Oneway – Berlin-Gaza. Als Deutsche im Gazastreifen - Kerstin Winge - E-Book

Oneway – Berlin-Gaza. Als Deutsche im Gazastreifen E-Book

Kerstin Winge

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Beschreibung

Die Liebe zu Said und die Hoffnung auf privates Glück führen Kerstin Mitte der neunziger Jahre aus dem Osten Berlins in den Gazastreifen. Zusammen mit ihren Söhnen versucht sie, das Leben in einer fremden Kultur und in einer der gefährlichsten Regionen der Welt zu meistern. Der nicht enden wollende Krieg um Land und Religion bestimmt das alltägliche Leben. Durch Kerstins Augen erfahren wir von ihrem täglichen Kampf um das Überleben der Familie. Sie schwankt zwischen der Hoffnung auf bessere Zeiten und der Verzweiflung angesichts einer frauenfeindlichen Männerwelt. Nach und nach verliert sie die Kontrolle über ihr Leben. Und schließlich trifft sie eine Entscheidung, die jeder Mutter das Herz zerreißt ... Gestützt auf ihr Tagebuch verarbeitet sie die Zeit im Gazastreifen, ihre Gedanken und Gefühle, zu einer authentischen Erzählung aus dem Nahen Osten.

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Kerstin Winge

Oneway – Berlin-Gaza

Als Deutsche im Gazastreifen

Winge, Kerstin: Oneway – Berlin-Gaza. Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-649-0

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-648-3

Print: ISBN 978-3-86282-647-6

Lektorat: Tamy Stodollik, Lea Oussalah, acabus Verlag

Satz: Lea Oussalah, acabus Verlag

Cover/Karte Gazastreifen: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © Kerstin Winge, privat; Struktur: © pixabay.com

Designed by rawpixel.com/freepik.com

Fotos: © Kerstin Winge, privat

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Berlin-Lichtenberg von 1988 bis 1994

An einem milden Spätnachmittag im Oktober 1988 saß ich mit drei meiner Arbeitskolleginnen im Café Moskau, weil ich mit ihnen meinen 23. Geburtstag feiern wollte. Das Café befindet sich auch heute noch am U-Bahnhof Schillingstraße, nicht weit von meiner damaligen Arbeitsstelle, dem Kunstgewerbegeschäft Kunst im Heim. Aus diesem besonderen Nachmittag wurde bald Nacht, die Musik rhythmischer, das Licht schummriger, die Getränke schmeckten besser und wir lachten lauter. Auch die Gestik und das Gehabe der Männer um uns herum wurden eindeutiger.

Irgendwann spürte ich seine Blicke und sah hinüber. Hitze stieg mir ins Gesicht und ich war verwirrt: Er unterhielt sich mit seinen Begleitern, nippte dabei an seinem Glas und blickte immer wieder zu mir. Direkt in meine Augen. Im Schein der Barbeleuchtung fiel mein Blick auf seine weinrote Krawatte, an der etwas Silbernes blitzte. Neben seiner geschmackvollen Kleidung konnte ich zwischen seinen welligen Haaren vereinzelte graue Haarsträhnen schimmern sehen. Mein Herz stolperte und meine Kolleginnen waren von da an unwichtig.

Nach einer halben Stunde saß er neben mir und sah mich interessiert an. Ich war so aufgeregt in seiner Nähe! Seine Deutschkenntnisse waren unvollständig und Begriffe, die er nicht kannte, ersetzte er einfach mit englischen Wörtern. Er sagte, dass er Said heiße, 33 Jahre alt sei und aus dem Gazastreifen komme. Noch nie davon gehört, wo ist das denn?, fragte ich mich erstaunt. Doch die Musik war zu laut, um Näheres über ihn zu erfahren, wir wollten einfach nur tanzen und uns dabei in die Augen schauen. Gegen zwei Uhr fiel ich ins Bett, immer noch aufgewühlt vom aufregenden Abend und den Duft seines Aftershaves in meiner Nase. Ehe ich einschlief, hörte ich in meinem Ohr noch das letzte Lied, zu dem wir eng getanzt hatten.

Er wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen, nicht am nächsten und auch nicht am übernächsten Tag. Ständig musste ich an seine blaugrauen Augen denken und daran, wie es war, als wir eng umschlungen tanzten. Ihm schien es nicht anders ergangen zu sein, denn am dritten Tag nach unserer Begegnung stand Said in unserem Kunstgewerbegeschäft. Er kaufte eine Tischdecke und fragte mich dabei, ob und wo wir uns heute treffen könnten. Wie sehr sehnte ich an diesem Tag den Feierabend herbei! Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich ihn in der Mokka-Milcheisbar neben dem Kino International wiedersah. Er war der erste Mensch, mit dem ich redete, der nicht aus der DDR kam, das wurde mir in dem Augenblick bewusst. Gerade diese Tatsache machte ihn für mich so anziehend. Aufmerksam hörte ich ihm zu, während er von seiner Familie und der großen Sehnsucht nach seiner Heimat, dem Gazastreifen, erzählte. Warum besucht er sie denn nicht einfach?, fragte ich mich insgeheim öfter.

Ich war so sehr verliebt in Said! Alle Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten, sobald ich nur an ihn dachte. Sein ironischer Humor, seine Hände, mit denen er während des Sprechens elegant gestikulierte, die Art, wie er Auto fuhr, wie er mit seinen Freunden und Bekannten umging, sein tiefes, warmes Lachen, seine funkelnden Augen, wenn er mich amüsiert ansah oder berührte – von all dem konnte ich nicht genug bekommen.

Said wohnte in Berlin-Pankow inmitten einer Neubausiedlung, wo Ausländer unterkamen, die in Botschaften oder anderen ausländischen Vertretungen tätig waren. Er arbeitete im Internationalen Handelszentrum an der Straße Unter-den-Linden. Immer, wenn ich zum Feierabend zu ihm fuhr, hatte er bereits Abendessen vorbereitet, mit wunderbaren Gewürzen und selbstgebackenem Fladenbrot. Im Laufe dieser Zeit lernte ich auch Manuela und Susan kennen, deren Männer Landsmänner und Arbeitskollegen von Said waren. Sie würden ebenso wie ich 1994 im Windschatten der Osloer Verträge Berlin verlassen, um in den Gazastreifen umzuziehen.

