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Als Eric Jones für die US Army nach Afghanistan in den Krieg zieht, hat er nur ein Ziel: Er will sein Land für die furchtbaren Terroranschläge am 11. September 2001 rächen und als Held nach Hause zurückkehren. Doch die Realität sieht anders aus. Als einziger Überlebender eines Anschlages auf seinen Konvoi schleppt er sich schwer verletzt und auf der Flucht vor den Taliban durch die Wüste. Einzig das afghanische Mädchen Nila hilft ihm und versteckt Eric für Wochen in einem unterirdischen Keller. Was er nicht weiß: Seine Regierung hält ihn für tot. Eric muss einen Weg durch das Gebiet der Taliban finden, um zurück zu seiner Truppe zu gelangen. Doch will er das überhaupt? Denn zwischen Nila und ihm wächst etwas heran, was nicht sein darf. Nila hat sein Leben komplett verändert. Er muss sich entscheiden. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Auf Leben und Tod. Er hat überlebt... er flieht vor den Taliban...nur sie kann ihn retten. Ein Buch über eine einzigartige Liebe, über falschen Patriotismus und die Folgen eines Krieges für zwei Menschen die zusammen sein wollen, es aber nicht dürfen.
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Seitenzahl: 420
Veröffentlichungsjahr: 2021
MARK KRÜGER
Nila
Sie durften sich nicht lieben
Roman
© 2021 Mark Krüger
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg
Copyright © Mark Krüger 2021
Umschlagsgestaltung Eike Altenkrüger
Foto: Eike Altenkrüger
ISBN:
978-3-7345-2579-7 (Paperback)
978-3-7345-2580-3 (Hardcover)
978-3-7345-2581-0 (e-Book)
Lektor: Johannes Bodner
2. Auflage/ Erstausgabe 2016
E-mail: [email protected]
Facebook & Instagram: Mark Krüger/ Mark D. Krüger
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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Für meinen Onkel Heiko…
ich vermisse Dich…
Viele Ereignisse in diesem Buch basieren auf wahren Begebenheiten und sind tatsächlich in verschiedenen Orten geschehen. Lediglich die Handlung und die Hauptfiguren sind frei erfunden.
Hass wird durch Gegenhass gesteigert, durch Liebe dagegen kann er getilgt werden.
Baruch de Spinoza, Philosoph
Prolog
Nordwestlich von Mardscha, oberhalb des
Dorfes «Shua Akhdar», Afghanistan 1984
Amin steht auf einer Anhöhe. Er lauscht dem leichten Wind, der wie eine Melodie an ihm vorbeizieht. Stille. Und wieder erklingt ein Ton und verschwindet in der Weite des afghanischen Mittagshimmels. Er atmet tief ein und sieht hinunter ins Tal. In einem kleinen Dorf, einige Fußmärsche im nordwestlich der Stadt Mardscha entfernt, jagen wieder einmal zahlreiche Kinder Hunderten von Drachen hinterher, die bunt und an dünnen Schnüre am Horizont ihre Bahnen ziehen. Eine uralte Tradition. Er lächelt. Auch er war einmal ein Drachenläufer. Seiner Zeit der schnellste.
Er zögert kurz in seinen Gedanken, sieht nach oben, wieder zurück und erinnert sich, viele schöne und verschiedene Drachen gesammelt zu haben. Einige hat er noch zu Hause bei seinen Eltern, andere sind im Laufe der Jahre kaputt gegangen.
Es ist heiß und schwül und der Sommer zeigt sich in seiner trockensten Periode oftmals unberechenbar, dennoch ist es seine Heimat. Wieder atmet er tief ein. Seit der russischen Invasion vor knapp vier Jahren ist kaum noch etwas wie vorher. Der Alltag wird begleitet durch den Krieg. Man fragt die Menschen nicht, ob sie diesen Krieg wollen. Man fragt keine Kinder, ob sie auf Minenfelder spielen wollen. Man erzählt ihnen aber auch nicht, dass es diese Minenfelder gibt. Es ist einfach so, man hat es hinzunehmen. Dennoch ist es seine Heimat. Hier ist es eher ruhig. Ab und zu hört man hier oder da einige Maschinengewehrsalven, ab und an hört man dort oder im nahegelegenen Gebirge von Tschalap Dalan einige Granateneinschläge. Das ist Alltag. Das gehört dazu. Das ist Afghanistan 1984. Seine Augen werden ein wenig traurig, denn er sieht zurück ins Tal, wo die Kinder den bunten Drachen hinterherlaufen, um für kurze Zeit Kinder zu sein. So wie er einmal eines war. Damals vor zirka 15 Jahren. Er lächelt. Seine Entscheidung ist getroffen. Er wird gehen. Er wird Afghanistan verlassen. Für immer. Er will Arzt werden, Menschen helfen, ein anderes Leben führen. Er will nach Amerika. Er war immer schon „irgendwie anders“ als die anderen, hat hinterfragt und war wissbegierig, war zur Stelle, wenn es Menschen schlecht ging und verstand nicht, warum sich sein Leben nur in seinem Land abspielen soll. Jetzt ist er Anfang 20, groß und schlank gebaut, gutaussehend mit seinem kurzen, welligen Haar und seinem gepflegten Dreitagebart. An seiner rechten Augenbraue zieht sich eine kleine Narbe wie ein kleiner Fluss durch ein Tal zu seinem Ohr. Schwach zu erkennen: Er fiel als vierjähriger in den Dorfbrunnen. Zum Glück war dieser damals fast ausgetrocknet, sonst wäre er ertrunken. Natürlich glaubt Amin an Allah. Er wuchs sehr traditionell auf. Er erfüllt seine fünf Gebete am Tag und fühlte sich sehr zeitig mit seiner Religion und dem Koran verbunden, aber dennoch wurde ihm von seinen Eltern beigebracht, alle Menschen dieser Welt zu schätzen, unabhängig davon welcher Religion sie angehören oder nach welchen Traditionen sie leben würden. Akzeptanz und Toleranz sind für ihn der Schlüssel zur Liebe. Dieses Lebensgefühl bekam er sehr zeitig von seinen Eltern beigebracht und darauf ist er sehr stolz. Amin wird wegen seiner sanftmütigen Art im Dorf, in der Stadt, in der gesamten Umgebung sehr gemocht und geschätzt. Gern unterhält man sich stundenlang mit ihm, um interessante Dinge zu erfahren, welche er sich aus zahlreichen Büchern gelernt und erfahren hat. Alle wissen, dass er Arzt werden möchte und rufen ihn seit langem schon «Doktor Amin» oder holen ihn, wenn sich ein Kind einen Splitter eingefangen oder eine alte Frau gestürzt ist. Er genießt es unten in der Stadt von den Frauen angesehen zu werden, auch wenn er sie wegen ihrer Verschleierung selbst nicht sehen kann. Amin streicht sich durch sein Haar und versucht, sich langsam zu verabschieden. Aus der Ferne klingt eine immer lauter werdende, bekannte Stimme zu ihm durch, die ihn aus seinen Gedanken und Erinnerungen reißt. Er lächelt, wendet sich von der Anhöhe und der kleinen Stadt ab und geht langsam in Richtung der Rufe, die ihm gelten. Seine kleine sechsjährige Schwester Nila läuft auf ihn zu, wild mit den Armen wedelnd und verzweifelt seinen Namen rufend.
»Amin! Amin!
Amin!«
In letzter Sekunde kann sich Amin auf seine Knie setzen, um den kleinen Wirbelwind in seiner vollen Geschwindigkeit abzufangen, wobei er fast umgeworfen wird.
»Langsam, kleine Nila, langsam!«
»Amin!«
Nila klammert sich an ihrem Bruder fest und drückt sich mit aller Kraft an seine Schultern. Sie wimmert leise und Tränen laufen ihr über die Wangen.
»Kleine Nila. Kleine, schöne Nila. Du brauchst nicht traurig sein.«
Amin setzt sie vor sich in den Sand und streichelt ihr sanft über ihre Wangen.
