Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom - Wolfgang Hübner - E-Book

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom E-Book

Wolfgang Hübner

0,0

Beschreibung

60 Jahre einer politischen Lebensgeschichte. 60 Jahre zwischen APO, Großstadtpolitik mit nationaler Bedeutung und AfD in Deutschland 1965 bis 2025. Wolfgang Hübner hat sich über Jahrzehnte in Frankfurt am Main als parteifreier Kommunalpolitiker engagiert. Mit seinem Antrag für Frankfurts „Neue Altstadt“ ist er der erfolgreichste oppositionelle Stadtverordnete in der Stadtgeschichte seit 1945 geworden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 237

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Widmung

Für meine Liebsten Heidi und Sascha, der gewiss auch im Himmel liest.

Wolfgang Hübner

Nur toteFische schwimmen mit demStrom

Eine politische Biographie der Jahre 1965 bis 2025 zwischen APO und AfD

Engelsdorfer Verlag

Frankfurt • Leipzig

2025

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Angaben nach GPSR:

www.engelsdorfer-verlag.de

Engelsdorfer Verlag Inh. Tino Hemmann

Schongauerstraße 25

04328 Leipzig

E-Mail: [email protected]

Copyright (2025) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © David Brown [Adobe Stock]

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Foto- und Abbildungshinweise stehen bei den jeweiligen Illustrationen.

„Charakteristisch für den deutschen Menschen ist die Schwäche seiner politischen Urteilsfähigkeit“

Rudolf Holzhausen (1889 – 1963), bayerischer Ministerialbeamter und Diplomat

Inhalt

Vorweg

Wurzeln

Jahrgang 1946

Vatersohn

Juli 1954

Unautoritär

Onkel Wilhelm

Lebensspruch

Augstein

Kennedy

Marcuse

Gedicht 1965

Linke Wege

DFU – Deutsche Friedensunion

APO – Außerparlamentarische Opposition

1967

Krahl und Dutschke

Ostern 1968

Achtundsechzig im Rückspiegel

Kriegsdienstverweigerer

Waffenlos

Radikalisierung

Revolutionäre

Gewerkschafter

KPD – Aufbauorganisation

Betriebsrat

Arpo und Antonio

Deutscher Herbst 1977

Grüne Versuchung

Polensolidarität

Zu neuen Ufern

Ernst Bloch

Richard Wagner

Glückliche Zeit

Rechts werden

Gründerzeit

Frankfurt

Absurdes Erbe

Exkurs: Mut

Unternehmen BFF

Exkurs: Programm

Harte Kinderjahre

Exkurs: Medien

Qualwahl

Im Wartestand

Exkurs: Radikalismus

Begegnung Horst Mahler

Exkurs: Freundschaften

Ein Freund, eine Rivalin

Allein im Römer

Exkurs: Parlamentarismus

Politiker

Exkurs: Reden

Selbstbehauptung

Exkurs: Offenheit

Fremde Welten

Exkurs: Sozialstaat

Zwischen den Fronten

Exkurs: Geist

Adorno alternativ

Exkurs: Theorie

Hohmann-Affäre

Exkurs: Vergangenheit

Bombengedenken

Exkurs: Tradition

Zwei nachhaltige Erfolge

Nicht mehr allein

Kämpfe

Exkurs: Persönlichkeit

Kandidat

Aiwanger

Exkurs: Islam

Moscheestreit

Exkurs: Politischer Krieg

Integration oder „Vielfalt“

Alleinstellungmerkmal Niederlage

Exkurs: Kommunalpolitik

Fukushima-Wahl

Exkurs: Private Tragödie

Ermüdung

AfD

Noch einmal Parteimitglied

Episode Parteifunktionär

Abschied vom Römer

Römer-Sprüche

Späte Freuden

Im Unruhestand

Politischer Journalismus

Corona

USA und RUSSLAND

Deutscher in Deutschland

Statt eines Nachworts

Vorweg

Ich habe in meinem Leben zwar lange ein kommunales Mandat, aber niemals ein politisches Amt oder gar Macht gehabt. Warum also meine politische Biographie erzählen? Entscheidend dafür ist die Tatsache, Zeitzeuge wie auch Mitakteur einer Entwicklung gewesen zu sein, die Deutschland in die Misere geführt hat, in der unser Land gegenwärtig ist und perspektivisch bleibt.

Auch wenn ich politisch gegen diese negative Entwicklung im Rahmen meiner begrenzten Fähigkeiten und Möglichkeiten lange gekämpft habe, fühle ich Mitverantwortung und auch ein Maß an Mitschuld als Mitglied einer Generation der Nachgeborenen, die zu den heutigen Zuständen in Deutschland mehr beigetragen hat, als die sogenannten „Boomer“-Jahrgänge anderen und sich selbst zugestehen wollen.