Immer, wenn er Geschichten über seine große Familie und seine Heimat erzählte, hörte ich ihm beeindruckt zu, denn dabei konnte ich ihm bis ins Herz sehen. Seine tiefen Emotionen berührten mich sehr. In vielen Dingen war und blieb er für mich weiterhin geheimnisvoll. Daraus entstanden auch einige Missverständnisse, die unsere Zweisamkeit interessant und prickelnd machten. Dass ich die arabische Sprache nicht verstand, unterstrich das Gefühl des Geheimnisvollen noch. Im Laufe unseres Zusammenlebens merkte ich, dass Said jemand war, der Gespür und Geschick besaß, wenn es darum ging, etwas zu erreichen oder etwas zu besitzen. Seine ausgeprägte Verhandlungsstärke und Hartnäckigkeit kam ihm dabei zugute. Menschen zu überzeugen und dabei für sich zu gewinnen, das war genau seine Berufung. Jedoch gerade deshalb war er aber auch imstande, Menschen zu dirigieren und zu manipulieren. Er war ein geborener Puppenspieler, Taktiker und Diplomat.

Im März 1990, anderthalb Jahre nach unserem Kennenlernen, machte mir Said einen Heiratsantrag. Unbeschreiblich glücklich sagte ich vertrauensvoll und verliebt »Ja«. So feierten wir unsere Hochzeit in einer Gaststätte in Berlin-Pankow zusammen mit ungefähr 100 Gästen. Es war ein rauschendes Fest, mein Kleid war traumhaft schön und Said an meiner Seite auch. Glücklich scherzend sagte ich zu ihm: »Du gehörst jetzt zu mir!«, während ich dabei besitzergreifend meine Arme um ihn legte. Von Saids Familie konnte wegen der politischen Lage niemand zum Fest kommen. Umso leichteres Spiel hatte er, mich im Oktober desselben Jahres davon zu überzeugen, seine Familie im Gazastreifen kennenzulernen. Er selbst hätte niemals mitreisen können, weil er keine Einreisegenehmigung erhalten hätte. Er meinte dazu erklärend und mit ernstem Blick zu mir, dass die Israelis ihn sofort ins Gefängnis stecken würden. 15 Jahre lange hatte er seine Familie und Heimat nicht gesehen. Wie konnte ich seine Sehnsucht nachfühlen. Ich würde also nach Gaza fliegen und ihm meine Eindrücke und Erlebnisse so authentisch wie möglich vermitteln. Die Reise sollte zwei Wochen dauern.

Noch nie hatte ich Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt verlassen, weder mit dem Zug noch mit dem Flugzeug.

So kam es, dass mich Said im Oktober 1990 zum Flughafen Berlin-Schönefeld brachte. Die Passagiere, die mit der Fluglinie der El Al nach Tel Aviv fliegen wollten, wurden gesondert abgefertigt. In diesem Terminal befanden sich sehr wenige Zivilisten, dafür aber umso mehr zivile Security. Das verwunderte mich, weil ich nicht verstand, warum und wozu. Ein Anzugträger mit randloser Brille und wasserblauen Augen startete seine sehr intensive Befragung, während dazu im Hintergrund zwei Männer mit einer M16 in Habtacht-Stellung standen: Was die Gründe für meine Reise seien, wohin ich genau wolle, bei wem ich leben würde, welche Geschenke ich dabei hätte und ob sie in meiner Abwesenheit verpackt in meine Tasche gesteckt worden seien. Das waren nur die ersten Fragen. Sie wollten alles wissen, auch, wer der Mann war, der mich eben zum Terminal gebracht hatte. Worauf ich unschuldigen Blickes erwiderte, es sei der Mann meiner Freundin. Dabei hatte ich unsere eigenen Hochzeitsfotos für Saids Familie in der Tasche dabei und der Mossad hatte mich schon längst durchschaut. Heute staune ich über meine Naivität.

Die Hitze auf dem Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv empfing mich wie bei einem spontanen Eintritt in eine Sauna. Es wurde langsam dunkel, als ich in die Empfangshalle eintraf. Überfordert beim Anblick der vielen fremd aussehenden Menschen, dachte ich spontan und beunruhigt: Oh mein Gott, wo soll ich hin, ich will wieder zurück ins Flugzeug nach Berlin! Was mache ich nur, wenn mich jetzt niemand abholt? Ich hatte keinen Plan B parat. Kurz darauf hörte ich jemanden »Kristina« rufen. Ich sah einen Mann, der große Ähnlichkeit mit Said hatte. Das war sein Bruder Abu Ali, der mich sofort herzlich umarmte, als ob er mich schon lange kennen würde. Wie erleichtert ich war!

Die Fahrt in den Gazastreifen wurde unterbrochen von zwei Kontrollen an Checkpoints des israelischen Militärs. Mein Gepäck, welches zum größten Teil aus Garderobe und Süßigkeiten bestand, wurde intensiv und ausgiebig durchsucht. Die Soldaten starrten mich dabei verständnislos an. Sicher war ich seit Langem die erste ausländische Touristin für sie, die Urlaub in einem Land machen wollte, in dem die Luft bleigeschwängert ist. Nach einer für mich endlosen Fahrt durch die Dunkelheit kamen wir endlich in Chan Yunis an. Das erste Tier, welches ich auf einer größeren Hauptstraße sah, war eine Ratte. Flink hangelte sie sich über die vielen Stromkabel, welche in einem heillosen Durcheinander quer über den Straßen und Häusern miteinander verknüpft waren. Dabei benutzte sie balancehaltend ihren Schwanz. Ausgestiegen, liefen wir eine enge Sackgasse hinauf, in deren Mitte leise ein grün-schwarzes Rinnsal hinab zur Hauptstraße floss. Oben angekommen stand ich vor einem alten und baufälligen Haus, in dem Said einst mit seinen acht Geschwistern aufwuchs. Hier wohnte nun Abu Ali mit seiner Frau und ihren damals sechs Kindern.

Als ich durch das schmiedeeiserne Tor ging, stieß ich mir den Kopf an einer Steinecke und bekam sogleich eine Beule. Nicht für Menschen über 1,80 Meter geeignet, dachte ich schmerzerfüllt, während ich meinen Kopf abtastete. Trotz Erschöpfung war ich sprachlos über die Gegensätze, die ich nun erlebte. Das hatte ich nicht erwartet. Selber in einer Familie mit zwei Geschwistern aufgewachsen, in der die Eltern keine Großverdiener waren, hatten wir doch alles, was wir zum Glücklich sein brauchten: Strom, sauberes Wasser und eine warme, trockene Wohnung ohne unerwünschte Haustiere. Wie anders hier doch alles ist, kam es mir in den Sinn, als ich ein paar Minuten mit mir allein war.