»Ich muss für sehr lange Zeit fortgehen.
Das weißt du, oder?«
Sie sieht zu ihm hoch, die Tränen laufen ihr dick über ihr leicht gebräuntes Gesicht und ihr verzweifelter Blick sucht Halt in seinem. Er darf nicht gehen.
»Du lässt mich allein, Amin?
Nimm mich bitte mit, Amin! Bitte!
Ich möchte hier nicht ohne dich sein.«
Ihr Blick wirkt flehend, fast bettelnd, doch Nila weiß, dass sein Entschluss feststeht und sie ihren Bruder für viele Jahre nicht wiedersehen wird. Er hat ihr fast alles beigebracht, lief mit ihr über die Felder, baute mit ihr Baumhäuser oder brachte ihr das Schwimmen bei.
Als sie ein Baby war, trug er sie auf dem Rücken und spielte dann mit den anderen Kindern Fußball. Sie gehörte zu ihm wie ein Körperteil. Wenn einmal ein anderer Junge zu ihm sagte, er soll doch seine Schwester beim nächsten Fußballspiel bitte zu Hause lassen, dann tat er das. Aber dann blieb er auch zu Hause. Amin wurde beim Fußball schnell schmerzlich vermisst und so gingen alle anderen den Kompromiss ein und Nila gehörte ab diesem Moment dazu. Es dauerte nicht lange bis man erkannte, dass Nila etwas außergewöhnliches war. Sie hatte nach ihrer Geburt sehr blaue Augen, wobei ihre Eltern dachten, dass diese sich dann wie bei den meisten in ein dunkles Braun verwandeln würden. Bei Nila war das anders. Ihre Augen wurden von Jahr zu Jahr immer heller, fast türkis. Wenn man sie ansah, war man gefangen und gefesselt zugleich. Sie verzauberte mit ihrer Art alle und jeden, war herzlich und hilfsbereit wie ihr Bruder, aber auch störrisch, direkt und mitunter sehr bestimmend. Wie ihr Bruder wuchs auch sie sehr offen auf. Fernab von strenger Tradition, wobei alle bei ihr eine unerklärliche Ausnahme machten, ihr sogar erlaubten, ohne Burka zu spielen oder sie an einigen Tagen auch zur Schule ließen, damit sie, wie die Jungs, lernen konnte.
Doch am heutigen Tag ist sie vor allem ein kleines Mädchen, das ihre langen schwarzen Haare wild zu zwei Zöpfen zusammen gebunden und Angst davor hat, ihren geliebten Bruder für immer zu verlieren.
»Nimm mich bitte mit, Amin.«,
fleht sie ihn wieder an.
»Das geht leider nicht, kleine Nila.«,
erwidert Amin und spürt ihre Enttäuschung tief im Herzen.
»Ich werde nach Amerika gehen. Das weißt du doch. Ich werde Medizin studieren und irgendwann einmal ein guter Arzt sein. Dann kann ich Menschen helfen, denen es nicht so gut geht. Verstehst du das, Nila?«
Sie schaut ihn an und nickt zaghaft.
»Es hat nicht jeder diese Chance, weißt du?
Und deshalb muss ich diese Möglichkeit einfach nutzen. Dann geht es uns allen später einmal viel besser.» Amin wischt ihr die Tränen von den Wangen und streicht ihr die Strähnen von der Stirn, welche die Zöpfe beim Rennen verlassen hatten.
»Werde ich dich auch ganz bestimmt wiedersehen, Amin?
Versprichst du mir das?«
»Ja, das verspreche ich dir. Wenn ich einmal ein richtiger Arzt bin, dann hole ich euch nach. Einverstanden? Ich hole dich, Mama und Baba nach Amerika.»
Amin wusste, dass es unwahrscheinlich, ja, fast unmöglich war, seine gesamte Familie irgendwann einmal gemeinsam nach Amerika zu holen, aber was hätte er diesem kleinen Mädchen sagen sollen?
Wahrscheinlich wäre der Glanz in ihren Augen erloschen und ihr Herz für immer gebrochen. Er gab ihr Mut und Hoffnung als letzten Begleiter mit auf den Weg in ihre Zukunft, die so ungewiss war wie der Flügelschlag eines Vogels durch einen Wüstensturm.
Amin setzt sich direkt vor Nila und greift in seine Hosentasche.
Vorsichtig holt er ein kleines Päckchen hervor, eingewickelt in einem kleinen Stück persischer Seide, legt das Päckchen in seine geöffnete Hand und streckt es ihr entgegen.
»Das hier ist für dich.»,
sagt er leise und deutet ihr, das Päckchen zu öffnen. Erfreut und verwundert sieht sie ihren Bruder an.
»Für mich?
Was ist das?«
»Öffne es, dann siehst du es!«
Aufgeregt nimmt Nila das Päckchen aus seiner Hand und beginnt vorsichtig, den feinen, roten Stoff zur Seite zu schlagen.
Eine aus reinem Gold gefasste Schatulle kommt zum Vorschein, welche ihre Augen noch mehr glänzen lässt.
Sie sieht Amin wieder fragend an.
»Öffne sie!«
Amin zeigt ihr die kleine Öffnung mit dem verzierten Verschluss an der Seite, den sie vorsichtig hochschiebt. In der kleinen Schatulle befinden sich zwei hellblaue, wunderschön geschliffene, olivengroße, glänzende Steine, welche in ein goldenes Gestell eingearbeitet wurden und mit orientalischen Mustern verziert zu einer schmalen, goldenen Kette führen, die jeweils auch, alle drei Zentimeter, kleine blaue Steine als Verzierung trägt.
Nila ist gerührt und überwältigt von der Schönheit dieses Schmuckstückes, so sehr, dass sie kurz alles um sich herum vergisst.
So etwas derart Schönes hat sie noch niemals gesehen, geschweige denn daran gedacht, dass es so etwas gibt.
»Das ist ja wunderschön.«
Sie hält die Kette in die Sonne und blinzelt vorsichtig durch die Steine hindurch, die in unsagbarer Schönheit in einem traumhaft hellen Blauton schimmern.
»Woher hast du diese Kette?«
»Sie wurde extra für dich angefertigt, Nila.«
Nila ist mehr als gerührt und fällt ihrem Bruder um den Hals. Sekunden später sieht sie sich die Kette noch einmal in der Sonne von allen Seiten genau an.
»Die Steine sind zwei Aquamarine.
Zwei Edelsteine, die ich auf einer Medina in Kabul sah. Sie erinnerten mich so sehr an deine Augen, dass ich sie mitnehmen musste.
Die Kette habe ich dann aus mehreren Gliedern zusammenfügen und an Aquamarinsplittern, sowie einer kleinen verzierten Fassung befestigen lassen. Diese Kette gibt es nur einmal. So wie dich Schwesterchen .«Er nimmt ihr die Kette aus der Hand und legt sie ihr um den Hals.
»Weißt du, was dein Name bedeutet, Nila?«
Behutsam greift sie an die beiden Steine und sieht ihn fragend an.
»Nein, das weiß ich nicht.»
«Nila bedeutet blauer Edelstein und kleine Königin. Mama und Baba gaben dir den Namen wegen deiner seltenen blauen Augen.«
»Das wusste ich nicht.«
antwortet sie leise und sieht wieder auf ihre Kette. »Sieh mich an, Nilaherz!«
Zögerlich und traurig sieht sie ihrem Bruder in die Augen.
»Sei immer wie eine Königin! Hilf den schwachen und armen Menschen, die dir auf deiner Lebensreise begegnen, egal welcher Herkunft, und lass niemals Schlechtigkeit in dein Herz!
Versuche, Streit aus dem Weg zu gehen oder versuche, mit Worten oder deiner sanften Art zu schlichten, zu beruhigen, zu klären!
