Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein scheinbar lokaler Drogenfund. Zwei Tote, ein Symbol – und eine Spur, die ins Leere führt. Doch als die Ermittler Hella Waansyn und Lasse Karlsson den Fall übernehmen, stoßen sie auf mehr als eine illegale Substanz. Sie entdecken ein stilles System, das Menschen handelt, Kinder verschwinden lässt – und sich perfekt tarnt: als Bürokratie, als Logistik, als politische Vernunft. Je näher sie der Wahrheit kommen, desto gefährlicher wird das, was niemand wissen darf. Ein fesselnder Thriller über Macht, Missbrauch und die Frage: Was geschieht, wenn das Schweigen politisch wird? ---
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 97
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
NORDGRENZE - bittere Spuren
Teil 6
Von Franziska M. Aedelgroen
„Manche Systeme sterben nicht, sie wechseln nur die Farbe.“
Der Wind kam aus Nordwest, hart und kalt wie geschliffenes Glas. Die Bäume am Rand des Rastplatzes bogen sich knirschend, als wollten sie dem Geschehen den Rücken kehren. Es war ein grauer Vormittag im März, einer dieser Tage, an denen selbst der Schnee nicht weiß war, sondern stumpf, fast wütend, als hätte er sich mit dem Himmel verschworen.
Erik Jarnström, Revierjäger, 57 Jahre alt, routiniert, aber kein Zyniker, hatte den LKW zuerst nur am Rande wahrgenommen. Ein polnischer Sattelzug, schräg geparkt, auf dem kleinen Rastplatz kurz vor Sörmjöle. Nicht ungewöhnlich, nicht hier. Doch dann war ihm der Geruch aufgefallen. Nicht Tier, nicht Diesel. Etwas Schweres. Eisen und altes Fett. Und Blut. Ein Rest davon, metallisch, scharf, tief in der Nase. Er war näher gegangen, seine Hand wie automatisch an der Reißleine des Fernglases, obwohl es nichts zu beobachten gab. Die Tür zum Führerhaus stand halb offen, der Innenraum dunkel. Keine Bewegung. Kein Motor. Keine Musik. Jarnström rief, zögerlich, dann lauter. Keine Antwort. Er blieb stehen. Der Moment dehnte sich, wurde größer als der Ort. Ein Windstoß schlug die Tür ganz auf. Und dann sah er ihn.
Der Fahrer hing über dem Lenkrad, ein Arm verdreht, das Gesicht gegen das Plastik gedrückt. Die Haut war grau, die Lippen leicht geöffnet, als hätte er gerade noch etwas sagen wollen. Blut tropfte in schmalen Linien von seinem Kinn auf die Matte. Viel war es nicht – aber genug, um jede Hoffnung abzuwürgen. Jarnström wich zurück, griff nach dem Handy. Seine Hände zitterten leicht, nicht vor Angst, sondern weil irgendetwas nicht passte. Das Führerhaus war zu ordentlich. Keine Snacks, keine Zigaretten, kein Dreck. Und dann war da der Laderaum.
Die Beamten von der Lokalpolizei trafen knapp eine Stunde später ein. Als sie die Türen des Aufliegers öffneten, war es still. Keine Kühlgeräusche, kein Summen. Nur Dunkelheit. Und dann – Paletten. Plastikbehälter, fein säuberlich gestapelt. Darauf Etiketten, scheinbar harmlos: Nahrungsergänzungsmittel, Vitaminkapseln, in vier Sprachen. Aber auf jedem Behälter: ein kleiner, aufgedruckter Elchkopf. Und ein Beipackzettel auf Isländisch. Die ersten Labortests dauerten keine vierundzwanzig Stunden. Amphetamine, synthetische Opiate, Spuren von Designerdrogen, die in Deutschland auf der Verbotsliste standen. Keine Nahrungsergänzung, sondern ein potenziell tödlicher Cocktail, raffiniert verkapselt, stabilisiert, dosiert für unauffälligen Transport. - Die Frachtpapiere waren gefälscht, der Name des Fahrers nicht existent. Die LKW-Kennzeichen: registriert auf eine Firma, die es nicht mehr gab. Eine Spur verlief ins Nichts. Eine andere führte nach Deutschland. Und dort wartete schon jemand auf eine Verbindung.