Die halbe Stadt wusste Bescheid, dass eine ausländische Frau eingereist war und zum Clan einer großen Familie gehörte. Sie alle kamen, um die Ehefrau von Said zu begrüßen. Da saß ich nun unter einer mit Wellblech überdachten, neonbeleuchteten Terrasse und wurde von einer lächelnden und immer größer werdenden Menschenmenge begrüßt. Ihre weiße Kleidung blendete mich förmlich. Während dieses Momentes, auf der Bastmatte mit angewinkelten Knien sitzend, wurde mir erstmals bewusst, wo ich mich tatsächlich befand: an einem ziemlich gefährlichen Ort, weit weg vom sicheren Heimatland. Ich umschlang meine Knie fester. Der Bruder von Said gab sich große Mühe, mir die anwesenden Familienmitglieder vorzustellen. Leider konnte ich mir nur einige ihrer Namen merken. An diesem Tag lernte ich aber meine ersten drei Wörter auf Arabisch: »Bdisch, schukran.« (Ich möchte nicht, danke.) und »Alhamdullah« (Gott sei es gedankt).

Selbstverständlich sollte ich im ehelichen Schlafzimmer des Hauses schlafen. Die Nacht war sehr unruhig, denn die gesamte Familie blieb noch lange wach. Es wurde leise gemurmelt, Plastikstühle wurden hin und her geschoben, Kinder lachten und der Fernseher lief – eben das volle Familienprogramm. Und das um Mitternacht! Fast wäre ich eingeschlafen, als ich plötzlich ein leises, schnelles Trappeln direkt auf meinem Kopfkissen hörte. Es war eine Maus, die in meinem Bett auf Entdeckungstour ging. Ich war fasziniert darüber, denn es war die erste Maus, die ich aus der Nähe sah. Es sollten aber noch viele weitere folgen.

Am nächsten Tag bekam ich Bauchschmerzen, kämpfte mit Durchfall und musste mich in einem fort übergeben. Abu Ali und der Rechtsanwalt der Familie brachten mich angesichts meines Zustandes in das hiesige Krankenhaus Jamal-Abdel-Nasser. Dort begegneten uns israelische Soldaten, die gerade das Krankenhaus nach flüchtigen Jugendlichen durchsuchten, weil sie zuvor deren Fahrzeuge mit Steinen beworfen hatten. Sie staunten nicht schlecht, als sie eine blonde Frau mit traditioneller, bodenlanger, paillettenbesetzter Bekleidung im Gang stehen sahen. Es war eine Ehre für meine Schwägerin Umm Ali, der Frau von Abu Ali, dass ich ihre schönste Jalabija trug. Während ich wegen meines Brechdurchfalles eine Infusion erhielt, kamen Patienten, Schwestern und Ärzte in das Zimmer, um die Deutsche zu besichtigen. Sie redeten auf mich ein und ich sah sie nur mit großen Augen an. Ich kam mir verloren vor, während die Infusion endlos langsam in meinen Arm tropfte. Wie sehr wünschte ich mich nach Hause zurück während dieser drei Stunden im Krankenhaus.

Alle Kinder gingen unregelmäßig zur Schule, da die Israelis oft Ausgangssperren verhängten. So saß ich mit den Frauen und älteren Kindern zusammen und unterhielt mich mit ihnen oder schaute mir ihre Schulbücher an. Daraus entstanden oft lustige Unterhaltungen, die uns untereinander halfen, uns emotional näher zu kommen. Abu Ali gab ich meine Kamera, damit er Fotos von den Familienmitgliedern machen konnte. Von jenen, die im Kiez der Stadt lebten, und denen, die draußen auf dem Lande ihre Häuser hatten. Und das in einem Auto, welches in Deutschland niemals mehr eine TÜV-Plakette bekommen hätte. Als Beifahrerin war ich ziemlich erstaunt, dass es keinen Gurt zum Anschnallen gab und warum die Fensterscheibe sich nicht hochkurbeln ließ, wurde mir auch bald klar: Es gab gar keine. Somit wehte mir der Fahrtwind ununterbrochen durch die Haare. Während unserer Foto-Session mit den Familienangehörigen entstanden Aufnahmen an Orten, die Said aus seiner Jugend kannte. Ich freute mich schon unbändig darauf, das Gesicht von Said und seine Reaktion beim Anblick der Menschen zu sehen, die er seit vielen Jahren vermisste, und beim Anblick der Stadt, die er vor so vielen Jahren verlassen hatte. Ich sollte mich an bedeutungsvolle Orte stellen, wie zum Beispiel auf ein Feld, auf dem Kartoffeln angepflanzt waren. Auch fand ich mich unter einem uralten, verknöcherten Maulbeerbaum wieder und kauerte danach vor einen Lehmofen, der in einer mit Ästen und Palmwedeln gebauten Hütte stand. Zuletzt wurden mir einige ältere ehrwürdige Herrschaften zur Seite gesetzt, die die Onkel der Familie waren. Welche Bedeutung das Kartoffelfeld oder der einfache Lehmofen für Said hatten, war mir dabei überhaupt nicht bewusst. Erst Jahre später würde ich verstehen, dass der Besitz von Ackerland der Nahrungsbeschaffung dient, finanzielle Sicherheit bietet und gleichzeitig den Status der Familie erhöht. Es waren außerdem die Orte seiner Kindheit, mit denen er sicher einzigartige Erinnerungen verband.

Abends kamen männliche Familienmitglieder, um zusammen zu musizieren. Sie sangen Volkslieder und Abu Ali begleitete sie mit seiner Oud, einer Art bauchiger Gitarre. Wir saßen dazu gemeinsam um das Kohlebecken und tranken süßen, heißen Salbeitee. Das waren sehr gelöste und entspannte Stunden, in denen viel gelacht und gescherzt wurde. Die Familie war glücklich über die Abwechslung, die ich ihnen mit meinem Besuch bescherte. Niemals spürte ich Ablehnung, Vorbehalte oder Misstrauen mir gegenüber. Dafür aber war die Neugier der jungen Mädchen überaus groß, wie und wo ich Said kennengelernt hatte. Das war ganz bedeutend für sie, da Ehen in ihrer Kultur immer noch sehr früh und von den Eltern arrangiert wurden. Ich war ja nun schon eine ältere Frischverheiratete und leider noch nicht schwanger.

Said wünschte sich landestypische Spezialitäten von mir mitgebracht zu bekommen, die er mir zuvor auf einem Blatt aufgelistet feierlich überreichte. Es waren: Hamasis, Dugga, Saata, Saralil, Fsich, Felfel machrut und Molocheya nashfa. Diese Lebensmittel herzustellen, war ungemein aufwändig, jedoch waren die Frauen sehr fleißig und freuten sich, ihrem geliebten Verwandten in der Ferne eine Freude machen zu können.