Meine Schilderung sei jedoch nicht nur Anklage oder Selbstanklage. Sie soll vielmehr Zeugnis von den vielen Stationen eines politischen Lebens zwischen 1965 und 2025 geben, also einer Zeitspanne von 60 Jahren. Manche dieser Stationen waren nicht unwichtig für das, was nun negative Gegenwart ist.

Doch im damals erlebten Geschehen war das noch verborgen. Da war ich eingebunden und auch geblendet von Realitäten wie Illusionen, die heute befremdlich erscheinen mögen, aber in der Vergangenheit auch für mich nicht befremdlich waren. Meine politische Biographie umfasst 60 Jahre deutsche Geschichte, in der ich mich bewegen musste und die ich ein wenig mitbeeinflussen wollte.

Was ich zu erzählen habe, ist keine Siegergeschichte. Die könnte allerdings auch kein anderes Mitglied meiner Generation guten Gewissens erzählen. Wir sind mit Blick auf die Entwicklung unseres Landes allesamt Verlierer. Doch wenn es stimmt, dass sich aus Niederlagen mehr lernen lässt als aus Siegen, dann mag meine politische Biographie Sinn und Nutzen sowie hoffentlich auch einen Unterhaltungswert für die Leser haben.

Wurzeln

Niemand wird als politischer Mensch geboren. Jeder aber ist der Politik ausgeliefert, also der Regelung öffentlicher menschlicher und staatlicher Beziehungen. Bei den meisten Menschen bleibt das ohne größere Folgen. Denn sie sind an der aktiven Gestaltung von Politik nicht interessiert. Das überlassen sie vielmehr Parteien und deren Politikern. Von denen erwarten und erhoffen sie Zustände, in denen ein gutes, friedliches Leben möglich ist. Politik ist für die Mehrheit der inzwischen stark überalterten deutschen Staatsbürger eine mehr oder weniger unterhaltsame Aufführung, die sie als Zuschauer verfolgen und als Wähler mitbestimmen zu können glauben.

Wie aber kommt es, dass sich bei einer kleinen Minderheit von Menschen eine oft lebenslange Passion für Politik entwickelt? Bei manchen wird diese Prägung von einem bestimmten Erlebnis ausgelöst, weil zum Beispiel die individuelle Existenz an irgendeinem Punkt in irgendeiner Weise mit der Politik, meist unangenehm, in Kontakt oder Konflikt kommt. Es gibt eben nicht nur religiöse, sondern auch politische Erweckungserlebnisse.

Und dann gibt es diejenigen Zeitgenossen, die in politischer Betätigung eine Ruhm verheißende Selbstbestätigung oder eine gut honorierte Existenzgrundlage suchen. Haben sie das eine oder andere in der Politik gefunden, müssen sie keineswegs auch ernsthaft politische Menschen sein.

Was meine eigene Politisierung angeht, beruhte sie weder auf einem Erweckungserlebnis noch auf der Suche nach Ruhm oder sozialer Absicherung. Mein Weg zu einem lebenslangen politischen Menschen vollzog sich in Schritten, Einflüssen und Begegnungen unterschiedlicher Bedeutung. Einige davon schildere ich, weil sie wesentlich für meine Entwicklung waren.

Jahrgang 1946

Die meisten der rund 922.000 Kinder, die in meinem Geburtsjahr 1946 in Deutschland zur Welt kamen, wurden nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs gezeugt. Bei mir muss das irgendwann im Spätherbst 1945 gewesen sein. Mein Vater, körperlich unbeschädigt, war seinerzeit erst kürzlich aus amerikanischer Gefangenschaft zu meiner Mutter im kriegszerstörten Frankfurt am Main zurückgekehrt. Das Land lag am Boden, die Stadt in Trümmern, die Zukunft war völlig ungewiss.

In dieser Situation ein Kind nicht unabsichtlich zu zeugen, wie das im Fall meiner Eltern geschehen sein soll, beweist Hoffnung und Lebenswillen. Unter den damaligen Umständen in Deutschland war das im weitesten Sinne sogar eine politische Tat. Ohne diese hätte ich keine Möglichkeit gehabt, ein langes Leben zu beginnen und im Alter meine politische Biographie zu erzählen. Ich tue das auch in dankbarer, liebevoller Erinnerung an meine Eltern Erna und Heinrich, die inmitten von Ruinen den Mut zu mir hatten.

Jenseits des Atlantiks wurden 1946 unter völlig anderen Umständen gleich drei spätere, noch allesamt lebende Präsidenten der USA geboren: Im Juni Donald Trump, im Juli George W. Busch und im August Bill Clinton. Sie waren Siegerkinder, ich ein Verliererkind im besiegten Deutschland. Auch wenn sich seit 1946 vieles getan hat – selbst fast 80 Jahre später hat sich an dieser Situation nichts geändert.

