, musste es mächtig sein. Erschwerend fiel ins Gewicht, dass meine Magie an Phanes abprallte. Und mit meinen blutrünstigeren Fähigkeiten erging es mir bei ihm nicht anders. Was auch immer durch seine Venen floss – vorausgesetzt, dass er überhaupt welche hatte –, es war kein Blut und auch keine andere Flüssigkeit, die ich manipulieren konnte.

»Lass mich runter«, sagte ich schließlich.

Ich musste ihm zugutehalten, dass er es tat. Sogar sanft.

Kein potenzieller Sadist, fügte ich meiner Liste hinzu.

Als ich den Sand berührte, verwirbelte er zu goldenen Blumen in allen erdenklichen Formen, bis der Strand wie ein magischer Garten aussah. Auch die Luft war inzwischen von jener körperlosen Art Goldstaub so gesättigt, dass ich das Ferienhaus nicht mehr erkennen konnte.

Oh, ihr Götter, wenn um diese Zeit Nachbarn wach waren und nach draußen schauten, würden sie die Polizei rufen! Oder vermuten, dass ihnen jemand LSD untergeschoben hatte. Oder beides.

»Kannst du bitte aufhören, alles wie Gold aussehen zu lassen?«

Phanes winkte, und der Strand, der Sand und die Luft wurden wieder normal. »Warum bist du mir entflohen, meine Braut?«

Er verschränkte die Arme vor seiner nackten Brust, als ob er auf meine Antwort wartete. Sein Oberkörper war bereits bei unserer ersten Begegnung nackt gewesen, aber zum Glück erstreckte sich seine Abneigung gegen Bekleidung nicht auch noch auf seine Hose. Ich hätte gewettet, dass sie ebenfalls goldfarben sein würde, aber sie war so schwarz wie sein Haar und bestand aus einem Material, das ich nicht kannte.

Ich überging seine Frage, weil ich selbst eine hatte: »Wie hast du mich gefunden?«

Vor zehn Tagen war es ihm gelungen, mich aufzuspüren, weil er meine dunkelste Energie gespürt hatte, als ich Dagon tötete. Aber seitdem hatte ich diese Macht nicht mehr angewendet, und meine Urlaubsadresse hatte ich Phanes auch nicht hinterlassen.

»Indus hat mir gesagt, wo du bist«, erwiderte er.

Indus? Wer …? Ach ja, Indus war der Herrscher der Leviathane – furchterregende Geisterwesen, die sich aus Meerwasser formten und jeden ertränken konnten, den sie berührten. Aber woher kannte der Herrscher der Leviathane meinen Aufenthaltsort?

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, antwortete ich, nachdem ich eins und eins zusammengezählt hatte. »Indus hat mich nur gefunden, weil ich seit ein paar Nächten in der Brandung plansche?«

Ein schlaues Lächeln umspielte Phanes’ Mundwinkel.

»Nein. Wenn du nur geplanscht hättest, hätte Indus nichts gemerkt. Aber du hast deine Macht auf das Wasser einwirken lassen. Das hat er gespürt.«

Na toll. Bekam der Herrscher der Leviathane jetzt jedes Mal ein metaphysisches GPS-Signal, wenn ich meine Macht über das Wasser anwendete? Das war eine Komplikation, die ich nicht gebrauchen konnte.

»Wie beeindruckend«, sagte ich kalt. »Zumal er sich auf der anderen Welthalbkugel befand, als ich ihn zum letzten Mal sah. Oder ist er inzwischen näher gerückt?«

Phanes legte den Kopf schräg. »Ich habe zwei deiner Fragen beantwortet, aber du meine noch nicht. Warum bist du vor mir geflohen?«

Es kostete mich all meine Willenskraft, keinen Blick zu dem Ferienhaus hinter uns zu werfen. Meinem Bruder zufolge würde Phanes Ian töten, falls er herausbekam, dass seine »Verlobte« verheiratet war. Ich hatte zwar schon gesehen, wie Ian mächtige Feinde besiegte, aber dabei war er nie bewusstlos gewesen.

Phanes durfte von mir nichts über Ian erfahren. Glücklicherweise konnte ich ihm mit einer anderen Wahrheit dienen.

»Ich weiß nicht, wie es in deiner Welt gehandhabt wird – aber hier? Hier kreuzt man nicht einfach auf und erzählt einer Frau, die man noch nie zuvor gesehen hat, dass man mit ihr verlobt sei. Deshalb bin ich weggegangen. Ich bin kein Objekt, mit dem man ungefragt eine Verlobung eingehen kann.«

Er sah mich neugierig an. Das war nicht die gewünschte Reaktion, aber es hätte auch schlimmer kommen können.

»Dann möchtest du also zuerst von mir erobert werden?«

Ganz und gar nicht. Aber wenn ich mir damit Zeit verschaffen und Phanes von Ian fernhalten konnte, wollte ich so tun, als ob …

»Ja. Um für mich infrage zu kommen, musst du mir beweisen, dass du es wert bist. Ich schlage eine Suchaufgabe vor. Such und bring mir …« – Oh, ihr Götter, was? Ja, was? – »… die dreizehn präkolumbianischen Kristallschädel, deren mystische Qualitäten legendär sind«, beendete ich den Satz und unterdrückte im nächsten Moment ein unzufriedenes Stöhnen.