Am Tag der Abreise kam der engste Kreis der Familie, um sich von mir zu verabschieden. Morgens um drei Uhr fuhr mein Taxi nach Erez, dem Grenzübergang nach Israel. Es war immer noch Ausgangssperre und wir fuhren auf unserem Weg dorthin an vielen Panzern und anderen Militärfahrzeugen vorbei. Jahre später würde ich alle diese verschiedenen Fahrzeugtypen unterscheiden können. Zwei männliche Verwandte begleiteten mich auf meinem Weg durch die Dunkelheit, aber nur einer von ihnen durfte mich über den Grenzübergang Erez hinweg zum Flughafen Ben Gurion nach Tel Aviv bringen. Es war der Verheiratete. Der Grund war, dass die Israelis damit rechneten, dass verheiratete Männer normalerweise verantwortungsvoll für ihre Familie sorgen und keine Anschläge verüben. Am Grenzübergang angekommen, wollten die Soldaten unser Taxi nicht weiterfahren lassen. Durch das Mikrofon schallte es auf Hebräisch zu uns herüber: »Sofort stehen bleiben!« Ich spürte, wie der Taxifahrer nervös wurde und gleichzeitig sagte mein Begleiter zu mir, er könne mir nun leider nicht mehr helfen. Unser Taxi stand jetzt fünfzig Meter vor dem Kontrollpunkt im Scheinwerferlicht im Stillstand.

15 endlose Minuten vergingen. Was soll das hier? Ich darf meinen Flieger nicht verpassen, dachte ich und wurde immer nervöser. Kurz entschlossen stieg ich aus. Langsam näherte ich mich den Soldaten auf einem für mich endlos langen Weg auf der mit Scheinwerfern beleuchteten Straße des Checkpoints. Sechs Männer zählte ich beim Näherkommen mit klopfendem Herzen. Die Soldaten sahen mir entgegen und stießen sich dabei gegenseitig mit ihren Ellenbogen an. In meiner Unvoreingenommenheit ihnen gegenüber verlangte ich klar, ihren Chef zu sprechen, während ich einem von ihnen dabei fest in seine Augen schaute. Keine Reaktion. Könnt ihr kein Englisch, oder was?, dachte ich nun ärgerlich, während ich laut sagte: »Ich muss dringend zum Flughafen, um mein Flugzeug zu erreichen!« Sie schauten mich wortlos an und reagierten immer noch nicht. Weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, drehte ich mich um und ging zurück zum Taxi. Minuten voller verzweifelter Gedanken vergingen. Endlich erscholl durch das Mikrofon ein lauter Ruf zum Weiterfahren. Wir durften die Grenze überqueren. Gerade noch rechtzeitig und innerlich aufgeregt erreichte ich den Flughafen, wurde von der Security von Kopf bis Fuß durchsucht, durfte einsteigen und kam, beladen mit vielen landesüblichen Spezialitäten und lebhaften Eindrücken, am Flughafen Berlin-Schönefeld an. Said erwartete mich mit einem Strauß tiefroter Rosen, bis über beide Ohren grinsend und mit überglücklichen Augen. Ich hatte das Gefühl, er wollte in mich hineinkriechen, um alle Erlebnisse und Begegnungen haarklein von mir zu erfahren. Als Erstes sah er sich alle Fotos an, die Abu Ali schon in Gaza entwickeln lassen hatte und das waren wirklich sehr viele. Ich beobachtete ihn, wie er von einem Begeisterungsausruf in den nächsten verfiel, bis er, von seinen Gefühlen überwältigt, schluchzte und zu weinen begann, während er dabei die Fotos allesamt an sein Gesicht drückte. Wie ich ihn liebte!

Im Dezember 1991 wurde ich schwanger. Endlich. Innerlich jubelnd und glücklich beobachtete ich beeindruckt, wie sich mein Körper veränderte. »Du wirst jetzt eine Mama«, sagte ich immer wieder stolz zu mir, während ich mich vor dem Spiegel betrachtete. Saids Augen glänzten, als er auf dem Ultraschallbild einen kleinen Penis schwimmen sah. Im August 1992 kam Andre auf die Welt. Er hob sofort, von der Hebamme auf meinen Bauch gelegt, sein Köpfchen und sah mich direkt an, als ich ihm liebevoll zuflüsterte: »Da bist du ja endlich!« Andre entwickelte sich zu einem pflegeleichten, gesunden, oft gut gelaunten Riesenbaby mit hellblonder Mähne und großen, blauen Augen.

Als ich nach 13 Monaten zur Frauenärztin ging, um mir vorsorglich die Pille verschreiben zu lassen, schwamm bereits Adrian im dritten Monat in meinem Bauch herum. Ein Überraschungsgast zwar, aber dafür mit ewigem Hausrecht. Als ich nach Hause kam, sah mir Said sofort an, dass etwas passiert sein musste. Mein Gesicht war kalkweiß, als ich Said vom erneuten unverhofften Familienzuwachs erzählte. Er sah mich zuerst besorgt, dann entgeistert, schließlich aber doch freudig an. Ende März 1994 war es dann so weit: Im selben Krankenhaus und zufällig von derselben Hebamme wurde mir Adrian in den Arm gelegt, der zuvor, kaum 30 Sekunden auf der kalten Welt, lauthals protestierend losgeschrien hatte. Augenblicklich war ich tief erfüllt von mütterlicher Liebe zu diesem Kleinen mit den großen, braunen Kulleraugen.

Am Anfang Juni 1994 rief Saids Vorgesetzter an und beorderte ihn in den Gazastreifen zurück. Er und viele seiner Landsmänner aus Berlin würden dort gebraucht, hieß es. Viele können sich sicher noch an das spektakuläre Bild vor dem Weißen Haus erinnern, vor dem sich Jitzchak Rabin und Yasser Arafat, initiiert durch Bill Clinton, die Hand gaben. Damit änderte sich die politische Lage von Grund auf: Der Weg in die Heimat stand Said und vielen anderen Palästinensern mit einem Male wieder offen. Eine völlig neue Situation entstand nun auch für uns privat. Said war natürlich, wie alle der in Deutschland lebenden Palästinenser, beseelt und erfüllt von Freude und Optimismus, endlich wieder nach Hause reisen zu können. Ich dagegen war unsicher und wollte nicht wahrhaben, was uns nun unweigerlich bevorstand, nämlich die Ausreise in den Gazastreifen. Der Plan war, dass er vorausfliegen würde und ich später nachkommen sollte. Ein verantwortungsvoller und gut bezahlter Posten erwartete ihn dort. So reiste er mit zwei Koffern ab.