Vatersohn

Es war mein Vater, der viel für meine Entwicklung zu einem politischen Menschen beigetragen hat. Nicht, dass er das angestrebt hätte. Ein solches Motiv lag ihm, einem nüchternen selbständigen Bäckermeister, fern. Er bewirkte das vielmehr auf unabsichtliche Weise. Zum Beispiel damit, dass er nach der schweren Tagesarbeit, die für ihn schon tief in der Nacht begann, die Zeitung las, sich interessiert am Lauf der Welt zeigte und darüber auch sprach. Bücher las er hingegen nicht, weder Romane noch solche über Politik. Für literarische Fiktionen hatte er keinen Sinn, über Politik hatte ihn sein Leben gelehrt.

Denn mein Vater wurde 1910 geboren und starb 1997. In diesen 87 Jahren fast des gesamten 20. Jahrhunderts hat er alle Brüche und Katastrophen der deutschen Geschichte miterlebt, miterlitten und mit Glück auch überlebt: Geboren als Sohn eines Zimmermanns noch im Kaiserreich, war er bei dessen Zusammenbruch 1918 Schüler in der Volksschule seines Heimatdorfes Florstadt in der fruchtbaren, dörflich geprägten Wetterau nördlich von Frankfurt. Mit gerade einmal 14 Jahren wurde er Bäckerlehrling in einem Frankfurter Arbeiterviertel. Er absolvierte seine Gesellenprüfung, spielte am Sonntag Fußball im Verein und wählte bis zum Ende der Weimarer Republik die SPD.

Als 1933 die Hitlerei in Deutschland begann, schwenkte er keine Fahnen mit dem Hakenkreuz. Das tat er auch danach nicht. Doch er fügte sich in die neuen Machtverhältnisse. Nach bestandener Meisterprüfung beschloss er mit meiner Mutter, die aus dem gleichen Dorf stammte und den gleichen Nachnamen hatte, die Gründung einer eigenen kleinen Bäckerei. Sie wurde einen Tag nach der Hochzeit 1937 in der Frankfurter Innenstadt eröffnet. Doch bald schon begann der Krieg, mein Vater wurde eingezogen und überstand die nächsten fünf Jahre unverletzt als Soldat erst in Frankreich, dann in Russland. Meine Mutter verkaufte derweil die Backwaren, die von einer lokalen Großbäckerei geliefert wurden. In vielen angstvollen Bombennächten saß sie mit den Nachbarn im Schutzraum des Kellers. Eines der unverzeihlichen Versäumnisse meines Lebens ist, mit meiner bereits 1978 verstorbenen Mutter nicht über ihr Erleben und Empfinden jener schweren Jahre gesprochen zu haben.

1945 geriet mein Vater nach den Wirren des Rückzugs in amerikanische Gefangenschaft. Er konnte aber schon im Frühherbst des Jahres zurück nach Frankfurt zu meiner Mutter. Das Haus mit der Bäckerei und der Wohnung meiner Eltern war nicht zerstört worden. In den Jahren des sogenannten „Wirtschaftswunders“ entwickelte sich das Geschäft mitten im Bankenviertel Frankfurts prächtig, verlangte aber alle Kraft von meinen Eltern.

Gleichwohl schenkten sie mir und meinem jüngeren Bruder glückliche und sichere Kindheitsjahre. Das war (und ist noch immer) das beste Kapital fürs Leben. Was auch zu diesem zählt, waren Vaters Erzählungen aus seiner Jugend und den Erlebnissen im Krieg. Über diese berichtete er mir viele Abend vorm Einschlafen besonders ausführlich, wenn ich zu ihm sagte: „Papa, erzähl vom Krieg!“ Darin unterschied er sich von vielen, ja wohl von den meisten Vätern meiner Generation.

Er sprach nicht von Heldentaten, denn die hatte er nicht vollbracht. Sondern erzählte vom Kampf ums nackte Überleben, vom Leiden und Sterben der weniger glücklichen Kameraden, von der schönen Zeit als Besatzer in der Bretagne wie aber auch von unheilvollen deutschen Zerstörungen in Russland. Und welcher Vater sagte damals zu seinem Sohn: „Wolfgang, es war schon besser, dass wir diesen Krieg verloren haben“?

Mein Vater war kein Widerstandskämpfer. Er hat das, was damals als Pflicht galt, erfüllt. Aber er hat auch nichts getan, was ihn und mich in späteren Jahren belasten konnte. Als ich immer wieder damit konfrontiert wurde, wie Altersgenossen mit der echten oder vermuteten Schuld ihrer Väter rangen und haderten, wurde mir dankbar bewusst, frei von dieser Last zu sein. Denn es macht einen bedeutsamen seelischen Unterschied, konkret mit familiären Verstrickungen in die dunkelsten Jahre unserer nationalen Geschichte konfrontiert zu sein oder sich distanzierter mit diesem unseligen Erbe auseinandersetzen zu können.

