Ostfrauen verändern die Republik - Tanja Brandes - E-Book

Ostfrauen verändern die Republik E-Book

Tanja Brandes

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wohin man auch hört, immer wieder erklingt das Hohelied auf die ostdeutschen Frauen: Sie sind berufsmobiler, risikobereiter und aufstiegsorientierter als die Männer. In der Tat: Ostfrauen sind häufiger berufstätig als Westfrauen, kehren nach der Geburt eines Kindes früher auf Vollzeitstellen zurück und mischen in der Politik kräftig mit. Die Ostfrauen haben dem vereinigten Deutschland ihren Stempel aufgedrückt. Aber warum?
Tanja Brandes und Markus Decker arbeiten heraus, was Ostfrauen in die deutsche Einheit konkret eingebracht haben, und vermitteln überraschende neue Erkenntnisse.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 316

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tanja BrandesMarkus Decker

Ostfrauen

verändern die Republik

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2019

entspricht der 1. Druckauflage von März 2019

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag,

unter Verwendung eines Fotos

von Ute Mahler/OSTKREUZ, 2003

Lektorat: Jana Fröbel, Ch. Links Verlag

Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier

ISBN 978-3-96289-034-6

eISBN 978-3-86284-444-9

Inhalt

Vorwort

Die Ostfrauen greifen nach der MachtEinleitung

Angela Merkel – Vorbild oder nicht?

Fremde Schwestern werden Brüder

»Meine Hoffnung ist bei den Frauen«

Frauenbrücke Ost-West e. V. debattiert seit 1992 miteinander – so wie hier die beiden Vorsitzenden Gundula Grommé und Barbara Hackenschmidt.

Sanft hinübergeglitten

Die Historikerin Heike Amos befasste sich in Leipzig mit der Geschichte der DDR. Danach forschte sie in Speyer, tief im Westen. Nun lebt und arbeitet sie wieder in Berlin.

Kleine Fluchten

Stephanie Auras hat in Berlin, Leipzig und New York gelebt. Mittlerweile ist sie ins heimische Finsterwalde zurückgekehrt – und animiert andere, es ihr gleichzutun.

Wie die Kunst nach Schweina kam

Bea Berthold und Aline Burghardt sind in Dresden aufgewachsen. Jetzt bringen sie im Wartburgkreis eine Jugendkunstschule zum Blühen.

Sanfte Machtpolitikerin aus Thüringen

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt macht seit mehr als 20 Jahren Bundespolitik. Sie setzte sich gegen Westmänner durch – und gegen Westfrauen.

So sehr Ost wie West

Die Schauspielerin Sandra Hüller, international bekannt geworden durch den Film »Toni Erdmann«, war im In- und Ausland unterwegs, lebt aber jetzt sehr bewusst in Leipzig.

Eine Frau muss nicht bescheiden sein

Linksparteichefin Katja Kipping aus Dresden bewarb sich früh – und erfolgreich – um hohe Ämter. Manchen missfiel das, vor allem in der eigenen Partei.

»Das kann ich selbst«

Nach dem Zusammenbruch der DDR stand Viola Klein beruflich und privat vor dem Nichts. Heute leitet sie ihre eigene Software-Firma. Klein hat früh gelernt, nie an sich zu zweifeln.

Über den Wolken

Als Kind stand Cornelia Leher auf dem Balkon eines Plattenbaus in Plauen und träumte von fernen Ländern. Nach der Wende eroberte sie den Himmel: als erste Pilotin bei Air Berlin.

Mit weiblicher Feder

Es gibt eine Menge Journalistinnen, die aus dem Osten kommen, etwa Anja Maier, Sabine Rennefanz und Simone Schmollack. Sie mussten Hindernisse überwinden.

Unbeugsam noch immer

Thüringens einstige Stasi-Unterlagenbeauftragte Hildigund Neubert konzentrierte sich zunächst auf die Kindererziehung. Dann machte sie Karriere.

Im Herbst des Ostfeminismus

Die Schauspielerin Walfriede Schmitt war 1989 Mitbegründerin des Unabhängigen Frauenverbandes. Etwas wehmütig blickt sie auf diese Zeit zurück.

Die Unbeschwerte

Machtpolitikerin, Nervensäge, Hoffnungsträgerin: Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern, wurden viele Titel aufgedrückt. Die SPD-Frau blieb unbeirrt.

Die Freiheit jenseits des Westens

Als Kind wollte Luise Steinwachs die Welt sehen. Als Entwicklungsexpertin leitet sie heute ein Referat bei »Brot für die Welt« und kämpft für eine gerechtere Gesellschaft.

Im Olymp der Männlichkeit

Hiltrud Werner ist Mitglied im achtköpfigen Vorstand des Wolfsburger VW-Konzerns. Sie ist das einzige Mitglied mit ostdeutscher Herkunft – und die einzige Frau.

Ihrer Zeit voraus

Sie war eine der erfolgreichsten Eiskunstläuferinnen der Welt und wurde schon während des Kalten Krieges verehrt. Seit 1990 ist Katarina Witt eine gesamtdeutsche Sportikone.

Die Erbin

Anne Wizorek ist nach Einschätzung vieler dabei, Alice Schwarzer abzulösen, die fast 40 Lebensjahre mehr zählt. Dabei sieht die Ostfeministin ihre Vorbilder nicht im Westen.

»Ich dachte, darüber wären wir hinweg«

Monika Naumann und ihre Tochter Juliane sind froh über die deutsche Einheit. Aber was die Situation von Frauen anbelangt, nehmen sie manches als rückschrittlich wahr.

Und die Männer?

Der Westen wird »ostiger«Fazit

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Text- und Fotonachweise

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand im Frühjahr 2017. Da nämlich sah es so aus, dass es unter den Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl vier Frauen geben könnte – und dass all diese Frauen Ostfrauen sein würden: Katrin Göring-Eckardt, Angela Merkel, Frauke Petry und Sahra Wagenknecht. Zwar verzichtete Petry kurz darauf aus innerparteilichen Gründen auf eine Kandidatur und verließ die AfD nach der Wahl schließlich ganz. Dennoch blieb der überraschende Befund, dass es vier Ostfrauen bis an die Spitze geschafft hatten – während es Frauen in der Politik wie auch sonst oft schwer haben, nach ganz oben zu gelangen. Der Eindruck wiederholte sich am Abend des 24. September 2017, als zwei weitere Ostfrauen auf den Bildschirmen auftauchten: Linksparteichefin Katja Kipping und die stellvertretende SPD-Vorsitzende Manuela Schwesig.

Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, sagte dazu: »Natürlich ist diese Konstellation letztlich Zufall. Aber dieser Zufall ist auch das Ergebnis des beruflichen Selbstvertrauens, das viele ostdeutsche Frauen in den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelt haben und mit dem sie in die deutsche Einheit gestartet sind.«1 Zwar waren ihnen Spitzenpositionen meist verwehrt; und das Politbüro des Zentralkomitees der SED war ein Männerklub. Auch hatten die allermeisten Frauen in der DDR neben dem Job die Hausarbeit zu erledigen; volle Gleichberechtigung blieb eine Vision. Sie waren aber in wesentlich höherem Maße als westdeutsche Frauen berufstätig, während die klassische Hausfrauenehe in der alten Bundesrepublik vor 1989 noch die Regel war. Und manches deutet darauf hin, dass dies Spuren hinterlassen hat. Denn Ostfrauen sind noch immer häufiger berufstätig als Westfrauen. Sie kehren nach der Geburt eines Kindes früher auf Vollzeitstellen zurück, landen häufiger in Führungspositionen und verdienen relativ gesehen mehr als Westfrauen. Ohnehin bekommen Ostfrauen häufiger Kinder und gebären früher. Ostmänner hingegen kümmern sich intensiver um ihren Nachwuchs und gehen öfter in Elternzeit. Schließlich lassen sie sich auch seltener von ihren Frauen Kleidung kaufen. Das alles wiederum, so scheint es, hat unter anderem den Aufstieg von Göring-Eckardt, Kipping, Merkel, Petry, Schwesig und Wagenknecht ermöglicht.

Ja, die Ostfrauen haben dem vereinigten Deutschland ihren Stempel aufgedrückt. Und wenn es nicht die Ostfrauen selbst waren, so waren es doch die Errungenschaften, die die DDR hinterlassen hat.

Es gibt keinen Grund, diese Errungenschaften zu idealisieren, zumal sie Erbe eines autoritären Regimes sind und nicht durchweg ehrenhaften Motiven entsprangen. Mancher ostdeutsche emanzipatorische Vorsprung hat sich relativiert – etwa weil Westfrauen bei der Erwerbsquote zugelegt und Ostfrauen nachgelassen haben. Überdies gibt es eine Scheu, das Erreichte zu loben – weil »einfach viele Leute denken, das sei ungefähr so, als ob man Nazi-Deutschland wegen der Autobahnen lobe«,2 wie es der ostdeutsche Dramaturg Thomas Oberender, eine führende Politikerin zitierend, formulierte.

Wir wollen weder die DDR idealisieren noch ihr in diesem Punkt letztlich positives Erbe verschweigen. Wir wollen beschreiben, was war und was ist, und es von verschiedenen Seiten beleuchten. Ein Urteil sollen sich die Leserinnen und Leser bilden.

Im ersten Teil des Buches werfen wir einen Blick zurück in die Zeit vor 1989 – auf die Chancen, die Ostfrauen im Erwerbsleben bekamen, ebenso wie auf den Zwang, daran teilzunehmen, und auf die Doppel- und Dreifachbelastung, die ihnen mit Beruf, Hausarbeit und Kinderbetreuung aufgebürdet wurde. Dabei wird auch deutlich, dass Frauen in der DDR immer dann nichts zu melden hatten, wenn es um Macht ging. All das leitet über zu den eben skizzierten Konsequenzen für die Zeit nach 1989 und die Gegenwart. Im zweiten Teil porträtieren wir Ostfrauen – starke Ostfrauen, die auf die eine oder andere Weise Karriere gemacht oder sich behauptet haben. Es ging um eine größtmögliche Vielfalt der Personen sowie von Berufen und Milieus, aus denen diese Personen kommen. Ein gewisser Schwerpunkt liegt auf der Politik. Angela Merkel, gleichsam die Mutter aller Ostfrauen, wird eine besondere Rolle zukommen. Zum Schluss geht es um die durchaus heikle Frage: Wenn Ostfrauen die Gewinner der Einheit sind – sind Ostmänner dann die Verlierer? Nach dem Aufstieg von AfD und Pegida wollte es manchem so scheinen.

Fest steht, und selbst Kritiker bestreiten dies heute nicht mehr: Das frauenpolitisch-emanzipatorische Feld war nach der Vereinigung eines der wenigen, in dem der Osten den Westen geprägt hat. Dass Frauen arbeiten gehen, ist heute gesamtdeutsch so selbstverständlich wie eine frühzeitige Kinderbetreuung und hat zum ansonsten zuweilen schütteren ostdeutschen Selbstbewusstsein beigetragen. Nicht zuletzt dieser Umstand war ein Grund, das vorliegende Buch zu schreiben.

Die Ostfrauen greifen nach der Macht Einleitung

Manuela Schwesig ist Ostfrau genug, um zu wissen, was in dem Ostfrauen-Thema steckt. Und so ließ die damalige Bundesfrauenministerin, geboren in Frankfurt (Oder), anlässlich des 25. Jahrestages der Deutschen Einheit im Jahr 2015 eine Studie anfertigen mit dem Untertitel: »Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland«.3 Im Auftrag der Sozialdemokratin wurden 3011 Frauen und Männer ab 18 Jahre repräsentativ befragt. In der Studie heißt es: »61 Prozent der Bevölkerung in ganz Deutschland sind der Meinung, dass die Kinderbetreuung und Frauenerwerbstätigkeit in der DDR positive Impulse für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in ganz Deutschland waren.«4 Es bleibe zwar offen, wie groß diese Impulse gewesen seien und wann sie eingesetzt hätten; ohnehin lasse sich eine tatsächliche Kausalität »nur schwer prüfen«,5 schreiben die Autorinnen und Autoren. Dennoch sei »die grundsätzliche Anerkennung dieses Ost-West-Transfers (…) eine empirische Tatsache«.6 Das sei im Übrigen auch deshalb bemerkenswert, weil vieles »DDR-hafte« ein Vierteljahrhundert lang stigmatisiert oder diskreditiert worden sei. Was in dem mehr als 100-seitigen Papier nicht steht: Auf die Idee des Kriminologen Christian Pfeiffer von 1999, einen Zusammenhang zwischen Kinderkrippen in der DDR und ostdeutscher Nach-Wende-Ausländerfeindlichkeit herzustellen, würde heute niemand mehr kommen.

