Out of the Dark - Martin Frost - E-Book

Out of the Dark E-Book

Martin Frost

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Beschreibung

Für die Sendung Panorama war er der »Darknet-Baron«, die SZ titelte: »Die Darknet-Fürsten aus Kleve und Bad Vilbel«, und Jenke von Wilmsdorff nennt den Fall in seiner Sendung Jenke.Crime ein »technisches Meisterwerk«. Die Rede ist von Martin »TheOne« Frost, einem der Gründer der Darknet-Plattform »WallStreet Market«, die bis zur weltweiten Nummer 2 aller Darknet-Märkte aufstieg. Über einen Zeitraum von vier Jahren betrieb er mit zwei Mittätern den Marktplatz, auf dem fast ausschließlich illegale Produkte zu finden waren: Schadsoftware, gefälschte Ausweise, Paypal- und Kreditkarten-Daten bis hin zu allem, was es an Drogen auf dem Markt gibt. Bilanz: 63.000 Verkaufsangebote, 41 Millionen Euro Umsatz in Bitcoin nur an Drogen (heute rund 100 Millionen Euro wert), 4500 internationale Händler und über 1 Million Kundenkonten – das sind Referenzdaten eines Großkonzerns. Diese Biografie zeigt die wahre Geschichte von Martin Frost. Wie aus einem Jugendlichen ein mehrfacher Darknet-Millionär werden konnte. Wie er es schaffte, dass seine Eltern, Geschwister und Freunde nichts davon mitbekamen. Und wie er sich autodidaktisch die Fähigkeiten aneignete, um in die Tiefen des Darknet abtauchen zu können. Doch wie gelang es Martin über Jahre, den internationalen Ermittlungsbehörden FBI, Europol, BKA und der niederländischen Polizei immer wieder zu entwischen? Out of the Dark zeigt den Aufstieg und den tiefen Fall von Martin Frost und wie er versucht, sich zurück ins Leben zu kämpfen. Es ist die erste Biografie, die Einblicke aus erster Hand in die Welt des Darknet gibt – mit all den verborgenen Mechanismen und Regeln.

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Seitenzahl: 342

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Martin Frost, D.P. Ginowski

OUT OF THE DARK

MARTIN »THE ONE« FROST

Die wahre Geschichte hinter einem der größten Darknet-Marketplaces der Welt: WallStreet Market

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Originalausgabe, 1. Auflage 2022

© 2022 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: D.P Ginowski, Martin Frost, Anne Arnold

Lektorat: Anne Arnold

Korrektorat: Anne Arnold, Silvia Kinkel

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: Dennis Utz

Bildbearbeitung Coverfoto: D.P. Ginowski

Illustrationen: Kristina Konradi

Zusätzliche Abbildungen: Logo US Department of State: IT Tech Science/shutterstock.com, Michelangelo: Creative Lab/shutterstock.com, Gehirn: Taleseedum/shutterstock.com

Konzeption, Gestaltung: Pairbyte Media, Ratingen, pairbyte.de

Satz: Zerosoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

Weitere Mitwirkende:

Martin Frost (www.martin-frost.de)

Anne Arnold (www.pairbyte.de)

Christian Solmecke (www.wbs-law.de)

Alexander Hauer (www.anwaltskanzlei-hauer.de)

In Kooperation mit dem Subrosa Verlag (www.subrosa-verlag.de)

ISBN Print 978-3-95972-650-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-249-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-250-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter:

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1 – Kindheit

Kapitel 2 – Portrait Martin Frost

Kapitel 3 – Jugend

Kapitel 4 – Teenager

Morpheus-Effekt: zwischen Traum und Paralyse

Kapitel 5 – Fraud-Szene

Kapitel 6 – Cybercrime

Kapitel 7 – Ausbildung

Kapitel 8 – Berufsleben & Freundschaften

Morpheus-Effekt: Die Gretchenfrage

Kapitel 9 – Bitcoins & Krypto

Kapitel 10 – Die Königsdisziplin

Kapitel 11 – Privatleben

Morpheus-Effekt: Ernte 23

Kapitel 12 – Doppelleben

Kapitel 13 – WallStreet Market

Kapitel 14 – Die Verhaftung

Kapitel 15 – Das Darknet

Kapitel 16 – U-Haft

Kapitel 17 – Der tiefe Fall ins Nichts

Kapitel 18 – Die Verhandlung

Kapitel 19 – Das Urteil

Kapitel 23 – Zurück ins Leben

Morpheus Effekt – Ende

Vorwort

Mein Name ist Martin Frost. Ich bin 32 Jahre alt und komme aus dem Raum Stuttgart. 2021 wurde ich wegen bandenmäßigen Drogenhandels und Untreue zu sieben Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Zusammen mit zwei Mittätern habe ich über mehrere Jahre hinweg den zweitgrößten Darknet-Marktplatz der Welt betrieben.

In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte, zeige, wie aus dem jungen Martin Frost, aufgewachsen in einem behüteten Elternhaus, der Cyberkriminelle »TheOne« wurde – und warum ich in meinem Scheitern auch eine große Chance sehe.

Ich habe mich entschlossen, das Buch mit einem Autor zu schreiben, um die größtmögliche Neutralität zu garantieren. Ungeschönt und ehrlich möchte ich meine Erlebnisse für euch aufarbeiten und dabei auch als mahnendes Negativbeispiel dienen. Ihr könnt mich in diesem Buch auf meiner Reise durch die Dunkelheit begleiten und mir auf meinem beschwerlichen Weg zurück ins Licht folgen.

Vielleicht wird beim Lesen für den ein oder anderen greifbar, was für mich die wichtigste Lehre aus meiner Geschichte war: dass jedes Handeln Konsequenzen hat. Was ich getan habe, hat schlussendlich nicht nur mich selbst in die Dunkelheit geführt, sondern weit über meine Person hinaus auch meinen Mitmenschen Leid und Schmerz zugefügt.

Wo Schatten ist, muss es auch Licht geben.

Dieses Buch widme ich meinem Sohn.

Ich bin Martin Frost, und dies ist Out of The Dark.

Martin »TheOne« Frost, Stuttgart, 23.05.2022

»Aber er war aus der Stille, der Dämmerung, der Dunkelheit, welche ganz allein die reinen Produktionen begünstigen kann.«

Johann Wolfgang von Goethe

Prolog

Es ist irre zu sehen, was in deinem Gehirn abgeht, wenn die GSG 9 zugreift. Innerhalb einer Millisekunde schießen Martin tausend Gedanken durch den Kopf. Zeit hat ihre Dimension verloren. Alles nur noch in Slow-Motion. Wie in einem Film. Das Erste, woran er denkt: »Scheiße, das ist ein Überfall! Die wollen mir die Karre klauen!« Grelles Licht blendet ihn, er hört die Schreie: »Polizei, Polizei!«

Schnell ist ihm klar: Das war’s. Sie sind wegen WallStreet Market hier. Bilder durchzucken sein Gehirn. Was habe ich übersehen? Wie sind sie mir auf die Schliche gekommen?

