Notärztin Andrea Bergen 1548 - Marina Anders - E-Book

Notärztin Andrea Bergen 1548 E-Book

Marina Anders

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Beschreibung

Als Melissa in die Heimatstadt ihrer Mutter zurückkehrt, trägt sie schwer an ihrer Vergangenheit: Aufgewachsen im Heim, früh verwaist und gezeichnet von einem angeborenen Herzfehler. Im historischen Buchladen am Alten Markt findet sie nicht nur Arbeit, sondern auch neue Freunde - und in Adrian, dem einfühlsamen Imker, Gefühle, die sie längst verloren geglaubt hat. Doch darf eine Frau, die mit jedem Tag um ihr Leben kämpft, überhaupt von Liebe träumen? Ein dramatischer Allergieschock bringt Melissa in die Obhut von Notärztin Andrea Bergen - und stellt ihr Leben auf den Kopf. Plötzlich eröffnen sich neue medizinische Hoffnungen, der Mut zur Liebe ... und die Begegnung mit einem Mann, der tiefer mit ihrer Vergangenheit verbunden ist, als sie je geahnt hat.

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Seitenzahl: 137

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

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Die vergessene Tochter

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Impressum

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsbeginn

Impressum

Die vergessene Tochter

Heute liegt auf dem Operationstisch eine junge Frau, die das Leben nie geschont hat. Melissa Grabner hat von Geburt an einen schweren Herzfehler. Ihre Mutter starb, als sie vier Jahre alt war. Ihren Vater kannte sie nie. Ohne Eltern aufgewachsen, mit einem Herzen, das zu schwach war für die Welt – und doch so voller Sehnsucht nach ihr.

Ich will, dass sie lebt. Dass sie die Chance bekommt, ihren Vater endlich kennenzulernen und ihre eigene Zukunft zu planen. Diese Operation könnte ihr all das ermöglichen.

Im Saal herrscht angespannte Stille – höchste Konzentration ist selbstverständlich. Doch einer aus dem Team scheint in Gedanken weit weg zu sein. Der Alarm des Überwachungsmonitors durchbricht die Stille, doch der Anästhesist reagiert nicht. In der nächsten Sekunde trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Der Mann an den Geräten ist Melissas Halbbruder, Dr. Jens Thiemann.

Ich handle instinktiv, versuche zu retten, was er verpatzt hat ... Doch während ich um ihr Leben kämpfe, lässt mich ein Gedanke nicht los: War das ein Versehen – oder etwas, das keiner auszusprechen wagt?

»Mama, meine Gedanken werden immer bei dir sein, auch wenn ich wegziehe. Ich hab dich lieb.«

Melissa wischte sich über die Augen, als sie sich vom Grab ihrer Mutter erhob. Es würde wohl eine Weile dauern, bis sie wiederkam. Wenn überhaupt.

Sie musste weg aus dieser Stadt, wo alles Unglück angefangen hatte. Hier war ihre Mutter gestorben, hier war sie von einem Heim ins andere gekommen, und hier hatte sie erfahren müssen, dass sie einen schweren angeborenen Herzfehler hatte und dies der Grund war, warum niemand sie adoptieren wollte. Sie brauchte eine neue Umgebung, eine neue Wohnung, einen neuen Arbeitsplatz.

Diesen hatte sie bereits gefunden – in der Heimatstadt ihrer Mutter am Rhein. Bekannte hatten ihr von einer freien Stelle im historischen Buchladen am Alten Markt erzählt. Melissa hatte sich dort vorgestellt, ihre Bewerbung eingereicht und war angenommen worden. Auch eine bezahlbare Wohnung war ihr angeboten worden, in einem älteren Mietshaus mit Blick auf die Weinberge.

Auf dem Friedhofsparkplatz stieg sie in ihr Auto und fuhr zu der WG, in der sie in den letzten zwei Jahren untergekommen war. Morgen hieß es Abschied nehmen. Sie würde ihre Reise in ein neues Leben antreten. In ein unbekanntes Leben, denn an die ersten vier Jahre, die sie am Rhein verbracht hatte, konnte sie sich nur vage erinnern.

Melissa konnte nicht unbedingt behaupten, dass sie sich auf dieses neue Leben freute. Es würde nicht einfacher werden als ihr altes Leben. Sie war krank und hatte keine Angehörigen auf dieser Welt, die sie unterstützt hätten. Ihre Mutter war tot, ihren Vater kannte sie nicht, und auch sonst gab es keine Verwandten.