Für die nächsten drei Monate allein, hatte ich genug Zeit, darüber nachzudenken, ob ich wirklich fliegen sollte. Für mich war klar, dass wir zusammen gehören. Unsere Kinder sollten niemals getrennt vom Vater aufwachsen müssen. Bei der Hochzeit habe ich nicht nur als Lippenbekenntnis »Ja« gesagt. Als ich über unseren Entschluss mit meinen Eltern sprach, fanden sie ihn gar nicht gut. Jedoch merkten sie bald, dass ich mich nicht umstimmen ließ, Deutschland und damit auch sie zu verlassen. Wie viel Kraft und welchen Zeitaufwand es für meine Eltern abschließend bedeutete, unsere Wohnung aufzulösen, inklusive der Abmeldung bei den Ämtern, darüber machte ich mir wenig Gedanken. Geschweige denn, wie sich Eltern fühlen, wenn sie ein Kind verlässt, um in die Dritte Welt auszuwandern.

Gazastreifen, Chan Yunis von 1994 – 2008

Am 28. August 1994 brachten meine Eltern uns zum Flughafen Berlin-Schönefeld. Durch Said wusste ich, dass er für eine entsprechende Unterkunft für uns gesorgt hatte. Ein Reisebett, Buggy und Spielzeug hatte ich dabei. Außerdem waren wir alle entsprechend geimpft. Würden wir unser Privatleben haben? Wie würde ich die Kinder ernähren? Mit diesen Fragen beschäftigte ich mich oft. Das Wohl der Kinder stand im Vordergrund und ich hätte alles getan, damit es ihnen gut ging. Meine Eltern hatten mit mir abgesprochen, dass sie mir die Rückflugtickets bezahlen würden, sollte etwas schieflaufen. Über dieses Wissen beruhigte ich mich innerlich.

Mein Herz klopfte vor Freude, als ich an das bevorstehende Wiedersehen mit Said dachte. Wie reagiert wohl Andre, wenn er bald seinen Papa nach drei Monaten das erste Mal wiedersieht?, so beobachtete ich ihn während des Fluges. Er schaute mit großen Augen aus dem Fenster auf die Wolken und aß dabei sein Milchbrötchen. Vom Flughafen Ben Gurion wurden wir von einem Verwandten abgeholt. Auf Englisch erklärte er mir, Said könne mich nicht abholen, weil er niemals eine kurzfristige Ausreisegenehmigung aus dem Gazastreifen nach Tel Aviv erhalten hätte. Denn nur damit konnte ein Palästinenser sein Land verlassen, um zum Beispiel in Israel zu arbeiten. Und die israelischen Behörden würden sehr lange für die Überprüfung des Antragstellers benötigen. Doch das machte mir in diesem Moment nichts aus. Warmer Fahrtwind streifte uns auf der Rückbank und ich begann, meine Spannung abzubauen, während ich aus dem Autofenster heraus die großen Palmen anschaute, deren Wedel im Wind elegant schaukelten. Die Sonne ging gerade unter und leuchtete in einem tiefen Orange riesengroß am Horizont. Die Kinder waren auf dem Rücksitz eingeschlafen.

Dann befand ich mich wieder auf der kleinen Gasse, die zum Elternhaus von Said führte. Der Weg war vollgestopft mit Menschen, die sich bis hinein ins Haus drängten. Doch wo war nur Said? Endlich sahen wir uns und alle Geräusche um uns herum schienen mit einem Mal zu verstummen. Erschöpft von der Reise und aufgeregt wegen der vielen neuen Eindrücke, beruhigte ich mich bei seinem Anblick sofort. Für mich zählte nur, dass wir endlich wieder zusammen waren. Als er mich liebevoll ansah, konnte ich nicht mehr an mich halten und lief, ungeachtet allen Trubels um uns herum, ihn zu umarmen. Dann ließ sich Andre von ihm in die Luft werfen, während sich Adrian nuckelnd an mich schmiegte, weil ihn die veränderte Situation ängstigte. Es wurde eine lange Nacht auf der neonbeleuchteten, überdachten Terrasse. Vier Jahre waren seit meinem ersten Besuch vergangen, viele neue Familienmitglieder waren hinzugekommen. Es waren jene, die aus dem Ausland eingereist waren, um endlich ein friedliches und besseres Leben in ihrer Heimat leben zu können. Sie alle brachten ihr Vermögen mit, damit sie hier eine neue Existenz aufbauen konnten. Und wir waren nun ein Teil von ihnen.

So viele Eindrücke in diesen ersten Tagen, so viele neue Gesichter und um mich herum hörte ich nur die arabische Sprache. Ich kümmerte mich vor allem darum, dass es Andre und Adrian an nichts fehlte. Said hatte schon dafür gesorgt, dass wir übergangsweise außerhalb der Stadt in einem Haus wohnen konnten, dessen Eigentümer noch im Ausland lebten. Wir waren sehr glücklich über diese Gelegenheit und konnten so etwas ungestörter sein. Den Kindern gab ich ihre Autos und die Buddelformen, mit denen sie draußen unter den Palmen, inmitten einer sich stetig vergrößernden Kinderschar, spielen konnten.

Viele Männer sah ich Waffen tragen. Es gehörte zum normalen Straßenbild. Auch Said trug eine Beiretta mitsamt Halfter. Das erste Mal sah ich diese Waffe an ihm, als wir gemeinsam im Auto fuhren. Da stand mit einem Male eine Menschenmenge mitten auf der Straße und diskutierte lautstark. Said stoppte, stieg aus und redete mit klarer Stimme auf die Leute ein. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie sehr er respektiert und geachtet wurde.

Die ersten Wochen bestanden nur aus Einladungen zum Essen und aus Hochzeiten; letzteres war eindeutig eine der schönsten Freizeitbeschäftigungen. Hier traf man keine Männer und konnte vollkommen ungezwungen sein, sich leger kleiden, schminken, tanzen und schwatzen. Es wurden neue Kontakte geknüpft, die heranwachsenden Mädchen fachmännisch beäugt und als potenzielle Braut für den eigenen Sohn auf Herz und Nieren geprüft. Dies hier war die wahre Schmiede des Glücks. Deswegen verstanden die Frauen anfangs nicht, warum ich lieber in der Wohnung bei meinen Kindern bleiben wollte. Ich fühlte mich jedoch einfach noch nicht dazugehörig, wohl auch wegen der neuen Sprache, die ich noch nicht verstand. Wenn die Frauen mit mir oder über mich sprachen, konnte ich sie nicht verstehen.