Schlagartig hat er die letzten Stunden, Tage und Wochen vor Augen. Er analysiert. Hätte ich etwas merken müssen? Habe ich etwas falsch gemacht? Und: Was ist mein gottverdammter Fehler gewesen? Wie bei einer Nahtoderfahrung zieht das Leben an ihm vorbei. Alle Synapsen arbeiten auf Hochtouren. In solchen Situationen erkennt man, wie leistungsstark das menschliche Gehirn ist – das gesamte Wissen ist für einen kurzen Moment verfügbar.

Dann wird die Tür des Mercedes AMG GTS aufgerissen. Eine fast mechanische Hand greift ähnlich einem Industrieroboter nach seinem Arm und zieht ihn aus dem Sportwagen. Noch immer nimmt er alles in Zeitlupe wahr. Martin ist kein Teil der Szene, sondern Betrachter. Er sieht, wie er auf den Boden geschmissen wird. Hände auf dem Rücken, Handschellen und Knie im Nacken. Der Zugriff, der vielleicht drei Sekunden dauert, kommt Martin wie eine Ewigkeit vor. Totale Überforderung. Dunkelheit. Fuck, das war’s jetzt wirklich! Aus weiter Ferne hört er das Gebrüll und die Hektik um sich herum.

Die Realität weicht dem Geist, der sich nach und nach verschließt. Die emotionale Distanz wird überlebenswichtig im Ausnahmezustand. Wie fremdgesteuert lässt er die Verhaftung durch die GSG-9-Beamten über sich ergehen. Was er eigentlich nur aus dem Fernsehen oder aus schlechten Musikvideos kennt, wird zur persönlichen Erfahrung.

Martin Frost wird am 23. November 1989 in Stuttgart geboren, in einem Jahr, das ganz im Wandel seiner Zeit steht. Der Song The Look von der skandinavischen Pop-Rock-Band »Roxette« dominiert die deutschen Charts, Indiana Jones hetzt in dem Film Der letzte Kreuzzug dem Heiligen Gral hinterher und Rain Man erzählt zum ersten Mal die Geschichte eines Autisten im Kino. Ferdinand »Ferry« Anton Ernst Porsche feiert seinen 80. Geburtstag, und Mercedes stellt die neue SL-Serie vor. Aber vor allem: Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 läutet den Untergang der Sowjetunion ein. Es folgt eine Zeit geprägt von Superlativen.

Die DDR ist erst seit 14 Tagen Geschichte, die ersten Trabanten erobern die westdeutschen Straßen, versprühen den Charme von Zweitaktgemisch und kindlich naivem Autodesign, als Martin und sein Zwillingsbruder das Licht der Welt erblicken.

Die junge Familie lebt in einer Mietwohnung in Stuttgart-Giebel, einem damals bürgerlichen Stadtteil. Stuttgart, das sich wie ein Kessel in die Landschaft Baden-Württembergs einfügt, fällt nicht durch eine übertrieben hohe Kriminalitätsrate auf. Anders als im Ruhrgebiet treffen keine Ballungszentren aufeinander, die Gesellschaft hier ist nicht geprägt von Clan-Kriminalität oder Straßengangs, man fürchtet sich kaum vor sozialer Armut oder dem Abstieg. Große Unternehmen wie Mercedes-Benz, Porsche oder Bosch haben in Stuttgart ihren Hauptsitz. Die Stadt hat ihren eigenen Vibe. Kunst, Kultur und Lebensfreude machen Stuttgart zu einem lebenswerten Ort. Perfekt zum Feiern für Jugendliche, ideal für die noch junge Familie.

Warum also endet die Geschichte tragisch? Am Anfang war es nur ein einfacher Gedanke, doch welche Macht ein solcher Gedanke haben kann, zeigt sich am Beispiel von Martin Frost. Später: »TheOne«. Heute: Ex-Darknet-Millionär und Ex-Betreiber des zweitgrößten Darknet-Marktplatzes weltweit.

Angeboten wurden auf Wallstreet Market hauptsächlich illegale Waren. Angefangen von Schadsoftware über gefälschte Ausweise, PayPal-Accounts und Kreditkarten bis hin zu allem, was der Drogenmarkt zu bieten hatte. Lediglich Waffen und Pornografie waren tabu. Die traurige Bilanz: Rund 63.000 Verkaufsangebote, 41 Millionen Euro Umsatz in Bitcoin nur an Drogen (Stand: Juli 2021), 4.500 internationale Händler und über 1 Million Kundenkonten. Das sind Referenzdaten eines Großkonzerns.

Martin repräsentiert eine neue Generation von Kriminellen. Als 31-Jähriger hat er mit zwei Mitangeklagten vermutlich eines der größten Cyberverbrechen in Deutschland begangen und damit etliche Millionen Euro verdient. Es ist ihnen gelungen, internationale Strafverfolgungsbehörden wie das FBI, das BKA, Europol und die niederländische Polizei über Jahre hinweg hinters Licht zu führen. Aus technischer und organisatorischer Sicht eine Glanzleistung.

Schwer zu glauben, dass am Ende nur drei Personen im Alter zwischen 17 und 31 ein derartiges Darknet-Imperium aufbauen und betreiben konnten. Doch jede Medaille hat zwei Seiten. Ein Gedanke kann auch zerstören. Er kann Leid und Unheil mit sich bringen und Konsequenzen für andere haben. Er kann das Leben geliebter Menschen maßgeblich mitbestimmen und nachhaltig verändern. Welche Gefahren ein einfacher Gedanke in sich birgt, zeigen das Leben von Martin Frost und der Fall WallStreet Market (WSM).

Kapitel 1 – Kindheit

Zeitraum 1989–1999, Alter 0–9 Jahre

»Der Friede kann nicht mit Berlin erkauft werden!«

Bild-Zeitung: 23.11.1989

Martin Frost kommt um 8:49 Uhr, genau zwei Minuten und 56 Sekunden vor seinem Zwillingsbruder auf die Welt. Das digitale Zeitalter befindet sich noch in den Kinderschuhen. Smartphones, wie wir sie heute kennen, sind zu diesem Zeitpunkt noch Zukunftsmusik. Der Commodore 64 stellte das Nonplusultra im PC-Bereich dar und das BTX, der Vorläufer des Internets, ist nur mit einem Akustikkoppler, dem Vorgänger des Modems, zugänglich. Ein unerträgliches Einwahlsignal, das einer rolligen Katze gleicht, erklingt für mehrere Minuten, bevor so etwas wie eine Internetverbindung zustande kommt.