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte es zwar nette Menschen gegeben, die sie aufgenommen und sich um ihr Wohl gekümmert hatten, doch ihre Krankheit hatte sie zum Außenseiter gemacht. Nun würde sie die Freunde in der WG verlieren, wenn sie wegzog. Mit ihrer Krankheit würde es auch nicht einfach sein, neue Freunde zu finden. Doch sie musste ihrem inneren Drang folgen, in ihrer früheren Heimatstadt ein neues Leben zu beginnen.

In der WG angekommen, ging sie in ihr Zimmer und begann, ihre restlichen Sachen zusammenzupacken.

»Schon reisefertig?« Christine, ihre engste Freundin in der Wohngemeinschaft, lehnte in der offenen Tür. Ihre Miene wurde traurig, als sie hinzufügte: »Ich werde dich vermissen.«

Melissa ließ das Kleidungsstück sinken, das sie gerade einpacken wollte, und umarmte die Freundin.

»Ich werde dich auch vermissen, Chris. Wir bleiben in Kontakt, ja? Vielleicht kommst du mich mal am Rhein besuchen.«

»Wenn ich es finanziell schaffe, gern. Aber vielleicht zieht dich das Heimweh ja auch mal wieder nach München.«

»Vielleicht.« Melissas Stimme klang nicht danach, als würde dies so rasch der Fall sein, auch wenn sie sich in der WG, in der sie zuletzt gelebt hatte, äußerst wohlgefühlt hatte. Zuvor war sie in Kinder- und Jugendheimen aufgewachsen. Nur dank mehrerer Operationen hatte sie überleben können. Zeitweise war Melissa bei verschiedenen Pflegefamilien untergekommen, doch letzten Endes war sie wieder im Heim gelandet.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?«, brachte Christine sie wieder in die Gegenwart zurück. »Bei deiner aufregenden Zukunft?«

Ein trauriges Lächeln spielte um Melissas Lippen. »Nein, in der Vergangenheit. Denn eine Zukunft habe ich ja nicht.«

»Sag das nicht«, widersprach die Freundin energisch. »So schlecht bist du gar nicht dran, auch wenn du dich sehr schonen musst und nicht alles mitmachen kannst, was Spaß macht. Bestimmt könnte eine neue Operation dir helfen, darüber hatten wir ja schon öfter gesprochen.«

Melissa schüttelte abwehrend den Kopf. Nein, nicht noch einmal! Diese furchtbare Angst, diese Schmerzen – sie würde es nicht noch einmal ertragen können.

Ihre komplexe Herzfehlbildung war erst nach dem Tod ihrer Mutter entdeckt worden. Sie war viermal operiert, jedoch nie vollständig geheilt worden. In den folgenden Jahren hatten die Ärzte sie darauf hingewiesen, dass eine neue Operation dank der modernen Technik heutzutage vermutlich erfolgreicher sein würde.

Doch Melissa scheute immer noch davor zurück. Aus Angst vor schlechten Nachrichten unterließ sie auch die notwendigen Kontrolluntersuchungen.

Melissas Leben war von Ängsten geprägt. Angst vor Schmerzen, Angst davor, tot umzufallen, Angst vor den Nächten, in denen sie vor Sorge um ihre Gesundheit nicht schlafen konnte und böse Träume hatte, Angst vor jedem neuen Tag.

Eine Partnerschaft war ausgeschlossen, sie würde niemals heiraten und nie ein Kind haben können. Sie würde allein bleiben, wovor sie ebenfalls Angst hatte. Niemand hatte sie als Kind haben wollen. Warum dann als Erwachsene, wenn sie dem Tod noch näher war als in ihrer Kindheit?

»Nein, ich werde kein Risiko eingehen«, erwiderte sie auf die Worte ihrer Freundin. »Mein Leben ist okay, so wie es jetzt ist. Vielleicht bleiben mir ja noch ein paar Jahre.«

»Mit Operation bestimmt etliche Jahre mehr als ohne«, versuchte Christine, sie weiterhin zu überreden.

Melissa blieb auf beiden Ohren taub. Schon seit ihrer Geburt war sie zum Tode verurteilt. Eines Tages würde sie den plötzlichen Herztod erleiden, dessen war sie sicher.

»Soll ich dir was helfen?«, wechselte Christine das Thema.

Melissa lehnte ab. »Danke, den Rest schaffe ich schon.«

»Dann gehe ich mal in die Küche, vielleicht kann ich da was helfen. Kommst du zum Essen? Jochen hat gekocht.«

Melissa rümpfte die Nase. »Ich rieche es. Eintopf mit viel Kohl.«

»Magst du das nicht?«, tat Christine unschuldig.