Lasse Karlsson war schon wach, als das Handy vibrierte. Draußen färbte sich der Himmel über dem Fjällsjöälven blassgrau, der Fluss rauschte gedämpft unter einer dünnen Eisschicht. Das Ferienhaus in Sundmo lag still. Schnee lastete auf dem Dach, die Fensterrahmen knarrten leise in der Kälte. Hierher kamen sie manchmal, wenn sie Abstand brauchten – oder wenn ein Fall sie in die Nähe verschlug. Diesmal war es beides gewesen. - Er stand auf, zog sich einen Wollpullover über und schaltete die Kaffeemaschine ein. Als das Display aufleuchtete, sah er den Namen: Mats Nyberg – Zollinspektion Umeå.
„Karlsson.“
„Wir haben einen Toten“, sagte Nyberg. „Rastplatz bei Sörmjöle. Polnischer LKW-Fahrer. Keine äußerlichen Verletzungen. Vermutlich erstickt – absichtlich oder versehentlich, wissen wir noch nicht. Aber das ist nicht alles.“
Lasse lehnte sich an die Anrichte. „Sondern?“
„Die Ladung. Angeblich Nahrungsergänzungsmittel. Unauffällige Dosen, sauber etikettiert. Aber im Labor kam was anderes raus: synthetische Opiate, Amphetamine – in Kombination mit einem noch nicht vollständig identifizierten Wirkstoff. Hochgefährlich.“
„Wie kam der LKW ins Land?“
„Fähre aus Kiel. Zieladresse: ein Logistikzentrum in Hamburg. Firma nennt sich BRAVECTA Cargo Solutions GmbH. Kennst du die?“
„Noch nie gehört“, sagte Lasse ehrlich. „Klingt wie eine saubere Transportfirma.“
„Wirft aber Schatten. Kein Ansprechpartner, keine Website, nur ein Briefkasten in einem Gewerbegebiet. Und jetzt: ein toter Fahrer mit einer halben Tonne Drogen. Ich dachte, ihr solltet davon wissen.“
Lasse hörte Schritte hinter sich. Hella war aufgestanden, zog sich den dicken Pullover über den Pyjama. Sie blieb im Türrahmen stehen, als sie den Tonfall des Gesprächs erkannte.
„Ich bin mit Hella hier“, sagte Lasse. „Schick uns alles, was du hast. Wir fahren zurück nach Hamburg und schauen uns BRAVECTA an.“
„Gut. Aber vorsichtig. Wenn das professionell aufgezogen ist, habt ihr es nicht mit Kleinkriminellen zu tun.“
„Verstanden“, sagte Lasse.
Hella goss sich wortlos Kaffee ein. Als er auflegte, sah sie ihn fragend an.
„Rastplatz bei Sörmjöle. Ein polnischer LKW-Fahrer. Tot im Führerhaus. Geladen hatte er angeblich Nahrungsergänzungsmittel.“
Sie hob eine Augenbraue. „Und eigentlich?“
„Hochdosierte Mischungen aus Opiaten und Amphetaminen. Zielort: Hamburg. Eine Firma namens BRAVECTA.“
„Sagt mir nichts.“
„Mir auch nicht. Und das ist verdächtig genug.“
Sie trank einen Schluck und stellte die Tasse ab. „Dann los. Wir haben einen neuen Fall.“
Die Fahrt von Sundmo nach Hamburg war lang. Zu lang für klare Gedanken. Zu kurz, um etwas wirklich zu vergessen. Sie verließen das Tal am frühen Vormittag, die schmale Straße entlang des Fjällsjöälven, der sich unter einer dünnen Eisschicht wand wie eine alte Erinnerung. Noch schien alles still, doch Hella spürte, wie sich etwas bewegte – unter der Oberfläche, zwischen den Worten. In diesem Fall lag eine andere Spannung. Kein Mord. Noch nicht. Aber ein Tod mit Fragen. Und ein Empfänger, den niemand kannte. Im Auto wechselten sie sich ab, schweigend, nachdenklich. Die Nachrichten im Radio wirkten seltsam fern: politische Unruhen, ein gestürzter Minister, fallende Temperaturen.