Zwischen 1985 und 1989 gibt es zahlreiche Einbrüche in westliche Computersysteme. Eine kleine Gruppe um den Hannoveraner Karl Koch hackt sich auf teilweise ungeschützte Großrechner von Universitäten. Sie ziehen dabei unzählige Datensätze von den Servern. Mehr zufällig als geplant gelingt es der Gruppe, einige Regierungsrechner von amerikanischen Behörden zu infiltrieren. Die erbeuteten Daten verkaufen sie später an den KGB, dem Geheimdienst der ehemaligen Sowjetunion.

Der Fall geht als »KGB-Hack« in die Geschichte ein und wird von den Medien begeistert ausgeschlachtet. Schließlich handelt es sich um eine vollkommen neue Gefahr. Moderator Joachim Bauer bezeichnet den Fall in der ARD-Sendung Brennpunkt als den »größten Spionagefall seit Günter Guillaume«, dem Stasi-Agenten im Bundeskanzleramt. Das erste Mal erfährt die Öffentlichkeit von den technischen Möglichkeiten der Zukunft. Jugendliche, die sich mit Computern auf andere Systeme hacken, die Pseudonyme verwenden und brisante Daten an feindliche Großmächte verkaufen. Das war zuvor der Stoff, aus dem Romane sind. Nun scheint es Realität zu werden.

Karl Koch verwendet das Pseudonym »Hagbard Celine«, Dirk-Otto Brezinski nennt sich »DOB«; hinter »Pengo« verbirgt sich Hans Heinrich Hübner, und Markus Hess wird »Urmel« genannt. Sie gehörten zu der ersten Generation von Hackern und bringen das Thema CyberSicherheit in das Bewusstsein der Gesellschaft. Karl Koch und Hans Heinrich Hübner stellen sich am 5. Juli 1988 dem Bundesamt für Verfassungsschutz.

Am 23. oder 24. Mai 1989 verstirbt Karl Koch mit 23 Jahren. Als amtliche Todesursache wird Selbstmord festgestellt. Doch das Zusammenspiel von Geheimdienst, Medien und Drogen hinterlässt einen faden Beigeschmack. 1999 wird der Fall in dem Film 23 – Nichts ist so wie es scheint aufgearbeitet. August Diehl übernimmt die Hauptrolle des Karl Koch. Im Februar 1990 werden Markus Hess (Urmel) und Dirk-Otto Brezinski (DOB) – zu Freiheitsstrafen auf Bewährung zwischen 14 Monaten und zwei Jahren verurteilt.

Die Familie

Martins Vater kann solchen Themen durchaus etwas abgewinnen. Auch er interessiert sich früh für Elektronik & Computer, noch heute beschäftigt er sich gern mit dem Betriebssystem Linux oder vertieft sich in die Haussteuerung. Er ist Pragmatiker, ein Mann der Tat, von Beruf Elektroniker und Fachreferent Technik in einem großen Konzern fühlt er sich in der Rolle als Führungskraft wohl.

Der Vater, Baujahr 61, steht mit beiden Beinen fest im Leben und ist sehr konservativ. Er ist groß gewachsen und macht mit seiner Erscheinung durchaus Eindruck auf die Leute. Jemand, der Verantwortung übernimmt, dem Tugenden und Werte wichtig sind und für den Moral eine große Rolle spielt. Benimmregeln und ein respektvoller Umgang werden im Hause Frost gepflegt.

Martins Vater ist nicht nur im Beruf eine Führungspersönlichkeit, sondern auch innerhalb der Gesellschaft. Er engagiert sich im örtlichen Sportverein und übernimmt dort die Rolle des Vereinsvorstandes. Martins Vater ist jemand, der die Zügel fest in den Händen hält. Getreu dem Motto: Ein Mann, ein Wort – das spiegelt sich auch in der Kindererziehung wider.

1990 – Deutschland wird zum dritten Mal Fußball Weltmeister, und ein Jahr später, am 23.11.1991, gibt Freddy Mercury, Sänger der Band »Queen«, seine Aids-Erkrankung bekannt. Zur damaligen Zeit ein Skandal.

»Ich erwarte von dir einfach, dass du zu den Konsequenzen stehst. Wenn du etwas machst, dann bring es auch zu Ende und komm mir nicht mit Ausreden. Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, machst du das, was ich dir sage. Verstanden?« Martins Vater ist sauer, zu oft hat er die immer gleichen Ausreden gehört. »Aber«, ist für ihn maximal eine Pop-Band aus Schweden, aber keinesfalls eine Erklärung für etwas, das man verbockt hat.

»Man muss die Suppe auslöffeln, die man sich eingebrockt hat«, ist eine der Weisheiten, die er seinen Söhnen regelmäßig predigt. »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«, lautet eine andere.

Seine Mutter ist ganz anders als der Vater. Sie ist die Liberale in der Beziehung. Die beiden kannten sich seit zehn Jahren, als sie Nachwuchs bekommen. Sie ist eine resolute Frau, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Gern auch mal leidenschaftlich, spricht sie unangenehme Themen offen und temperamentvoll an. Sie ist modisch gekleidet und schafft den Spagat zwischen Berufsleben und Familie. Schlank, mit dunklen Haaren, öffnet sie Martin und seinem Bruder regelmäßig eine Hintertür, wenn der Vater Stubenarrest verhängt oder später, als erzieherische Maßnahme, das Internet sperrt.

Man könnte sagen, sie ist der gute »Cop« in der Beziehung und übernimmt gern die »Anwaltschaft« für ihre Kinder. In der Familie ist sie wie eine Löwenmutter. Egal was kommen mag – und es wird einiges auf die junge Frau zukommen –, sie steht zu ihren Kindern.

»Martin und sein Bruder sind komplett unterschiedliche Charaktere«, sagt sie und lacht. »Michael war damals mehr das lebhafte Kind, während Martin eher ruhig war. Michael lief schon eifrig, während Martin lieber im Kinderwagen lag und es sich gut gehen ließ. Später hat sich das ein wenig gewandelt. Jetzt ist Martin der ordentliche, der akkuratere von den beiden.«

Zu seiner Mutter hat Martin eine enge Bindung. In seiner Kindheit ist er sehr auf sie fixiert. Er ist ein sensibles Kind. Stets begleitet ihn die Sorge um seine Eltern oder die Furcht vor unbekannten Situationen. Später wird er diese Negativgefühle bewältigen, während seiner Kindheit jedoch sind sie seine ständigen Begleiter und bereiten ihm oft Magenschmerzen.

Die ersten Jahre verlaufen für Martin und seinen Bruder kindgerecht. Die Familie unternimmt viel; die Kinder werden nicht einfach vor dem Fernseher geparkt. Damals beliebte TV-Sendungen wie die Teletubbies flimmern im Hause Frost nicht über die Mattscheibe.