Fiel mir denn wirklich nichts Besseres ein? Das geschah mir recht, schließlich war ich vor Kurzem morgens bei einer Ancient-Aliens-Folge eingeschlafen!

Phanes sah mich skeptisch an.

Innerlich wäre ich fast zusammengebrochen, aber ich setzte mein Pokerface auf. »Oder findest du, dass diese Suche deine Fähigkeiten überfordern würde?«

Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Das wäre schon in Ordnung, wenn die Kristallschädel echt wären. Aber das Ganze ist nur ein Märchen. In Wahrheit versuchst du, mich loszuwerden.«

Verdammt! Entweder war Phanes sehr clever, oder er hatte Zugriff auf menschliches Fernsehen.

»Ich frage mich, ob es etwas mit all der Energie zu tun hat, die du zu dem Haus hinter mir schickst«, fuhr er fort.

In meinen Adern explodierte Eis. Ich konnte mich nicht daran erinnern, meine dunkelste Energie herbeigerufen zu haben, aber ganz plötzlich war sie da und färbte die Luft, die mich umgab, obsidianschwarz, während mein Blick mit Silberglanz die Nacht erhellte.

»Lass es«, sagte ich mit unheimlich hallender Stimme.

Phanes zog langsam die Mundwinkel hoch. Dann streckte er die Hände vor und ließ zugleich die Flügel sinken, als ob sie sich verneigten.

»Tochter des Ewigen Flusses«, tönte er auf einmal ziemlich formell, »ich will dir kein Leid zufügen.«

Um mich machte ich mir keine Sorgen. Sorgen machte ich mir um den Vampir, der hinter mir hilflos mit dem Tod rang, weil ihm meine Rettung so viel abverlangt hatte. Ich spürte, wie sich die Dunkelheit, die mich umgab, bei diesem Gedanken schlagartig ausdehnte, bis ihre Ausläufer schließlich das Jenseits berührten.

»Tochter des …«, begann Phanes von Neuem.

»Veritas.«

Mein Tonfall war schneidend, aber es war wieder meine eigene Stimme. Meine Gefühle für Ian waren so stark, dass sie sogar meine dunkle Macht durchbrachen.

»Veritas.« Phanes schaute mir tief in die Augen. »Ich lebe schon zu lange, um Liebe zu verkennen, wenn ich sie vor Augen habe, und ich sehe sie jedes Mal, wenn du deine Energie zu jenem Haus schickst. Hör auf«, sagte er energisch und flog ein Stück zurück, als meine Dunkelheit sich ausdehnte. »Ich will dem Bewohner dieses Hauses keinen Schaden zufügen! Ich bin auch gegen unsere Verlobung!«

Ach?

Ich zügelte meine Macht, bis sie sich nicht mehr gegen Phanes wandte. Stattdessen wirbelte sie mir in rabenschwarzen Wolken um die Füße.

Phanes faltete seine Schwingen nach innen, wie es Vögel tun, wenn sie auf dem Boden landen. Anders als bei Vögeln sah es bei Phanes jedoch aus, als ob seine Flügel komplett in seinem Rücken verschwinden würden.

»Warum hast du denn nach mir gesucht, wenn du diese Verlobung nicht willst?«

Er näherte sich vorsichtig, wirkte aber weiterhin nicht verängstigt. »Als ich deine Macht spürte, war es für mich eine Frage der Ehre, nach dir zu suchen.«

Blödsinn. Phanes hätte es genauso ignorieren können wie Bemerkungen, die er nicht hören wollte.

»Wie edel«, spottete ich. »Also – was ist der wahre Grund?«

Damit handelte ich mir ein zögerliches Lächeln ein. »Ich bin nicht der Einzige gewesen, der es spürte, als du deine Macht benutzt hast, um ein Loch in den Schleier zu stoßen, der diese Welt vom Jenseits trennt. Die anderen hätten es erfahren, wenn ich untätig geblieben wäre. Wenn ich den Schwur gebrochen hätte, den ich dem Ewigen Fluss geleistet habe, wäre es für mich nicht ohne Konsequenzen geblieben.«

Das glaubte ich – umso mehr, weil dieses Eheversprechen eine Idee meines Vaters gewesen war. Den Torwächter des Jenseits ärgerte man nicht ungestraft.

Die Dunkelheit, die mich umhüllte, verschwand, als ich sie komplett herunterfuhr. »Na schön – wenn das so ist, habe ich gute Neuigkeiten, Phanes. Du kannst nach Hause zurückkehren und jedem erzählen, dass ich dich aus deinem Eheversprechen entlassen habe. Wenn mein Vater etwas dagegen hat, soll er sich direkt an mich wenden.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach.« Phanes klang, als knirschte er mit den Zähnen. »Aber nur dein Vater hat das Recht, mich des Gelübdes zu entbinden.«

Nicht ich, die vorgesehene Braut? Ich hatte schon eine Menge sexistischen Stumpfsinn gehört, aber …

»Und dort, wo er jetzt ist, kann ich ihn nicht erreichen«, fuhr Phanes fort.