Ende September 1994 zogen wir zurück in die Stadt Chan Yunis in eine Wohnung, die einem Arbeitskollegen von Said gehörte. Dort sollten wir bis zur Einweihung unseres Traumhauses leben, von dem bis dato nur feststand, wo es gebaut werden sollte. Es war eine sehr große, kühle und dunkle Vierzimmerwohnung im Erdgeschoss und sie hatte einen Steinfußboden. Sie war sogar teilweise möbliert, mit einer verglasten Veranda nach vorn zur Straße gerichtet und einem hauseigenen Hühnerhof nach hinten in den Garten gerichtet. Die Abfälle für die Hühner wurden von der Eigentümerin der Bequemlichkeit halber direkt aus dem dritten Stock aus deren Küchenfenster nach unten gekippt. Das schepperte jedes Mal auf dem Wellblechdach des Hühnerstalles. Die nach hinten liegende Veranda war demnach von Hühnerkot übersät. Da die Hühner menschliche Essensreste bekamen, waren auch ihre Ausscheidungen dementsprechend.

Andre fand die Hühner bald ungemein interessant und lief mit ihnen im Sand zwischen den Olivenbäumen um die Wette oder jagte mit einem Strohbesen dem gackernden Hahn hinterher. Seine Schuhe waren anschließend kotverschmiert und er bekam Läuse. Da ich eine Weile brauchte, um das zu realisieren, hatten wir sie in Kürze allesamt. Nachts gesellten sich dann noch die Mäuse zu uns. Sie kamen in unser Schlafzimmer und liefen über unsere Betten, während wir schliefen. Eine Maus verhedderte sich im Vorbeilaufen in meinen Haaren, ich hörte ihr Tippeln direkt neben meinem Ohr. Währenddessen ließ sich eine besonders Waghalsige in die Tasche von Saids Jackett gleiten, die an der Zimmergarderobe hing. Ich wusste zuerst nicht, woher das Klappern kam, bis ich im Halbdunkel sah, wie sich die Jackentasche bewegte. Anscheinend befanden sich dort neben einigem Kleingeld noch geröstete Melonenkerne … Anfangs, als ich noch nicht wusste, was nachts in der Küche vor sich ging, vergaß ich, eine halbe Sahnecremetorte in den Kühlschrank zu stellen. Sie blieb im Pappkarton auf dem Kühlschrank stehen. Am nächsten Morgen war sie trotz Deckel übersät mit Mäusekot, von dem ich annahm, es handle sich um Schokoladenstreusel, als ich sie dann nachmittags freundlich meinen Gästen servierte. Gut, lassen wir das … 

In tiefer Nacht kamen sie, um die Küche von allen Krümeln zu befreien. Eine Armada – ich habe sie hinter der Küchentür hockend fasziniert beobachtet. Sie frästen Löcher in die Brotkörbe, um an das Brot heranzukommen. Sie knabberten Tomaten an und ich fand auch Mäusekot im großen Reisbeutel, der hinter der Tür auf der Erde stand. Andre sagte schon immer, wenn er irgendwo eine Maus entdeckte: »Mama, da, Baby-Wau-Wau!«. Sie mussten schon vor uns da gewesen sein. Die Holztürrahmen waren von der hohen Luftfeuchtigkeit morsch, alle Fenster und Türen waren verzogen, rostig, quietschten und klemmten. Da war es für sie ein Leichtes, einen Weg in diese Wohnung zu finden.

Said ging jeden Tag um acht Uhr zur Arbeit, kam um 14 Uhr zum Mittagessen, schlief zwei Stunden und ging dann wieder zur Arbeit. Ich erhielt währenddessen öfter Besuch von weiblichen Familienmitgliedern, die sich mit mir unterhalten wollten. So lernte ich nach und nach die arabische Sprache im Smalltalk und im hiesigen Dialekt. Ihre nicht wenigen Kinder spielten mit dem Spielzeug von Andre und Adrian, das sich so peu á peu auf magische Weise minimierte. Abends konnten wir endlich zusammen Ausflüge zum großen Spielplatz machen oder ans Meer zum Baden und Grillen fahren. Bald begann ich, von einem großräumigen Park mit Spielplatz und schattenspendenden, hohen Bäumen zu träumen und sehnte dabei die Anonymität in der Menge herbei, weil ich es immer weniger mochte, Aufsehen wegen meines fremden Aussehens zu erregen. So musste ich erleben, wie meinetwegen ein Fahrradfahrer gegen einen Laternenpfahl fuhr, als ich mit den Kindern nur schnell in den Supermarkt um die Ecke gehen wollte.

Im Oktober flog Said mit mehreren Arbeitskollegen zu einer Schulung nach Amerika. Während seiner Abwesenheit fühlte ich mich besonders allein gelassen und das nicht nur wegen meiner mangelnden Sprachkenntnisse. Wir drei wurden krank. Andre litt an Brechdurchfall und verlor als Zweijähriger schnell Gewicht. Bei mir war es auch sehr schlimm damit. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich seitlich in die Badewanne direkt vom Toilettensitz rutschte und wenig später mit rasenden Kopfschmerzen dort aufwachte, wegen der kalten Emaille an meiner Wange. Auch Adrian bekam hohes Fieber und einen großen Furunkel auf seiner Stirn. Er wollte nicht mehr von mir gestillt werden, somit bekam ich als Folge daraus eine Mastitis. Mein Schwager Abu Ali stand mir in dieser Zeit bei, indem er dafür sorgte, dass Andre täglich seine Spritze und Medikamente bekam und Adrian sein Antibiotikum. Anschließend musste der Arme sogar noch operiert werden, um den Furunkel auf seiner Stirn zu entfernen. Ich dagegen musste wegen der Mastitis ins Krankenhaus Jamal-Abdel-Nasser. Dort erkannte mich mein behandelnder Arzt, als ich 1990 wieder dort wegen Brech-Durchfall am Tropf lag.

Mehr als einmal wünschte ich mir Said zurück an meine Seite. Es war am späten Nachmittag, draußen war es kalt und schon dunkel. Es regnete gewaltig und prasselte laut gegen die großen, verglasten Scheiben der Veranda. Rechts neben mir lag Adrian, den ich gerade stillte und links lag Andre, der, vollkommen in sich versunken, immer wieder über meinen Unterarm strich. Das war beruhigend für ihn. In diesen Moment waren wir eine tiefe und innige Dreiheit. Während ich gerade gedankenversunken zur Glühbirne starrte, ging sie aus. Schwarze Finsternis umgab uns nun. Was mache ich denn jetzt?, fragte ich mich ängstlich und erschrocken. Die absolut schwarze Wohnung machte mir Angst. Natürlich hatte ich weder eine Kerze noch eine Taschenlampe zur Verfügung. Nach einer Weile klopfte es an meine Wohnungstür. Meine Nachbarin Mona, die ich bis zu diesem Moment noch nicht kannte, stand mit einer Kerze in der Hand vor mir. Sie überschüttete mich mit einem Redeschwall, von dem ich kaum etwas verstand und reichte mir dabei die brennende Kerze. Ich war ihr so dankbar für die Lichtquelle. Mit Mona lernte ich im Laufe der kommenden Zeit besser, Arabisch zu sprechen. Sie war die erste außerfamiliäre Frau, zu der ich Vertrauen fasste, der ich mein Herz ausschütten konnte, wenn ich mich allein fühlte. Ich wusste, jedes Wort blieb unter uns.