»Wenn ich das schon höre, winki, winki und stinki stinki … Sendung mit der Maus haben wir zusammen geschaut. Allein haben wir sie nicht fernsehen lassen. Es waren immer ausgesuchte Sendungen, und mein Mann oder ich waren dabei.« Martins Mutter achtet darauf, dass Martin und sein Bruder ihre Kindheit aus vollen Zügen genießen können, gerne in Einklang mit der Natur.

Am 23. März 1993 entdecken Eugene Shoemaker und David H. Levy den nach ihnen benannten Kometen Shoemaker-Levy 9.

Kindergarten

»Bleib verdammt noch mal stehen«, schreit Rita, Martins Kindergärtnerin, die den flüchtenden Vierjährigen verfolgt. Niemals!, denkt sich Martin und nimmt die Beine in die Hand. Raus aus der Tür, über den asphaltierten Weg bis zum Zaun. Er ist nicht zum ersten Mal auf der Flucht vor der leicht untersetzten Kindergärtnerin.

Er hat so gar keine Lust, die elterliche Bindung für den Kindergarten zu opfern. Viel lieber will er bei seiner Mutter sein, mit ihr den örtlichen Penny Markt erkunden, unter ihrer Obhut die Welt entdecken. Kindergarten ist scheiße, so viel steht für ihn fest. Die ganzen anderen Kinder, die Betreuerinnen, das Rumgehopse ...

Er rennt um sein Leben, doch Rita holt auf. »Bleib stehen, Martin, bleib stehen«, keucht sie.

Jetzt geht es um alles. Martin rennt und rennt. Der Penny Markt ist sein Ziel. Hier vermutet er seine Mutter, schließlich ist er oft genug mit ihr dort gewesen. Er wetzt über die Straße, rennt in Richtung Kreuzung, zu einem kleinen Platz, der den Ortskern prägt. Erschöpft läuft er auf die ersten zwei Männer zu, die er sieht: »Wo ist meine Mama?«, fragt der Vierjährige keuchend, während er vornübergebeugt nach Luft schnappt.

Verdutzt schauen beide Männer den Kleinen an, mit dieser Situation wissen sie beim besten Willen nichts anzufangen.

»Martin, Martin«, hört er Rita rufen, die ihn etwas eingeholt hat, doch er rennt abermals los, quer über den Platz, in Richtung Parkstück.

Rita, die merkt, dass ihr alles aus dem Ruder läuft, erinnert sich an ihren Beruf. Ich bin doch Kindergärtnerin. Was mach ich hier eigentlich? »Umgekehrte Psychologie« – fällt es ihr blitzartig ein. Sie wechselt den Ton, ruf sanft hinter Martin her. »Du brauchst keine Angst haben, Martin, wir suchen deine Mutter gemeinsam, wir finden sie sicherlich gleich, nur renn bitte nicht weiter, ich kann nicht mehr.«

Er wird langsamer. Die Stimme klingt wohlwollend, einfühlsam und beruhigend. Er kann auch nicht mehr. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals, er muss nach Luft schnappen. Rita wird ihm helfen, ist er sich sicher.

Aber sie hat nur nett geredet, denn kurz nachdem er stehen bleibt, packt sie ihn im Nacken. »Hab’ ich dich! Was fällt dir eigentlich ein? Warte ab, Freundchen, jetzt ist Schluss mit lustig!« Lange genug ist ihr der »Dreikäsehoch« auf der Nase rumgetanzt.

»Jetzt geht’s zurück, Martin, und wir rufen deine Eltern an!«

1994 – Der Hacker Kim Schmitz alias »Kimble« – später lässt er seinen Namen offiziell in Kim Dotcom ändern – wird wegen Computerbetrugs, gewerbsmäßiger Bandenhehlerei und Missbrauchs von Titeln zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Ein Herz und eine Seele

Die Phase mit den Fluchtversuchen aus dem Kindergarten wärt zum Glück nicht lange, wohl auch deshalb nicht, weil der Junge nun streng überwacht wird. Selbst auf der Toilette muss er die Tür auflassen, weil er einmal durch das Fenster ausgebüxt ist.

Martin fängt an, mit seinem Bruder im Olympiastützpunkt von Tauberbischofsheim zum Fechttraining zu gehen. Beide betreiben den Sport leidenschaftlich und verbringen viel Zeit im Fechtverein. Der Sport nimmt einen nicht unerheblichen Teil der Freizeit ein. Die Wettkämpfe, die Geschicklichkeit und das strategische Denken machen das Fechten aus – und die beiden Jungen sind durchaus erfolgreich. Martins Bruder Michael wird sogar deutscher Meister (2003).

Seine Kindheit ist beschaulich und harmonisch.

Mit seinem Zwillingsbruder bildet Martin in seiner Kindheit eine feste Einheit. Die beiden sind unzertrennlich. Allerdings gibt es eine Anekdote, die Martins Mutter oft zum Besten gibt: »Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern, als auf einmal richtig Rabatz im Kinderzimmer war. Beide sitzen da und hauen sich mit einer massiven Holzeisenbahn auf die ›Gosch‹ und sind am Bluten. Ich hatte absichtlich eine richtig robuste Holzeisenbahn gekauft, damit die nicht kaputtgeht. Die Jungs haben damals alles kaputt bekommen. Die massive Holzlokomotive hat Michael am Ende auch noch kaputt gekriegt.«

Heute ist Martins Zwillingsbruder gelernter Koch und wohnt nicht weit von ihm und seinen Eltern entfernt. Er ist etwas korpulenter als Martin und lebt in normalen Verhältnissen. Eine höfliche und angenehme Person, mit der man – wie mit allen Familienmitgliedern – schnell ins Gespräch kommt.

»Wir hatten schon eine geile Kindheit. Wie es unter Brüdern halt so ist, haut man sich auch mal auf die Mappe. Aber nie aus Hass, wie andere Brüder das machen, eigentlich waren wir immer ein Herz und eine Seele. Martin war damals nicht so der Draufgänger, das kam bei ihm erst später.«

Martins Bruder hat bis in die Gegenwart ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihm. Sie telefonieren regelmäßig und sehen sich oft, auch gemeinsam mit ihren Eltern.

»An die Geschichte mit der Holzeisenbahn kann ich mich nur aus den Erzählungen meiner Mutter erinnern. Ich selbst hab das damals gar nicht so dramatisch empfunden, zumindest kann ich mich nicht erinnern. Was mir aber im Gedächtnis geblieben ist, war die Geschichte mit der Deckenverkleidung im Kinderzimmer. Das war noch in Giebel, da haben Martin und ich immer Tarzan gespielt. Wir haben uns an die Gardinenstange gehängt und sind runtergesprungen. Dabei ist die Decke regelmäßig runtergekommen. Meine Mutter hat dann ihren Bruder angerufen, damit er vorbeikommt, die Decke richtet und unser Vater nichts mitbekommt. Das hat der sicherlich dreimal machen müssen!« Michael lacht.