Melissa schnitt eine Grimasse. »Ebenso wenig wie du.«

»Dann bis später.« Christines Gestalt löste sich aus der Türöffnung.

Melissas Gedanken schweiften wieder ab. An die fernere Zukunft mochte sie nicht denken, die machte ihr Angst. Sie freute sich jedoch auf das, was in Kürze vor ihr liegen würde: ihre neue Anstellung im Buchladen am Alten Markt und ihre neue Wohnung.

Sie war winzig, aber mehr brauchte sie nicht. Sie besaß auch kaum Möbel. Ihre wenigen Habseligkeiten würde sie in einem Anhänger transportieren, den sie gemietet hatte und am Zielort wieder abgeben konnte.

Während Melissa weiter einpackte, überdachte sie ihr Schicksal. Sie durfte nicht undankbar sein. In den Heimen war es ihr nicht schlecht ergangen. Man hatte ihr musikalisches Talent gefördert, und sie hatte Klavierunterricht erhalten.

Ein Lächeln huschte über ihr schmales Gesicht, als sie an ihre Mutter dachte. Mama am Klavier, Mama mit der schönen Stimme, Mama an ihrem Bett sitzend. Nie würde sie die Schlaflieder vergessen, die sie für sie gesungen hatte.

Zu gern hätte Melissa das Klavier ihrer Mutter gehabt. Schon als kleines Kind hatte sie darauf klimpern dürfen. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie mehrere Männer es aus der Wohnung getragen hatten, bevor sie nach München gezogen waren. Sie hatte es vermisst. Aus dem Nachlass ihrer Mutter wusste Melissa, dass sie es verkauft hatte, um mit dem Geld einen Teil ihres Umzugs zu finanzieren.

Und sie hatte nicht vergessen, dass ihre Mutter nicht gewollt hatte, dass ihr Vater sie jemals fand.

***

»Kinder, aufstehen!«, schallte Mutter Hildes fröhliche Stimme durchs Haus. »Habt ihr euren Wecker nicht gehört?«

Andrea Bergen stupste ihren Mann an, der noch selig schlief.

»Werner, wach auf! Wir haben verschlafen.«

Grummelnd setzte sich Werner Bergen im Bett auf. »Wieso denn das? Hast du den Wecker nicht gestellt?«

Andrea war schon aus dem Bett. »Das schon. Aber wir sollten ihn lauter stellen. Er piepst ja nur wie eine Maus. Gestern Abend ist es auch sehr spät geworden, da ist es kein Wunder, dass wir verschlafen haben.«

Sie waren beide Ärzte. Andrea hatte als Notärztin am Elisabeth-Krankenhaus den anstrengenderen Dienst, doch auch Werner war als Kinderarzt mit eigener Praxis jeden Tag gefordert. Zudem war er Belegarzt auf der Kinderstation desselben Krankenhauses.

»Wir kommen in fünf Minuten!«, antwortete Andrea der besten aller Schwiegermütter und eilte ins Bad.

Zwanzig Minuten später saß das Ehepaar am Frühstückstisch, den Werners Mutter liebevoll gedeckt hatte. Auch Franzi, die zwölfjährige Adoptivtochter, saß mit leicht verschlafener Miene auf ihrem Platz. Zu ihren Füßen lag Dolly, die lebhafte junge Mischlingshündin, und wartete darauf, dass jemand von ihrer Familie ihr einen Leckerbissen zusteckte. Als es klingelte, schoss sie unter lautem Bellen unter dem Tisch hervor und rannte zur Tür.

Hilde stand von ihrem Stuhl auf und ging, um zu öffnen.

Es war Henriette Fink, die langjährige Putzhilfe der Bergens, die schon fast zur Familie gehörte. Wie üblich wurde sie fröhlich begrüßt und zum Frühstück eingeladen.

»Was gibt es Neues bei Ihnen, Henriette?«, erkundigte sich Andrea.

»Oh, ich habe tatsächlich Neuigkeiten zu erzählen!« Henriette inspizierte das reichhaltige Frühstücksangebot. Sie liebte es, von den Bergens zum Frühstück eingeladen zu werden. Da gab es immer so leckere Sachen. »Ich habe eine sehr nette, junge Wohnungsnachbarin bekommen. Melissa heißt sie, kommt aus München und arbeitet in der Buchhandlung am Alten Markt.« Henriette nahm sich ein Brötchen, schnitt es auf und bestrich es dick mit der feinen Leberpastete. »Ein armes Mäuschen. So jung noch, sehr hübsch und eine EMAH, wie sie erzählt hat.«

»Was ist eine EMAH?«, wollte Franzi wissen.