Die Sichtweise der Schwesig-Studie hat sich seit 2015 immer weiter durchgesetzt, denn sie basiert auf Fakten. So befindet der Soziologe Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau-Görlitz: »Generell bleibt richtig, dass die partielle Emanzipation in der DDR zu einer Selbstverständlichkeit der Lebensführung geworden ist, die auch an die Kinder weitergegeben wurde und daher auch deren Lebenseinstellungen prägt.« Zudem gebe es einen »Schub an Emanzipation und Gleichstellungspolitik nach 1990 – insbesondere ab Ende der 1990er Jahre – in der gesamten Bundesrepublik«. Ohne die Ostfrauen, glaubt Kollmorgen, gäbe es »viele Rechtsnormen und informelle Selbstverständlichkeiten« heute noch nicht. Die Arbeitsrechtlerin und Sozialdemokratin Heide Pfarr, von 1991 bis 1993 Frauenministerin in Hessen, sagt: »In der DDR waren Frauen nicht wirklich gleichberechtigt, aber sie waren ökonomisch nicht abhängig von Männern – das hatte eine enorm positive Wirkung.«7 Marianne Birthler, die einstige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, analysiert mit Blick auf die Zeit nach 1989: »Nach meinem Eindruck sind Frauen besser mit den Umstellungen zurechtgekommen.« Sie sieht die Ursache darin, »dass Frauen nach wie vor anders sozialisiert sind als Männer und deshalb flexibler mit bestimmten Lebensbedingungen umgehen können. Das Selbstbewusstsein von Männern hängt ja nach wie vor sehr stark an ihrem Beruf oder daran, der Ernährer der Familie zu sein. Deshalb sind sie da schneller zu beschädigen.« Für Frauen sei es unangenehm, wenn sie kein Geld haben oder arbeitslos werden. »Aber es berührt vielleicht weniger ihr Selbstwertgefühl, als es bei Männern der Fall ist.«

Wohin man auch hört, überall erklingt das Hohelied der ostdeutschen Frauen. Die in der DDR wie später in der Bundesrepublik erfolgreiche Schriftstellerin Monika Maron gibt zu Protokoll: »Die Frauen waren, wenn auch eher praktisch als ideologisch, emanzipierter als viele westdeutsche.«8 Und der Zeit-Journalist Martin Machowecz – ein Jahr vor dem Mauerfall im sächsischen Meißen zur Welt gekommen – schreibt: »Zwischen Rostock und Annaberg-Buchholz gibt es Tausende selbstbewusste und mächtige Frauen, die sich im Zweifel einfach durchsetzen gegen ihre Männer. Das ist toll, die ostdeutsche Frau ist stolz und selbstsicher.«9 Anja Reich notierte in der Berliner Zeitung gar: »Im Geschlechtervergleich wurden Männer in der DDR wie Hobbysportler trainiert und Frauen wie Hochleistungssportler. Immer bereit für die nächste Herausforderung, den nächsten Kampf.«10 Mehr Würdigung geht kaum.

Halbe Emanzipation in der DDR

In der Deutschen Demokratischen Republik – dies ist Konsens – waren erhebliche Fortschritte im Arbeitsleben und bei der Kinderbetreuung gepaart mit weitgehender Stagnation bei der privaten Gleichstellung und patriarchalischen Strukturen überall da, wo es um Macht ging. Niemand hat das bislang so detailliert aufgefächert wie Anna Kaminsky in ihrem wegweisenden Buch Frauen in der DDR. »In der Tat hatten Frauen in der DDR dieselben Rechte wie die Männer«, schreibt sie. »Frauen in der DDR verdienten ihr eigenes Geld und waren wirtschaftlich unabhängig. Sie konnten selbst entscheiden, ob und wo sie arbeiteten.«11 Alles andere blieb schwierig. Die Daten sprechen für sich. 1989 gingen rund 92 Prozent der Ostfrauen einer Arbeit nach, nicht selten in einem »Männerberuf«; das war auch international spitze. Unter den Westfrauen lag die Quote bei gerade mal 51 Prozent.

»Frauen, die zu Hause blieben, um die Kinder zu betreuen, galten als seltsam, asozial fast, genauso wie kinderlose Frauen«,12 erinnert sich Anja Reich. Allein das staatliche Betreuungsangebot betrug für Kinder unter drei Jahren 60 Prozent und für die älteren Kinder 100 Prozent; kirchliche Angebote kamen hinzu. Allerdings existierte dieser relative Komfort nicht ohne Grund. Die Frauen wurden besonders in den ersten Jahren der DDR als Arbeitskräfte gebraucht, um die Kriegsschäden zu beseitigen. Auch bedeutete Gleichberechtigung aus der Sicht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nahezu einzig und allein: Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Ab 1968 herrschte laut Verfassung Arbeitspflicht. Ein Wandel der Geschlechterrollen, eine geschlechtsneutrale Sprache oder gar Macht waren mit Gleichberechtigung nicht gemeint. Um Frauen rekrutieren zu können, mussten jedenfalls massenhaft Betreuungsmöglichkeiten für Kinder geschaffen werden. Das wiederum bedeutete in einem autoritären System auch Uniformierung und Indoktrination von klein auf.

Zugleich blieb die Hausarbeit wie im Westen an den Frauen hängen – wobei es zwei bedeutende Unterschiede zur Bundesrepublik gab. Erstens mussten die Ostfrauen mindestens eine Stunde am Tag für Einkäufe aufwenden, weil sie entweder vor Geschäften Schlange standen, in denen es etwas gab, oder von Geschäft zu Geschäft liefen, in denen es, wie sich herausstellte, nichts gab oder zumindest nicht das Richtige. Zweitens fiel die »Motorisierung« der Haushalte im Osten weitaus bescheidener aus als im Westen. Spülmaschinen etwa existierten so gut wie nicht. Das hatte erhebliche Konsequenzen. 1969, zeigt Kaminsky, hätten Frauen im Schnitt 74,65 Stunden pro Woche für Erholung, Schlaf und Freizeit zur Verfügung gehabt, Männer hingegen 109,25 Stunden13 – und damit sage und schreibe 35 Stunden mehr. Die Folge war, dass Ostfrauen immer öfter nur ein Kind wollten, um nicht noch mehr in den Schraubstock von Berufstätigkeit, Hausarbeit und Kinderbetreuung zu geraten.

Und schließlich teilten die Männer die einflussreichen Posten unter sich auf. Bis 1989 hat es nicht eine einzige Frau ins höchste Gremium der SED, das Politbüro, geschafft. Unter den 156 Mitgliedern des zweithöchsten Gremiums, des Zentralkomitees, gab es in den 1980er-Jahren gerade mal 19 Frauen. Nur zwei Frauen gelang es während der gesamten DDR-Zeit, Ministerin zu werden: Hilde Benjamin (Justizministerin von 1953 bis 1967) und Margot Honecker (Ministerin für Volksbildung von 1963 bis 1989 und Ehefrau des Partei- und Staatschefs Erich Honecker). Beide waren gefürchtet. In der Volkskammer lag der Frauenanteil 1989 mit 32,2 Prozent ungefähr auf dem Niveau des heutigen Bundestages. Sogar den Vorsitz der Kommission zur »Vorbereitung und Durchführung des Internationalen Jahrs der Frau in der DDR« übernahm 1975 – ein Mann.

Daneben gab es weitere signifikante Ost-West-Unterschiede. Frauen in der DDR heirateten 1989 durchschnittlich mit 23,2 Jahren – zweieinhalb Jahre früher als die Frauen in der Bundesrepublik. Manchmal sind früh gebärende Ostfrauen wie die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt heute bereits Großmütter in einem Alter, in dem andere Frauen Mütter werden. Auch lag die ostdeutsche Scheidungsrate bis zu zehn Prozent über der westdeutschen – wobei es in den 1980er-Jahren in zwei Dritteln der Fälle die Frauen waren, die im Osten die Scheidung einreichten. Unterdessen war die Abtreibungsquote enorm hoch. So kamen im Jahr 1989 auf etwa 198 000 Geburten fast 74 000 Schwangerschaftsabbrüche. Der Wittenberger Gynäkologe und spätere Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Wolfgang Böhmer (CDU) erlebte in seiner Praxis so viele Abtreibungswillige, dass die vorgesehene Beratung aus Zeitgründen vielfach ausblieb – ausbleiben musste. Der Schlachtruf der westdeutschen Feministinnen »Mein Bauch gehört mir« war in der DDR Realität.

Nicht in jedem Detail, aber in der Summe besaßen die Ostfrauen mehr Autonomie als die Westfrauen. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Leitbild der Emanzipation in der DDR letztlich ein männliches war – weshalb die Publizistin Ines Geipel »den Mythos der emanzipierten Ostfrau höchst fragwürdig« findet, da eine Karriere für sich genommen noch nichts besage. Maßgeblich sei die eigene innere Freiheit, sagt sie. Marianne Birthler resümiert ähnlich: »Eine Freundin, die zu DDR-Zeiten Ärztin war, sagt, ihr Wartezimmer sei voll gewesen von überlasteten Frauen. Wenn es gut ging, half der Mann ein bisschen. Aber helfen heißt ja, dass er sich nicht verantwortlich fühlte, sondern eben half. Das alles hat bei vielen Frauen zu einer großen Überforderung geführt. Deshalb ärgere ich mich, wie romantisch dieses Klischee von der emanzipierten Frau in der DDR beschrieben wird, zumal es sehr einseitig war. Gleichberechtigung hieß in der DDR, möglichst wie ein Mann zu leben. Das spiegelte sich auch in der Sprache. Sogar beim Frauenarzt hieß es: Der Nächste bitte!« Mithin war auch der monatliche »Haushaltstag« den berufstätigen Frauen vorbehalten – ab 1977 mit Ausnahme der wenigen »alleinstehenden« Väter. Dafür erledigten die Männer am Frauentag Frauenarbeit – also einmal im Jahr. Das spricht ebenfalls für sich. So wundert es nicht, dass ein Kinderlied so ging: »Meine Mutti ist Abteilungsleiter, alle Tage steht sie ihren Mann …« Was sich ins patriarchalische Rollenbild der SED-Oberen nicht fügen wollte, schlug sich unter anderem in der Literatur nieder – in Christa Wolfs Der geteilte Himmel von 1963, in Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand von 1974 oder in Maxie Wanders berühmtem Buch Guten Morgen, du Schöne von 1977. Es waren Rufe nach Befreiung in einem Land, in dem die Menschen doch angeblich befreit waren; und es war so etwas wie ein literarischer Feminismus, während in der DDR ansonsten kein Feminismus erkennbar war. Maxie Wander wurde übrigens in Wien geboren. Sie starb in Kleinmachnow bei Berlin.

Keineswegs zufällig beklagte Erich Honecker 1971: »Ohne die wachsende Mitarbeit der Männer in der Familie etwa geringschätzen zu wollen – die Hauptlast liegt immer noch bei der Frau.« Denn diese Last war einer der Hauptgründe für Eheprobleme und die enorm hohe Scheidungsrate. Immerhin hielten es in den 1980er-Jahren 74 Prozent der DDR-Männer für richtig, sich an der Kindererziehung zu beteiligen14 – was wiederum nicht heißt, dass sie es wirklich taten.

Mutige Dissidentinnen

Das relativ große Selbstbewusstsein wie zugleich der Frust vieler DDR-Frauen haben dazu beigetragen, dass sie in der Bürgerrechtsbewegung »eine herausragende und wahrnehmbare Rolle«15 spielten, wie Anna Kaminsky ausführt. Unter den 30 Gründungsmitgliedern des Neuen Forums waren 1989 zehn Frauen, unter den 20 Rednern bei der Großkundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 immerhin vier, darunter Marianne Birthler und Christa Wolf. Nicht wenige fielen vorher und nachher durch bemerkenswerten Mut auf: allen voran Bärbel Bohley und Freya Klier. Birthler erinnert sich, dass der Frauenanteil nicht zuletzt in kirchlichen Gruppen »relativ hoch« gewesen sei. In den Herbsttagen 1989 tauchte außerdem eine Frau auf, die später noch von sich reden machte – Angela Merkel. Und: Es konstituierte sich neben dem seit 1947 bestehenden Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD), dem nur 17 Prozent der DDR-Frauen angehörten, am 3. Dezember 1989 eine neue Lobby-Gruppe: der Unabhängige Frauenverband (UFV), der seinerseits Ina Merkel und Walfriede Schmitt an den Runden Tisch entsandte. Der Verband war, wie die Sozialwissenschaftlerin Anne Hampele analysiert, Konsequenz des Umstandes, dass Frauen mit Beginn der 1980er-Jahre anfingen, »ihre Ansprüche einzuklagen«16 – wobei die evangelische Kirche hier ebenfalls führend war. Es ging um Aktionen gegen die Militarisierung der Schulen ebenso wie darum, Freiräume für Schwule und Lesben zu schaffen. Auch machten Alleinerziehende ihre Rechte geltend. Offenkundig war: Frauen brachten Ideal und Wirklichkeit der DDR nicht mehr unter einen Hut.

Doch abgesehen davon, dass es der UFV bis zum August 1990 auf lediglich 3030 beitragszahlende Mitglieder brachte, bestand das Hauptproblem darin, dass, wie es Monika Zimmermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung formulierte, »vor der Befreiung der Frau wohl immer die Befreiung des Menschen allgemein stehen muss«.17 Marianne Birthler sagt: »Wir standen in den 1980er-Jahren vor so großen Herausforderungen und hatten auch so mächtige Gegner, dass offensiv geführte interne Kontroversen geradezu gefährlich gewesen wären.« Als in jener Zeit von Quotierung die Rede war, wurde der kuriose Einwand laut: »Dann brauchen wir auch eine Quotierung für Brillenträger.«18 Zwar standen alsbald – wie sich zeigte: zu Recht – die Befürchtung einer Verschlechterung der sozialen Lage von Frauen im Raum sowie die Sorge, von der Macht erneut ferngehalten zu werden. Das UFV-Mitglied Tatjana Böhm wurde Ministerin ohne Geschäftsbereich in der letzten SED-geführten Regierung unter Hans Modrow. Von einer deutschen Vereinigung wollten viele Verbandsmitglieder nichts wissen. Der UFV scheiterte bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 bei dem Versuch, ein Mandat zu erringen. Das wiederum verringerte die Möglichkeiten der Frauen weiter, sich Gehör zu verschaffen. Manchen war der UFV ohnehin zu feministisch, anderen prinzipiell zu links. Andererseits berichtet Marianne Birthler aus jener Zeit: »Wir haben zum Teil händeringend nach Frauen gesucht, die bereit waren, für politische Ämter oder Mandate zu kandidieren. Viele Frauen haben dann oft von sich aus entschieden: Das mache ich mit meinem Leben nicht. Ich brauche noch Raum. Ihr Leben war ihnen für die kräftezehrende Berufspolitik zu schade.« So oder so geriet der Unabhängige Frauenverband schneller und nachhaltiger in Vergessenheit als andere Gruppen, die während der Friedlichen Revolution auf sich aufmerksam machten.

Zu Unrecht, wie man rückblickend konstatieren kann, ja muss. Wohl ließ der erste und letzte demokratisch gewählte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) ein Familien- und Frauenministerium einrichten. Das Amt übernahm die Christdemokratin Christa Schmidt. Dies änderte aber nichts daran, dass die Frauen zunächst zu den Verliererinnen der Wende zählten: Das Recht auf Arbeit ließ sich ebenso wenig halten wie das Recht auf einen Krippen- oder Kindergartenplatz. Auch sollte der straffreie Schwangerschaftsabbruch nur noch übergangsweise möglich bleiben; es drohte eine Verschärfung. Den meisten Ostfrauen Wichtiges und Gewohntes fiel im Einigungsvertrag und bei dem anschließenden Beitritt der DDR zur Bundesrepublik unter den Tisch. Die Gleichstellungsbeauftragte der DDR-Regierung, Marina Beyer, wurde am 3. Oktober 1990 entlassen. Sehr aussagekräftig sind statistische Daten aus jener Zeit. So halbierte sich der Anteil der erwerbstätigen Frauen von 92,4 Prozent im Jahr 1989 auf 44,3 Prozent im Jahr 1990. Sie verloren unter anderem deshalb eher als die Männer ihren Job, weil sie seltener in Leitungspositionen und die neuen Chefs öfter Westmänner waren.

Die Scheidungsrate sank in Ostdeutschland von 38,2 Prozent auf 31,3 Prozent – ein Indiz dafür, dass sich die Frauen sozial-ökonomisch ohne Mann nicht mehr sicher fühlten. Die Geburtenrate brach von 1,52 im Jahr 1990 auf historisch einmalige 0,77 Kinder je Frau im Jahr 1994 ein. Betriebliche Kindereinrichtungen verschwanden mit den Betrieben, und das massenhaft. Parallel schrumpfte der Anteil der weiblichen Volkskammerabgeordneten von 32,2 auf 20 Prozent. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Auch wenn die komplette Ostgesellschaft über Jahre hinweg eine Abwicklungs-, Abwanderungs- und Schrumpfgesellschaft war: Die Frauen traf es besonders hart. Am härtesten traf sie der scharenweise Verlust ihrer Arbeitsplätze. Kurzum, für die Ostfrauen ging es nicht mehr darum, auf der Basis des Bestehenden zu neuen Ufern aufzubrechen, sondern das Erreichte zu sichern. Das gelang entweder gar nicht oder schlecht.

In der eingangs zitierten Gleichstellungsstudie steht: »In den Umwälzungen nach der Wiedervereinigung wurde eine Reihe von Strukturen, die die Gleichstellung befördert hatten, in Ostdeutschland abgebaut oder nicht fortgeführt, sodass die ersten Jahre der deutschen Einheit in Ostdeutschland objektiv einen Rückschritt in der Gleichstellung von Frauen und Männern bedeuteten.«19 Weiter heißt es: »Später wurde in Ostdeutschland in den weiteren Phasen der deutschen Einheit das verlorene Terrain der Gleichstellung wiedergewonnen und sogar übertroffen.«20 Und in der Tat: Das ist keine Regierungspropaganda, selbst wenn es das vielleicht auch ist. Es ist die Wirklichkeit. Das Ausmaß, in dem sich Ostdeutschland frauenpolitisch langfristig behauptet und Gesamtdeutschland seinen Stempel aufgedrückt hat, ist – wenn man alle verfügbaren Daten betrachtet – erstaunlich, zuweilen verblüffend. Aus vielen kleinen Puzzleteilen ergibt sich ein großes Muster.

Neue Zeiten, bessere Zeiten

Die Stärke der Frauen zeigte sich zunächst daran, dass sie die in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland um sich greifende Perspektivlosigkeit nicht akzeptieren wollten – und gingen. Die Arbeitslosigkeit stieg damals – man vergisst das heute oft – teilweise auf einen Anteil von 25 Prozent und mehr. Rechnet man die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinzu, war die Hälfte der Bevölkerung ohne reguläre Beschäftigung. Frauen waren anfangs überproportional betroffen und suchten das Weite. So wanderten ab 1991 aus Ostdeutschland 17 Jahre lang mehr Frauen ab als Männer.21 Den größten Abstand verzeichnete das Statistische Bundesamt im Jahr 1992. 2008 stellte sich ein Gleichstand ein und seitdem eine Trendumkehr auf deutlich niedrigerem Niveau. Im Durchschnitt verließen in den ersten 20 Jahren nach dem Mauerfall jedes Jahr 45000 Männer den Osten und 51 500 Frauen.22 Deren Schulabschlüsse waren oft besser. Und: Ihre Flexibilität entspricht dem internationalen Standard. Die Frauen – vor allem aus strukturschwachen Regionen – zogen den Chancen hinterher. Damit war erst Schluss, als sich Ende der Nullerjahre auch im Osten wieder Chancen boten. Der Soziologe Raj Kollmorgen konstatiert: »Die ostdeutschen Frauen waren schlicht berufsmobiler, risikobereiter und aufstiegsorientierter als die Männer.«

Zweiter Indikator für die Stärke der Ostfrauen ist, dass sie häufiger berufstätig waren und sind als ihre westdeutschen Schwestern – und das obwohl im Osten bis heute viel weniger Jobs zur Verfügung stehen als in der alten Bundesrepublik. Zwar ließ neben anderen ausgerechnet eine gewisse Angela Merkel in ihrer Eigenschaft als Frauenministerin Anfang der 1990er-Jahre wissen, dass die Erwerbsneigung der Frauen in den neuen Ländern vermutlich zurückgehen werde, »weil es (früher) die Möglichkeit, Hausfrau zu sein, eigentlich nicht gab«.23 Gemeint war: in der DDR nicht gab. So wie Merkel dachten viele, in erster Linie Westdeutsche. Doch sie verschätzten sich. Tatsächlich konnten sich nur vier bis fünf Prozent der Ostfrauen einen völligen Rückzug aus dem Erwerbsleben vorstellen.24 Auch hier sprechen die Zahlen für sich. Zwar ist der Osten von 90-prozentigen Frauenerwerbsquoten wie zu DDR-Zeiten weit entfernt. Gleichwohl ist die Quote trotz der Abwanderung von 44,3 Prozent im Jahr 1990 auf 57,9 Prozent im Jahr 2014 angewachsen. Das zumindest ergibt sich aus einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015.25 Und wenngleich 25 Jahre nach dem Mauerfall auch immer mehr Westfrauen arbeiten gingen, wuchs der Ostvorsprung von 5,1 Prozentpunkten im Jahr 2006 auf sieben Prozentpunkte im Jahr 2014. Es scheint, als zeitige das Ostleitbild gesamtdeutsch eine positive Wirkung.

Dieser Eindruck setzt sich in Betrieben und Behörden fort. So sind Ostfrauen häufiger in Führungspositionen als Westfrauen. Im Jahr 2015 lag der Anteil von Frauen auf privatwirtschaftlichen Leitungsposten bei 44 Prozent im Osten und 27 Prozent im Westen.26 Im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands betrug dieser Anteil bereits im Jahr 2007 rund 45 Prozent und damit fast die Hälfte.27 Schließlich ist die Entgeltdifferenz zwischen Frauen und Männern im Osten geringer als im Westen. 2014 betrug der sogenannte Gender Pay Gap im Westen 22 Prozent, in Ostdeutschland hingegen nur neun Prozent.28 Teilweise verdienen Ostfrauen sogar mehr als Ostmänner, in Cottbus 17,3 Prozent mehr, in Frankfurt (Oder) 16,6 Prozent mehr, in Dessau-Roßlau immerhin noch 14,4 Prozent mehr – allerdings auf der Basis eher niedriger Gehälter.29 Das gibt es im Westen nirgends. Im Gegenteil: In Dingolfing-Landau (Bayern) liegen die Männer sogar mit 38,4 Prozent Mehrverdienst vorn. Experten führen den höheren Anteil der Ostfrauen in Führungspositionen nicht zuletzt darauf zurück, dass ostdeutsche Mütter nach der Geburt eines Kindes früher ins Erwerbsleben zurückkehren als westdeutsche – und das in der Regel auf Vollzeitstellen. So sind im Westen nur noch 17 Prozent der Mütter bis zum 40. Lebensjahr vollzeitberufstätig, im Osten 40 Prozent. Kinder sind hier nicht unbedingt eine Karrierebremse. Das wiederum hat neben einer anderen Haltung zur Berufstätigkeit mit oftmals besseren Möglichkeiten der Kinderbetreuung zu tun.

Der Betreuungsanteil in Kinderkrippen für unter Dreijährige sank in Ostdeutschland zwar von 80 Prozent im Jahr 1989 auf 41 Prozent im Jahr 2007. 2016 erreichte er aber wieder 52 Prozent – gegenüber 27 Prozent im Westen. Bei der Ganztagsbetreuung drei- bis sechsjähriger Kinder war das Gefälle mit 72,6 Prozent im Osten gegenüber 34,1 Prozent im Westen noch größer. Auch die Einstellung im Westen hat sich geändert. Rückblickend sind nur 30 Prozent der Westdeutschen der Meinung, das System der Kinderbetreuung in der alten Bundesrepublik sei gut gewesen; in der einstigen DDR erinnern sich 93 Prozent der Bürger positiv an die Vergangenheit.30 Zugleich waren im Jahr 2016 Erstgebärende im Osten mit durchschnittlich 28,6 Jahren jünger als im Westen (29,8 Jahre) und bekamen mit 1,56 Kindern im Schnitt mehr Kinder als dort (1,50 Kinder).31

Der emanzipatorische Ostvorsprung wirkt sich ferner auf die Männer aus. So belegte Sachsen mit einer Beteiligung von 46,7 Prozent der Väter an der Elternzeit 2016 bundesweit Platz eins; Thüringen rangierte mit 42,7 Prozent auf Platz drei.32 Bei der Inanspruchnahme des neuen »Elterngeldes plus« für Eltern, die kurz nach dem Mutterschutz wieder stundenweise mit der Arbeit beginnen, lag 2017 Thüringen vorn.33 Die Differenz in der ehedem geteilten Republik lässt sich bis in Details nachweisen. So kauften 2015 51 Prozent der Frauen im Westen Kleidung für ihren Partner; im Osten taten das nur 38 Prozent der Frauen.34 Das zeigt einmal mehr: Im Osten haben Männer ein größeres Interesse an der Gleichstellung der Geschlechter. Im Großen und Ganzen lautet die Lehre: Arbeit stärkt die Frauen nach innen – und ist kombiniert mit guten Kinderbetreuungsmöglichkeiten der Schlüssel für Teilhabe und Aufstieg nach außen.

Interessant ist, dass sich bei den jungen ostdeutschen Frauen eine »Rolle rückwärts«35 beobachten lässt. Bei den unter 40-Jährigen ist der Anteil derer, die sich Gleichstellung in der Partnerschaft wünschen, zuletzt um 20 Prozentpunkte auf 41 Prozent gesunken. Experten führen dies auf den Umstand zurück, dass die Chancen, wenigstens in beruflicher Hinsicht Gleichstellung auch zu leben, seit dem Fall der Mauer abgenommen hätten. Das Ideal passt sich der Wirklichkeit an – nicht umgekehrt. Darüber hinaus lebten viele der mobilen, fortschrittlichen Frauen nicht mehr im Osten, sondern seien, wie eingangs beschrieben, in den Westen übergesiedelt. Entsprechend habe sich der Anteil der Ostfrauen in unteren sozialen Milieus erhöht, wo die traditionelle Rollenverteilung mehr Anhängerinnen habe. Womöglich hat das Phänomen auch mit einem allgemeinen Rechtsruck der Ostgesellschaft zu tun, der sich im Erstarken der männerdominierten AfD ausdrückt. So wie jüngere Frauen in der DDR auf Gleichberechtigung pochten, tun es die jüngeren Frauen im Osten heute nicht mehr. Doch am Gesamtbild ändert dies wenig. »Das Lebensmodell der Gleichstellung von Frauen und Männern ist in Ostdeutschland deutlich verbreiteter als in Westdeutschland«, heißt es in der von Manuela Schwesig in Auftrag gegebenen Studie. Dort sei es »auch in der Mitte der Gesellschaft und in traditionellen Milieus eine mehrheitliche Option«. Der Osten könne dem Westen diesbezüglich »eine Brücke und Vorbild sein«.36 Thüringens ehemalige Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, CDU-Mitglied, pflichtet dem bei: »Die DDR-Erfahrung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist inzwischen voll im Westen angekommen – jetzt auch unter Einbeziehung der Männer.« Sarkastisch gesprochen, hat die SED die Frauen im Sozialismus für die Karriere im Kapitalismus ertüchtigt.

Die gewandelte Wirklichkeit zog zu guter Letzt eine neue Politik nach sich. Bis 1977 durften westdeutsche Frauen nur gegen den Willen ihrer Männer arbeiten gehen, wenn der Haushalt nicht darunter litt. In Eheangelegenheiten hatten Männer sowieso das Letztentscheidungsrecht. Eine unverheiratete Mutter, die keinen Vater benennen konnte, bekam einen Amtsvormund. Und Vergewaltigung in der Ehe blieb bis 1997 (!) straffrei. Manches ist heute vergessen und kaum noch vorstellbar. Im Westen hatte der seit 1982 regierende Kanzler Helmut Kohl (CDU) obendrein eine »geistig-moralische Wende« beschworen – gegen die 68er-Generation und ihre Erben. Für die Frauen verhieß das wenig Gutes. Das alles änderte sich, nachdem aus zwei deutschen Staaten einer geworden war.

Schon in den Einigungsvertrag fand ein Passus Eingang, nach dem die Pflicht zur Amtsvormundschaft für ostdeutsche alleinstehende Mütter nicht griff. Seit 2007 gibt es in Deutschland das sogenannte Elterngeld, das länger in Anspruch genommen werden kann, wenn auch Männer Elternzeit nehmen. 2013 wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt: Für 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren sollte es einen Krippenplatz geben. Um den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen, gilt seit 2016 die Geschlechterquote von 30 Prozent für neu zu besetzende Aufsichtsratsposten – allerdings lediglich in sehr großen Unternehmen. Seit 2017 haben Frauen schließlich das Recht, Auskunft zu verlangen darüber, was männliche Kollegen in vergleichbarer Position verdienen. Ziel war und ist, den Gender Pay Gap zu schließen. »Die Einheit hat der Geschlechterpolitik Schub gegeben«, kommentiert die Journalistin Andrea Dernbach. »Viele Frauen – und Männer – mit einem anderen Rollenbild und anderen Erfahrungen als dem der westdeutschen Norm bestimmen seither politisch mit und haben die alten Westdebatten um die ›Vereinbarkeit‹ von Beruf und Familie, um Krippenbetreuung und angeblich natürliche Geschlechterordnungen womöglich stärker erschüttert als alle Forschung zum Thema. Nicht dass nicht mehr geredet würde und verhandelt werden müsste. Aber der Alltag von Millionen Ostdeutschen gibt bereits starke Antworten.«37 Es ist wohl auch kein Zufall, dass fünf der gesamtdeutschen Frauenministerinnen seit 1990 aus dem Osten kamen beziehungsweise kommen: Angela Merkel und Claudia Nolte (beide CDU) sowie Christine Bergmann, Manuela Schwesig und seit März 2018 Franziska Giffey (alle SPD).

Frauen an der Spitze

Immer mehr Ostfrauen machten in der Politik von sich reden. Die erste demokratisch gewählte Volkskammerpräsidentin war Sabine Bergmann-Pohl (CDU). Die Grüne Marianne Birthler stieg im Jahr 2000 zur Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen auf und wäre 2017 um ein Haar Bundespräsidentin geworden – hätte sie nicht selbst abgesagt und damit eine staatliche Doppelspitze von zwei Ostfrauen verhindert. 1999 unterlag die ostdeutsche CDU-Kandidatin Dagmar Schipanski ihrem alt-westdeutschen Gegenkandidaten Johannes Rau von der SPD. Erste Ministerpräsidentin eines Ostlandes wurde 2009 in Thüringen Christine Lieberknecht (CDU). »Vor mir gab es in diesem Amt nur Heide Simonis, die aber schon nicht mehr aktiv war, als ich ins Amt kam«, sagt sie. »Bei meinem Ausscheiden im Jahr 2014 waren wir mit Hannelore Kraft, Annegret Kramp-Karrenbauer und Malu Dreyer immerhin zu viert – und über alle Parteigrenzen hinweg einte uns dabei ein solidarisches Grundgefühl.« Ungefähr zeitgleich, 2010, reüssierte die gebürtige Sächsin Johanna Wanka (CDU) zum ersten ostdeutschen Mitglied eines westdeutschen Landeskabinetts, dem in Niedersachsen. 2014 erkämpfte sich die Thüringerin Iris Gleicke (SPD) den Posten der Ostbeauftragten der Bundesregierung. Seit ihrer Wahl in den Bundestag 2017 macht die Netzaktivistin und Feministin Anke Domscheit-Berg von sich reden; sie trat für die Linke an, nachdem Engagements bei den Grünen und in der Piratenpartei gescheitert waren. Zuletzt fiel das Auge der Öffentlichkeit auf die in Brandenburg zur Welt gekommene Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln Franziska Giffey (SPD), die Bundesgeschäftsführerin der SPD Nancy Böhning, die aus der Lausitz stammt, und die Oberbürgermeisterin von Flensburg Simone Lange (SPD), die im thüringischen Rudolstadt aufwuchs und sich Anfang 2018 gleichermaßen überraschend wie selbstbewusst gegen die Favoritin Andrea Nahles um den SPD-Vorsitz bewarb. Mittlerweile fast vergessen ist die 2001 gestorbene Sozialministerin von Brandenburg Regine Hildebrandt (SPD), die lautstark wie kaum eine andere für ostdeutsche Fraueninteressen eintrat und mit der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) in der »menschelnden« Art des Politikmachens eine Wiedergängerin gefunden hat. Zu guter Letzt wartete der Wahlkreis Vorpommern-Rügen bei der Bundestagswahl 2017 mit der kaum beachteten Besonderheit auf, dass neben der direkt gewählten Kandidatin Angela Merkel drei weitere weibliche Abgeordnete aus diesem Wahlkreis über die Landeslisten ins Parlament einzogen, nämlich von der Linken, der SPD und den Grünen. Schon die parallele Wahl von drei Frauen im fränkischen Wahlkreis Bad Kissingen galt unter Fachleuten als äußerst spektakulär. Unterdessen ist der Frauenanteil im thüringischen Landtag am höchsten. Und der Landtag von Brandenburg verabschiedete Ende Januar 2019 ein Gesetz, wonach Parteien künftig ihre Wahllisten paritätisch mit Frauen und Männern besetzen müssen – bundesweit ein Novum.

Am aufsehenerregendsten ist aber, wie viele Frauen es in den Parteien an die Spitze geschafft haben. Angela Merkel war von 2000 bis 2018 CDU-Vorsitzende und ist seit 2005 Kanzlerin. Katrin Göring-Eckardt wurde 2002 Fraktionsvorsitzende der Grünen – und 2013 noch einmal. Katja Kipping errang 2012 den Vorsitz der Linkspartei – und Sahra Wagenknecht 2015 den der linken Bundestagsfraktion. Frauke Petry stieg 2013 zur AfD-Chefin empor. Nicht zu vergessen Cornelia Pieper aus Halle (Saale), die von 2001 bis 2005 FDP-Generalsekretärin war und anschließend bis 2011 stellvertretende Parteivorsitzende. Sie wurde 2014 Generalkonsulin im polnischen Danzig. Derweil gilt Manuela Schwesig, seit 2017 Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, als denkbare Kandidatin für den SPD-Vorsitz, sollte sich Amtsinhaberin Andrea Nahles nicht mehr halten können oder nicht mehr halten wollen. Last but not least: Ska Keller, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europarlament, aus dem brandenburgischen Guben.

Sucht man nach Gemeinsamkeiten, fällt auf, dass Merkel aus einem Pfarrhaus kommt und Göring-Eckardt ebenso mit einem Pfarrer verheiratet war wie Petry. Göring-Eckardt sagt, auf den Synoden, also quasi Parlamenten, der evangelischen Kirche in der DDR »konnte man lernen, wie Demokratie geht«. Auch hatten oder haben viele der Genannten westdeutsche Männer. Offenkundig ist: Die politische Macht, die Ostfrauen in der DDR allzu oft nicht besaßen, holen sie sich jetzt umso energischer und behaupten sie dann gegen alle Widerstände. Merkel hat gezeigt, wie man das macht. Kipping und Wagenknecht liefern sich einen ausgewachsenen inneröstlichen Machtkampf, ohne dass er noch als solcher auffiele. Petry wiederum hatte kein Problem damit, ein Landtagsund ein Bundestagsmandat für die AfD zu holen – und nach ihrem Austritt aus der Partei beide zu behalten. Die Entschlossenheit der Ostfrauen ist selbstverständlicher Alltag.

Den genannten Spitzenpolitikerinnen ist ihre ostdeutsche Herkunft wohl bewusst. Die früher oppositionelle Göring-Eckardt indes betont angesichts der Vorgeschichte: »Zur DDR-Wahrheit gehört auch: Wenn ›Mutti‹ früh zur Arbeit ging, dann machte sie abends trotzdem Haushalt und Kind.«38 An einer Glorifizierung des untergegangenen Staates möchte sich die Grüne nicht beteiligen. Marianne Birthler denkt genauso. »Die Möglichkeiten für Frauen sind heute ungleich größer«, sagt sie. »Ich würde überhaupt nicht sagen, dass sie Verliererinnen der Einheit waren. Dazu kenne ich zu viele wunderbare Geschichten, in denen Frauen ihre Möglichkeiten genutzt haben.«

Angela Merkel – Vorbild oder nicht?