„Wenn das organisiert war“, sagte Hella irgendwann, „dann ist der tote Fahrer entweder das erste Bauernopfer. Oder ein Versehen.“
„Oder jemand wollte die Ware schützen. Und ihn gleich mit loswerden.“
„Erstickung im offenem Führerhaus spricht eher für Letzteres.“
Lasse nickte. „Das Labor wird noch brauchen. Aber was Nyberg gesagt hat, klingt nach einer neuen Mischung. Vielleicht eine Substanz, die noch nicht mal offiziell gelistet ist.“
„Designer-Droge.“
„Mit Potenzial.“
Sie überquerten die Grenze bei Helsingborg, nahmen die Fähre nach Fehmarn. Der Wind über der Ostsee war scharf und salzig, der Himmel wolkenverhangen. Auf dem Außendeck rauchte Lasse schweigend, während Hella im Inneren des Schiffs versuchte, einen ersten Blick auf BRAVECTA zu bekommen. Nichts. Kein Impressum. Keine echten Kontakte. Eine anonyme Briefkastenfirma in Hamburg – registriert unter einer Anschrift, die eher nach Parkplatz als nach Logistikzentrum klang.
„Vielleicht nur Fassade“, murmelte sie, als Lasse zurückkam. „Oder ein Ablenkungsmanöver. Wer immer das hochgezogen hat – der will nicht, dass man ihn findet.“
„Dann fangen wir bei dem an, der nicht mehr sprechen kann“, sagte Lasse ruhig. „Dem Fahrer.“
„Nyberg will die Obduktionsergebnisse bis morgen. Wir könnten vorher mit dem Hafenamt sprechen. Sehen, wer die Ankunft abgefertigt hat.“
„Und mit der Polizei in Hamburg. Vielleicht gab es Vorfälle, die niemand verbunden hat.“
Sie fuhren weiter, die letzten Kilometer bis zur Stadtgrenze. Das Grau über Hamburg war dichter als das in Schweden. Anders. Schwerer. Als sie die Elbe überquerten, fiel das Licht wie Blei über die Hafenkräne.
„Willkommen zurück“, sagte Lasse leise.
Hella blickte nach draußen. „Diesmal“, sagte sie, „fangen wir nicht hinten an.“
Das Gebäude in der Nähe des Hamburger Hafens wirkte wie eine vergessene Kulisse. Grau, flach, funktional. Kein sichtbarer Eingang, kein Hinweis auf ein aktives Unternehmen. Der Schriftzug BRAVECTA Cargo Solutions GmbH war kaum lesbar – silberne Lettern auf einem verwitterten Briefkasten. Keine Klingel. Keine Fenster mit Licht. Nur ein Zahlenschloss.
„Das soll die Zentrale einer internationalen Logistikfirma sein?“ Hella runzelte die Stirn.
Lasse trat einen Schritt zurück, betrachtete die Umgebung. Ein Hinterhof, ein paar abgestellte Paletten. Keine Lieferfahrzeuge, kein Personal, keine Bewegung. Auf der anderen Seite des Hofs eine weitere Halle – leer, bis auf eine alte Sackkarre.
„Briefkastenfirma“, murmelte er. „Oder besser: Fassade.“
Sie zogen sich ins Auto zurück. Hella griff zum Handy und rief beim Gewerbeamt an. Es dauerte eine Weile, doch was sie herausfand, passte ins Bild: eingetragen auf einen Marek Kowalski, polnischer Staatsbürger. Keine deutsche Wohnadresse. Die Telefonnummer führte zu einem Callcenter in Katowice. Es gab keinen echten Ansprechpartner.
„Alles so aufgestellt, dass niemand Fragen stellen kann“, sagte sie. „Und wenn doch, läuft man ins Leere.“
„Dann ist auch der tote Fahrer nur ein Rädchen“, erwiderte Lasse. „Ein austauschbares.“
„Das ist es ja. Wenn der Fahrer wirklich entbehrlich war – warum dann die Mühe, ihn aus dem Spiel zu nehmen, statt einfach jemanden anderen zu schicken?“
Lasse sah sie an. „Vielleicht wusste er zu viel.“
„Oder er wusste gar nichts, aber der Container war wertvoll genug, um alles zu verschleiern.“
Während sie zum Polizeipräsidium fuhren, meldete sich die Spurensicherung. Die Bilder aus dem Führerhaus bestätigten Hellas Verdacht: keine äußeren Verletzungen, aber ein markanter Abdruck an der linken Schläfe. Ein feiner, mechanisch wirkender Druckpunkt. Und eine versteckte Dose unter der Ablage – mit Pillen.