In mir keimte Hoffnung auf. »Du weißt, wo mein Vater ist?«

Phanes sah mich überrascht an. »Du etwa nicht?«

Würde ich fragen, wenn ich es wüsste? »Nein. Also, wo ist er?«

Für einen kurzen Moment wurde Phanes’ Gesicht völlig ausdruckslos. Er hätte ebenso gut eine der vielen Statuen sein können, die die Griechen zu Ehren ihrer Götter aus Stein gemeißelt hatten. Dann belebte sich seine Miene wieder, und er schenkte mir ein Lächeln, das so schön wie die aufgehende Sonne war.

»Er ist ein Gefangener im Kerker des Jenseits.«

3

Ich wurde von Schuldgefühlen überwältigt. Mein Vater war als Wächter mit der Aufgabe betraut, die Seelen durch das Jenseits zur letzten Etappe ihrer Reise zu geleiten, und er beförderte nur die Seelen, die für die Jenseitsversion des »schlimmen Ortes« bestimmt waren. Aber als Ian bei dem Versuch, mich zu schützen, sein Leben verloren und mein ehemaliger Feind Dagon Ians Seele in sich aufgenommen hatte, hatte ich meinen Vater angefleht, Ian freizulassen, anstatt ihn in die Totenwelt zu geleiten. Das hatte mein Vater auch getan, aber durchblicken lassen, dass er dafür seine Position als Wächter verlieren könnte.

Er hatte nichts davon gesagt, dass seine Bestrafung so viel schlimmer ausfallen würde.

Der Teil des Jenseits, für den mein Vater zuständig gewesen war, beherbergte die dunkelsten Seelen, die sich in dieser Welt – und vielleicht auch jenseits davon – finden ließen. Ich konnte mir die sadistische Freude dieser Seelen vorstellen, wenn sie herausfanden, dass ihr ehemaliger Wächter jetzt ein Gefangener wie sie war.

Und ich konnte nichts dagegen tun. Zwar hätte ich ein Loch in das Jenseits stoßen können, aber hinübergehen konnten nur Seelen, und die Möglichkeit, mich nach dem Tod wieder zum Leben erwecken zu lassen, hatte ich gerade verloren. Ich schlug die Hände vors Gesicht.

Ich konnte meinen Vater nicht retten, und auch bei Ian war mir das bisher nicht gelungen. Trotz all meiner Macht hatte ich mich noch nie so hilflos gefühlt.

»Vielleicht weiß ich einen Weg, um deinen Vater herauszubekommen.«

Ich riss den Kopf hoch.

Phanes rieb sich das Kinn, als ob er gerade etwas ganz Nebensächliches von sich gegeben hätte. Dann zog er eine kleine Show ab, ließ seine Flügel wieder sichtbar werden, breitete sie zu ihrer vollen Spannweite aus und ließ sie einen goldenen Doppelbogen bilden.

»Das war jetzt theatralisch genug«, sagte ich. »Wie?«

Er lächelte. »Komm mit, dann zeige ich es dir.«

Das kam nicht infrage. »Sag es mir hier und jetzt.«

»Nein.«

Ich warf ihm einen warnenden Blick zu.

Phanes grinste nur noch breiter. »Du würdest es mir nicht glauben, wenn du es nicht selbst gesehen hättest, deshalb verschwende ich keine Zeit damit, es dir zu erzählen. Und du kannst es nur sehen, wenn du mich begleitest, also …« – ein Flügel zeigte wie eine Hand auf mich – »…sage ich es noch einmal: Begleite mich.«

Ich wollte zwar meinen Vater aus der Jenseitsversion eines Kerkers befreien und ihn dazu bewegen, Ian zu heilen und dieses Ehegelöbnis offiziell zu annullieren, aber ich dachte gar nicht daran, Ian zurückzulassen.

Außer … nein. Nein, das war zu riskant.

Einen Weg finden oder mir einen bahnen, das hatte ich erst vorhin geschworen.

Na schön, das war ein Weg. Er war riskant, aber alle unsere vorangegangenen Versuche hatten nichts gebracht. Ian hielt vielleicht nicht mehr lange durch. Es war genauso riskant, nichts zu tun. Vielleicht sogar riskanter.

»Ich werde dich begleiten«, teilte ich Phanes mit. Die Notsituation machte mich waghalsiger. »Wenn du vorher etwas für mich tust.«

Phanes lächelte mich sarkastisch an. »Wieder ein sinnloser Suchauftrag?«

»Nein.« Meine Stimme wurde brüchig, weil mich Hoffnung und Furcht gleichermaßen aufwühlten. »Diese Aufgabe ist sehr real.«

Er verschränkte die Arme. »Worum geht es?«

»Wie du gesagt hast: Es ist einfacher, wenn ich es dir zeige.«

Ich führte Phanes zum Ferienhaus und ließ die Tür hinter mir offen stehen, lud ihn aber nicht ein hereinzukommen. Benötigte er wie Dämonen eine Einladung, bevor er eine private Wohnung betreten konnte?