»Eine Erwachsene mit einem angeborenen Herzfehler«, erklärte Andrea ihr. »Früher hatten solche Kinder keine Chancen, erwachsen zu werden. Das hat sich mit der modernen medizinischen Technik geändert. Mit Operationen kann heutzutage deren Leben verlängert werden.«

»Sie leidet auch an verschiedenen Allergien«, fuhr Henriette fort. »Man muss sich einfach ein wenig um sie kümmern. Aber das tue ich sehr gern. Leider habe ich ja meine Bärbel nicht mehr bei mir.«

Andrea lächelte verständnisvoll. Nachdem Henriettes Tochter und einziges Kind in Kanada lebte und mit ihrem Mann in Toronto eine deutsche Bäckerei betrieb, hatte sie nichts mehr zu bemuttern. Sie lebte allein, seit sie von ihrem trinkenden und Schulden machenden Mann geschieden war.

»Melissa spielt auch sehr schön Klavier«, erzählte Henriette weiter. »Das musikalische Talent hat sie von ihrer Mama geerbt. Sie war Pianistin in einem Jazzlokal hier. Sie starb, als Melissa vier war. Einen Vater gibt es nicht. Deshalb musste sie in einem Heim aufwachsen. Ach, und die vielen Operationen, die Melissa über sich ergehen lassen musste!« Henriette seufzte abgrundtief. »Das arme Kind! Sie tut mir so leid. Aber sie ist auch sehr tapfer.«

»Wo kommt sie denn her?«, fragte Hilde.

»Aus München. Dorthin ist sie mit ihrer Mutter gezogen, als sie noch ganz klein war. Aber ursprünglich stammt sie von hier. Deshalb wollte sie zurück, auch wenn sie kaum Erinnerungen an ihre frühen Kinderjahre haben wird.« Henriette griff nach einem Croissant und lud sich Käsescheiben auf den Teller. »Mit einem Anhänger hat sie ihre Sachen hergebracht. Stellen Sie sich vor, das kranke Kind mit einem Anhänger auf der Autobahn! Wir Hausbewohner haben ihr beim Ausladen und Hinauftragen geholfen. Sie wohnt direkt neben mir.«

»Buchladen am Alten Markt, sagten Sie?« Andrea trank von ihrem Kaffee. »Dort kaufe ich öfter ein. Bei Gelegenheit werde ich mir Ihre EMAH einmal ansehen.«

Henriette zog sich den Honigtopf näher. »Tun Sie das, Frau Doktor. Melissa ist klein und zierlich und hat leuchtend rote Haare, die sie meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Sie werden sie sofort erkennen. Vielleicht können Sie ihr zureden, sich bei Ihnen im Krankenhaus einmal untersuchen und gegebenenfalls operieren zu lassen? Dazu haben ihr die Ärzte in München nämlich geraten, aber Melissa hat zu große Angst. Sie ist schon zu oft operiert worden, ohne großen Erfolg, und will nicht mehr.«

Andrea versprach, mit der jungen Frau ins Gespräch zu kommen. Dann war es für sie auch schon an der Zeit, zum Dienst zu fahren.

***

Jupp Diederichs, der Rettungsassistent im Team von Dr. Andrea Bergen und Fahrer des Rettungswagens, ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.

»Himmel, was für ein Tag!«, stöhnte er. »Wie oft mussten wir zu dieser Massenkarambolage ausrücken? Fünfmal?«

»Du übertreibst mal wieder«, widersprach Ewald Miehlke, sein guter Kumpel und der Rettungssanitäter im Team. »Es waren viermal, stimmt's, Chefin?«

Andrea war ebenfalls erschöpft von den vielen Einsätzen. Tatsächlich waren es fünf gewesen, was sie Jupp schließlich bestätigte.

»Und kein Kaffee mehr in der Dose!«, fügte er hinzu und fand einen weiteren Grund zum Jammern. »Ich denke, ich werde unserer guten Fanny einen Besuch abstatten müssen.«

Fanny Reimers war die Pächterin der Cafeteria und besonders beliebt für ihr leckeres Gebäck. Sicher würde Jupp nicht ohne etwas zurückkehren.

Andrea dagegen zog es vor, ihrem guten Freund und Kollegen Rudolf Benrath, einem der Stationsärzte auf der Chirurgie, einen Besuch abzustatten und einen Kaffee bei ihm zu trinken.