Es gab einige Schlüsselerlebnisse, die mir die Gewissheit gaben, dass mein Vater in jenen Jahren anständig geblieben ist: Zum Beispiel eine Familienreise 1956 (!) zu dem Ort und Menschen in der Bretagne aus der Besatzungszeit 1940/41. In dem kleinen Dorf der damaligen Stationierung meines Vaters wurden wir herzlich empfangen. In dem Zimmer, in dem ich mit meinem jüngeren Bruder schlief, hörte ich, wie die Erwachsenen am Abend nach dem Essen fröhlich gemeinsam das seinerzeit in Frankreich wie Deutschland populäre Lied „Anneliese, ach Anneliese“ sangen. Nur wenige Jahre nach dem Krieg war das alles andere als selbstverständlich.

Und ich erinnere mich an die Begegnung mit einem älteren jüdischen Paar, das während der NS-Zeit aus dem Wetteraudorf Florstadt nach Amerika vertrieben worden war. Sie trafen bei einem Besuch in ihrer alten Heimat zufällig meinen Vater und mich in einem Kurbad. Es war für beide Seiten eine sehr emotionale Begegnung mit Tränen. Ich habe das nie vergessen.

Unter den vier Brüdern meines Vaters, die allesamt den Krieg ohne größere Schäden überlebten, war übrigens keiner, der sich mehr als unbedingt notwendig mit der Hitlerei eingelassen hatte.

Bei den bis in die heutige Zeit reichenden, längst auch neurotischen Diskussionen um Verhalten und Schuld der damaligen Deutschen hat mich dieses Wissen unbefangener gemacht als andere.

Für mich gab und gibt es keine „Kollektivschuld“ oder auch „ewige Verantwortung“. Deshalb bin ich allergisch gegen alle offenen oder heimlichen Bestrebungen, einen Schuldkult zu pflegen und gar noch politisch zu instrumentalisieren. So wenig es ein Vergessen der Nazizeit geben kann, so wichtig ist es, nicht länger in deren Bann zu stehen.

Ich bin dankbar für diesen Vater.

Juli 1954

An einem nassfeuchten Sonntag in Frankfurt, der auch im fernen schweizerischen Bern verregnet war, begannen für mich knapp Achtjährigen gleich drei lebenslange Beziehungen. Mein Vater nahm mich an jenem 4. Juli 1954 mit, um in einer völlig überfüllten Gaststätte nahe der zentralen Hauptwache das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zwischen den hochfavorisierten Ungarn und dem Überraschungsfinalisten aus der Bundesrepublik Deutschland im Fernsehen zu verfolgen. Es war für uns beide das allererste Fernseherlebnis. Nur ganz wenige Deutsche hatten 1954 schon ein solches Wundergerät.

Zwar war der Bildschirm viel zu winzig, um allen Besuchern der Gaststätte gute Sicht zu bieten. Doch das störte am Ende niemand, denn die DFB-Mannschaft um Kapitän Fritz Walter und den Siegtorschützen Helmut Rahn gewann das dramatische Spiel im Berner Wankdorf-Stadion sensationell mit 3:2 und wurde Weltmeister. In der Menschenrunde im Raum herrschte nach dem ersehnten Schlusspfiff des Schiedsrichters große, doch nicht lautstarke Freude. Stärker noch war wohl ein Gefühl der Verblüffung: Diesen sportlichen Triumph hatte fast niemand erwartet.

Als ich mit Vater den kurzen Heimweg absolvierte, gab es keine Hupkonzerte, wurden keine Fahnen geschwungen. Die ungeheure Bedeutung dieses Ereignisses war noch kaum ins Bewusstsein der Menschen gedrungen. Mein Vater wirkte still und freudig. Er war damals mit 44 Jahren genau in der Mitte seines Lebens, das bis dahin wenige positive nationale Momente gehabt hatte. Er wie auch die anderen Passanten mit den beglückten Gesichtern konnten in dieser Stunde nach dem Sieg nur ahnen, gerade die eigentliche Wiederauferstehung der Deutschen nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg erlebt zu haben.

Für mich war und bleibt der 4. Juli 1954 das zentrale, immer noch gut in Erinnerung gebliebene Geschehen meiner Kindheit: Das erste Fernseherlebnis, der Beginn einer langen Liebe für den Fußball, die deutsche Nationalmannschaft und selbstverständlich auch für die örtliche Frankfurter Eintracht. Das wichtigste Ereignis jenes Tages war jedoch die erste positive Begegnung mit meiner nationalen Identität, mit dem Deutschsein und Deutschland als Heimat.

Der Fußballsieg über Ungarn ist als „Wunder von Bern“ längst ein nationaler Mythos. Alle damaligen Spielerweltmeister und der legendäre Trainer Sepp Herberger sind tot, aber nicht vergessen. Noch immer kann ich die damalige Mannschaftsaufstellung sofort aus dem Gedächtnis abrufen. Ich bin froh und auch ein wenig stolz, diesen so schönen, in seinen politischen und psychologischen Nachwirkungen nicht zu unterschätzenden Tag als Kind miterlebt zu haben.