Nein. Phanes überquerte die Türschwelle, als ob er hier zu Hause wäre. Dann folgte er mir ins Schlafzimmer und verzichtete beim Anblick des Transfusionsständers und des angeschlagenen Vampirs auf dem Bett auf jeden Kommentar. Ich sagte auch nichts, aber Silver, mein Kuscheltier, sah ihn und begann leise zu knurren.

Ich wusste nicht, ob es die natürliche Reaktion des Simargls auf den Anblick einer weitaus größeren geflügelten Kreatur war, aber ich hielt es für das Beste, selbst eine Warnung zu setzen. Als ich Phanes ansah, schoss ein silberner Strahl aus meinen Augen.

Wenn du ihm etwas tust, stirbst du, sagte mein Blick.

Er lächelte zum Zeichen dafür, dass er mich verstanden hatte.

Ich schlug die Bettdecke zurück und zeigte ihm den Großteil von Ians Verletzungen, seine linke Hand ließ ich allerdings verdeckt. Das antike Horn, das die Hand zierte, hatte einmal Kain gehört, dem ersten aller Vampire. Bedeutsamer war, dass es eine unerklärliche Macht besaß. Mir war nicht entgangen, dass bisher ausschließlich jene Finger Ians geheilt waren, um die sich das Horn wie ein Messingschlagring wand.

Phanes musterte Ian mit kühlem Blick. Da war kein Mitgefühl, das seine Miene weicher machte, aber auch keine Feindseligkeit, die sie verzerrte. Anscheinend war Ashaels Warnung, dass Phanes jeden Nebenbuhler umbringen würde, unnötig gewesen. Er musterte Ian allenfalls mit gelangweilten Blicken.

Gut. Es war mir recht, wenn sich Phanes nicht für Ian interessierte. Mir kam es nur auf seine Fähigkeit an, einen Zauber abzupflücken.

Doch ich versuchte, meine verzweifelte Hoffnung zu überspielen. »Spürst du die Magie, die ihm das angetan hat?«

»Ja.« Er hob den Blick und sah mich an. »Sie ist sehr alt und mächtig.«

Selbstverständlich war sie das. Dagon hatte sein Bestes gegeben, um mich und Ian zu erledigen.

»Es wundert mich, dass er diesen Zauber überlebt hat«, fuhr Phanes fort. »Schließlich ist er nur ein Vampir.«

Sein abwertender Tonfall wurmte mich, aber ich ließ mir nichts anmerken. »Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hast du einen Zauber von mir genommen. Daher weiß ich, dass du Wesen von Magie befreien kannst. Ich habe eine schlichte Aufgabe für dich: Nimm den Zauber von ihm, der ihn so verzehrt.«

Er zog die Stirn in Falten. »Aber das war eine ganz andere Form von Magie als diese hier.«

»Das ist mir egal. Wenn du den Zauber von ihm nimmst, werde ich dich begleiten. Wenn nicht, dann nicht. Und falls du ihm etwas antust, werde ich dich töten.«

Manchmal reichte ein warnender Blick nicht aus. Das hier war eine jener Gelegenheiten.

Phanes’ arrogantes, gelangweiltes Lächeln kehrte zurück. »Du musst ihn sehr lieben. Wie bedauerlich. Ich bin viel mächtiger und auch viel attraktiver.«

Er konnte sein Ego anscheinend nicht so einfach abschalten. »Ian hat sich die meisten dieser Verletzungen zugezogen, als er mich retten wollte. Einmal ist er für mich sogar gestorben. Kannst du das überbieten?«

»Nein«, gab er zu und schwieg einen kurzen Moment, als hätte ihn die eigene Antwort überrascht.

Interessant. »Dir bedeutet also niemand so viel, dass du für ihn sterben würdest?«

Sein arrogantes Lächeln blieb, aber ganz kurz blitzte etwas anderes in seinem Blick auf. Es verschwand, bevor ich es deuten konnte, war aber trotzdem vielsagend. Die Frage hatte in ihm eine Empfindung ausgelöst, die er mich nicht sehen lassen wollte. Unter anderen Umständen hätte ich mich gefragt, was es gewesen sein könnte. Aber momentan war es mir egal. Ich wollte von ihm nur, dass er entweder Ian heilte oder das Haus verließ.

Phanes warf abermals einen abschätzigen Blick auf Ians Verletzungen. Dann rückte er näher an ihn heran.

Ich spannte meinen Körper an, zwang mich aber, Phanes nicht zurückzuhalten. Trotzdem kostete es mich viel Beherrschung, eine gefährliche Kreatur – eine niedere Gottheit? – irgendetwas anderes? – in die Nähe des Mannes zu lassen, den ich liebte. Als Phanes schließlich mit der Hand über Ians grotesk verschrumpelten Torso strich, knackten meine Sehnen, weil meine Muskeln so angespannt waren.

Hatte ich womöglich gerade einen furchtbaren Fehler begangen? War Phanes’ Desinteresse an unserer Verlobung vielleicht nur eine Finte gewesen, und hatte er jetzt vor, Ian zu ermorden?