„Elchkopfprägung“, sagte der Techniker. „Fast wie ein Logo. Noch nie gesehen.“
Hella starrte auf das Bild. „Doch“, sagte sie nachdenklich. „Sörmjöle. Zwei Jahre her. Damals hielt man es für Kleinkram.“
„Vielleicht war es ein Probelauf“, warf Lasse ein. „Und jetzt ist das Zeug serienreif.“
Hella schwieg eine Weile. Dann begann sie, ihre Gedanken zu ordnen.
„Ein Fahrer ohne Papiere. Eine Firma ohne Mitarbeiter. Eine Telefonnummer, die ins Nichts führt. Pillen, die aussehen wie Markenware. Und ein Fall in Schweden, der nie zu Ende gedacht wurde.“
Sie klappte das Handy zu. „Das hier ist keine simple Lieferstrecke. Das ist ein System. Jemand hat sich Mühe gegeben, alle Spuren zu verwischen – und gleichzeitig alles unter Kontrolle zu halten.“
Lasse runzelte die Stirn. „Du meinst, das ist größer als Drogenhandel?“
„Ich meine, es wirkt wie etwas, das bewusst im Schatten gehalten wird. Da ist jemand, der Überblick braucht – und sich trotzdem aus dem Blickfeld hält. Kein Amateur. Kein Zufall.“
Als sie später am Abend durch das Hamburger Schmuddelwetter liefen, war es still zwischen ihnen. Nur der Regen sprach. Und Hella dachte: Wer sich so gut tarnt, der hat nicht nur etwas zu verbergen. Der hat etwas zu verlieren.
Der Anruf kam spät. Lasse war gerade dabei, eine Mail an die Hamburger Drogenfahndung zu formulieren, als sein Handy vibrierte. Unbekannte Nummer, schwedische Vorwahl.
„Karlsson.“
Eine Sekunde Stille. Dann eine Stimme, vorsichtig, mit nordschwedischem Akzent.
„Herr Karlsson? Hier spricht Kommissar Mats Nyberg aus Umeå. Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Nein, überhaupt nicht. Was gibt’s?“
Hella richtete sich auf, als sie den Namen hörte. Lasse schaltete auf Lautsprecher.
„Es geht um die Pillen. Ich habe meine Kollegen in Västerbotten um Unterstützung gebeten. Und… es gibt eine Spur. Eine kleine, aber vielleicht keine unbedeutende.“
„Wo genau?“
„Ein Rastplatz an der E4, bei Sörmjöle. Vor einer Woche wurde dort ein polnischer Lkw-Fahrer kontrolliert. Er hatte exakt dieselben Pillen im Wagen – Elchkopfprägung, identische Farbe, gleiches Trägermaterial. Die Verpackung war professionell eingeschweißt. Er sagte, er habe sie in Malmö übernommen, Ziel sei Sundsvall gewesen.“
„Und was ist mit dem Fahrer?“
„Er sitzt in Untersuchungshaft. Wollte reden, dann widerrufen, dann wieder reden. Jetzt schweigt er. Und sein Speditionsauftrag wurde von einer Firma vergeben, die es – Überraschung – gar nicht gibt.“
Hella sah Lasse an. „Eine Kette. Ein Testlauf in Schweden, eine Lieferung in Hamburg – über dieselben Kanäle.“
„Und dieselbe Handschrift“, sagte Lasse ins Telefon. „Was ist mit der Verpackung?“
„Keine Fingerabdrücke. Keine DNA. Aber ein Logo. Ein kleines, kaum sichtbares Relief – nicht nur der Elchkopf. Ein Kreis, fast wie ein Siegel.“
„Schick uns alles, was ihr habt“, sagte Hella ruhig. „Und falls der Fahrer doch redet – wir wollen wissen, wer ihm das Zeug übergeben hat.“
„Wird gemacht.“
Als sie auflegten, war der Raum wieder still. Nur der Ventilator des alten Laptops rauschte leise.
„Sörmjöle“, sagte Hella nachdenklich. „Dasselbe wie damals. Aber professioneller. Sicherer. Und mit dem Mut, es international zu machen.“
„Und Hamburg ist kein Zufall“, ergänzte Lasse. „Der Hafen. Der Transit. Die Nähe zu den großen Routen.“
Sie blickten sich an – zwei Gedanken, ein Verdacht. Was, wenn Hamburg nur ein Knotenpunkt war?