Natürlich war ich auch dabei, als die Weltmeister bald darauf im Triumphzug an Abertausenden begeisterten Menschen vorbei durch Frankfurt zogen. Wir wohnten nur wenige Meter von der Strecke entfernt, ich hatte aber große Mühe, die Helden in dem Trubel zu erblicken. Monate später präsentierte Fritz Walter in einer Frankfurter Buchhandlung seine Erinnerung „3:2“. Vater kaufte es, und ich konnte ziemlich aufgeregt dem Fußballidol bei dieser Gelegenheit die Hand geben. Fritz Walter mit seinem pfälzischen Dialekt wirkte herzlich und ohne jede Arroganz des Berühmten. Ich bekam auch ein Autogramm, das wie das Buch noch immer in Ehren gehalten wird.

Als Fritz Walter 2002 während der Fußballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea verstarb, war ich als journalistischer Berichterstatter bei der öffentlichen Trauerfeier auf dem Betzenberg in Kaiserslautern dabei. Ich hätte mir diesen Termin von keinem Kollegen wegnehmen lassen. Die Helden der frühen Jugend, ob die von Karl May oder die des Fußballs vergisst man nicht.

Der verregnete Julisonntag 1954 hat meinen weiteren Lebensweg auch politisch mitgeprägt: Deutschland, das war etwas, über das man sich auch freuen konnte.

Unautoritär

Als ich vier Jahre alt war, schickten mich meine Eltern, gewiss mit den besten Absichten, in einen Kindergarten. Schon zwei Tage später war ich wieder draußen, denn ich ertrug es dort nicht. Ob das damalige schnelle Nachgeben der Eltern gegenüber meiner Kindergartenallergie richtig oder falsch war, lässt sich nachträglich nicht mehr entscheiden.

Ein großes Problem war damit jedenfalls nicht verbunden, denn die Bäckerei meiner Eltern und unsere Wohnung waren nur durch zwei Stockwerke im Haus getrennt. Und seinerzeit konnten Kinder noch unbesorgt auf den Straßen oder benachbarten Kriegsruinen spielen. Zudem hatte ich das Glück, dass meine Eltern wegen des Geschäfts einfach keine Zeit hatten, erzieherisch mehr als unbedingt notwendig tätig zu werden. Ich wuchs also versehentlich ziemlich unautoritär auf.

Was bei meinem Protest gegen den Kindergarten erstmals erkennbar wurde, war der Widerstand gegen alles, was ich als Zwang empfinde. Seinerzeit mag meine Reaktion übertrieben gewesen sein, doch war meine Kinderseele offenbar verletzt. Lebenslang geblieben ist eine starke Ablehnung von Zwang und angemaßten Autoritäten. Auch in meinem politischen Leben hat das eine wichtige Rolle gespielt.

Von der wenig ruhmreichen Schülerkarriere auf dem Gymnasium ist mir ein Deutschaufsatz in Erinnerung geblieben, der vor der ganzen Klasse vorgelesen wurde. Nach Meinung des Lehrers, ein jovialer Dr. Brückner, war dieser Aufsatz außergewöhnlich: Die Aufgabe war, etwas zum Thema „Beatles“ zu schreiben. Es muss also wohl das Jahr 1963 gewesen sein. Ich wählte die Überschrift; „Warum ich den Beatles nicht zujubelnd würde“ und erläuterte dann, mich von der damaligen Hysterie um die Band nicht anstecken lassen zu wollen.

Natürlich fand auch ich die Beatles toll. Doch mochte ich Distanz halten. Ich konnte noch nicht ahnen, dass sich schon früh meine Unwilligkeit abzeichnete, ein brauchbarer Parteimann zu werden. Denn dazu ist die Bereitschaft notwendig, bei der gewünschten Gelegenheit die Hand zu heben und auch dann zu Ovationen für die Parteiführung aufzustehen, wenn die Überzeugung fehlt, das tun zu sollen.

Soweit war es aber noch nicht. Erst einmal musste ich mich in die Zwänge der Schule und der folgenden Ausbildung als Verlagskaufmann einfinden. Zwar brachte ich meine Lehrzeit erfolgreich hinter mich. Aber die Frankfurter Societäts-Druckerei, in der ich in den drei Ausbildungsjahren nicht ohne Konflikte die verschiedensten Abteilungen absolvierte, war sicher ebenso froh wie ich bei Beendigung dieser Etappe meines Lebens.