Plötzlich packte Phanes Ian so fest, dass ich zahllose Knochen brechen hörte. Ich stürze mich auf ihn, aber er schlug mich mit seinen beiden kraftvollen Schwingen zur Seite. Ich klatschte gegen die Schlafzimmerwand und stürzte mich danach sofort wieder auf Phanes. Ich konnte ihn kaum sehen, weil meine jenseitige Energie die Sehkraft getrübt hatte, aber ich konnte ihn spüren, und nur Ians Nähe hielt mich davon ab, direkt unter Phanes’ Füßen eine Fallgrube in das Jenseits zu öffnen.

»Geh von ihm weg«, zischte ich.

Phanes ließ Ian los und packte mich mitten im Sprung. Er brauchte beide Arme und alle Kraft seiner beiden Schwingen, um mich festzuhalten.

»Veritas, hör auf. Sieh doch! Der magische Bann ist von ihm abgefallen!«

Ian stöhnte. Ich stoppte mitten im Gerangel. Seit über einer Woche hatte ich Ians Stimme nicht gehört.

Ich ließ von Phanes ab und starrte Ian an.

An seinem Körper bildeten sich Muskeln und Sehnen; sie ließen seine skelettierten Arme, die furchtbaren Aushöhlungen in seinen Seiten und seinen gerade noch geschrumpften Torso fülliger werden, bevor die Energie seine Beine erreichte und auch sie von gesundem Fleisch anschwellen ließen. In der Zeit, die ich brauchte, um erstickt einzuatmen, war Ians Körper in seinen straffen Normalzustand zurückgekehrt, einschließlich der mit Perlglanz schimmernden Haut und dem Haar in den Farben des Sonnenaufgangs.

Ich verspannte mich, wartete auf den Haken und darauf, dass sein Körper wieder in den furchtbaren, skelettierten Zustand zurückkehrte. Mehrere Sekunden verstrichen, aber Ian sah weiterhin regeneriert und gesund aus. Silver flitzte bereits aufgeregt durchs Zimmer und kläffte.

Dann stöhnte Ian und setzte sich auf.

Ich hätte fast aufgeschluchzt und eilte zu ihm ans Bett.

»Ian? Ian! Kannst du mich hören?«

Er öffnete die Augen einen Spalt weit, und ihr leuchtendes Türkis war noch heller, als ich es in Erinnerung hatte. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil es sich wie eine Ewigkeit anfühlte, seit ich ihm zum letzten Mal in die Augen blicken konnte.

»Natürlich kann ich dich hören«, murmelte er. »Du schreist.«

Ich versuchte, etwas anderes zu sagen, aber es kam als halbes Lachen und halbes Schluchzen heraus. Er war geheilt, oh, ihr Götter, er war völlig geheilt und wach! Wenn ich jetzt sterben würde, wäre es ein glücklicher Tod.

Nun öffnete er die Augen ganz, sah aber leicht benommen aus, so als wäre er nach seinem komatösen Zustand noch etwas träge. Dann strich er mit den Fingern über meine Wangen und runzelte die Stirn.

»Warum weinst du? Und wer ist dieser Wichser mit den Flügeln?«

Phanes murmelte etwas in einer Sprache, die ich nicht kannte. Danach fuhr er in einem alten griechischen Dialekt fort.

»Ich habe meinen Teil unserer Vereinbarung erfüllt, Veritas.«

Ja, das hatte er. Ian war geheilt, er war wach, und die Luft, die ihn umgab, begann bereits von der Energie zu knistern, die sich in ihm aufbaute. Ich war so erleichtert, dass ich zu zittern begann.

Ich erlaubte mir, Ian noch einen Moment lang anzustarren, während ich seine Hand an meiner Wange spürte. Eine kleine Geste nur – und sie weckte doch unermessliche Emotionen.

Ich konnte ihn jetzt nicht verlassen! Nicht in diesem Moment!

Aber ein Versprechen war ein Versprechen. Außerdem durfte ich nicht riskieren, dass Phanes diese unglaubliche Heilung rückgängig machte, wenn ich mich nicht an meinen Teil unserer Abmachung hielt. Das ließ sich mit nichts aufwiegen, nicht einmal mit dem Schmerz, den es mir bereitete, mich jetzt von ihm loszureißen.

Ian richtete sich noch weiter auf. »Du riechst gestresst. Stimmt was nicht?«

»Veritas«, drängte Phanes erneut.

»Verzieh dich, oder ich reiße dich in zwei Hälften«, schimpfte Ian.

Es war jeden Moment damit zu rechnen, dass auch die letzte Trägheit wich, die Ians Koma nach sich gezogen hatte, und er begriff, wer Phanes war. Dann mussten wir verschwunden sein.

»Ich muss etwas erledigen«, sagte ich heiser vor Bedauern. »Aber ich liebe dich und bin bald zurück, versprochen.«

Ich streckte Phanes meine Hand genau in dem Moment hin, als Ian ihn wiedererkannte und seine Miene sich verfinsterte. Der Blick, den er Phanes zuwarf, war absolut tödlich.

»Moment. Ich weiß, wer du bist …«

Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Phanes griff nach meiner Hand, und sobald er mich berührte, verschwanden Ian und alles andere ringsum.