»Unserem Vater ist das nie aufgefallen. Erst als wir umgezogen sind, stand er da und meinte: ›Warum ist denn die Decke so schief?‹ Meine Mutter erklärte ihm, dass das schon immer so gewesen sei. Ich vermute, dass mein Vater bis heute nichts davon weiß.«

Den Kindergarten hat der siebenjährige Martin schließlich ohne großen Schaden überstanden und sich gut im Klassenverband der Grundschule eingelebt. Aber wirklich warm wird er auch mit der neuen Situation nicht. Der morgendliche Gang zur Schule ist für ihn ein regelrechter Horror. Er muss durch einen schmalen Weg, an dem sich Jugendliche gern vor der Schule treffen. Martin hat Panik vor ihnen, so stark, dass er sich teilweise weigert, zur Schule zu gehen.

Die Jugendlichen sind die klassischen Mobber und der Weg zur Schule gleicht einem Spießrutenlauf. Das Grauen hat erst nach zweieinhalb Jahren ein Ende, als die Eltern beschließen, die Mietwohnung im Stuttgarter Erdgeschoss zu verlassen und in ein Eigenheim zu ziehen. Sie wollen raus aus der Großstadt, hauptsächlich wegen der Kinder, und so siedelt die Familie in den Neckar-Odenwald-Kreis über. Knapp 85 Kilometer von Stuttgart entfernt, in dem kleinen Ort Ravenstein, finden die Frosts ihr neues Zuhause.

Ein Eigenheim in Ravenstein

Ravenstein ist eine Kleinstadt am Südostrand des Neckar-Odenwald-Kreises. Alle Ortsteile liegen an Bächen, die zum Fluss Jagst hinfließen: Ravenstein hat gerade einmal 2938 Einwohner (Stand 31. Dezember 2020), eine Fläche von 55,97 km2 und ist in sechs Stadtteile aufgeteilt. Ein Idyll, insbesondere für Kinder, und so baut sich die Familie dort im Jahr 1996 ihr Haus.

»Es war für uns als Eltern schon eine Herausforderung, gerade mit den Zwillingen, und ich kann mich erinnern, dass Martin und Michael viel Spaß hatten auf der Baustelle. Als Eltern fragt man sich oft, was man hätte anders machen können oder müssen, welche Fehler man gemacht hat und was man hätte besser machen können. Die Sorge um die Kinder ist allgegenwärtig. Dass sich das aber alles mal so entwickeln würde, war absolut unvorstellbar für uns«, berichtet Martins Mutter.

Nicht nur für Familie Frost ist es eine anstrengende Zeit. Die Girl-Band Tic Tac Toe findet 1996 alles scheiße, Michael Jackson veröffentlicht den Earth Song, während uns Will Smith in dem Film Independece Day vor Aliens rettet. Der Schachcomputer »Deep Blue« siegt über den Russen Garry Kasparow, und Oliver Bierhoff schießt das Golden Goal. Deutschland wird Europameister. Vielleicht doch kein so schlechtes Jahr?

Wovon die Welt eher wenig mitbekommt: Die Hacker Matthew Bevan und Richard Pryce hacken sich 1996 in mehrere militärische Netzwerke. Darunter die Netze des Korean Atomic Research Institute (KARI). Sie beweisen abermals, dass vermeintlich unbezwingbare Systeme des Militärs durchaus angreifbar sind. Viele glauben, die beiden hätten um ein Haar den dritten Weltkrieg ausgelöst. Price wird zu einer Strafe von 1200 Pfund verurteilt. Die Anklage gegen Bevan wird fallen gelassen. Aus heutiger Sicht sicherlich keine abschreckende Strafe, und vielleicht wird damals das falsche Signal an die Hacker-Szene gesendet. Hacken wirkt eher wie ein Kavaliersdelikt.

»Ich war neugierig, und es war so leicht.«

Richard Pryce, 1996

Den Bau des Hauses treiben Martins Eltern mit viel Energie und Einsatz voran. Das neue Zuhause soll schnellstmöglich fertiggestellt werden, und so verbringt die Familie jede freie Minute auf der Baustelle. Martin, noch immer keine acht Jahre alt, und sein Bruder helfen, ausgerüstet mit zwei roten Metallschaufeln, beim Bau. Selbst eine kleine Kinder-Beton-Mischmaschine schafften die Eltern an, um die Zwillinge spielerisch mit in die Anstrengung des Hausbaus einzubeziehen. Und so ist das Elternhaus für Martin nicht nur der Ort, an dem seine Eltern wohnen, sondern auch ein Platz, an dem er sich wirklich sicher fühlt. Selbst erbaut, mit der Hilfe der Sprösslinge, blicken alle mit Stolz auf diese Phase der Familie zurück.

Martins Eltern beweisen bei der Kindererziehung ein gutes Händchen. Gerade dem Vater ist es wichtig, dass seine Söhne mitbekommen, wie entscheidend ehrliche Arbeit ist. Er plant das zukünftige Domizil mit großer Präzision. Diese Zielstrebigkeit und das Bewusstsein, dass Fleiß sich am Ende auszahlt, prägen Martin und seinen Bruder.

Nicht immer konnte er die konservative Sichtweise seines Vaters nachvollziehen. Aber er wird seine Beweggründe mit zunehmendem Alter immer besser verstehen. Alles ist immer zum Wohle der Familie gewesen. Das weiß Martin heute und ist seinen Eltern rückblickend sehr dankbar. Er weiß, dass man beim Händeschütteln dem anderen in die Augen schauen muss, dass man beim Essen die Gabel zum Mund führt und dass man Respekt vor den Hochbetagten in der Gesellschaft hat.

1997 – Diana, Princess of Wales, verunglückt am 31. August mit ihrem Freund Dodi Al-Fayed in Paris. Im selben Jahr veröffentlicht die Firma Rockstar Games den ersten Teil der Serie »Grand Theft Auto (GTA)« und wird damit einen ungeahnten Hype auslösen.

In der neuen Schule geht es Martin besser. Leider nicht in Bezug auf seine schulischen Leistungen. Zu den fleißigsten Schülern gehört er nicht. Das sorgt regelmäßig für Spannungen im elterlichen Haus.

»Martin, du lernst nicht für mich oder deine Mutter, du lernst für dein Leben. Verstehst du das nicht? Wenn aus dir mal etwas werden soll, musst du verdammt noch mal lernen. Kontinuierlich und nicht erst einen Tag vor der Prüfung. Du lernst für deine Zukunft, oder willst du mal vom Sozialamt leben?«

Mehr als nur einmal gibt es derartige Ansprachen im Hause Frost. Und allmählich wird das Elternhaus seinem Namen gerecht. Der Frost ist bei Frost an solchen Tagen ein gerne gesehener Gast und die Stimmung ist manchmal wirklich eiskalt.