Die arabische Sprache ist voll blumenreicher und poetisch formulierter Redewendungen. Man kann viel sprechen, allerdings ohne dabei viel zu sagen. Im Deutschen antworten wir mit »Ja« oder »Nein«, aber im Arabischen ist man weniger eindeutig, hier kann jeder ziemlich kunstvoll um den heißen Brei herumreden. Es gibt kein klares »Ja« oder »Nein«, sondern oft ein »Inshallah« (so Gott will). Oder anders ausgedrückt: Es gibt kein »Schwarz« oder »Weiß«, es gibt eher viel »Grau«. Mit der Aussage »Ich komme gleich« kann beispielsweise auch der späte Nachmittag des kommenden Tages gemeint sein. Das konnte ich nicht verstehen. Verlässliche Termine sollen Halt und Struktur im Tagesablauf geben. Ich hasste es, mich von jetzt auf gleich auf unerwartete Situationen einstellen zu müssen, vor allem natürlich wegen der Kinder.

Mit der Zeit fühlte ich eine immer größer werdende Leere in mir, denn der ausschließliche Umgang mit zwei Kleinkindern füllte mich bald nicht mehr aus. Auch die Gesprächsthemen der Frauen erschöpften sich langsam. Von Hause aus war ich es gewohnt, viel zu lesen, am Weltgeschehen Anteil zu nehmen und mich darüber auszutauschen. Darauf angesprochen, brachte mir Abu Ali ein gebrauchtes Radio. Mit sehr viel Feingefühl gelang es mir, die Deutsche Welle zu orten. So war ich auf dem Laufenden und konnte die deutsche Sprache hören. Ich war ihm einmal mehr sehr dankbar.

Mit Saids Rückkehr nach fünf Wochen in Amerika kam neues Leben in die große Wohnung. Sehr viel Leben, denn alle wollten Said wieder in ihrer Mitte begrüßen, um ihn dabei mit ihren persönlichen Angelegenheiten um Rat und Tat zu bitten. Warum? Weil er die Position, die Beziehungen und das dazugehörige Charisma besaß; er war die »Ass-Karte der Familie«, die aus wirklich sehr vielen Menschen bestand. Mittlerweile war mir klar, dass er in seinem Büro auch große Entscheidungen, die der Sicherheit der Menschen dienen sollten, fällte. Eines Tages erlebte ich live, womit er sich sonst noch beschäftigte. In unserer Wohnung, die ja auch aus ungenutzten Zimmern bestand, ließ er ein Verhör stattfinden. Ich war befremdet. Vor allem, wie akribisch er und drei seiner Mitarbeiter alles inszenierten. Da wurden vorab Scheinwerfer aufgestellt, Stühle drapiert und Fenster abgedunkelt. Das ist ja wie im Film hier, dachte ich, immer noch erstaunt, als ich das präparierte Zimmer sah. Sie verhörten eine junge Frau, deren Schminke gerade verlief. Ich konnte gut erkennen, wie sie litt. Das Zimmer roch nach Stress und sie tat mir leid. Danach fragte ich Said, was sie denn verbrochen hatte und warum er sie gerade hier in unseren privaten Räumen verhören ließ. Er antwortete mir mit gesenkter Stimme, dass sie die Frau mit Straftaten konfrontierten, um herauszufinden, ob ihr Alibi in Ordnung sei. Da sie aus einer geachteten Familie entstammte, sollte das Verhör kurzerhand in unserer Wohnung stattfinden, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen.

Zu dieser Zeit begann die Organisation unseres Hausbaues. Zu dessen Finanzierung verkaufte Said ein Grundstück in Gaza-Stadt und die Bauarbeiter mit ihren Baufahrzeugen, Familienmitglieder selbstverständlich, begannen mit den ersten Spatenstichen. Als ich das erste Mal den Ort unseres zukünftigen Hauses besichtigte, war ich bemüht, ihm etwas Schönes abzugewinnen. Das Haus sollte direkt neben dem Haus Abu Hamads, Saids ältestem Bruder, gebaut werden. Unsere beiden Häuser sollten die einzigen weit und breit bleiben, denn hier wagte es niemand, ein Haus zu bauen, wegen der Nähe zur israelischen Siedlung Morag. Seit 1983 hatten diese Siedler das Land der Familie besetzt und lebten darauf. Ich wusste anfangs nicht, wie viele Siedler sich im Gazastreifen niedergelassen hatten: Es waren 1700 Siedler plus 6300 Soldaten, die auf 45 Prozent des Landes lebten. Auf dem Rest lebten 1,2 Millionen Palästinenser.

Auf diesem Platz also stehend blickte ich zum Meer und sah rund um uns herum bearbeitete Felder mit Kartoffelsetzlingen. Ins Landesinnere geschaut, erblickte ich ein anderes Meer, das der Gewächshäuser. Sie gehörten zur besagten israelischen Siedlung, deren Wohngebäude daran angrenzten. Inmitten der Gebäude ragte ihr übergroßer Wachturm heraus. Die Konturen der Soldaten waren gut zu erkennen, trotz der Tarnnetze, mit denen der Wachturm umhüllt war. Hier also ziehst du hin. Wenigstens weit weg von den Geräuschen und Gerüchen der Stadt, den neugierigen Blicken der Familie und Menschen. Hinein in die Natur, in die Frische, allein nur mit den Kindern und Said. Vor allem deshalb spürte ich Erleichterung und war optimistisch. Dass sieben Jahre später die Zweite Intifada ausbrechen und wir mit unserer Traumvilla inmitten des Geschehens leben würden, hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt niemals träumen lassen.

Häufig allein mit mir vermisste ich jemanden, mit dem ich reden konnte und begann, meine Gedanken und Gefühle ab nun in ein dickes Notizbuch hineinzuschreiben. Es war wie Druck ablassen und wirkte befreiend auf mich. So begann ich mit den ersten Zeilen meines Tagebuches, welches mich 14 Jahre begleiten würde:

20.10.1994, die ersten Wochen hier waren wirklich anstrengend und das nicht nur der Hitze wegen. Die vielen fremden Leute, die nur in Arabisch auf mich einreden. Es ist schon schwer, wenn man sich nicht erklären kann oder nichts versteht. So manches Mal dachte ich bei mir: Warum kann man im Kopf nicht einen Sprachwechselschalter installieren? Vor einem Monat sind wir nun endlich in diese Wohnung hier eingezogen. Unsere Straße ist ziemlich befahren und hier werden die Bürgersteige, wenn es denn welche gibt, auch viel später hochgeklappt. Überall werden Häuser gebaut, aber so unterschiedlich, dass die Stadt von oben betrachtet völlig chaotisch aussehen muss.