Sei deinen Eltern stets ein gutes Kind, anderen ein Vorbild, ohne von dir selbst abzuweichen und Allah immer eine liebende Tochter!«
Er nimmt sie in seine Arme und hält sie einige Sekunden lang fest.
»Versprichst du mir das?«
»Das verspreche ich dir liebster Bruder.«,
flüstert sie traurig.
»Keine Angst, was das Leben für dich vorbereitet hat Nila. Allah hat einen guten Plan für dich. Bitte nimm diese Kette niemals ab! Sie soll dich beschützen. Wenn du sie trägst, bin ich stets bei dir und Allah,
Al Hamdulele, wird über dich wachen.«
Amin küsst seine Schwester auf die Stirn, nimmt sie an die Hand und beide gehen in das nur einige hundert Meter entfernte Dorf, in dem das Haus ihrer Eltern steht.
Die Eltern von Amin und Nila, Zhora und Abdullah Said, sind sehr liebevolle und fürsorgliche Eltern. Während Abdullah Said das Geld für seine Familie mit Viehzucht und Obstanbau zu verdienen versucht, kümmert sich Zhora liebevoll um ihre Kinder und den Haushalt.
Aufgrund des trockenen Klimas und der vielen Gebirge in Afghanistan kann die Bevölkerung nur schätzungsweise zehn Prozent des Landes für die Landwirtschaft nutzen, was wiederum viel Arbeit und ständiges Fernbleiben, oftmals tagelang, von Abdullah Said zur Folge hat.
Neuerdings werden, um die Felder zu bewässern, aufwendige Kanäle errichtet, welche sich mitunter hunderte Kilometer über das Land erstrecken.
Abdullah Said arbeitet außerdem einmal im Monat auf einer Cannabisplantage, weil er der Meinung ist, mit dem Cannabis mehr Geld verdienen zu können.
Zur Verwunderung von Zhora bringt er an diesen Tagen allerdings nie mehr Geld mit nach Hause.
Sie macht sich keine Gedanken darüber, ob er selbst das Cannabis rauchen oder anderweitig konsumieren würde, weil er, angeboten, auf Opiumfeldern zu arbeiten, stets antworte: »Mit diesem Dreckszeug will ich nichts zu tun haben.«
Allerdings sitzt er oftmals zwei Tage nach der Arbeit auf dem Cannabisfeld auf der Bank vor ihrem Haus und grinst vor sich her und scheint mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Natürlich lässt seine Frau ihn in Ruhe und spricht ihn nie darauf an.
Immer noch besser als ein Mann, der sie schlägt, obwohl Abdullah Said auch das niemals tun würde. Zhora und Abdullah Said wurden von ihren Eltern miteinander verheiratet, als sie 10 Jahre alt und er 18 Jahre alt waren.
Sie war sehr ängstlich am Tag der Hochzeit, aber mit seiner sanftmütigen, ruhigen Art nahm er ihr schon nach wenigen Momenten die Angst.
Er verstand es nicht, warum er fortan mit einem Kind zusammenleben sollte, da er doch Fußball spielen und mit seinen Freunden unterwegs sein wollte, aber er übernahm ziemlich schnell Verantwortung für Zhora und sorgte ab diesem Moment für sie.
Zhora war eine kleine Frau, etwas dicker gebaut, aber hatte ein schönes Gesicht.
Sie lächelt den ganzen Tag, singt Lieder und hin und wieder kann man sie beobachten, wie sie ihrem Mann nach vielen Jahren Ehe verliebte Augen macht.
Nila hat das Aussehen eher von ihrer Mutter, doch die Augenform und vor Allem die Farbe hat sie definitiv von ihrem schlacksigen, schlanken und für sein Alter entsprechend gut aussehenden Vater Abdullah Said. Seine Augen sind nicht so sehr hellblau wie die von Nila, aber für einen Afghanen eben selten: blau.
Beide begrüßen es, dass ihr Sohn Amin nach Amerika geht, um Arzt zu werden, sie selbst haben nie eine Schulbildung genossen, dennoch blicken sie auch mit Wehmut und Sorge in die Zukunft.
Sie wissen, welche Bindung zwischen Nila und Amin besteht und müssen nun versuchen, einen Ausgleich zu finden, was sicher schwierig sein wird. Heute, seinem letzten Tag zu Hause, wollen sie für Amin ein Fest geben und haben alle Bewohner aus der Umgebung eingeladen um ihn gebührend in die neue Welt zu schicken.
Lämmer und Hühner wurden extra für diesen Anlass geschlachtet und von den Frauen zubereitet, verschiedene Fladenbrote gebacken und traditionelle Gerichte in verschiedenen Variationen zubereitet.
Auf den festlich geschmückten Decken auf den Böden befinden sich am Abend zahlreiche Speisen, wie den Chalau und Bata, zwei verschiedene
Reisarten, der eine als Beilage verwendet, der andere kurzkörnig und schmierig gekocht, sowie gefüllte Gebäckstücke, Reisdesserts (Shola genannt) und die Fleischsorten, die neben Huhn und Lamm außerdem noch zubereitet wurden, wie Kamel und Rind.
Zhora kochte eine Lieblingsspeise von Amin, die Dopyasa, eine Art Kebab, wobei man das Fett der Fettschwanzschafe verwendet.
Neben vielen Obstsorten, wie Weintrauben und Melonen, liegen mehrere Sorten Panir, heller Käse, sowie grüner und schwarzer Tee gewürzt mit Kardamom, einem Ingwer ähnelnden Gewürz in Verbindung mit gezuckerten Mandeln, auf den Tellern.
An diesem Abend sitzen, wie immer, die Männer auf der einen Seite und die Frauen auf der anderen Seite. Viele angeregte Unterhaltungen finden statt, überall wird gelacht und zur Musik einer Rubab, dem traditionellen afghanischen Musikinstrument, getanzt oder gesungen.
Amin sitzt neben seinem Vater, doch seine Augen suchen nach seiner kleinen Schwester, die ihm bei solchen Festen meist nicht von der Seite weicht. Amin beugt sich zu seinem Vater.
«Baba, hast du Nila gesehen?
Seit ich ihr die kleine Kette geschenkt habe und wir zurück zum Dorf kamen, scheint sie verschwunden zu sein.
Hätte ich ihr die Kette nicht schenken sollen? Oder wäre es besser gewesen ich hätte mich erst morgen von ihr verabschiedet?»
Abdullah Said hielt in seinem Gespräch mit dem Dorfältesten inne und beruhigte Amin.
«Lass sie, Amin!
Sie braucht Zeit, um zu verstehen das du erwachsen bist und deinen eigenen Weg gehen wirst.
Sie ist hin und her gerissen, macht sich Vorwürfe, dass du wegen ihr gehst oder sie etwas falsch gemacht hat. Wir alle haben es ihr erklärt.
Sie wird es irgendwann verstehen.
Sie ist noch ein kleines Mädchen und kann mit den Gefühlen eines Verlustes schwer umgehen.
Sie hat sich sehr über dein Geschenk gefreut. Alles wird gut, mein Sohn. Und nun iss, soll mir doch kein Amerikaner sagen, dass ein dürrer Afghane Medizin studieren will oder dass es in Afghanistan nichts zu essen gibt.»
Abdullah Said tätschelt seinem Sohn auf den Hinterkopf, während er seiner Frau traurig in die Augen blickt, die ihn ungefähr zehn Meter entfernt beobachtet.
Auch die beiden müssen einen Verlust verarbeiten und wissen nicht, wann oder ob sie Amin jemals wiedersehen werden. Noch einmal suchen Amins Augen den Horizont und die naheliegenden Häuser ab, doch Nila kann er nicht entdecken.
Der Abend neigt sich in den Morgen und dieser begrüßt den neuen Tag mit einer herrlichen Morgenröte über den Dächern des afghanischen Tschalap Dalan Gebirges.
Amin hat die ganze Nacht nicht geschlafen.
Noch immer liegt er auf dem Dach seines Elternhauses, einer kleinen Lehmhütte mit zwei Zimmern, und schaut zum Himmel. Ist es richtig, was er tut?