Zuvor wollte sie auf der Intensivstation noch rasch nach einem Patienten sehen. Der fünfzehnjährige Philipp war bei einem Schulausflug in eine Schlucht gestürzt und wäre beinahe im Bach ertrunken. Er hatte zahlreiche Brüche und eine schwere Gehirnerschütterung erlitten.

Schon

am Eingang zur Intensivstation fielen Andrea erregte Stimmen auf. Eine davon gehörte zweifellos Professor Hebestreit, dem medizinischen Direktor des Elisabeth-Krankenhauses.

»Dicke Luft«, begrüßte sie Schwester Gudrun. »Ich musste Professor Hebestreit auffordern, etwas leiser zu schimpfen, sonst wachen unsere Patienten aus ihrem Genesungsschlaf auf.«

»Warum schimpft er? Was ist passiert?«

»Ach, Thiemann kriegt mal wieder einen Anpfiff, den er auch verdient hat«, erklärte die Pflegerin.

»Oh, Thiemann.« Andrea verdrehte die Augen. Den Anästhesisten, der gerade seine Facharztausbildung beendet hatte, konnte sie nicht ausstehen. Niemand konnte den arroganten Kerl leiden, bis auf einige Schwestern, die sich von seinem guten Aussehen blenden ließen. Er war fast so schlimm wie Dr. Anger, der Oberekel von der Chirurgie.

»Verdammt noch mal, können Sie sich nicht mehr daran erinnern, welchen Verpflichtungen ein Anästhesist auf der Intensivstation nachzukommen hat?«, hörte Andrea den Klinikchef jetzt unterdrückt fluchen. »Anästhesisten sind nicht nur für die Schmerztherapie verantwortlich, sie entscheiden auch, welcher Patient in ein künstliches Koma versetzt werden soll, um seine lebenswichtigen Funktionen zu regenerieren. Und was Ihren Einsatz im Operationssaal angeht: Jeder Anästhesist sollte mit dem Magenultraschall vertraut sein, um den Mageninhalt zu beurteilen, wobei zwischen endo- und exogenem Flüssigkeitsgehalt unterschieden werden muss. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Auch vom Krisenmanagement scheinen Sie keine Ahnung zu haben. Und Sie wollen mit Ihrer Fachausbildung fertig sein? Hah, dass ich nicht lache!«

Er lachte tatsächlich und übertönte damit Jens Thiemanns aufgebrachte Widerrede. Einen Moment später marschierte Thiemann zum Ausgang und schoss der Notärztin sowie der Pflegerin wütende Blicke zu.

»Und faul ist er auch«, raunte Schwester Gudrun der Notärztin zu.

Das hatte Andrea Bergen schon von anderer Seite gehört. Jens Thiemann vernachlässigte Patienten, statt sich intensiv um sie zu kümmern, verteidigte sich bei Kritik jedoch damit, dass seine Patienten alles hätten, was sie benötigten.

»Dann gehe ich mal zu Philipp und sehe, wie es ihm geht.« Andrea nickte der Pflegerin zu und ging zu seinem Zimmer.

Der Junge schlief, wurde jedoch wach, als die Notärztin an sein Bett trat. Ein verzerrtes Lächeln erschien auf seinem lädierten Gesicht.

»Nett, dass Sie kommen«, lallte er.

Seine Lippen waren blau und geschwollen. Ein Glück, dass er sich nicht alle Zähne ausgeschlagen hatte.

»Wie geht es dir, Philipp?«

»Bescheuert. Alles Kacke. Dabei wollte ich doch nur ein Foto machen. Dann plötzlich rutschen und fallen ohne Ende über die Steine, bis ich im Bach lag. Hab immer noch höllische Schmerzen. Überall.«

»Die wirst du noch eine ganze Weile haben, bis deine Brüche nach und nach verheilt sind.« Andreas Blick überflog die Anzeigen auf den Überwachungsgeräten, an die der Junge angeschlossen war. Seine Kopfwunde und die Gehirnerschütterung waren am besorgniserregendsten gewesen, doch jetzt sah schon alles viel besser aus. »In ein paar Tagen kannst du auf die Normalstation verlegt werden. Dann kann mit leichter Reha begonnen werden.«

»Reha? Sie machen Witze! Ich kann mich vor Schmerzen ja nicht mal bewegen.«

»Es wird mit jedem Tag besser werden«, tröstete Andrea ihn. Sie sprach ihm noch ein paar aufmunternde Worte zu und ging wieder.

***