Dabei bin ich keineswegs grundsätzlich gegen Autorität und Autoritäten. Wenn ich solche nicht als angemaßt oder diktatorisch empfinde, war und bin ich – ob in der Politik, im Beruf oder gesellschaftlichen Leben – bereit, diese anzuerkennen und mich auch gegebenenfalls unterzuordnen. Allerdings sind meine Ansprüche darauf, das zu tun, im Laufe der Jahre immer größer geworden. In der Konsequenz war das auch in der Politik mit Momenten und Phasen der Einsamkeit verbunden. Ich musste diesen Preis recht oft zahlen. Meiner Seele hat er allerdings nicht geschadet.

Onkel Wilhelm

Ich mochte 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, als ich auf dem Dachspeicher meiner Großeltern einen Fund machte, der mein politisches Leben mitbestimmt hat. Das Haus befand sich im Heimatdorf meiner Eltern in der Wetterau. Dort verbrachte ich bei der Großmutter und dem blinden Stiefgroßvater viele Wochen in der Schulsommerferien. Die Blindheit des alten, von mir sehr geliebten Mannes war die Folge einer Kriegsverletzung im Ersten Weltkrieg. In dem hatte Großmutter ihren ersten Mann bei den Schlachten in Frankreich verloren. Meine kurz nach Kriegsbeginn gezeugte Mutter hat der Gefallene ebenso nie gesehen wie die Tochter ihren Vater.

Das kleine Fachwerkhaus im Dorfinnern mit großer Scheune, Schweinestall, Misthaufen, dem Hundemethusalem „Terry“ und einem Garten, der an der durchs Dorf fließenden Nidda endete, war ein Kinderparadies. Als ich den Fund machte, wusste ich schon von der Trauer der Großeltern um ihren einzigen Sohn Wilhelm. Der hatte sich im April 1941 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und wurde der Marine zugeteilt. Als gelernter Schlosser war er Maschinengefreiter auf einem Kriegsschiff. Am 31. Dezember 1942, mein Onkel war noch nicht einmal 20 Jahre alt, versank er mit dem Schiff nach einem Seegefecht irgendwo im Nordmeer. In seinem Wehrpass, den ich noch besitze, ist der Name des Schiffes und dessen Standort beim Untergang nicht angegeben.

Dieser Wehrpass sowie Briefe und Dokumente des toten Onkels waren der Inhalt eines ledernen Arztköfferchens, das mir beim Durchstöbern des verstaubten, mit Spinnennetzen durchwebten Dachspeichers auffiel. Neugierig öffnete ich das Köfferchen und las die letzten Briefe, die mein Onkel seinen Eltern geschickt hatte, bis er im kalten Meer einen schrecklichen Soldatentod erlitt.

Was ich las, traf mich trotz meiner Jugend tief ins Herz. Und ist darin ein Stich geblieben: Seine Schilderung, Schokolade aufgespart zu haben, die er beim nächsten Urlaub mitbringen wollte. Seine optimistische Gewissheit, die Gefahren des Krieges zu überstehen. Seine Sorge um die Eltern und die Stiefschwester in Frankfurt, meine spätere Mutter, und manches mehr. Das zeugte von einer guten jungen Seele.

Ein Stich in meinem Herz bleibt das auch deshalb, weil sowohl das Köfferchen wie auch die so anrührenden Briefe darin nach dem Tod der Großeltern verschwunden sind. Ich war damals leider noch zu unbedacht, um das einzige Erbe, was von diesem so kurzen Leben geblieben war, vorsorglich zu sichern und zu verwahren.

Alles was blieb, ist der Wehrpass mit Adler und Hakenkreuz auf dem Umschlag, darin das Bild und die Unterschrift des Onkels sowie einige Angaben zu seiner Marinelaufbahn bis zum Tod. Erhalten ist auch ein blauer Hefter für die hinterbliebenen Eltern mit Schiffsbildern und markigen Zutaten von Politikern und Dichtern. Auf dem Umschlag ist in Goldschrift zu lesen: „Ihr starbt, damit die Heimat nicht verdorben / Wir leben, daß Ihr nicht umsonst gestorben“.

Mein Verhältnis zu Kriegsdienst und Militär ist lebenslänglich von diesem Speicherfund geprägt worden. Ich wollte unter keinen Umständen und keiner Regierung das Schicksal des Onkels Wilhelm erleiden. Meine spätere Kriegsdienstverweigerung hatte in der Entdeckung des Köfferchens ihren ältesten Grund.

Lebensspruch

Religiöse Überzeugungen oder Motive haben weder meine politische Entwicklung oder Tätigkeit geprägt. Ich komme aus einer Familie, die Mitglied der evangelischen Amtskirche war. Selbstverständlich wurde ich getauft und sagte als kleiner Junge auch brav zwei Kindergebete vorm Einschlafen auf. Doch über Gott und den Glauben wurde daheim nicht gesprochen. Gleichwohl wuchs ich noch in einer kulturell christlich geprägten Gesellschaft auf. Mit 15 Jahren wurde ich in der Frankfurter Nicolaikirche auf dem Römerberg konfirmiert. Ich erinnere mich an ein großes Familienfest. Die gesamte dörfliche Verwandtschaft war dazu nach Frankfurt gekommen

Vor dem feierlichen Anlass forderte der Gemeindepfarrer, ein gestrenger Mann der Kriegsgeneration, alle Konfirmanden auf, sich einen Bibelspruch auszuwählen. Uns wurden dazu etliche Zitate angeboten. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich mich für einen Spruch aus dem Matthäus-Evangelium (16,26) entschied. Doch er wurde mein Lebensspruch: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele“.