Soll er seine Familie zurücklassen, um aus seinem Leben etwas Besseres zu machen?
Wer sagt ihm denn, dass es dort besser ist?
Er hat weder einen anerkannten High- School- Abschluss, geschweige denn ein Stipendium, noch eine Wohnung oder viel Geld. Er hat nichts außer einem Koffer, seine Kleidung und die Adresse eines fernen Verwandten in Chicago. Zweifel überkommen ihn. Die langen Gespräche mit seinem Vater und mit seiner Mutter fallen ihm ein und er spürt, dass er der erste in seiner Familie ist, der etwas Großes schaffen kann! Arzt will er werden. Menschen helfen, seine Familie, seine Mutter, seinen Vater und die kleine Nila stolz machen!
«Genau. Arzt will ich werden!»
Amin springt auf und schreit es noch einmal entschlossen in die Morgenröte.
«Ich, Amin Abdullah Said, werde Arzt!
Ich werde Arzt werden und meine Familie stolz machen! Bei Allah, und dann komme ich zurück und hole sie alle zu mir!»
Als sich Amin am Morgen verabschiedet, ist das komplette Dorf versammelt, um ihm Lebewohl zu sagen. Die Frauen singen, die Männer stehen stumm herum, nicken anerkennend oder schlagen ihm respektvoll auf die Schultern.
Amin geht wortlos auf seine Mutter Zhora zu, küsst sie auf beide Wangen, um sie Sekunden später ihrem Schmerz allein zu überlassen.
Es fällt ihm sichtlich schwer. Abdullah Said singt ein leises Klagelied und darf öffentlich zu seinen Tränen stehen, die er auch nicht zurückhält.
Er nimmt das Gesicht seines Sohnes in beide Hände und küsst ihn mehrfach auf die Wangen und auf seine Stirn.
«Allah sei mit dir, mein Sohn. Allah sei mit dir, mein Sohn.»
Amin kann seine Tränen nicht bei sich halten, schämt sich aber seiner Gefühle und versucht, sie zu verschleiern.
Er fällt seinem Vater um den Hals und küsst ihm dankend die Hände und die Stirn.
Er sieht in das liebe Gesicht seines Vaters, der ihn noch einmal die Wangen tätschelt.
«Sei ein guter Junge, Amin, und mach uns stolz!
Allah wird wissen, wann wir uns wiedersehen.»
«Das werde ich, Baba,
das werde ich. Allah sei mit dir Baba.
Allah sei mit Mama.“
Er nimmt seinen Koffer, wendet sich von Abdullah Said ab und geht zum Bus.
Kurz bevor er den Bus besteigt dreht er sich aber noch einmal zu seinem Vater um und ruft ihm zu:
«Baba, hast du Nila gesehen?
Geht es ihr gut?
Passt auf sie auf!»
Abdullah Said winkt ihm beruhigend zu und lächelt. «Mach dir keine Gedanken, Amin.
Sie ist ganz in der Nähe.“
Traurig steigt Amin auf die erste Stufe des russischen PAZ 672- Busses, Baujahr 1960, und blickt noch einmal in die Menge.
Er kann Nila nicht entdecken.
Schweren Herzens winkt er allen noch einmal zu und geht durch den Bus bis zur letzten Sitzbank und verstaut seinen Koffer über sich.
Der Bus hat noch mehrere Stationen vor sich und muss noch viele Menschen aufnehmen.
Aus diesem Grund zögert der Fahrer auch nicht und fährt sofort los. Ein letzter Blick zu seinen Eltern, ein letzter Blick zu seinem Dorf.
Traurig winkt er ein letztes Mal und dreht sich danach ab. Der Weg über die anliegende Straße ist holprig und uneben, deshalb hält der Fahrer alle paar hundert Meter an. Nach ungefähr fünf Minuten Schüttelfahrt hört Amin wieder diese bekannten Töne. Ein leises Rufen.
Ein lauter werdendes Rufen. Ein verzweifeltes, lautes Schluchzen. Schreie, die seinen Namen formen.
Nila. Er dreht sich um und sieht wie Nila hinter dem Bus herläuft, weint, schreit und winkt.
Ihre Knie sind blutig, weil sie schon öfter gefallen ist, aber das macht ihr nichts aus. Hunde begleiten sie bellend, andere Bewohner schütteln wieder einmal die Köpfe, als sie Nila sehen, doch das alles ist ihr egal. Sie läuft wie der Wind dem Bus hinterher. Sie sagt auf Wiedersehen. Amin drückt von innen beide Hände an die Scheiben, auch er kann sich nicht beherrschen und weint.
«Sei tapfer, kleine Nila!
Keine Angst, kleine Nila, ich komme wieder.
Bei Allah, ich komme wieder!»,
ruft er so laut er kann, im Wissen verbleibend, dass sie ihn nicht hört. Der Bus wird schneller und Nila langsamer. Nach noch 100 Metern bleibt sie entkräftet stehen und streckt ihre linke Hand in den Himmel, während die rechte Hand ihre Kette hält. Ihre Augen sind mit Tränen gefüllt und sehen aus wie das Blau des endlosen Ozeans. Sie atmet tief und schnell und blickt dem Bus noch lange hinterher, bis er als Punkt am Horizont verschwindet und auch der Abschied von Minute zu Minute in die Vergangenheit reist. Nila aber bleibt stehen und sieht zum Himmel. Sie schließt die Augen, lächelt kurz, atmet ein und atmet aus, dreht sich um und geht langsam zurück nach Hause.
Sie wird Amin nie wiedersehen.
1
Zwei Freunde
Nashville/ Tennessee, USA 2009
Die Sonne brennt an diesem Morgen schon so sehr, dass es unmöglich ist, auf dem heißen Asphalt barfuß zu laufen, man würde sich die Füße verbrennen. Die höchste Temperatur, die jemals in Nashville gemessen wurde, betrug um die vierzig Grad Celsius.
Heute scheint es nicht anders zu sein. Die Sommer sind hier immer heiß und das subtropische Klima der bekannten Musikermetropole lässt so manchen Tornado des vorangegangenen Frühlings vergessen. Nashville, Memphis und andere Städte in Tennessee werden oft im Herbst und im Frühling von Tornados und heftigen Unwettern heimgesucht, sodass ein heißer Sommer immer mit großer Freude erwartet wird.
Dafür sind die Winter umso kälter. Wenn man heute durch Nashville fährt, dann kann man immer noch die Geister und Seelen so mancher Musiklegenden wie Elvis Presley, Johnny Cash oder B.B. King und anderen, die hier in den 50er Jahren ihre musikalischen Spuren hinterlassen haben, ganz intensiv spüren.
Überall hängen Bilder oder erklingen bekannte Töne aus den stilgerechten Bars, welche das Flair dieser Zeit nicht abgelegt haben. „Rock`n Roll meets Country“, „Country meets Folk“ und „Folk meets Gospel“. Entweder man mag es oder man mag es nicht.
Die Menschen der 600.000- Einwohner Metropole nennen sich selbst Nashvillians und arbeiten, wie sollte es anders sein, zu einem großen Teil in der Musikindustrie, hauptsächlich in der sogenannten Music Row, einem Gebiet im Südwesten der Innenstadt von Nashville, wo viele Plattenfirmen, Studios und Szene- Treffs ihren Sitz haben.
Das bekannte RCA Studio B, wo zahlreiche Musikgrößen ihre Hits eingesungen haben, sowie die Country Music Hall of Fame kann man ebenfalls in der Music Row bewundern.
Nicht weit vom Zentrum in Nashville, ungefähr 10 Meilen östlich, befindet sich der Percy Priest Lake, ein traumhafter See, und das Percy Priest Reservoir, ein Paradies für Angler, Camper, Wanderer, Bootsfahrer und Pfadfinder.
Eric Jones und Andy Stone, zwei neunzehnjährige Freunde schon seit Kindertagen, sind an diesem Morgen schon sehr zeitig unterwegs.