Martin fällt es schwer, dem zähen Unterricht zu folgen. Der Schulstoff ist zu trocken, ohne großen Praxisbezug. Er machte so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Effizienz steht schon damals im Vordergrund. Anders ist es, wenn es um Computerthemen geht. Autodidaktisch bringt er sich die Grundkenntnisse bei. Hier hat er das Ziel klar vor Augen und kann Unmengen an Energie für das Erlernen von Skriptsprachen aufbringen. Allerdings steht früh für ihn fest, dass Abitur und Studium auf keinen Fall für ihn in Frage kommen. Überhaupt ist die Vorstellung, in einem »nine to five«-Job zu enden, schon früh eine regelrechte Horrorvorstellung für ihn.

1998 – Der Hacker Boris Floricic alias »Tron« stirbt im Oktober in Berlin. Sein Spezialgebiet waren Angriffe auf kommerzielle Verschlüsselungs- und Authentifizierungssysteme beim Pay-TV oder für Telefonkarten. Boris galt als hochintelligent und in seinem Bereich als Ausnahmetalent.

Die Großeltern

Einen großen Einfluss auf Martin hat sein Großvater väterlicherseits, der mittlerweile leider schon verstorben ist. Martin erinnert sich noch heute oft an ihn. Wie der Vater ist auch Martins Opa sehr konservativ. Es gibt immer wieder Diskussionen zwischen Vater und Großvater, die auch gern intensiver ausgetragen wurden.

»Ein Beispiel war ein Weihnachtfest, als Opa zu Besuch war und mein Vater meinen Bruder angeschnauzt hat, dass sein Stuhl dreckig sei. Mein Opa meinte dann: ›Ich seh da gar nichts‹, und dann haben sie sich ordentlich gezofft, aber frag nicht wie.«

Oma Frost ist das, was man sich unter einer klassischen Großmutter vorstellt. Gern steckt sie ihm die ein oder andere Süßigkeit zu, immer mit diesem speziellen Lächeln im Gesicht. »Kandiszucker haben wir immer bekommen, wenn wir bei ihr waren«, erinnert sich Martin mit etwas Wehmut in der Stimme. Bei ihr ging die Familie über alles, und entsprechend fürsorglich war die resolute Frau.

»Eine Sache war Spätzle mit gemischtem Braten und Kartoffelsalat. Meine Oma väterlicherseits konnte das abartig gut, und wir haben uns immer darauf gefreut. Sie hat die Soße den ganzen Tag kochen lassen. Etwas Besseres habe ich bis heute nicht gegessen.«

Martin ist gutes Essen sehr wichtig, es ist für ihn ein Zeichen von Lebensqualität. Das Essen ist eine Leidenschaft, die er mit seiner Oma teilt.

Wenn er bei seinen Großeltern mütterlicherseits zu Besuch ist, genießt Martin die Zeit. Es werden Geschichten erzählt, es gibt Kuchen und extra Taschengeld. Die Tage verlaufen harmonisch, und die Wärme, diese Geborgenheit bei Opa und Oma, genießt der kleine Martin sehr. Vor allem die Gespräche mit seinem Opa geben ihm viel. Zwar ist er nicht der leibliche Opa der Zwillinge, für Martin und seinen Bruder machte das aber keinen Unterschied.

Früher arbeitete er bei der Müllabfuhr und ist ein Mann, der anpackt. Jemand, der mit den Händen schafft. Do it Yourself – das ist sein Ding. Geht nicht, gibt’s nicht. Nicht gerade ein Zufall, dass der Großvater oft im Baumarkt anzutreffen ist und dort Stunden verbringen kann. Bis heute greift er beherzt zu und macht so viel wie möglich selbst, sei es im Garten oder im Haus. Er ist aber auch sehr liebevoll und ein hervorragender Zuhörer. Eine Eigenschaft, die Martin sehr an ihm schätzt. Sein Opa ist organisiert, voller Tatendrang und ein echter Haudegen, der sich niemals beklagt oder beschwert. Dies beeindruckt Martin sehr. Auch von seinem Opa hat er viel angenommen, in manchen Dingen ist er ein Vorbild für ihn.

Oma ist wie ihre Tochter eine Löwenmutter. Die geografische Nähe der Großeltern bietet es an, dass sie oft auf die Jungen aufpassen, während Martins Eltern arbeiten sind. Im großen Garten dürfen sie herumtollen oder beim Rasenmähen helfen. Auch besitzen die Großeltern zusätzlich einen Schrebergarten, in dem sich regelmäßig die ganze Familie trifft, um dort zu feiern. Viele schöne Erinnerungen verbindet Martin mit diesem Ort. Auf der Feier seines Vaters zum 60. Geburtstag schließlich wird er seinen Großeltern seine komplette Tat beichten. Die Reaktion ist eher sachlich und nüchtern: »Da musst du jetzt durch, selbst schuld.« Aber verstoßen oder ausgegrenzt wird er nicht. Vielmehr rückten alle zusammen und sind sich einig: Auch diese schwierige Zeit stehen wir gemeinsam als Familie durch.

1999 – Lou Bega tanzt den Mambo No. 5. US-Präsident Bill Clinton steht wegen Meineids in der Lewinsky-Affäre in Kritik, bleibt jedoch im Amt, und der Film Matrix feiert weltweit Premiere.

Kapitel 2 – Portrait Martin Frost

Zwischen Darknet und Familie

Der ehemalige Darknet-Millionär Martin Frost alias »TheOne« steht kurz vor der Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH).

© Anne Lößnitz / Manuskript

Ex-WallStreet Market (WSM) Betreiber Martin Frost steht derzeit stark unter Druck. Wöchentlich erwartet er die Entscheidung des BGH. Die Zeit in Freiheit läuft für ihn ab. Die drohende Haftstrafe rückt immer näher.

Sieben Jahre und neun Monate hat das Landgericht Frankfurt für den 31-Jährigen am 2. Juli 2021 verhängt. Die Mitangeklagten Tibo L. (24) alias Coder 420 aus Kleve und Jonathan K. (33) alias Kronos aus Bad Vilbel wurden mit fünf Jahren und drei Monaten beziehungsweise sechs Jahren und drei Monaten bestraft.

Zeit für Martin, die letzten Vorbereitungen zu treffen, bevor er für länger hinter schwedischen Gardinen verschwindet. Die gerechte Strafe für einen Schwerkriminellen oder schicksalhafte Lebenskrise eines Familienvaters? Wer ist Martin Frost und wie sehen seine Zukunftspläne aus? Wir treffen uns mit ihm und Dennis, seinem besten Freund und Manager, in einem kleinen Café in der Frankfurter Altstadt, genauer im Stadtteil Sachsenhausen.

