Pack die Badesachen ein - Gabriele Rökl (Hrgb.) - E-Book

Pack die Badesachen ein E-Book

Gabriele Rökl (Hrgb.)

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommertexte. Kurz und knapp, knackig, sehr bunt und verschieden - ganz so wie das Festival "Summa in da Stadt", das 2015 in der vierten Auflage in Wien-Margareten stattfand. Autor/innen aus unterschiedlichsten Sparten brachten Beiträge zum Sommerthema "Pack die Badesachen ein".

Auch wenn der Titel vielleicht nahelegt, dass es sich um "leichte" Lektüre handelt, ist dem nicht immer so. Mal perlen die Wörter leicht vor sich hin, mal kommt eine Welle an Wörtern und Themen, die Leser/innen und Zuhörer/innen wegsog. Mal politisch, mal leicht und frivol, mal absurd. Das Schöne am Sommerfestival "Summa in da Stadt" ist ja genau diese Leichtigkeit und Freiheit, mit der sich unterschiedlichste Autor/innen durch ein Thema bewegen dürfen. Es gibt keine Grenzen. Und dies wollen wir auch mit dieser Anthologie vermitteln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Neil Y. Tresher (Hrgb.), Gabriele Rökl (Hrgb.)

Pack die Badesachen ein

eine Anthologie an Sommertexten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort: Pack' die Badesachen ein

Und wieder ist ein Sommer vorbei. Ein leichtes Bedauern legte sich beim Schreiben des ersten Satzes auf die Fingerkuppen meiner Finger und ein leichter Seufzer suchte den Weg ins Freie. Zuviel Pathos? Mag sein. Aber wir kennen doch alle das Gefühl, das sich einstellt, wenn die Tage wieder kürzer werden, in der Früh wieder mehrere dünne Schichten übereinander angezogen werden müssen und man mit einem "Wie war der Urlaub?" begrüßt wird.

Und wieder ist ein Sommer vorbei. Dieser Satz ist Feststellung und Bedauern zugleich. Es ist Zeit Bilanz zu ziehen. "Pack die Badesachen ein" war das Motto des Literaturfestivals im read!!ing room zu Wien im Jahr 2015. Der read!!ing room legt nun in Form dieses E-Books eine gedruckte, nein das wäre das falsche Wort, eine digitale Bilanz eines ganzen Sommers in Wien-Margareten vor. Wort für Wort, Zeile für Zeile. Authentisch, so wie es die zahlreichen Autor/innen wollten und in ihren Lesungen dem Publikum präsentierten. Einiges wurde speziell für das Festival neu geschrieben, einiges aus dem Fundus zusammen gestellt. Nicht alles passt zum Thema. Aber darum geht es nicht. Die Vielfalt ist Trumpf und ich denke, dass bereits eine erste Übersicht über die Autor/innen und Texttitel diesen Eindruck bestätigt. 2015 dauerte der Lesesommer von Ende Juni bis Anfang September.

Es mag ungewöhnlich scheinen, dass der e-read!!er für 2015 erst nach dem Festival 2016 erscheint. In der Tat. Bisher haben wir den read!!er immer vor dem nächsten Festival veröffentlicht. Mit dieser Sitte haben wir heuer aus gutem Grund gebrochen. Wir wollen den Sommer 2016 noch ein bisschen mit den Badesachen aus dem Jahr 2015 verlängern: Das Gute Gefühl des Sommers soll noch ein bisschen andauern, bevor uns die Betriebsamkeit des Schulbeginns und der Arbeitswelt vollkommen erfasst. Außerdem ist es ein Auftrag, sich bereits Gedanken über den Sommer 2017 zu machen. Zuvor gehen wir in die Planung für die digitale Bilanz 2016.