Sie wollen mit ihrem Boot raus auf den See, vorbei an zahlreichen kleinen und großen Inseln, an wunderschönen Sandstränden, an Campingplätzen und Knutschecken vorbei, wo schon so manch eine wilde Party stattfand, um ein letztes Mal für sehr lange Zeit gemeinsam zu angeln.
Eric ist der Draufgänger, der Macho, der wilde Typ, hat immer ein Späßchen auf den Lippen, braun gebrannt, durchtrainiert, hat blaue Augen, dunkle kurze Haare und ist auch sonst so der «Zac Efron» aus Südwest-Nashville.
Er weiß ganz genau das er bei den Frauen gut ankommt. Deshalb hinterlässt er hin und wieder einen arroganten Eindruck, was ihn aber nicht stört. Andy ist eher das Gegenteil von Eric, auch vom Charakter. Er ist etwas kleiner, hat auch dunkle Haare, einige Sommersprossen, ist ruhig, ein heimlicher Streber und ist seit fünf Jahren fest mit Nancy Miller zusammen. Die Nachbarstochter.
Es passierte beim Barbecue im heimischen Garten, als er ihr die komplette Platte Spareribs über den Körper kippte, um danach in der Küche seiner Eltern stundenlang zu versuchen die Flecken aus ihrem Kleid zu schrubben. Sie grillten ab diesem Zeitpunkt öfter zusammen.
Eric hat als Sechsjähriger, zusammen mit anderen Jungs, Andy oftmals verprügelt, weil dieser so anders war. Bis eines Tages eine Bulldogge aus unerklärlichen Gründen Jagd auf Eric machte, der sich mit letzter Kraft auf einen Baum retten konnte und stundenlang in dessen Krone sitzen musste, weil sich die Bulldogge keinen Zentimeter vom Baum entfernte.
Ausgerechnet Andy sollte der Retter in der Not werden, indem er den Hund mit einem Seil einfing und wegbrachte. An diesem Tag wurden sie Freunde.
Mit einem Geheimnis, denn Andy hat Eric bis heute nicht erzählt, dass es der harmlose blinde Köter seines Onkels Bill war.
Warum sollte er auch?
Es war sein stiller Triumph. Still ist auch die heutige Bootsfahrt. Andy sitzt am Heck des alten, kleinen Motorbootes und navigiert es geschickt an den im Wasser treibenden Bäumen vorbei, welche der letzte Sturm entwurzelt und in den See gerissen hat.
Er spricht nicht mit Eric. Er wartet, lässt ihn in seinen Gedanken verharren, um ihm ein vorerst letztes Abschalten vor der größten Veränderung seines Lebens zu gönnen. Eric hat sich vor gut einem Jahr bei den Marines gemeldet, die Ausbildung mit Auszeichnung bestanden und nun seinen Marschbefehl nach Afghanistan erhalten.
Heute ist sein letzter Tag in der Heimat.
Morgen geht es in einer Boing C-17 Globemaster III, einem vierstrahligem Militärtransportflugzeug, direkt zu den amerikanischen Truppen nach Kabul.
Andy weiß nicht, ob sein Freund Angst hat. Doch er kann es fühlen. Eric genießt die Luft während der Fahrt zur Mitte des Sees und lässt sich vom Wind treiben. Die leichten Spritzer Wasser, welche seitlich am Boot vorbei rieseln, erfrischen sein Gesicht.
Es ist gerade einmal 8: 00 Uhr morgens, aber schon gefühlte 30 Grad Celsius warm.
In der Mitte des Sees angekommen, stellt Andy den Motor ab, wirft ein 40 Meter langes, geknüpftes Seil, an dessen Ende ein Stein gewickelt ist, in den See, während Eric die beiden Angeln abwickelt, die Posen begradigt und die zuvor im Sumpfgebiet gesammelten Würmer als Köder an den Haken befestigt.
Es ist gespenstisch ruhig. Niemand der beiden sagt etwas. Ab und zu kann man einen Fisch über die Wasseroberfläche hüpfen sehen und man bekommt ein Gefühl, als würden sie auf die Angel und die Würmer warten. In sichtbarer Entfernung liegt ein leichter Nebel zwischen den Bäumen und dem See, sodass man die dahinter liegende Natur nur in Silhouetten erahnen kann.
Es riecht nach Freiheit, nach Ruhe, nach Zufriedenheit und völliger Entspannung. Einige Vögel erwachen aus ihrem nächtlichen Schlaf und machen sich auf den Weg, ihren Kleinen das erste Futter zu suchen.
Weißkopfseeadler thronen weit oben in den Spitzen der Bäume, gleiten hin und wieder durch die Luft, stürzen sich blitzschnell hinab, um dann mit ihrer Beute im Nebel zu verschwinden.
Eric reicht Andy die fertige Angel, zündet sich eine Zigarette an, öffnet mit einem lauten Plopp eine Flasche Bier, trinkt einen großen Schluck, stellt sie neben sich auf den nassen Bootsboden, steht auf, schwingt seine Angel, wirft die Sehne weit in den See und lässt sie los. Er wartet, bis die Pose steht, setzt sich mit einem tiefen «Ahhhhhh» auf die Mittelbank des Bootes und verharrt, auf die Pose blickend, wieder in seiner Stummheit.
Er liebt dieses Gefühl von Zufriedenheit. Doch heute ist alles anders. So sitzen die zwei Freunde wortlos gefühlte Stunden nebeneinander und nehmen das Leben in sich auf.
Es ist absolute Vollkommenheit und einer dieser Momente im Leben, in denen man die Zeit anhalten möchte, um das Gefühl des Glückes nicht zu verlieren. Nach einigen stillen Momenten, die Sonne steht hoch oben im Zenit, beginnt die Pose von Eric in kurzen Abständen zu zucken, bis sie kurz danach komplett im Wasser verschwindet.
«Langsam, langsam!
Zieh ihn langsam raus!»,
flüstert Andy ihm zu.
«Warte noch!
Lass ihn noch etwas ziehen!»
erwidert Eric entschlossen und lässt die Pose, die mittlerweile kaum noch zu erkennen ist, nicht aus den Augen.
«Du verlierst ihn, man. Zieh ihn raus, sonst ist er weg!» «Halt die Klappe, ich weiß, was ich mache!
Nur noch kurz… »
Noch bevor Andy darauf antworten kann, zieht Eric mit einem starken Ruck die Angel zurück und verhakt somit den Fisch an der Sehne.
«Wow, ich habe ihn. Hol den Käscher!
Verdammt, das scheint ein riesiger Brocken zu sein.“
Eric leiert seine Angel schnell auf und merkt, dass er einen ziemlich großen Fang gemacht haben muss.
Andy steht derweil gespannt mit dem Käscher neben ihm und wartet darauf was er einholt.
Mit einem letzten Ruck befördert Eric den zappelnden Fisch in das Boot und Andy sichert ihn gekonnt mit dem Käscher.
«Ein Streifenbarsch. Und was für ein Teil!
Das sind mindestens 50 cm!»
Andy ist begeistert.
Mit einem gekonnten Schlag auf den Kopf beendet Eric das Leben des Fisches.
«Das ist unser Abendessen. Heilige Mutter, ist das ein Riese!»
Eric freut sich über seinen Fang und macht sich gleich daran, den Fisch aufzuschlitzen und ihm die Innereien zu entfernen.
Andy schaut ihm interessiert zu und will eine leichte Anspannung bemerkt haben, Eric hingegen lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und versucht seine offensichtliche, innere Aufregung zu verbergen.
Nachdem die beiden den Fisch zerlegt und alles für ein kleines Feuerchen am frühen Abend vorbereitet haben, fahren sie langsam zurück zum Anlegerplatz.