4

Ich war zu aufgeregt, um die wirbelnde Dunkelheit zu bestaunen, die uns umgab. Normalerweise konnte ich bei Teleportationen nichts sehen, weil sich der Übergang von einem Ort zum anderen fast augenblicklich vollzog. Diesmal nicht, und es sah aus, als ob Phanes uns in eine Windhose aus schwarzem Rauch saugen ließ.

Es war mir egal. Ich konnte nur an das Gesicht denken, das Ian gemacht hatte, als ihm klar wurde, dass ich ihn verließ – und mit wem.

Das konnte ich ihm bei meiner Rückkehr erklären. Mit etwas Glück dauerte diese Unterredung mit Phanes nicht länger als eine oder zwei Stunden. Es stimmte schon, Ian würde vielleicht trotzdem böse auf mich sein, aber es wäre mir viel lieber, ihn wütend zu erleben, als ihm – wie in den letzten zehn Tagen – dabei zusehen zu müssen, wie er mit dem Tod rang.

Du hast getan, was getan werden musste, argumentierte meine frisch verschmolzene, eiskalt logische Hälfte. Ian ist von Phanes wie versprochen geheilt worden, und ihn zu begleiten war die vereinbarte Bezahlung.

Ich hätte Ian sagen können, wohin ich ging und weshalb, entgegnete ich.

Nur wenn du lieber zugesehen hättest, wie die beiden miteinander kämpfen, bis einer von beiden stirbt, erwiderte sie. Es wäre Ian völlig egal gewesen, ob Phanes ihn geheilt hätte. Wenn er begriffen hätte, wer Phanes ist, hätte er versucht, ihn zu töten.

Sie – ich – hatte mit diesem Punkt nicht unrecht. Ian war furchtlos, und das einzige Wesen, das sich noch mehr als ich empörte, als er erfuhr, dass mich mein Vater schon vor meiner Geburt Phanes versprochen hatte. Er hätte auf jeden Fall versucht, Phanes umzubringen; und ich hatte keine Vereinbarung über Ians Heilung getroffen, nur damit sich Ian bei seiner ersten bewussten Handlung wieder in Lebensgefahr brachte.

Aber, oh, sein Gesicht!

Ich war so aufgewühlt, dass ich einen Moment brauchte, bis ich bemerkte, dass das chaotische Wirbeln aufgehört hatte. Jetzt verteilten sich allerorts Wolken im Licht einer Sonne, die ich nicht sehen konnte, weil alles watteweiß war. In den Hamptons war es gleich zwei Uhr morgens. Folglich mussten wir uns auf der anderen Erdhalbkugel befinden, weil es hier Tageslicht gab.

Mehrere Tempel aus glänzendem Marmor erstreckten sich in gestaffelten Ebenen bis über die Wolken, deren weiße Gespinste den Berg zu verdecken schienen, auf dem die Tempel errichtet waren. Da und dort erblickte ich auch Wälder und Flüsse. Obwohl ich mir sicher war, noch nie hier gewesen zu sein, wirkte alles eigentümlich vertraut.

Wie der Olymp, erkannte ich, als ich mich umsah. Es stimmte nicht ganz, aber dieser Ort war in etwa so, wie die alten Griechen den Berg Olymp, jene mythische Heimat der Götter, beschrieben hatten.

Wir mussten uns auf einer verborgenen Insel befinden, wahrscheinlich im Mittelmeerraum, wenn man die architektonische Referenz an den Olymp bedachte. Phanes oder jemand anders hatte diesen Ort mit einem Glamourzauber belegt, damit er von Menschen, Vampiren, Dämonen und diesen nervtötenden, modernen Satelliten nicht gesehen werden konnte. Es war nicht die erste magisch geschützte Insel, die ich besuchte. Alle möglichen übernatürlichen Kreaturen bedienten sich der Magie, damit ihre abgeschiedenen Rückzugsorte, nun ja, abgeschieden blieben.

Ich wandte mich zu Phanes, der mich überrascht anstarrte.

»Dein Haar, dein Gesicht, dein …« – er machte eine Geste, die meinen Körper meinte – »… alles ist anders.«

Ich sah an mir herab. Der Glamourzauber, den ich in meiner Rolle als Gesetzeshüterin trug, war verschwunden. Jetzt sah ich wie mein wahres Ich aus: Mitte zwanzig, viel kurviger, größer und mit anderen Gesichtszügen, die durch mein silbernes Haar betont wurden, das von blauen und goldenen Strähnen durchsetzt war. Aber mein bronzefarbener Hautton war unverändert geblieben und erinnerte an die nahöstliche Herkunft meiner Mutter.