Wir wohnen also nun in einem vierstöckigen Altbauhaus. Hätte ich ganz ehrlich gesagt nicht gedacht, dass es hier so hohe Häuser gibt. Und viele Leute wollen den Geräuschen hier entfliehen und am liebsten aufs Land ziehen, doch dort sind die Grundstückspreise zu teuer. Andauernd fahren Männer auf Eselskarren in den Straßen auf und ab; sie verkaufen Chlor, Butan-Gasflaschen zum Kochen oder Tomaten. Lauthals preisen sie schon ab sechs Uhr durch ihre Lautsprecher ihre Waren oder Dienstleistungen an.

Bei uns im Garten wachsen Olivenbäume, Zitronenbäume und eine riesige Palme. Meine Wäsche hänge ich immer auf der hinteren Veranda auf. Dabei werde ich oft von den unverheirateten Mädchen vom Haus gegenüber aus ihren Fenstern beobachtet. Zu fünft stehen sie auf ihrem Balkon aufgereiht, schauen zu mir hinunter, winken und rufen »Kristina!«. So heiße ich hier. Die Leute können einfach meinen Namen nicht richtig aussprechen.

21.10.1994, in unserem Wohnzimmer steht ein überdimensionaler Wohnzimmerschrank voll mit allem, was man im Haushalt so braucht. Die Vermieter sind nett, aber auch sehr neugierig. Den Kühlschrank haben wir gebraucht von Abu Ali bekommen. Said hat auch einen neuen Gasherd gekauft, der ist so groß, dass man darin glatt eine Ziege grillen könnte. Täglich fege ich den Sand auf. Hier ist alles undicht, der Wind presst den feinen Schmirgelsand durch jede Ritze in diese Wohnung. Manchmal kommen die Töchter von Abu Ali, sie helfen mir dann beim Wischen und Fegen. Fast jeden Tag bringt mir jemand einen Topf mit Essen, falls Said einmal später von der Arbeit kommt. Hier in der Nähe gibt es eine Apotheke und gegenüber ist ein Supermarkt. Dort gibt es das leckerste Schokoladeneis, das ich jemals gegessen habe. Andre braucht auf seine Kinderschokolade nicht zu verzichten und auf H-Milch auch nicht. Ein Liter kostet umgerechnet 2,00 DM. Ansonsten gibt es Sprite, Cola und Seven Up, auch Butter und Mischbrot. Aber leider kein Schwarzbrot. Ach, was gäbe ich jetzt für ein halbes Vollkornbrot.

Oft fahren wir ans Meer. Hier ist das Wasser herrlich warm, sauber und hat schöne Wellen. Viele Leute kommen abends mit ihren Großfamilien hierher, um der Hitze und den Geräuschen der Stadt zu entfliehen. Sie grillen und picknicken dann, während ihre Kinder am Ufer in den Wellen herumhüpfen. Es gibt auch Strandimbisse und Minirestaurants. Dann dudelt aus allen Ecken stundenlang eine Sängerin, die Umm Kul Thum heißt. Zur Mittagszeit hält es hier am Strand keiner aus, da bekommt man sonst glatt einen Sonnenstich.

23.10.1994, heute sind wir an Yasser Arafats Residenz in Gaza-Stadt vorbei gefahren. Eine wunderschön bepflanzte und gepflegte Anlage. Und neben der Villa hat er einen großen Fuhrpark mit blitzenden Karossen stehen, die von vielen Uniformierten poliert und bewacht wurden. Als ich meinen Fotoapparat zückte, sagte man mir schnell, dass das verboten sei. Ich hab es aber doch gemacht, heimlich.

Wir verhungern hier nicht. Said trinkt sogar weiterhin sein Feierabendbier. Natürlich darf man nicht so laut mit den Flaschen klappern, aber ich habe festgestellt, dass es auch hier Männer gibt, die Alkoholiker sein könnten. Es gibt keine Verkehrskontrollen, geschweige denn Verkehrsschilder oder Geschwindigkeitskon­trollen, es herrscht das totale Chaos auf den Straßen, denke ich manchmal, wenn ich im Auto mitfahre. Zwischen den teilweise museumsreifen Autos sind auch noch Eselskarren zu sehen. Die Größe des Autos entscheidet hier, wer die Vorfahrt hat.

24.10.1994, meine Schwägerin, die Frau von Abu Ali, hat sich jetzt, mit 36 Jahren, sterilisieren lassen. Reichlich spät, nachdem sie gerade Kind Nr. 11 bekommen hat. Ihre älteste Tochter ist parallel dazu im fünften Monat schwanger. Und dann sagte sie zu mir: »Das hat Gott so gewollt.« Ich fragte sie, warum denn die Frauen nicht besser verhüten können? Worauf sie ernst zu mir sagte, es sei Haram, also nicht gottgefällig, wenn eine Frau zu lange verhütet, »weil der natürliche, von Gott gegebene Kreislauf vom Kommen und Gehen der Menschen auf unnatürliche Art unterbrochen« werde. Eine Frau darf aber pausieren. Also zwischen zwei Kindern darf sie sich ungefähr für zwei Jahre eine Auszeit gönnen, in der sie dann die Pille nimmt, um ihren Körper regenerieren zu lassen, für die nächste Runde einer erneuten Schwangerschaft. So habe ich ihre geduldigen und sehr sanften Erklärungen verstanden. Hat sie gedacht, dass ich eine solche Regelung gut finde? Nicht selbstbestimmt über den eigenen Körper verfügen zu können, ihn als ein sich ständig leerendes und wieder zu füllendes Gefäß benutzen zu müssen? Wo bleibt da die Lebensqualität der Frau, die in so einem Modus nur noch funktioniert?

25.10.1994, mit dem ersten Regen ist es auch kühl in der Wohnung geworden. Wie sehr vermisse ich Heizkörper, die man nur aufzudrehen braucht. Ich habe natürlich Abu Ali, den »Mann für alle Fälle«, danach gefragt und er brachte uns tatsächlich einen kleinen Heizlüfter. Kaum vorstellbar, aber ich freute mich so sehr darüber! Vor einem Jahr hätte ich nur verständnislos geguckt, bei solch einem Geschenk. So verändern sich eben die Prioritäten im Leben. Und wir haben nun endlich ein wärmeres Schlafzimmer; darüber bin ich sehr glücklich.