Die Main-Metropole schafft das passende Ambiente für jemanden, der mit seinen Mittätern Bitcoins im Wert von circa 100 Millionen Euro besessen hat und vor dem Landgericht Frankfurt verurteilt wurde. Zwischen Wolkenkratzern, Banken und Luxuslimousinen erzählt »TheOne«, wie sich Martin im Darknet nannte, von seinen Zukunftsplänen.

»Ich versuch jetzt so viel wie möglich vorzubereiten, für meine Freundin und mein Kind. Natürlich auch für mich, ich habe ja zahlreiche Verpflichtungen, auch durch die Steuerschulden.«

Martin trinkt einen Schluck aus der Kaffeetasse.

»Ich bin echt kaffeesüchtig«, verrät er.

»Am Tag können es gerne mal über 20 Tassen werden.«

Martin Frost ist ein offener und sympathischer Charakter, mit dem man schnell ins Gespräch kommt. Als höflich erlebt man ihn, nachdenklich und in sich gekehrt, aber auch lebensfroh und lustig.

Sie haben den zweitgrößten Darknet-Marktplatz weltweit betrieben. Sind Sie darauf stolz?

»Sehr schwierige Frage. Es gab eine Zeit, da war ich stolz darauf, hauptsächlich auf die technische Leistung. Alles andere wäre gelogen. Heute ist es für mich schwer, darauf stolz zu sein, ich sehe jetzt die Konsequenzen, die waren mir vorher nicht bewusst, und damit meine ich jetzt nicht nur meine Haftstrafe. Ich habe viele Leute kennengelernt, die tragische Drogengeschichten hinter sich haben. Menschen, die teilweise bei uns gekauft haben. Wir, aber auch ich, haben da richtig viel Elend in die Welt gebracht.«

Sein Sternzeichen ist Schütze und sein Horoskop spiegelt sich stark in seiner Persönlichkeit wider: Martin ist der Schütze, der zielsicher ins Schwarze treffen will, der seine Technik so lange verfeinert, bis das Maximum an Perfektion erreicht ist. Ein Charakterzug der zugleich Segen, aber auch Fluch sein kann. Dieser Drang nach Perfektion, der schon früh in ihm vorhanden war, hat ihn jetzt in echte Probleme gebracht, ihm aber auch den Weg hinaus gezeigt.

Heute ist Martin mit 1,87 Meter ein stattlicher Mann, muskulös gebaut, mit modisch gepflegtem Äußeren. Die Haare gegelt, mit scharfem Scheitel und kurz rasierten Seiten. Martin ist selbstbewusst, jemand, der mit beiden Beinen im Leben steht. Seine ausschließlich schwarz tätowierten Arme lassen ihn brachial erscheinen. Sein Naturell hingegen ist voller Lebensfreude, Humor und Spaß, aber da gibt es auch eine sensible Seite in ihm.

Sie wirken nicht wie jemand, der als Schwerkrimineller ins Gefängnis muss, sondern Sie könnten hier auch kurz auf eine Pause sein und gleich wieder zu Ihrem Job in die 23. Etage gehen. Wo nehmen Sie diese Leichtigkeit her?

»Das wirkt auf den ersten Blick vielleicht so, aber auch ich mach mir nachts meine Gedanken. Aber ich muss da jetzt einfach durch, hilft ja alles nichts. Ich bin sehr froh, gute Freunde und Familie zu haben, die mir aktuell sehr viel Kraft geben.«

Sie waren jahrelang Multimillionär durch Darknet-Gelder, wie viel verdienen Sie jetzt?

»Aktuell ist meine wirtschaftliche Situation nicht so rosig. Wir wurden mit WSM (WallStreet Market) als GbR eingestuft und müssen dementsprechend Gewerbe, Einkommensteuer und Umsatzsteuer zahlen. Alles in allem ist es circa 1 Million Euro, so genau kann ich das aktuell gar nicht sagen.«

Gehen Sie zur Zeit einer Arbeit nach?

»Ja, ich stehe in einem Angestelltenverhältnis und baue parallel ein neues Unternehmen im Bereich Online-Marketing auf. Alles legal und ohne doppelten Boden. Das fühlt sich im Augenblick sehr gut an.«

Martin Frost ist in vielen Dingen ruhig und besonnen. Nach U-Haft und Verhandlung ist sein Charakter belastbarer geworden. Dies war nicht immer so. In seinen Zwanzigerjahren war er auch gern mal hitzköpfig und übermütig. Was ihn auszeichnet, ist sein lösungsorientiertes Denken.

Ungelöste Aufgaben schrecken ihn nicht ab, im Gegenteil, sie wecken seinen Ehrgeiz. Für ihn gibt es so gut wie keine Grenzen. Die Dinge, die er nicht kann, versucht er sich selbstständig anzueignen. Er ist Autodidakt durch und durch. Martin bildet sich permanent weiter, sofern ihn das Thema interessiert. Zusammenfassungen von Sachbüchern oder Online-Kurse haben es ihm angetan.

Sind Sie nach der Verhaftung noch mal im Darknet gewesen? Wurden Ihnen vielleicht auch unmoralische Angebote gemacht?

»Aktuell bin ich tatsächlich nur noch selten im Darknet unterwegs, wenn dann nur, um für meine Social-Media-Kanäle zu recherchieren. Unmoralische Angebote gab es bereits während der U-Haft. Dort hat man mir Zettel zugesteckt, ich solle mich mal melden, auf solche Angebote bin ich aber nie eingegangen. Auch über Instagram bekomme ich immer mal wieder Anfragen in diese Richtung. Oft wird nach dem Sourcecode von WSM gefragt oder ob ich bei Fraud-Vorhaben unterstützen kann. Die Frage der Fragen ist aber, ob ich noch Bitcoins übrig habe und warum ich meine Wallets für die Behörden geöffnet habe.«

Waren Sie nach der U-Haft einmal an einem Punkt, vielleicht auch aus Geldnot, an dem Sie noch einmal darüber nachgedacht haben, einen Darknet-Shop zu betreiben?

»Absolut nicht. Definitiv NEIN. Dieses Kapitel ist und bleibt für mich komplett geschlossen. Nicht eine Sekunde habe ich darüber nachgedacht. Ich möchte mein Wissen für die Präventionsarbeit nutzen, das liegt mir sehr am Herzen. Das digitale Defizit bei Jugendlichen und Erwachsenen ist schockierend und umfasst viele Bereiche. Egal, ob Cybersecurity oder Datenschutz. Hier muss unbedingt Aufklärung betrieben werden, auch weil es vom aktuellen Schulsystem nicht abgedeckt oder aufgefangen wird.«

Martin sagt, er ist ein durch und durch ungeduldiger Mensch. Ihm fällt es schwer, zu warten. Durch seine Zeit in Untersuchungshaft hat sich dieser Charakterzug etwas gebessert. Er hat gelernt, auch geduldig zu sein. In Business-Fragen hingegen ist er noch immer eher ungeduldig. Schwer zu sagen, ob es Übermut oder Tatendrang ist, aber Martin Frost steht permanent unter Strom.