Eric holt zusätzliche Leckereien aus dem Auto, wie zum Beispiel ein paar Holzfällersteaks in Marinade eingelegt nach dem Rezept seiner Großmutter, bestehend aus viel Ketchup, Orangensaft, Essig, Worcestersoße, Öl, kleingehackten Zwiebeln, vielen Kräutern, zerriebenem Oregano, etwas Knoblauch, einem Spritzer Tabasco und einem halben Glas Bier.
Das Ganze stand eine Nacht im Kühlschrank und ist erst bis jetzt richtig durchgezogen. Außerdem hatte Andys Vater ihnen einige selbstgezüchtete Riesenkartoffeln mitgegeben, welche seiner Meinung nach die besten jenseits der Grenze von Tennessee sein sollen. Zurück im Boot fahren die beiden zu ihrem Lieblingsplatz, wo sie schon als Kinder immer gespielt hatten. Es war eine kleine Insel inmitten des Percy Priest Lakes, diesem einzigartigen See, wo es, wie in der Karibik, einen unendlich langen und schönen Sandstrand gibt, an dem man am Lagerfeuer unbeschwert grillen, den Wellen lauschen und die Schönheit eines Sonnenunterganges neu definieren kann.
Hier haben die beiden Cowboy und Indianer gespielt, Baumhäuser gebaut, ihre ersten geklauten Zigaretten geraucht, auf Bierbüchsen geschossen, bei ersten Dates am Strand geknutscht, den ersten Liebeskummer verarbeitet, Zeugnisse verbrannt , danach gefälscht und sich tagelang versteckt, nachdem ihre Eltern herausfanden, dass sie auf ihren neuen Zeugnissen schlechtere Noten hatten als der Durchschnitt.
Es war ihre Insel.
Es war ihre Kindheit.
Als Andy das Boot am selbstgebauten Steg festschnallt, sucht Eric Holz für das Feuer. Direkt am Wasser hatten sie große Baumstämme um eine Feuerstelle platziert. In der Mitte waren die Stämme ausgesägt, so dass man kleine Sitzplätze für mehrere Personen hatte.
Es ist gemütlich und genau der richtige Platz für zwei Jungs wie Andy und Eric, die noch einmal miteinander reden müssen, bevor einer von beiden in einer ihm fremden Welt sein Leben aufs Spiel setzen und für die Gerechtigkeit unterdrückter Menschen und Wiedergutmachung derer kämpfen wird, die am 11. September 2001 in den USA ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Familien oder ihren Glauben verloren hatten.
Nach einiger Zeit sitzen die beiden in der Abenddämmerung satt und zufrieden am Feuer. Einige Kartoffeln glühen noch vor sich hin und Fleischreste liegen auf einem Pappteller.
Jeder hat eine Flasche Bier in der Hand und sieht gedankenverloren in die bunten Farben des knisternden Feuers, Eric zieht an einer Zigarette.
«Hast du Angst?»,
fragt Andy schließlich in den Abend hinein.
Eric zögert kurz, stochert mit einem Stock in der Glut herum und zieht noch einmal an seiner Zigarette.
«Keine Ahnung.
Manchmal ja, manchmal nein.»
Eric überlegt kurz und fügt hinzu:
«Heute ja. Heute habe ich Angst.
Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich einen von diesen afghanischen dreckigen Taliban vor die Flinte kriege, dann Boom…»
Eric schlägt den Stock blitzschnell auf das Feuer, Andy erschrickt.
«…dann knalle ich dieses Schwein ab!
Ich werde so lange schießen bis mein Magazin leer ist, Andy, das schwöre ich dir bei meinem Leben und der Verfassung der Vereinigten Staaten.
Ich werde an jedem Tag, den ich da unten bin dafür beten, dass ich eins von diesen Schweinen kriege.
Gott, was haben die uns angetan… was haben die der Welt angetan?»
Eric redet sich in Wut, beruhigt sich aber wieder.
Andy kann ihn verstehen, ist aber dennoch um seinen Freund besorgt, nicht zu blauäugig in einen Krieg zu ziehen.
Krieg bedeutet Verlust, Schmerz, Tot und Grauen.
Viele Soldaten überall auf der Welt kommen traumatisiert zurück und werden danach vergessen.
«Es ist aber auch gefährlich. Das weißt du.
Pass bloß auf deinen Arsch auf, man!
Wie hat Jenny immer zu Forrest Gump gesagt?
Wenn es irgendwie gefährlich wird, dann sei bloß nicht mutig sondern lauf einfach weg! Lauf einfach weg! Das gilt auch für dich, man! Lauf einfach so schnell du kannst weg!»
«Aber nicht ohne meine Kameraden, Andy. Ich würde niemanden zurücklassen. Außerdem macht es mich stolz, für mein Land sterben zu können. Wenn es so ist, dann ist es so.»,
erwidert Eric.
Andy spuckt erschrocken sein Bier
«Bist du wahnsinnig, man? Natürlich musst du als Soldat deinen Job machen, du hast dich dafür entschieden, aber du musst dich nicht opfern! Würde dein
Präsident für dich sterben? Denk mal nach, man!
Wohl kaum. Patriot zu sein und hinter seinem Land zu stehen ist völlig in Ordnung.
Seine Pflicht als Soldat zu erfüllen ebenso.
Aber all das hat auch Grenzen, Eric!
Verwechsle nicht Patriotismus mit Fanatismus!«
Eric erkennt die Ernsthaftigkeit in Andys Worten und spürt seine Sorge.
Dennoch kann ein Teil in ihm es kaum erwarten, seine Tarnfleckuniform anzuziehen, sich zu bewaffnen und sein Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, im Kampf gegen den Terror zu unterstützen, unterdrückte Menschen zu beschützen und, so Gott will, auch dafür zu töten.
Er wurde zu einem Killer ausgebildet und steht auch dazu, einer zu werden.
Dieser Gedanke nimmt ihm die Angst. Der Gedanke daran zu wissen, er und seine Kameraden sind mit den besten Waffensystemen der Welt ausgerüstet, verdrängen die Gedanken der mehreren tausend amerikanischen Soldaten, die in Afghanistan bereits ihr Leben lassen mussten und verstümmelt oder als seelische Pflegefälle vom eigenen Land vergessen wurden.
Beide schweigen sich an. Andy hat kurz und knapp gesagt, was ihm den ganzen Tag schon auf der Seele brannte und Eric hat es auch verstanden. Es sind Freunde. Fast Brüder. Seelenverwandt. Beide kennen sich. An diesem Tag bedarf es wenig Worte, um den anderen zu lesen und zu verstehen.
«Was ist eigentlich aus der Kleinen vom Diners geworden, sag mal?
Wie hieß sie noch gleich?»
«Emma.»,
antwortet Eric.
«Läuft da noch was oder ist das auch schon vorbei?», lenkt Andy vom eigentlichen Thema geschickt ab.
Eric schmunzelt, gibt einen kurzen Seufzer von sich und wuschelt sich durch sein Haar.
Schlechtes Thema.
Ganz schlechtes Thema.
«Fuck, keine Ahnung. Ich glaub, ich hab`s verbockt.»
«Wieso das denn schon wieder?
Ihr wart doch so vernarrt ineinander?
Konntet letzte Woche eure Hände gar nicht voneinander lassen. Ihr habt euch wund geknutscht, man. Und danach auf der Liebescouch deiner Eltern gepoppt.»
Andy lacht laut und Eric kann sich auch nicht zurückhalten.
«Nein, wir haben nicht gepoppt. Sie wollte nicht.
Scheiße, ich hab`s echt voll verbockt.
Wäre ich bloß nicht mit ihr auf diese verblödete Party gegangen.»
«Welche Party denn?»
Eric kratzt sich verlegen den Kopf und versucht auszuweichen. Doch Andys Neugier kennt wie immer keine Grenzen. Eric wollte eigentlich nicht über dieses Thema reden, es ganz still und heimlich zu den Akten legen, doch Andy ist hartnäckig.
«Welche Party denn?
Scheiße, sag bloß, du warst mit ihr auf dieser Sex Party bei den Hansons?»