Phanes starrte mich an, als ob es ihn schmerzen würde, wenn er den Blick von mir losreißen müsste. »Du bist strahlend schön. Warum verbirgst du so viel Schönheit hinter dieser schlichten Erscheinung?«

Mein Blick verriet ihm, dass diese Verunglimpfung bei mir nicht gut ankam. »Vor langer Zeit hat mich mein Sire Tenoch, ein Vampir, mit diesem Glamourzauber vor meinen Feinden getarnt. Er ließ mich wie seine verstorbene Tochter aussehen. Ich habe seitdem mit Stolz ihre äußere Erscheinung angenommen.«

Phanes schwieg. Dann neigte er förmlich den Kopf. »Ich entschuldige mich, ich wollte dich nicht beleidigen.«

Er stieg in meiner Wertschätzung. Manche Wesen gestanden niemals einen Fehler ein – dann wusste man gleich, dass ihnen nicht zu trauen war.

»Entschuldigung angenommen. Und ein Kompliment für die Sicherheit deiner Insel. Man braucht einen starken magischen Schild, um jedem Besucher sofort den Glamourzauber zu nehmen.«

Seine Miene wurde wieder normal und selbstbewusst. »Meine Sicherheitsvorkehrungen sind die besten. Und jetzt komm, ich bringe dich zu mir nach Hause.«

Wir gingen über die Wolken, die natürlich keine richtigen Wolken sein konnten, sonst hätte ich darauf nicht gehen können, sondern wäre gefallen. Aber sie fühlten sich solide und trittfest an, auch wenn sie flauschig und formlos aussahen. Phanes oder jemand anders musste einen Glamourzauber über den Boden gelegt haben. Kein Wunder, dass Phanes mit seiner Insel Eindruck schinden wollte.

Sobald unsere Füße die weißen Marmorstufen berührten, die zu Phanes’ uralt aussehendem Tempel hinaufführten, verschwanden die Wolken. Üppige Gärten nahmen ihren Platz ein, an die ein Wald angrenzte, der sich so weit ausdehnte, dass ich die anderen Tempel nicht mehr sehen konnte. Eine Gruppe Zentauren galoppierte auf den Tempel zu; ihre menschlichen Oberkörper bildeten einen starken Kontrast zu ihren pferdeartigen Unterkörpern.

»Gott Phanes ist zurückgekehrt!«, rief einer der Zentauren.

Weitere Wesen entströmten dem Tempel. Manche von ihnen sahen wie normale Menschen aus, manche waren teils Tier, teils Mensch, und einige … tja, wenn ich nur wüsste, was die waren.

»Seht her«, donnerte Phanes und hob meinen Arm hoch. »Die Tochter des Ewigen Flusses, der Leben und Tod verbindet!«

Oh nein, das tat er nicht. Ich versuchte, meinen Arm loszureißen, aber er hielt mich fest. »Lass das«, sagte Phanes leise. »Es bleibt bei unserer Vereinbarung, aber sie brauchen es nicht zu erfahren.«

Ich hätte mich lieber übergeben und alles wieder aufgegessen, als hier die Trophäe zu spielen, die er nach Hause gebracht hatte. Aber wenn mich das am schnellsten wieder zu Ian brachte – schön. Ich würde diese Wesen ohnehin nie wiedersehen.

Ich lächelte und streckte meinen anderen Arm hoch. Unser Publikum jubelte.

»Heute Abend feiern wir!«, verkündete Phanes.

Heute Abend? Ich wahrte mein Lächeln, aber ich zog Phanes’ Kopf herunter.

»Ich habe nicht eingewilligt, über Nacht zu bleiben«, zischte ich in sein Ohr. Er strahlte und faltete die Schwingen um uns. Als ich nur noch goldene Federn sehen konnte, verschwand das Grinsen aus seinem Gesicht.

»Du bist mir etwas schuldig.« Er knurrte es so leise, dass nur ich es hören konnte. »Ich habe deine Zurückweisung akzeptiert, ich habe deinen Liebhaber geheilt, und bald werde ich dir zeigen, wie du deinen Vater aus seinem Kerker befreien kannst. Ich erbitte von dir im Gegenzug nur, dass du eine Nacht lang meine glückliche, mir zugedachte Braut spielst. Morgen kannst du mit den Informationen, die du suchst, aufbrechen und mich fortan als deinen Verbündeten betrachten, nicht als deinen Feind.«

Einen neuen Feind konnte ich absolut nicht gebrauchen, aber ich war nicht bereit, jeden Preis zu zahlen, um es zu verhindern. Alles hatte Grenzen. Allerdings konnte ich verstehen, dass Phanes Wert darauf legte, vor seinen Leuten das Gesicht zu wahren.

»Ich werde dich anlächeln und dir so viele bewundernde Blicke zuwerfen, wie du willst, aber mehr ist nicht drin«, sagte ich ebenso leise.

»Plus zwei Küsse. Außerdem teilst du heute Abend das Zimmer mit mir. Platonisch – wenn du darauf bestehst«, fügte er hinzu, als ich gerade Luft holte, um zu protestieren.

Oh, das würde Ian garnicht gefallen!

Aber sollte ich lieber meinen Vater im Jenseits verrotten lassen, rein rechtlich mit Phanes verlobt bleiben und unsobendrein noch eine mächtige Kreatur zum Todfeind machen?

Du hast keine Wahl, sagte meine andere Hälfte mitleidslos.

Verdammter Mist. Sie – ich – hatte recht.