Glücklicherweise war ich nie in der Lage, die ganze Welt gewinnen zu können. Aber so ist das Wort von Jesus auch nicht zu verstehen: Jesus mahnt die Gläubigen, in all den Turbulenzen und Kämpfen des Lebens nicht ihr Seelenheil zu vergessen oder gar zu opfern. Ich habe den Spruch für mich so verstanden, immer ich selbst zu bleiben, zu meinen tiefsten Überzeugungen treu zu stehen.

In der Politik hat mich das daran gehindert, nach Macht zu streben, was man durchaus als eine Art ‚Behinderung‘ werten kann. Denn wer politisch etwas Wesentliches bewirken, verändern will, muss Macht anstreben, das auch zu können. Ich habe Menschen, die das besser und ungehemmter als ich tun konnten, nie pauschal verurteilt. Ich habe sie aber daran gemessen, wie sie die Macht gebrauchen oder missbrauchen.

Manchmal, das muss ich gestehen, habe ich mit meiner politischen Behinderung gehadert, manchmal wollte ich sie überwinden. Doch stets, wenn ich dieser Versuchung nachgeben mochte und vielleicht auch konnte, waren die Umstände zur Realisierung dagegen. Im Rückblick grämt mich das nicht, denn es war wohl der mir bestimmte Weg. Und ich kann zumindest in politischer Hinsicht guten Gewissens sagen, meinen Konfirmationsspruch ernst genommen zu haben.

Zum bekennenden christlichen Glauben habe ich allerdings nie gefunden. Wie Millionen andere Deutsche bin ich ein sogenannter „Kulturchrist“, der schon lange mit der evangelischen Amtskirche gebrochen hat. Deren gegenwärtiger erbärmlicher Zustand als Vorfeldorganisation der Grünen war zum Zeitpunkt meines Austritts zwar noch nicht abzusehen. Doch hatte ich schon immer ein gewisses Gespür, mich rechtzeitig von Institutionen oder Organisationen zu trennen, bevor es mit diesen bergab ging.

Bekennender Atheist war ich gleichwohl nur während der radikalsten linken Phase meines Lebens. Heute glaube ich daran, dass es etwas Größeres gibt, das wir Menschen nicht erkennen und verstehen können, uns aber zu Demut mahnt. Die Christen nennen es Gott, ich habe keinen Namen dafür. Gleichwohl habe ich keine Schwierigkeit, das Vaterunser zu beten, wenn sich das bei einer Hochzeit oder Trauerfeier ergibt. Eine Vermengung von Politik und Religion lehne ich allerdings in jeder Form oder Variation ab. Es kommt einfach nichts Gutes dabei heraus.

Augstein

Als im Herbst 1962 die sogenannte „SPIEGEL-Affäre“ die Bundesrepublik bewegte, war ich mit 16 Jahren noch zu jung und mit ganz anderen alterstypischen Problemen unterwegs, um mich damit näher zu beschäftigen. Doch nahm ich das für mich ziemlich undurchsichtige Geschehen schon deshalb wahr, weil ich den „Spiegel“ kannte und ab und zu auch in ihm las.

Das Magazin gehörte nämlich zu den Publikationen eines wöchentlichen Lesezirkels, den meine Eltern abonniert hatten. Der hatte auch bekannte Illustrierten wie „Quick“, „Stern“ oder „Kristall“ im Angebot. Was mich am „SPIEGEL“ faszinierte, war seine Textlastigkeit. Im Gegensatz zu den Illustrierten hatte er wenig Bilder, das wirkte ernsthaft und glaubwürdig auf mich. Und so viel hatte ich auch schon begriffen: Die Tendenz in den Berichten war gegen die übermächtige Regierungspartei CDU und ihre bayrische Schwester CSU samt Franz-Josef Strauß gerichtet.

Die Affäre 1962 war aus späterer Sicht eine wichtige Bruchstelle in der Nachkriegspolitik der zu Wohlstand und Wiederbewaffnung gekommenen Bundesrepublik. Erstmals geriet der von der CDU dominierte Staat ins Trudeln, das Ende der Adenauer-Ära kündigte sich an. Das war mir seinerzeit natürlich noch nicht bewusst. Doch hatte ich gespürt, dass politische Aufregung herrschte. Politik war also etwas, das Menschen bewegte und in Konflikte stürzte. Das gefiel mir.