Der klassische Fernsehabend ist mit ihm undenkbar. Belanglose Filme zu schauen fällt ihm schwer, ebenso verhält es sich mit Serien oder Computerspielen. Ihm fehlt die Ruhe und er kann sich nur schwer fallen lassen. Früher stellte er Privates gern hinten an. Oft zum Leidwesen seines Umfelds. Dies ist heute anders. Regelmäßige Unternehmungen mit der Familie, seiner Freundin und seinem Sohn sind ihm wichtig.

Wie ist die Situation für Ihre Lebensgefährtin. Sind Sie noch zusammen?

»Am Anfang war es für sie verdammt schwer. Sie wusste nichts von meinen Darknet-Aktivitäten und hat, wie alle anderen in meinem Umfeld, nichts geahnt. Meine Freundin interessiert sich überhaupt nicht für Computer und hat auch keine Affinität zu IT-Themen. Sie können sich vorstellen, dass die Verhaftung für sie ein sehr großer Schock war. Seit dem Zugriff sind aber bereits drei Jahre vergangen und heute steht sie noch immer an meiner Seite. Wir versuchen unseren Alltag so gut und normal wie möglich zu meistern. Auch für unseren gemeinsamen Sohn. Trotz allem wird die Haftstrafe uns noch einmal vor eine schwere Prüfung stellen.«

Wahrscheinlich haben Sie die Frage schon öfter gehört, aber ist ihnen während Ihrer Streifzüge durch das Darknet auch mal etwas Kurioses aufgefallen? Stimmen die ganzen Gerüchte?

»Sie spielen wahrscheinlich auf Auftragsmörder und so weiter an, aber das sind meiner Meinung nach alles Scam-Seiten. Dieses Jahr wurde eine Seite namens Besa Mafia hochgenommen. Auch hier hat sich herausgestellt, dass es sich bei dieser Seite um Betrug handelte. Das zeigt, dass man auch solche ›Servicedienstleistungen‹ nicht einfach im Darknet bestellen kann. Erschreckend ist aber wirklich, wie viele tatsächlich bereit gewesen wären, einen Mord in Auftrag zu geben – darunter auch Deutsche. Vielleicht ist die reale Welt doch gefährlicher als das Darknet?«

Oh, das ist eine kühne und provokante Aussage.

»Sicher, auf den ersten Blick ist das vielleicht etwas hart formuliert. Ich will damit sagen, dass das Darknet nicht unbedingt etwas Schlechtes oder Böses ist. Zunächst ist es ein Ort, an dem man sich relativ anonym bewegen kann. Ob es gut oder böse genutzt wird, bestimmen wir durch unser Handeln. Gerade in den Medien liest man natürlich immer von den ›bösen‹ Seiten des Darknets, allerdings finden sich auch im Clearnet sehr bedenkliche Inhalte. Die Fraud-Szene bewegt sich zu 80-90 Prozent im Clearnet, dafür braucht es kein Darknet. Mittlerweile werden illegale Geschäfte vermehrt über Telegram oder sogar Instagram abgewickelt.«

Ich muss leider abermals nachfragen: Gibt es im Darknet geheime Unterlagen oder vielleicht Bilder von UFOs aus der Area 51?

»Ha, ha, die UFO-Frage wurde mir auch schon häufiger gestellt. Also, ich persönlich möchte nichts ausschließen, vielleicht gibt es da draußen ja wirklich etwas außer uns, aber im Darknet findet man da nichts. Die Leute denken wirklich, dass da geheime UFO-Akten gehandelt werden. Der Hacker Gary McKinnon hat angeblich mal etwas in dieser Richtung auf NASA-Rechnern entdeckt. Er galt lange als Spinner. Jetzt, wo das Pentagon die UFO-Akten freigegeben hat, hat er ja vielleicht doch etwas gefunden, aber ich habe während der ganzen Zeit keine dieser Seiten entdeckt. Viel ist auch einfach Mythos. Verkauft sich halt besser.«

Das hört sich jetzt so an, als wenn das Darknet gar kein Marktplatz für illegale Waren wie Waffen, Drogen und sonst was wäre.

»Ich will das auf keinen Fall verharmlosen. Waffen gab es bei uns nicht, genauso wenig wie Pornografie. Aber Drogen, falsche Ausweise und so weiter, klar, das wurde da alles angeboten. Diese Horrorgeschichten findet man nicht, da werden keine Leichenteile verkauft, Auftragsmörder oder Teile von UFOs. Ich persönlich halte das für Gerüchte, welche die Sache einfach spannender machen.«

Dennis, der während des Interviews neben Martin sitzt, schenkt sich noch einmal Kaffee nach.

Dennis, Sie sind der beste Freund von Martin, haben Sie während der ganzen Zeit nichts bemerkt? Hat er sich Ihnen nie anvertraut?

»Nein, ich habe davon gar nichts gewusst, auch nichts vermutet. Er hatte ja auch seine Online-Marketing-Agentur und für mich und alle anderen war diese Fassade schlüssig. Auch im IT-Bereich lässt sich viel Geld verdienen, und Martin war auch im Betrieb der Ansprechpartner für IT-Fragen. Ich war natürlich geschockt, als ich dann alles erfahren habe. Damit hat ja keiner gerechnet.«

Dennis, haben Sie ihn dafür verurteilt? Wie kommt es, dass Sie immer noch beste Freunde sind?

»Das, was Martin gemacht hat, verurteile ich natürlich. Ich habe damit überhaupt keine Berührungspunkte. Bis heute fällt es mir schwer, das alles zu glauben, und ich frag mich auch oft, ob ich etwas hätte merken müssen. Am Ende ist es, wie es ist. Ich kenn nun mal nur die normale Seite von Martin, den Darknet-Martin habe ich ja nie kennengelernt. Wir haben uns damals lange unterhalten, sicher, er hat wirklich große Fehler gemacht, aber auch eine zweite Chance verdient, und ich bin fest davon überzeugt, dass er sie nutzen wird.«

Beide erzählen, dass sie früher Arbeitskollegen waren, dass sie jetzt zusammen auch Geschäftspartner sind und versuchen, ein neues Unternehmen aufzubauen. Zusätzlich begleitet Dennis Martin zu seinen Präventions-Vorträgen. Man könnte sagen, er hat das Management von Martin übernommen.

Die Themen springen und es wird viel gelacht. Martin erzählt, dass er kein sonderliches Interesse an Großveranstaltungen hat und körperliche Nähe auch nicht sonderlich mag. Zu viele Menschenmassen schrecken ihn ab und Umarmungen mag er eigentlich nur von Leuten, die er gut kennt. Eine gesunde Distanz ist ihm lieber als übertriebene Nähe.