»Ein Kuss, nicht zwei, und wir schlafen nicht im selben Bett.«

Phanes lächelte. Nichts an diesem seltsamen, verborgenen Ort kam seiner Schönheit gleich, aber wenn ich bekommen hatte, wofür ich hergekommen war, wollte ich weder ihn noch diesen Ort jemals wiedersehen.

»Einverstanden. Und jetzt …« – er ließ die Flügel sinken und präsentierte uns den jubelnden Zuschauern – »… zeig ihnen, dass du glücklich bist.«

Ich schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln, das im totalen Widerspruch zu meinen Gefühlen stand. Dann nahm ich den Arm, den mir Phanes hinstreckte, und wir stiegen gemeinsam die restlichen Stufen empor.

5

Sobald wir im Inneren waren, wirbelten Rot-, Lila-, Blau- und Goldtöne unter unseren Füßen, als würden wir auf Schritt und Tritt im Marmor eingeschlossene Opale freisetzen. Der Blick nach oben endete an der massiven Decke, die von dorischen Säulen mit kunstvoll verzierten Kapitellen getragen wurde. Auf Augenhöhe waren die Wände von Statuen nackter Männer, Frauen und Nymphen gesäumt. Feuerschalen verbreiteten einen orangefarbenen Schein, und Blütenduft vermengte sich mit den Aromen der Öle, die die Flammen speisten.

Phanes musste wirklich viel für griechisches Ambiente übrighaben, wenn er sogar Feuer anstelle elektrischen Lichts verwendete.

Er klatschte in die Hände. Sofort erschien eine Gruppe von Frauen in aufeinander abgestimmten blaugrünen Kleidern und drängte mich aus dem Raum.

»Meine Dienerinnen werden dich für das Fest heute Abend vorbereiten«, sagte Phanes. Dann konzentrierte er sich wieder auf seine Bewunderer.

Von dort verschwinden zu können, kam mir gelegen. Es ging mir auf die Nerven, so tun zu müssen, als ob es für mich schmeichelhaft wäre, wie ein lebendiger Dekorationsgegenstand behandelt zu werden.

Die Frauen führten mich zu einem prächtigen Zimmer, dessen Fußboden mit Blumen bestreut war; ein Marmorbad und ein separater Garten schlossen sich an. Ich wurde entkleidet, gebadet, abgetrocknet, massiert, parfümiert, frisiert und im Großen und Ganzen so behandelt wie ein Rassehund vor der Finalrunde eines Wettbewerbs.

Es kam fast zu einem unangenehmen Zwischenfall, als eine der Haarstylistinnen so nah an mich herankam, dass sie mit dem Hals über meinen Mund strich. Meine Fangzähne fuhren aus, und mein Magen knurrte so laut, dass alle Dienerinnen es hörten.

Sie wichen entsetzt zurück, und Helena, die allem Anschein nach das Hauspersonal unter sich hatte, starrte mich erschrocken an.

»Bluttrinkerin«, flüsterte Helena.

»Halbbluttrinkerin«, korrigierte ich, weil es hier auf meinen Status als »Tochter des Ewigen Flusses« ankam. »Und ich werde keinen von euch beißen«, fügte ich hinzu, als die anderen Dienerinnen weit von mir abrückten.

Helena sagte energisch etwas in einer Sprache, die so klang wie die, die Phanes vorhin benutzt hatte.

Ich weiß nicht, was es war, aber die Dienerinnen huschten danach zu mir und der Couch zurück, auf der ich saß. Eine nach der anderen kniete sich vor mich, schob ihr Haar zur Seite und hielt mir ihren Hals hin.

Mein Magen knurrte wieder, aber ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie wollten das nicht tun, und ich wollte sie nicht dazu zwingen, mochte ich hungrig sein oder nicht. Außerdem konnte ich auch einen Tag länger auf die nächste Mahlzeit warten.

»Helena, ich möchte gern allein sein; du darfst gehen, und die anderen auch. Aber kann mir vorher bitte jemand ein Handy bringen?«

Helena sah mich verständnislos an.

»Ein Mobiltelefon«, versuchte ich es anders. Jetzt machten alle ratlose Gesichter. »Fernsprechgerät«, betonte ich und machte eine Geste, als würde ich mir eins ans Ohr halten. »Damit ich jemanden anrufen kann?«

Helena wirkte entgeistert. »Solche Dinge haben wir nicht.«

»Vielleicht ein Tablet? Einen Desktop-Computer? Irgendwelche Kommunikationsgeräte?«

Bei jeder Frage schüttelte Helena den Kopf. Na toll. Phanes hatte mich zur »Griechische Götter«-Version eines Amish-Dorfes gebracht.

»Dann geht bitte einfach«, seufzte ich. »Ich bin müde und will vor dem Fest heute Abend ein Nickerchen machen.«

Was zum Teil stimmte. Ich war müde, aber an einem seltsamen Ort und von Leuten umgeben, denen ich nicht traute, könnte ich niemals einschlafen. Ich wollte allein sein.

Helena schmollte und schürzte die Lippen, aber ein paar deutliche Worte später waren nur noch sie und ich übrig.

»Ich bleibe zum Aufräumen«, sagte sie.