Nicht lange danach stieß ich in einem Antiquariat, in dem ich mich mit alten Science-Fiction-Heftromanen versorgte, auf ein kleines, leicht beschädigtes Büchlein von einem Autor namens Jens Daniel und dem Titel „Deutschland – ein Rheinbund“. Wie ich später herausbekam, war der Name ein Pseudonym des „SPIEGEL“-Herausgebers Rudolf Augstein. Das Büchlein enthielt Kommentare Augsteins aus den Jahren 1948 bis 1953. Ich las damals mit Erstaunen, wie kritisch sich der Autor mit der Politik von Kanzler Konrad Adenauer und auch den westlichen Alliierten auseinandersetzte. Jens Daniel alias Augstein wollte sich nicht mit der Teilung Deutschlands abfinden, klagte aber Adenauer und dessen Partei CDU an, genau das zu tun.

Da im August 1961 die Mauer in Berlin errichtet worden war, was mir als Fernseherlebnis immer noch eindringlich in Erinnerung ist, taten sich bei der Lektüre von „Deutschland – ein Rheinbund“ ganz neue Zusammenhänge für mich auf. Dass meine Heimat ein besetztes Land mit beschränkter Souveränität war, hatte mich bislang weder gestört noch sonderlich interessiert. Doch Augsteins Kommentare machten die Problematik dieser Situation deutlich. Meine Sicht auf die deutschen Verhältnisse wurden davon langfristig beeinflusst. Das Büchlein hat übrigens immer noch einen Platz in den Bücherregalen unserer Wohnung.

Rudolf Augstein, der sich selbst als „Patrioten“ bezeichnete, hatte 1989/90 in der Debatte um die Wiedervereinigung zu meiner Freude klar Partei für die deutsche Einheit bezogen und damals sogar gegen den Chefredakteur des „SPIEGEL“ Front gemacht.

Ich habe Augstein kurz vor seinem Tode als schon sehr kranken, erschreckend gebrechlich wirkenden Mann bei den Bayreuther Festspielen gesehen. Gut, dass er nicht mehr miterleben musste, wie journalistisch und politisch sein „Kind“ jämmerlich heruntergewirtschaftet worden ist…

Kennedy

Es gibt Tage, die auch nach vielen Jahren noch ganz präsent sind. Tage wie der 22. November 1963, in Frankfurt ein grauer, regnerischer Tag. Ich war am Abend mit Anzug und Krawatte in die Tanzschule Günther gegangen, um weiter am Anfängerkurs teilzunehmen. Damals interessierten mich Siebzehnjährigen allerdings weniger Foxtrott oder Walzer, sondern mehr der Nahkontakt mit dem anderen Geschlecht.

Der Kurs hatte noch nicht begonnen, ich musste noch etwas im Büro klären. Plötzlich kam eine Assistentin des Tanzlehrers aufgeregt ins Büro: „Die haben den Kennedy erschossen!“ Sie habe das gerade im Radio erfahren, genaueres sei noch nicht bekannt. Nach dieser so sensationellen wie schockierenden Nachricht konnte nicht mehr flott getanzt werden. Ich wurde beauftragt, zum Kurs zu eilen, um den anderen Teilnehmern mitzuteilen, warum sie nach Hause gehen sollten.

Es gab in dem Tanzsaal mit vielen Spiegeln ein Mikrophon, hinter das ich mich stellte und die schlimme Nachricht kundgab. Alle waren zutiefst erschrocken, ein Mädchen begann zu weinen. Dann verließen wir gedrückt die Tanzschule und verfolgten das weitere Geschehen am Fernsehapparat oder im Radio. In der Stadt war es an diesem Abend des 22. November 1963 sehr still.

Für mich war die Meldung vom Attentat auf den glamourösen amerikanischen Präsidenten sofort verbunden mit dem Erlebnis jenes Tages vor einigen Monate, als Kennedy Frankfurt besuchte. Damals, es war am 25. Juni 1963, jubelte ihm eine riesige, ehrlich begeistert Fähnchen mit dem US-Banner schwenkende Menschenmenge zu, als der Präsident im offenen Wagen an der Seite von Bundeskanzler Ludwig Erhard und dem langjährigen hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn zur Paulskirche fuhr, um dort am historischen Ort der deutschen Nationalbewegung eine Rede zu halten.

Mit jugendlicher Rücksichtslosigkeit hatte ich mir in der Menschenmenge am Römerberg einen einigermaßen guten Sichtplatz erobert und konnte so kurz auf das offene Auto mit den drei Politikern blicken. Die Menschenmassen kamen gefährlich in eine Wellenbewegung, als Kennedy auf dem Römerberg eine kurze Rede hielt, die er mit einem „Dankeschoin“ beschloss. Dann nahm er das Bad in der Menge, alle Hände streckten sich ihm entgegen. Nachdem er in die Paulskirche entschwunden war, löste sich die beglückte Masse in dem Gefühl auf, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben.