Otto Neurath - Günther Sandner - E-Book

Otto Neurath E-Book

Günther Sandner

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Beschreibung

Otto Neurath war eines „der am meisten vernachlässigten Genies des 20. Jahrhunderts“, so der amerikanische Kulturhistoriker William Johnston. Was und wer Otto Neurath (1882 bis 1945) wirklich war, das beantwortet der Historiker Günther Sandner in der ersten umfassenden Biographie über den vielseitigen Ökonomen, der auch als Aufklärer, Sozialist, Utopist, als prägender Graphikdesigner, Museumsdirektor, Filmemacher wirkte und als der „witzigste Mann von Wien“ galt. Zusammengehalten wurden diese Teile seines Lebens von seinem politischen Engagement. Mit seinen Piktogrammen, die Neurath im Exil schuf, hinterließ dieser unorthodoxe Intellektuelle der Nachwelt eine bis heute internationale Bildsprache.

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Zsolnay E-Book

Günther Sandner

Otto Neurath

Eine politische Biographie

Paul Zsolnay Verlag

ISBN 978-3-552-05687-9

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

Schutzumschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Noord-Hollands Archief (Haarlem, NL), Vienna Circle Archive

(1924–1938), inventory number 369

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Zur Einleitung: Ein skeptischer Utopist

Der junge Neurath

Der Kriegswirtschaftslehrer

Vita Activa: Vollsozialisierung

Im Umfeld des Austromarxismus: Rotes Wien

Emigration: Niederlande und England

Nach Neurath

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Archive

Bildnachweis

Personenregister

Zur Einleitung: Ein skeptischer Utopist

Sein Erscheinungsbild war außergewöhnlich. »Neurath«, so schrieb seine langjährige Freundin Margarete Schütte-Lihotzky, »war ein Hüne, groß und stark, mit langem roten Bart und kahlem Kopf, auf dem er einen riesigen Schlapphut trug. Eine auffallende Andreas-Hofer-Gestalt, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehten.«1 Man konnte ihn auch »für einen Assyrer oder Babylonier halten«, meinte Ernst Niekisch, der Mitstreiter aus der bayerischen Revolution2, für einen Epikuräer, einen »Lucullus«, korrigierte der Graphiker Gerd Arntz.3 Wenn Neurath badete, behauptete der amerikanische Philosoph Charles Morris, dann sei wegen seines Körpervolumens nur wenig Wasser notwendig gewesen, um die Wanne zu füllen.4 Wer Neurath beschrieb, konzentrierte sich zumeist auf wenige hervorstechende Merkmale (Größe, Umfang, Bart, Glatze), deren Ausprägungen allerdings unterschiedlich dramatisiert wurden. So erschien er als ein »überlebensgroßer Mann mit einer vollendeten Glatze und einem gewaltigen roten Vollbart wildester Art, der Fäuste wie ein Matrose hatte«, wie ein ehemaliger Schüler aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das Bild seines früheren Ökonomielehrers Otto Neurath in einem allerdings semifiktionalen Text zeichnete.5 »Als Du 18 Jahre alt warst«, schrieb ihm die Schulfreundin Dora Lucka rückblickend im britischen Exil, »hattest Du einen roten Bart, sehr viele Gliedmaßen und fuchteltest mit den Händen und vermutlich auch mit den Füßen, wenn Du eine Debatte abführtest.« Ein gemeinsamer Freund habe deswegen auch immer einen Tisch dazwischen gestellt, bevor er mit dem jungen Neurath zu debattieren begann.6 Ruhigere Gemüter, so wird berichtet, konnten den streitlustigen Riesen nur schwer ertragen. Seine Stimme dröhnte so laut, dass der Philosoph Moritz Schlick angeblich meinte, so jemanden könne man jedenfalls nicht in ein Haus einladen, in dem zuerst Mozart gespielt und danach leise darüber gesprochen wurde.7 Kein Wunder, dass sein Sohn Paul, der schon als Kleinkind von seinem Vater getrennt wurde, den Mann ein wenig zum Fürchten fand, als er ihn als knapp Zehnjähriger erstmals wiedersah.8

Erinnerungsbilder wie diese formen schon mehr eine literarische Gestalt als eine reale historische Person. Konsequenterweise ließ sein kurzzeitiger Mitarbeiter im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, der Schriftsteller Rudolf Brunngraber, im Jahr 1949 den vier Jahre zuvor gestorbenen Otto Neurath als Romanfigur wiederauferstehen. Jetzt sah der Koloss schon aus, als entstiege er »einem Kondottierebild des Castagno. Kahlköpfig, glattrasiert, mit einer viereckigen Nase, die wie ein Würfel aus dem Gesicht sprang, zwei Meter groß, mit bergigen Schultern und fettem Bauch.« Übertreibung ist ein legitimes Stilmittel der Literatur. Zwei Meter groß war Otto Neurath sicherlich nicht, aber auch mit 1,87 Meter, von denen Zeitgenossen berichten, ja selbst mit 1,82 Meter, die das militärische Hauptgrundbuchblatt für den jungen Rekruten Otto Neurath verzeichnet, überragte er die meisten seiner Zeitgenossen.9 Das zeigt sich auch auf zahlreichen Fotografien. Rudolf Brunngraber setzte seine Beschreibung fort: »Bei näherem Zusehen muteten die Elefantenaugen ebenso listig wie freundlich an und der Mund kokett wie der eines Mädchens.«10 Diese Elefantenaugen waren möglicherweise weniger der treffenden Beobachtungsgabe des Schriftstellers geschuldet als dem Umstand, dass der Elefant so etwas wie ein Selbstbild Otto Neuraths war: Neurath setzte gerne anstelle einer Unterschrift die Zeichnung eines Elefanten ans Ende seiner Briefe und griff damit in ironischer Weise das Motiv seiner Körpergröße auf. Diese Zeichnungen verraten Humor – als den »witzigsten Mann von Wien« soll ihn das Wiener-Kreis-Mitglied Herbert Feigl einmal bezeichnet haben.11 Seinen Humor, generell eine positive Lebenseinstellung scheint Otto Neurath über die Brüche seiner Biographie hinweg bewahrt zu haben. Angesichts eines überaus turbulenten und auch von schweren persönlichen Schicksalsschlägen gezeichneten Lebens ist das keine Selbstverständlichkeit.

Otto Neurath lebte und arbeitete in vielen verschiedenen Städten. Die beiden für ihn wichtigsten waren wohl Wien und Oxford. Der 1882 in der Donaumetropole Geborene liebte seine Heimatstadt – auch wenn er schon früh aus Studien- oder beruflichen Gründen für längere Zeit in Berlin, Leipzig und München war oder etwa die Länder des Balkans bereiste. Er galt als lebenslustig und gesellig, verzichtete aber auf Tabak und Alkohol. Von zwei legendären Wiener Institutionen – dem »Heurigen« und dem Kaffeehaus – besuchte er daher nur Letzteres, vor allem um Besprechungen abzuhalten, zu diskutieren und Zeitungen zu lesen – nicht selten alles zugleich. In der Emigration rief er sich diese Eindrücke, Orte, Menschen und Stimmungen in Erinnerung, sprach und korrespondierte mit Freundinnen und Freunden darüber und verwendete typische Wörter, Ausdrücke und Sprüche seiner Heimatstadt. In seinen letzten Jahren begann er allerdings seine Wiener Zeit neu zu betrachten, seine damalige Rolle zu überdenken und vor allem die hässlichen Seiten der Stadt einer kritischen Analyse zu unterziehen. Dazu zählte der Antisemitismus, mit dem er als Sohn eines jüdischen Vaters immer wieder konfrontiert gewesen war. Als er Wien im Zuge des Bürgerkriegs im Februar 1934 für immer verlassen musste, fand er zunächst im holländischen Den Haag und dann im englischen Oxford eine neue Heimat, mit der er sich geradezu vorbehaltlos identifizierte.

Obwohl Otto Neurath sich in vielen Bereichen einen Namen gemacht hatte und vor allem im Roten Wien der Zwischenkriegszeit geradezu ein public intellectual gewesen ist, erinnerten sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der NS-Herrschaft nur mehr wenige an ihn. Nach seinem Tod am 22. Dezember 1945 erschienen zwar einige Nachrufe, etwa in österreichischen, deutschen, britischen oder amerikanischen Medien, doch bald schien er vergessen zu sein. Erst in den 1970er und 1980er Jahren setzte ein langsamer Prozess der Wiederentdeckung ein, der sich bald beschleunigte und im Grunde bis heute anhält. Einzelne Teile des vielschichtigen und umfangreichen Lebenswerks haben neues Interesse hervorgerufen und damit unterschiedliche Bilder Neuraths in Erinnerung gebracht: der Anti-Philosoph des legendären Wiener Kreises, der die Metaphysik aus dem wissenschaftlichen Denken verbannen wollte, der Arbeiterbildner und revolutionäre Sozialisierungstheoretiker, der einen Weg in den nahen Sozialismus aufzeigte, der Erfinder einer internationalen Bildsprache, deren Spuren bis zu den optischen Leitsystemen und Infographiken der Gegenwart reichen. Otto Neurath bearbeitete so viele Fragestellungen und Themenbereiche auf den Gebieten der Ökonomie, Soziologie und Philosophie, der Wissenschaftslogik und Wissenschaftsgeschichte, der Bildpädagogik und selbst der Literaturgeschichte, dass sehr leicht der Eindruck verschiedener intellektueller Biographien entstehen kann. Tatsächlich ist Neuraths Werk aus verschiedenen Ansätzen und Fachbereichen heraus – etwa der History and Philosophy of Science, der Bildpädagogik und des graphischen Designs, der Geschichte der Arbeiterbewegung und vielen anderen mehr – immer wieder neu entdeckt worden, oft ohne dass die Forschenden die Arbeiten der jeweils anderen zur Kenntnis nahmen oder auch nur voneinander wussten. Eine mittlerweile in ihrer Fülle nur schwer überschaubare wissenschaftliche Sekundärliteratur macht dies freilich nicht immer einfach.

In diesem Buch wird nun der Versuch unternommen zu zeigen, dass klare Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Teilen von Neuraths Werk existieren. Otto Neurath hatte zweifelsfrei ein wissenschaftliches und ein politisches Programm. Obwohl darin viele unterschiedliche intellektuelle Strömungen einflossen, basierte es vor allem auf einem reflexiven Verständnis der Aufklärung, in deren enzyklopädische Tradition er sich explizit stellte, und verfolgte das Ziel eines selbstbestimmten, sozialen und »glücklichen« diesseitigen Lebens. Neurath suchte dabei mit wissenschaftlicher Hilfe nach Möglichkeiten ökonomischer Planung und politischer Gestaltung, die er als vereinbar mit individueller Freiheit und gesellschaftlichem Pluralismus betrachtete. Seine »wissenschaftliche Weltauffassung« war weder naiver Positivismus noch fortschrittsgläubiger Szientismus. Er wollte kein wissenschaftliches »System« entwerfen, das an die Stelle politischer oder religiöser, die Menschen entmündigender Ordnungssysteme trat, sondern betonte im Gegenteil die Vorläufigkeit und grundsätzliche Fehlbarkeit wissenschaftlicher Aussagen. Entscheidungen zwischen verschiedenen, jeweils gut begründbaren Optionen, auch solche politischer Natur, müssen daher immer wieder und ohne absolute Sicherheit von den Menschen getroffen werden.

Dieses Buch ist sowohl eine intellektuelle als auch eine politische Biographie, in der die widersprüchlichen Zugänge Neuraths zur und seine Rolle in der Politik kritisch diskutiert werden. Gerade politische Fragen und Positionen bildeten ein wichtiges Bindeglied der verschiedenen Teile von Neuraths Werk. Er verstand sich zwar selbst niemals vorrangig als politischen Aktivisten, geschweige denn als Politiker. Doch obwohl er selbst den heute etwas irritierenden Begriff des »Gesellschaftstechnikers« verwendete, um seine Rolle zu beschreiben, war er ein politischer Intellektueller. Wie zu zeigen sein wird, produzierte diese selbst definierte Rolle eines unpolitischen Experten Probleme, sowohl theoretische als auch praktische. Für eine unumschränkte Expertenherrschaft trat er aber niemals ein. Im Gegenteil: Wenn Neurath mit wissenschaftlichen Mitteln Utopien entwarf, waren diese nicht Zielpunkt einer wissenschaftlich gestützten Teleologie, sondern gedachte Ordnungen und mögliche Wege, über die erst demokratisch entschieden werden musste. Dieser Prozess war auch niemals abgeschlossen, denn für ihn gab es kein Ende der Geschichte. Für Neurath war die menschliche Geschichte ein langsames Vorwärtstasten auf der Grundlage des Bestehenden – mit rationalen Mitteln, aber ohne pseudorationale Gewissheit. In seinem berühmten Gleichnis der Schiffer, die auf offener See ihr Schiff umbauen, ohne jemals völlig neu von vorne damit beginnen zu können, brachte er dies wiederholt zum Ausdruck.

Neurath war ein Utopist. Dieser Begriff lädt zu Missverständnissen ein. Utopien werden heute oft als bloße Illusionen gesehen, als Hirngespinste von Träumern, die den Bezug zur Realität verloren haben. Neuraths Blick auf Utopien war ein ganz anderer. Sie waren weder Synonym für das Unrealisierbare noch ein Zeichen für die Naivität ihrer Urheber. Utopien waren auch nicht einfach Hoffnungen und Wünsche. Sie waren für Neurath wissenschaftliche Konstruktionen einer möglichen Zukunft. Sein Freund Heinz Umrath bezeichnete Otto Neurath als einen skeptischen Utopisten. »Er hatte keine oder wenige Illusionen über die gefährlichen Abgründe der menschlichen Natur«, erinnerte er sich an die gemeinsame Zeit, doch »er glaubte an die Möglichkeit, die positiven Kräfte im Menschen und in der Gesellschaft zu mobilisieren.«12 Für mich ist das die beste Beschreibung des Wissenschaftlers, des politischen Intellektuellen, des Pädagogen und des Menschen Otto Neurath, auf die ich gestoßen bin.

Leben und Werk Otto Neuraths sind ein umfangreiches Thema, das selbst hier nicht erschöpfend oder gar abschließend behandelt werden kann. Dennoch geht das vorliegende Buch über die bisherigen biographischen Studien – aus unterschiedlichen Gründen – deutlich hinaus.13 Gerade die Frage der Schwerpunktsetzung ist angesichts der Vielschichtigkeit von Neuraths wissenschaftlicher, pädagogischer und auch politischer Arbeit nicht einfach und erfordert eine Entscheidung. Selbstverständlich finden jene Teile von Neuraths Biographie, die im Bewusstsein einer interessierten Öffentlichkeit am stärksten präsent sind, ihren gebührenden Niederschlag. Dazu zählen etwa die bildpädagogischen Aktivitäten oder seine Rolle im Wiener Kreis. Doch das vorliegende Buch betont zum einen auch bisher wenig oder gar nicht beachtete Perioden und Einflüsse (zum Beispiel seinen bereits in der Schulzeit beginnenden intellektuellen Austausch mit der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key, seine politische Sozialisierung als Student in Berlin oder – gegen Ende seines Lebens – die Monate der Internierung als »enemy alien« in Großbritannien). Zum anderen werden bestimmte Phasen genauer beleuchtet, über die bis heute immer wieder fehlerhafte Angaben und Ungenauigkeiten zu lesen sind, beispielsweise zu Neuraths Zeit im revolutionären und nachrevolutionären München der Jahre 1919/20. Darüber hinaus soll erstmals die Bedeutung der Themenkreise Nationalsozialismus und Re-Education in seinem Leben im englischen Exil umfassender dargestellt und somit auch das Politische im späten Denken Neuraths hervorgehoben werden.

Otto Neuraths schriftliche Hinterlassenschaft ist groß und schwer überblickbar, vor allem wegen der zahllosen Beiträge in Zeitungen und weniger bekannten Zeitschriften. Immer wieder müssen Erweiterungen des bestehenden Schriftenverzeichnisses vorgenommen werden, und auch ich bin im Zuge meiner Recherchen auf Texte gestoßen, die bisher in keiner Liste aufschienen. Dennoch sind in seinen publizierten Texten nicht alle Themen vertreten, die ihn beschäftigt haben. Es bedarf also eines genauen Blicks in die unveröffentlichten und zumindest zum Teil auch noch ungesichteten Quellen. Neben unpublizierten Manuskripten und Typoskripten spielen Briefe eine entscheidende Rolle. Eine einigermaßen geschlossene Nachlasssammlung inklusive seiner Korrespondenz besitzen wir allerdings erst für die Zeit ab 1934.

Neuraths Geschichte ist eine schillernde Intellektuellenbiographie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der sich die Brüche dieser Epoche spiegeln: 1914, 1918/19, 1933/34, 1938/39 und 1945 – Krieg, Revolution, die Hoffnung auf Sozialismus, der Aufstieg von Faschismus und Nationalsozialismus, wieder Krieg und beginnende politische Neuordnung. Diese historischen Umbrüche spiegeln sich in Neuraths Leben, dessen Entwicklung er vielfach nicht selbst bestimmen konnte. In gewisser Weise, so konstatierte er wenige Wochen vor seinem Tod, war es Zufall, dass sein Leben nicht in der Gaskammer endete.14 Aber Otto Neurath war nicht nur Produkt, sondern auch gestaltender Akteur der Geschichte, ohne den manches anders verlaufen wäre.

Meine Arbeit versteht sich als intellektuelle und politische Biographie. Sie enthält sich weitgehend jeglicher Spekulationen über Otto Neuraths privates Leben. Das bedeutet nicht, dass das Private ausgespart werden kann, denn selbstverständlich spielt dieses in einer Intellektuellenbiographie eine Rolle. Ich werde mich aber vorrangig auf jene privaten Beziehungen konzentrieren, die auf die intellektuelle Entwicklung Neuraths Einfluss genommen und sie mitgeprägt haben. Neben seinem Vater sind dabei vor allem seine drei Frauen und viele Freundschaften zu nennen sowie, wenn auch aus anderen Gründen, sein Sohn.

Neuraths Leben und Werk sind nicht nur Geschichte. Wie das in den letzten Jahren wiederholte Aufgreifen seiner Arbeiten und Ideen beweist, haben bedeutende Teile davon mit Fragen unserer Gegenwart zu tun. Das Leben eines »der am meisten vernachlässigten Genies des 20. Jahrhunderts« – so der US-amerikanische Kulturhistoriker William Johnston über Otto Neurath – hat auch abseits historischer Interessen heutigen Leserinnen und Lesern etwas mitzuteilen. Den Geniebegriff hätte Neurath allerdings entschieden zurückgewiesen. In seiner Biographie soll es nicht um die isolierte Betrachtung eines außergewöhnlichen, herausragenden individuellen Lebens gehen, sondern um dessen Einbettung in den historischen Kontext und das soziale Umfeld. Jemand wie Neurath, der immer den kollektiven Charakter wissenschaftlichen Arbeitens hervorhob, der Teamwork praktizierte und in intellektuellen, internationalen Netzwerken arbeitete, hätte eine nur auf das Individuelle abstellende Betrachtung seines Lebens kaum gutgeheißen.

Ich selbst bin auf Otto Neurath erstmals Mitte der 1990er Jahre bei der Arbeit an meiner politikwissenschaftlichen Dissertation über Diskurse zu Natur und Lebensreform in den Sozialdemokratien Österreichs und Deutschlands gestoßen. Später lernte ich im Rahmen einer vergleichenden Studie über austromarxistische und linke britische Intellektuelle und eines Forschungsprojektes zur »Demokratisierung des Wissens« nicht nur Neuraths Schriften und in groben Zügen sein Leben, sondern auch die vielfältige, auf mehrere Länder und verschiedene wissenschaftliche Fächer verteilte Scientific Community näher kennen, die sich mit seinen Themen und Arbeiten auseinandersetzt. Der jetzt eingeschlagene biographische Zugang hat gewisse Tücken. Die mehrjährige Auseinandersetzung und Beschäftigung macht es schwer, eine kritische Distanz zu wahren und nicht der Bourdieuschen biographischen Illusion zu erliegen, eine in sich logische, kohärente wissenschaftliche Lebensgeschichte erzählen zu können. In der Tat glaubt man ja eine Person, von der man Tausende Seiten aus Aufsätzen und Büchern, Hunderte Briefe und zahllose Dokumente gelesen hat, irgendwie zu kennen. Ich habe mich aber letztlich trotz gewisser Sympathien weder mit seinen wissenschaftlichen und politischen Positionen identifiziert, noch meine ich, den Menschen Otto Neurath am Ende dieser Arbeit wirklich »verstehen« zu können. Dass ich von vielen Facetten seines Denkens fasziniert bin, wird man beim Lesen dieses Buches merken.

In den 1980er Jahren begann unter der Leitung des Grazer Philosophen Rudolf Haller die Herausgabe der gesammelten Schriften Otto Neuraths. Dieses Projekt wurde niemals abgeschlossen und kam nach fünf Bänden zu einem Ende. Überall dort, wo es möglich ist, zitiere ich Neuraths Schriften aus dieser begonnenen Edition und erwähne die ursprünglichen Publikationsorte nur dann im Text, wenn dies zum Verständnis wichtig ist. Alle anderen Zitationen orientieren sich in der Regel an den ursprünglichen Erscheinungsorten. Otto Neuraths Nachlass ist im Wesentlichen auf drei Orte verteilt: das Wiener Kreis Archief in Haarlem (NL), die Isotype Collection in Reading (UK) und der gemeinsame Nachlass von Otto und Marie Neurath in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Ein genaues Verzeichnis der zahlreichen von mir konsultierten und besuchten Archive und Sammlungen findet sich im Anhang.

Bei direkten Zitaten wurde die zeitgenössische Schreibweise und Rechtschreibung beibehalten. Die in zeitgenössischen Schriften weitverbreiteten Sperrungen, die auch Neurath häufig verwendete, habe ich der besseren und flüssigeren Lesbarkeit halber aufgelöst. In den Anmerkungen verweisen Kurzzitate auf das Literaturverzeichnis, Dokumente aus Archiven werden hingegen immer vollständig zitiert, aber nicht mehr eigens aufgelistet.

Zu diesem Buch haben deutlich mehr Menschen und Institutionen beigetragen, als hier aufgezählt werden können. Für Hinweise, Anregungen und Gedankenaustausch in den letzten Jahren bedanke ich mich dennoch namentlich bei Elisabeth Nemeth, Thomas Uebel, Hans-Joachim Dahms, Sybilla Nikolow, Peter Bernhard, Hadwig Kraeutler, John O’Neill und Johannes Reichmayr. Dass auch für mich nur schwer lesbare Dokumente in Kurrentschrift entziffert werden konnten, ist Walter Schübler zu verdanken. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich dem österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF), der meine Arbeit im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Otto Neurath gefördert hat, und vor allem auch jenen, die das Skriptum oder Teile davon kritisch gelesen, kommentiert und ausführlich mit mir diskutiert haben: Friedrich Stadler, Margit Reiter, Christopher Burke, Ferdinand Mertens, Bernhard Kuschey und Georg Spitaler. Mein Dank an Margit Reiter geht noch weit darüber hinaus.

Der junge Neurath

Die Familie Neurath und das Wien der Jahrhundertwende

Das Wien der Jahrhundertwende übt vor allem auf Kulturhistoriker eine große Faszination aus. Doch diese Ära war keineswegs von euphorischer Aufbruchsstimmung geprägt, im Gegenteil: Die politische Situation Österreich-Ungarns entsprach eher dem Szenario eines schleichenden Untergangs. Zwar war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts anfangs von wirtschaftlichem Aufschwung geprägt, doch dieser wurde durch die Spekulationskrise von 1873, einen veritablen Börsenkrach, schnell zunichtegemacht. Prekär war die außenpolitische Lage: 1866 unterlag Österreich in der Schlacht von Königgrätz den preußischen Truppen, womit seine Vormachtstellung im deutschsprachigen Raum beendet war. Auch im Inneren des Habsburgerreichs rumorte es. Schon die Revolution von 1848, die gewaltsam niedergeschlagen wurde, war nicht nur eine bürgerliche Revolution, sondern auch eine Revolution der Nationalitäten gewesen. Der sogenannte Ausgleich von 1867 konstituierte zwei de facto selbständige Nationen innerhalb der Monarchie, das österreichische Kaiserreich und das ungarische Königreich, und die Ambitionen der Tschechen, einen ähnlichen Status zu erlangen, heizten die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten zusätzlich an. In den Staatsgrundgesetzen von 1867 wurde zwar ein Grundrechtskatalog bürgerlicher Freiheiten verankert, ihre tatsächliche Wirkung blieb aber gering. Der Liberalismus, der in Ländern wie Frankreich oder England Demokratisierung und Modernisierung vorangetrieben hatte, war in Österreich schwach ausgeprägt. Zwar erlangten die Liberalen nach dem Debakel von Königgrätz Regierungsverantwortung, sie verfügten jedoch zu keiner Zeit über eine nennenswerte politische Basis, fanden kaum Zuspruch in der Bevölkerung und wurden schon bald von den aufstrebenden Massenparteien verdrängt. Deren Führungsfiguren wie Karl Lueger, Georg Ritter von Schönerer und Victor Adler stammten zwar selbst aus dem liberalen Spektrum, forderten nun aber den bürgerlichen Liberalismus – aus höchst unterschiedlicher Perspektive – heraus. Alles in allem schien das kaiserliche Österreich kein aufstrebendes Gebilde, sondern ein dem Untergang geweihtes Land zu sein.

Wien hatte eine ungeheure Sogwirkung auf die in der Monarchie lebenden Menschen, wie das Bevölkerungswachstum der Stadt zeigt. Die Einwohnerzahl überschritt im Jahr 1910 deutlich die Zwei-Millionen-Grenze. Die Stadt war das unbestrittene Zentrum der Habsburgermonarchie, in der damals rund 50 Millionen Menschen lebten.1 Ob sie auch zu den führenden europäischen Metropolen zählte, steht weniger außer Frage. Manche meinen, dass Wien sich im Vergleich zu Paris, London oder Berlin eher auf dem Weg in die Provinzialisierung befand.2 Vor dem Hintergrund des Bedeutungsverlusts von Österreich-Ungarn und der zunehmenden nationalen Spannungen im Inneren begannen die Intellektuellen sich der Kultur zuzuwenden, nicht der Politik. »Das Streben nach ästhetisch vollendeten Formen sollte das Streben nach der Harmonie zwischen den Völkern, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte, heraufbeschwören«, schreibt der Historiker Michael Pollak.3 Kunst und Wissenschaft wurden – so lautet seine These – zu jenen Feldern, in denen verletzte und unsicher gewordene Identitäten (etwa deutsche, österreichische oder jüdische) verhandelt wurden. Nach der Abschaffung der Zensur 1848 vollzog sich auch ein rasanter Strukturwandel des kulturellen Lebens, bei dem die ethnische Heterogenität der Monarchie die künstlerischen und literarischen Ausdrucksformen bereicherte. Wien galt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Wiege der modernen Kultur. Nicht nur in der Architektur, der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik tauchten stil- und epocheprägende Gruppen, Bewegungen und Persönlichkeiten auf – auch in Wissenschaft und Philosophie bereicherten Personen wie Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Ernst Mach, Ludwig Boltzmann, Carl Menger oder Hans Kelsen das intellektuelle Leben der Stadt. Sie waren im Wien der Jahrhundertwende geboren und sozialisiert worden oder hatten hier ihre Theorien und Ansätze – etwa in der Psychologie oder der mathematischen Logik – zu entwickeln begonnen. Sicherlich besteht die Gefahr, mittels retrospektiv einen intellektuellen Ausnahmezustand zu konstruieren, der den Blick auf die soziale und politische Realität jener Tage entschieden trübt. Dennoch war das kulturelle Leben in »Fin de Siècle Vienna« (Schorske) außergewöhnlich und folgenreich bis zum heutigen Tag.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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