Eric zögert schon wieder. Er zögert zu lange.
Andy bekommt einen Lachflash.
«Ich mache mir in die Hose, du warst mit ihr bei den Hansons! Verdammt, ich habe dir gesagt: GEH AUF KEINEN FALL MIT IHR ZU DEN HANSONS! Da kommt nur Ärger und Suff dabei raus! Gott, was ist denn passiert?«
«Ich wollte diesen Mist so schnell wie möglich hinter mich bringen.
Ich mochte dieses Mädchen wirklich. Aber vielleicht hatte es auch was Gutes, dann muss ich mich nicht ewig lange verabschieden und tränenreiche… »
Andy unterbricht ihn.
«Verflucht, nun erzähl schon!»
«Naja, wir saßen da so rum und haben gemerkt, dass viele auf Speed oder Hasch waren, einige schmissen sich ein paar Pornopillen ein, keine Ahnung, auf jeden Fall fingen die da alle nach einer gewissen Zeit wie wild an zu poppen. Neben uns, vor uns, hinter uns. Und Alter, glaub mir, ich war im ersten Moment komplett geschockt, hatte aber auch schon meine zwei, drei Bier getrunken und wurde von Minute zu Minute hibbeliger.
Na ja, und dann saß Emma neben mir, die ihren Mund nicht mehr zubekommen hat. Du weißt ja, jeden Sonntag mit Mami und Papi zum Gottesdienst in die Kirche und stundenlang den Herrn am Kreuz beweinen… und wie sie so geschockt neben mir sitzt, habe ich ihr dann erstmal einen großen Schluck Vodka in die Unterlippe gekippt und nach einigen Minuten wurde sie lockerer. Und geiler! Sie begann wie wild an mir rumzufummeln, flüsterte mir schweinische Sachen ins Ohr und wollte mir dann die Hose öffnen.
Und das vor all den Leuten, stell dir das mal vor!»
«Na und? Die waren doch eh alle am rum machen!»,
kichert Andy dazwischen.
«Na und?
Ich wollte, dass es besonders wird mit Emma.
Also sagte ich ihr, dass ich mit ihr in ein Zimmer möchte. Nicht so zwischen all den Perversen.
Dann habe ich sie an die Hand genommen, bin rauf in den ersten Stock und in dieses Zimmer. Ich sagte ihr, sie kann es sich ja bequem machen und ich würde dann gleich nachkommen!»
«Wo wolltest du denn hin?»
«Na ich musste auf`s Klo! Mensch, mich noch ein bisschen frisch machen, du weißt doch.»
«Ja, ja, schon klar, und dann?»
Eric kann beim Erzählen selbst kaum glauben, was er erlebte und unterbricht sich durch kurzes Gelächter hin und wieder.
«Dann bin ich in dieses Zimmer zurück, es war dunkel und ich dachte mir nichts dabei.
Sie lag schon im Bett. Nackt! Gott, war ich erregt.
Ich zog mich völlig aus, kroch unter ihre Decke und ehe ich es überhaupt geschnallt habe, haben wir wie wild gepoppt. Ich dachte mir noch: Verdammt, warum geht sie so ab? Liegt aber wahrscheinlich an dieser christlichen Pfarrererziehung, irgendwann können die nicht mehr zurückhalten und müssen einfach.
Und in genau diesem Moment geht die Tür auf, das Licht an und Emma steht im Türpfosten und starrt mich entsetzt an!»
Kurzes Schweigen. Andy reißt die Augen auf und sagt kein Ton mehr. Er ist sich nicht sicher, ob er das gerade richtig verstanden hat.
«Wie jetzt?»,
fragt Andy etwas verwirrt.
«Verbockt eben.»,
erwidert Eric, setzt sein Bier an und schüttelt, entsetzt über sich selbst, mit dem Kopf. Andy scheint es noch nicht ganz verstanden zu haben und hakt nochmal nach:
«Und Emma steht im Türpfosten und starrt dich entsetzt an? Wie geht das, wenn du sie doch gerade noch gepoppt hast?«
«Na ich habe mit der falschen gepoppt, ganz einfach. Prost!»
Eric zuckt mit den Schultern und Andy spuckt das Bier, das er gerade runterschlucken wollte, quer über das Feuer.
«Du hast mit der falschen gepoppt?
Wie kann man denn mit der falschen poppen?
Das merkt man doch!»
«Ich habe es nicht gemerkt, man. Wie denn auch?
Ich durfte sie ja vorher nirgendwo anfassen.
Verdammter Mist, woher sollte ich denn wissen, wie sie sich anfühlt?»
«Alter, ganz ehrlich, das ist die oberkrasseste Scheiße, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe! Und dann? Was ist dann passiert? Ich meine, hat sie dich dann geschlagen oder so? Hat sie geschrien? Wie hat sie reagiert?»
«Na sie hat angefangen zu heulen und ist weggerannt.»
«Und du hinterher? Was hast du zu ihr gesagt?»
Eric bekommt wieder einen Lachflash und stützt sich bei seinem Freund ab.
«Nein, man, ich habe mir das Mädel unter mir nochmal genauer angeguckt und festgestellt, dass sie auch sehr toll aussah, na ja, und dadurch, dass sie nicht aufhörte sich zu bewegen… »
«Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass die Tante unter dir die ganze Zeit, in der Emma da stand weiter gepoppt hat?»
«Doch! Genau das… wir haben einfach weitergemacht und fertig. Das war`s.
Ich habe seitdem von Emma nie wieder was gehört.»
Andy schüttelt lachend mit dem Kopf und wischt sich die Tränen weg.
«Wie geil ist das denn, Mensch?
Geht mit seiner Freundin auf eine Party und poppt versehentlich die falsche.“
Den ganzen Abend lachen die beiden ununterbrochen Tränen, tauschen sich alte Geschichten aus und vergessen den Alltag. Sie spüren, dass sie das gebraucht haben. Niemand kann sagen, wann und ob sie sich überhaupt wiedersehen, aber genau dieses Feeling an diesem Strand, dieses Unbeschwerte und Unbekümmerte macht ihre Freundschaft ganz besonders.
Andy nahm sich an diesem Tag vor, lange mit Eric über dessen Gefühle und Ängste zu sprechen.
Stattdessen war es ein kurzer Smalltalk über ein ernstes Thema, wobei jeder kurz und knapp schilderte, was ihn bewegt. Jetzt sitzen die beiden da, schauen in den Himmel und genießen den Abend, der so langsam die letzten Boten des Tages zum Schlafen schickt und am nächsten Morgen neue Lebensgeister weckt, die jeder von beiden auf seine Weise als Begleiter durch eine neue Zeit begrüßen wird.
2
Der Anschlag
Drei Monate später
Nördlich von Mardscha, Wüstenstraße, Afghanistan, August 2009, abends
Ein alter Paschtune steht an einer Kreuzung auf der nördlichsten Straße von Mardscha und fegt mit einem selbstgebauten Besen Wüstenstaub vom Asphalt. Wie alt dieser Mann sein mag, kann man schlecht schätzen, zu sehr ist sein Gesicht von der Sonne gebräunt und zu sehr erzählen tiefe Furchen auf seiner Stirn zahlreiche Geschichten. Sein einfaches Lehmhaus steht nicht unweit von ihm entfernt.
Ein provisorischer Kasten mit einem kleinen Fenster, einem offenen Eingang, zwei einfachen Zimmern, einem Flachdach und einer selbstgebauten Holzbank davor. Im kleinen, angelegten Garten tummeln sich Ziegen, Schafe, Hühner und blöken und gackern in der immer noch unerträglichen Hitze von 35 Grad Celsius um die Wette.
Fast jedes zweite Haus in Mardscha sieht aus wie dieses. Das eine größer, das andere kleiner. Inmitten dieser einfachen Wüstenstadt kann man hin und wieder etwas Grün erkennen, ansonsten ist sie von heißem, staubigen Sand regelrecht eingeschlossen. Ein dürrer Hund bellt dem alten Mann in kurzen Abständen immer wieder entgegen, gibt aber nach mehrfachen erfolglosen Versuchen die Aufmerksamkeit des Alten auf sich zu lenken entkräftet auf und legt sich hechelnd in den Schatten.
Der Alte hält kurz inne, nimmt seinen Pakul ab, eine traditionelle, weiche Wollmütze, welche im frühen 20. Jahrhundert anzunehmender Beliebtheit gewann und den großen Turban ersetzte, wischt sich den Schweiß von der faltigen Stirn und sieht die Straße entlang.
Am Horizont erkennt er kleine Punkte, die größer werden und in schneller Geschwindigkeit auf ihn zu rasen. Seine alten Augen erkennen nicht mehr so genau, welches Bild sich aus einer Fata Morgana langsam zu einem realen Bild verformt, dennoch blinzelt er gespannt der Sonne und der Straße entgegen.
Die Punkte werden größer und von Sekunde zu Sekunde kann man Motorengeräusche hören, welche lauter werden und erkennbar eine riesige Staubwolke mit sich führen.
Der alte Hund jammert hörbar leise vor sich hin, spitzt die Ohren, steht auf, klemmt seinen Schwanz zwischen die wackligen Beine, läuft ein kleines Stück zur Straße, blickt in Richtung der donnernden Staubwolke, quietscht leise vor sich her, dreht um, läuft wieder zur selben Stelle im Schatten, von wo er kam, schaut noch einmal auf, dreht sich dreimal im Kreis und setzt sich ängstlich auf seinen Platz.
Langsam erkennt der alte Mann, was da auf ihn zukommt, tritt vorsichtig einige Schritte zurück und stützt sich auf den Besen. Im selben Moment rast ein Konvoi bestehend aus drei amerikanischen Humvees und zwei Stryker RV an ihm vorbei. Humvees sind Geländewagen, welche seit 1985 in verschiedenen Variationen als Transport- und Spähwagen eingesetzt werden. Bis vor einigen Jahren ließ die Panzerung dieser Fahrzeuge zu wünschen übrig und bot überhaupt keinen Schutz für die Soldaten, was zum Glück bei den jetzigen Modellen verbessert wurde. Auch an dickere Windschutzscheiben wurde gedacht, welche 7,62 mm Geschossen standhalten sollen.
Die beiden Stryker, wobei einer an der Spitze und einer am Ende des Konvois fährt, sind schnelle Späh-Radpanzer, die zum doppelten Schutz und schnellen Eingreifen in brenzlichen Situationen stets Fahrzeuge sind, auf die man sich im Notfall verlassen kann.
Der alte Mann wird dabei nicht beachtet. In diesen Fahrzeugen interessiert es niemanden, ob er gerade die Straße fegt oder nicht. Ist doch sowieso alles drekkig. Die aufgewirbelte Staubwolke hüllt den Alten komplett ein und schnürt ihm fast den Atem ab.
Sein Pakul wedelt ihm vom Kopf und die wenigen, weißen, dünnen Haare flattern uneins durcheinander. Der alte Hund hat sich längst einen anderen Platz gesucht und ist nicht mehr zu sehen.
So schnell wie die Fahrzeuge kamen, so schnell sind sie auch wieder verschwunden. Die Geräusche der Motoren stummen langsam ab und das Bild am Horizont verwischt sich im Einklang mit der Sonne wieder zu einer Fata Morgana, wird kleiner und kleiner bis es komplett verschwindet.
Der Alte wischt sich den Staub aus seinen Sachen, setzt sich seine Mütze wieder auf, schüttelt ungläubig den Kopf, murmelt irgendwelche Worte in Paschtu vor sich her, nimmt seinen Besen und fegt die staubige Straße noch einmal von vorn.
Der alte Hund kommt aus seinem Versteck hervor, schnuppert ängstlich in den Wind und legt sich wieder in seine schattige Ecke, am Rand des Lehmhauses. Alltag in Mardscha.
Der amerikanische Konvoi fährt derweil weiter Richtung Norden, passiert mehrere enge Straßen, verlangsamt sein Tempo und kommt seinem Einsatzgebiet in den Hügeln oberhalb der kleinen Wüstenstadt immer näher. Eine Taliban-Hochburg.
Die Amerikaner haben den Auftrag, den Vorstoß der Taliban zu verhindern, welche sich immer wieder kleine Dörfer zum Ziel suchen, diese einnehmen, Dorfbewohner töten, verschleppen und die Häuser als neue Umschlagplätze, Waffenlager und Verstecke nutzen. Eine sehr gefährliche Mission, die Wachsamkeit, Vorsicht und Aufmerksamkeit voraussetzt, da überall und plötzlich mit einem Angriff der Taliban oder einer Sprengfalle gerechnet werden muss.
Eric sitzt im letzten Humvee mit weiteren sechs Kameraden. Sergeant Melissa Hanson, Mitte 30, verheiratet, 2 Kinder, gutaussehend, liebt mexikanisches Essen, Captain Steven Anderson, der typische Soldat, Oberlippenbart wie damals Magnum und absoluter Patriot, Corporal Mike „Clown“ Carter, Anfang 20, immer einen lustigen Spruch auf Lager, etwas dick und klein und seit dem zarten Alter von 10 Jahren in ein und dieselbe Frau verliebt, hat es ihr aber noch nie gesagt.
Im hinteren Teil sitzen noch Sergeant Peter Brown, Corporal Annie Cunningham am MG und als Fahrer der stets ernste und Kaugummi kauende Denny Edwards. Die Stimmung ist ausgelassen, aber dennoch angespannt.
Mike Carter sieht aus dem Fenster und beobachtet einige Frauen, die langsam und komplett verhüllt in ihren blauen Burkas die Straße entlanglaufen. Er grinst.
«Was meint ihr, tragen sie was unter ihren Kleidchen oder eher nicht?»
Eric und die anderen Jungs lachen und rufen witzelnd aus dem Fahrzeug den Frauen schweinische, sexistische Worte hinterher.
«Hast du kein anderes Thema, Mike, das ist ekelhaft.»,
wirft Melissa Hanson genervt dazwischen.
«Mein Gott, Melissa, lass ihn doch!
Seit wann bist du so verbohrt?
Mich würde das auch mal interessieren. Was meinst du, Eric, tragen die Ladys was drunter oder nicht?»
Sergeant Peter Brown stupst Eric an, der mit seinen Gedanken gerade woanders war.
«Keine Ahnung man, interessiert mich nicht.»
Eric rückt sich seinen Kragen zurecht und fächelt sich ein wenig Luft zu.
Die Hitze in dem Humvee ist unerträglich. Er ist müde und körperlich mit seinen Kräften am Rande des Ertragbaren angekommen. Die Hitze, das Klima und die ständigen Fahrten durch besetztes Gebiet haben bei ihm schon leichte Spuren hinterlassen.
Klar wollte er in Cowboymanier zeigen, was für ein großer Mann in ihm steckt, sein Land verteidigen, John Wayne spielen, der große Befreier sein.
Die Realität sieht aber anders aus und aus einem Cowboy-Indianer Spiel wird sehr schnell purer Überlebenskampf, der für viele Amerikaner und andere Soldaten nicht gewonnen werden konnte und von einigen mit dem Leben bezahlt werden musste.
Eric sieht wieder aus dem Fenster.
Nichts außer Staub und Hitze. Die Straße wird enger und die felsige Landschaft, welche den Rand der Gebirge ausmacht, kommt so langsam zum Vorschein. Mike „Clown“ Carter rutscht ein wenig näher an Sergeant Melissa Hanson heran und legt einen Arm um ihre Schultern.
«Also so ein bisschen rumfummeln könnte ich auch mal wieder.
Was meinen Sie, Sergeant, haben Sie heute Abend schon etwas vor?
Ich könnte ihnen die Sterne zeigen und am Himmel den großen Bären suchen.»