"Pack die Badesachen ein" ist mehr als ein e-read!!er zu einem Sommerfestival. Er ist eine bunte Mischung, ein Zeugnis für die Diversität des literarischen Ausdrucks. Er enthält kurzweilige Gedichte, Kurzgeschichten, Erzählanfänge, Szenisches und viel(es) Meer. Bekanntere Autor/innen und unbekanntere Autor/innen stehen gleichberechtigt nebeneinander wie die Liegen am Stand. Und es besteht keine Notwendigkeit die besten Liegen zu reservieren. Es ist Platz für alle. Dies war 2015 so. So hielten wir es 2016 und so werden wir es auch im Jahre 2017 halten.

Noch eine letzte Anmerkung zu den Texten: Die Autor/innen wurden heuer nach dem Alphabet angeordnet. Es gibt keine Einteilung nach Themen, wie dies bei vorhergehenden Anthologien der Fall war. Es kann auch passieren, dass einige Autor/innen mit weniger Texten präsent sind. Diese Wahl oblag einzig und allein den Autor/innen. Wir haben versucht die Redaktion der Texte so nahe wie möglich an der uns übermittelten Form zu lassen, um die Authentizität zu gewährleisten.

 

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen der read!!ing room

Peter Campa: Die sechste Kurzgeschichte von Friedrich Kudrna. Der Ausflug

Friedrich Kudrna hatte nach seiner Scheidung und der bald darauf folgenden Pensionierung plötzlich relativ viel Zeit. Endlich konnte er wieder – wie in seiner Jugend – Ausflüge machen. FKK hatte er noch nie in seinem Leben gemacht, seine Frau war nämlich sehr dagegen, jetzt wollte er es einmal probieren und mit dem Ausflug verbinden.

 

Es war bereits der fünfzehnte September als er sich mit seinem neuen Elektrofahrrad der Dechantlacke näherte. Hier in der Lobau hat FKK schon eine über hundertjährige Tradition, seit der Naturapostel Florian Berndl im Jahr 1900 eine Insel in der Alten Donau, das so genannte Gänsehäufel pachtete und dort auch ein Luft- und Sonnenbad einrichtete, wofür er von damaligen Journalisten nicht selten verbal geprügelt wurde.

 

Es war nur eine einzige Person im Wasser. Auch FKK machte von den wenigen Badegästen heute keiner. Eine Frau fütterte die Schwäne, damit der Mann sie besser fotografieren konnte. Dabei soll man die Wasservögel gar nicht füttern, fiel Friedrich ein. Aber vielleicht halten sich diese Leute für so unbedeutend, dass sie meinen, ihr Handeln würde keine Folgen haben.

 

Sollte er jetzt auch ins Wasser gehen, als Zweiter? Eben als er begann, sich auszuziehen, kam ein Mann zu ihm. "Entschuldigen Sie, ist nur hier beim Wasser FKK oder ist dahinten in den angrenzenden Wiesen auch FKK?" "Da ist überall FKK" antwortete Friedrich. Der Mann ging weiter, Friedrich zog sich weiter aus. Nun stand er bis zu den Knöcheln im Wasser und musste sich überwinden, weiter hinein zu gehen.

 

Da kam der Mann plötzlich wieder und meinte: "Ist es bei der Panozzalacke auch so weitläufig?" "Ja,", erwiderte Friedrich, "es ist AUCH so weitläufig!" "Ich glaube, Sie wollen Ihre Ruhe haben", sagte der Mann daraufhin.

 

Friedrich überwand sich und machte noch hundert Tempi im kühlen Wasser, bevor er sich wieder anzog und auf sein Elektrofahrrad setzte. "Das war aber ein kurzer Ausflug", dachte er.

Peter Campa: Der Frühpensionist

Alexander Leherbauer lebte in einer Substandardwohnung in der Diehlgasse im fünften Wiener Gemeindebezirk. In einer der Wohnungen, die es eigentlich gar nicht mehr gab. Doch Alex hatte sich seine durch die Zeiten gerettet.

 

Die Wohnung war im Erdgeschoss gelegen, was Alex für eine gute Altersvorsorge hielt. Seine fünf serbischen Nachbarn sowie deren Hund – deren Wohnung war eben so wie die von Alex mit Zimmer, Küche und Kabinett ausgestattet – teilten mit ihm ein Gemeinschafts-WC.

 

Alex musste im Gegensatz zu seinen Nachbarn über den Hof gehen, um dieses aufzusuchen. Die Serben hielten sich gerne im Hof auf, manchmal wurden dort auch Hochzeiten gefeiert. Alex, der nun schon gegen die sechzig ging, verspürte in den letzten Jahren einen immer stärkeren Harndrang. So leistete ihm der Plastikkübel, mit dem er einmal bei Billa sechs Kilogramm Orangen gekauft hatte, gute Dienste.

 

Ein wenig peinlich war es ihm aber schon, als er diesen Kübel des Morgens an den Hochzeit feiernden Serben vorbei tragen musste, um ihn auszuleeren. Diese taten wohl., als hätten sie es nicht gesehen, aber vermutlich taten sie nur so.

 

Ja, Alex war jetzt allein stehend. Seine Frau war vor zwei Jahren an einem Krebsleiden verstorben, der gemeinsame Sohn lebte mit seiner Frau in der Nähe von Freiburg im Breisgau. Zunächst hatte er nicht gewusst, was er mit seinem Leben anfangen sollte, als er vor einem guten Jahr nach zwanzig Jahren Dienstzeit bei einer Softwarefirma beim Arbeitsmarktservice angemeldet und schließlich in Frühpension geschickt wurde.

 

Da sah er, wie eines Tages seine serbischen Nachbarn einen riesigen Flachbildschirm nach Hause schleppten. Die Bildschirmdiagonale musste zumindest vierzig Zoll sein, meinte er. Gar nicht so schlecht, dachte er und nun ließ sich auch er einen solchen kommen.

 

Nachdem er aber einige Folgen der Barbara Karlich Show gesehen hatte, fühlte er sich innerlich leer und meinte, es müsse doch noch andere Dinge im Leben geben als das Fernsehen.

 

Das war an einem Tag, den er eigentlich für einen Samstag gehalten hatte, der aber in Wirklichkeit ein Pfingstmontag war. Den ganzen Tag war es trüb gewesen, ein wenig schwül, aber geregnet hatte es nicht, es war wohl Zeit sich aus der Wohnung zu bewegen. Die Wirklichkeit zu sehen.

 

Er ging noch schnell auf das Gemeinschafts-WC, und machte sich auf den Weg durch die Arbeitergasse hin zur Ringstraße des Proletariats, wie der Margaretengürtel lange Zeit genannt wurde. Ja, hier im Reumannhof gab es wohl schönere Wohnungen, dachte er. Das ist einer der ersten Gemeindebauten, schon 1924-25 erbaut. Er war das einzige Großprojekt des damaligen Architekten Hubert Gessner. Hier fehlt es nicht an Zierrat. Sogar einen Ehrenhof gibt es hier und einen Hochstrahlbrunnen. Andächtig bewegte sich Alex durch diesen bereits unter Denkmalschutz stehenden Gemeindebau, besonders die großen Laternen, noch im Jugendstil, hatten es ihm angetan. Vor dem Kindergarten waren Plastiken mit Figuren spielender Kinder errichtet. Jetzt fühlte er sich plötzlich nicht mehr so leer. Ihm war es, als hätte er eine Kirche betreten. Die Tore waren mit Emailtafeln gesäumt, die Symbole der Arbeitswelt zeigten. Etwa zwei gekreuzte Schlüssel, Hammer und Zirkel. Gerade als wäre die Arbeit nicht bloß ein weltlich Ding, sondern selbst eine Religion. Über dem Tor war eine Tafel, die darauf hinwies, dass dieser unter Bürgermeister Karl Seitz errichtet und den amtsführenden Stadträten Hugo Breitner, Franz Siegel und Anton Weber errichtet wurde.

 

Heiteren Gemütes schlenderte Alex durch ein Seitentor des Reumannhofes und kam auf die Brandmayergasse. Er ging wieder auf den Margaretengürtel hinaus, es begann bereits dunkel zu werden, aber besonders hell war es heute ohnehin nicht gewesen. Er dachte an nichts, plötzlich fiel ihm eine alte verwitterte Gedenktafel ins Auge, die am Ernst Hinterbergerhof, dieser ist neben dem Reumannhof, angebracht war und an Viktor Christ erinnert. „Aus diesem Haus wurde 1941 der sozialistische Freiheitskämpfer Viktor Christ im 37. Lebensjahr zur Justifizierung abgeholt.“ Kurz dachte Alex: „Ja, Geschichte ist am schönsten, wenn sie vorbei ist!“ Ein wenig später kam er zu einem historischen Kaffeehaus, in dem man tatsächlich noch rauchen konnte. Café Industrie stand darauf, auf einem Plakat wurde darauf hingewiesen, dass es gerade seinen hundertsten Geburtstag feierte. Die Einrichtung war sehr proletarisch, der proletarische Charakter wirkte echt, er bestellte eine Melange und bewunderte das Wandgemälde, welches eine alte Fabrik mit hohen Schornsteinen präsentierte.

 

Nachdem er ein wenig über das Proletariat meditiert hatte, machte er sich auf den Heimweg auf dem Margaretengürtel zurück zur gleichnamigen U-Bahnstation. Zwischen den Fahrstreifen des Gürtels hatte die Gemeinde eine Blumenwiese angelegt, um der Artenvielfalt eine Chance zu geben.

 

Beim Betrachten der Blumen hörte er schon von weitem eine Musik, die eigentlich keine war. Es gibt Musik zum Zuhören und es gibt Musik zum Weghören. Diese scheint gar nicht darauf angelegt zu sein, dass man zuhört. Als er sich dem Bruno Kreisky-Park näherte, merkte er, dass dort ein Lastwagen aufgebaut war, auf dem große Verstärker Techno-Musik wiedergaben. Ja, nicht jede Musik war zum Zuhören geeignet. Auch in vielen Kaufhäusern hörte er oft Musik, bei der er sich fragte, wem diese eigentlich gefallen solle. Nicht, dass sie schlecht war, aber man sollte eigentlich gar nicht zuhören, man sollte aber bemerken, dass Musik da sei. In manchen Geschäften gab es ja auch Bilder, die sollte man sich eigentlich gar nicht anschauen, aber man sollte merken, dass Bilder DA sein.

 

Alex beschloss nun, wieder den Rückweg in die Diehlgasse anzutreten. Es war bereits dunkel geworden, im Hof saßen immer noch die Serben und feierten die Hochzeit. Er ging in sein Zimmer und legte die CD von Steeleye Span auf, das ist eine englische Folkrockgruppe aus den Siebzigerjahren mit der berühmten Sängerin Maddy Prior. Er lehnte sich zurück und die Musik bildete mit den Eindrücken aus dem Reumannhof eine merkwürdige Einheit.

 

In dieser Verbindung ließ Alex diesen Abend getrost ausklingen, bei seiner Rückschau auf den vergangenen Tag fiel ihm wieder der Margaretengürtel ein und mit diesem sein alter Bekannter Franz Joseph. Alex konnte sich selbst nicht mehr genau erinnern, woher er diesen eigentlich kannte. Vermutlich von irgendeinem Lokal, aber von welchem? Vor kurzem hatte er ihn wieder getroffen und sie waren gemeinsam mit Farkas, so hieß der große ungarische Hirtenhund, über den Margaretengürtel spazieren gegangen und auch Alex hatte sich von diesem ziehen lassen, sie hatten den Gürtel dann überquert, am Haydn-Park vorbei.

 

Hier war 1783 von Kaiser Joseph II. der Hundsthurmer Friedhof angelegt worden. Der 1809 in Gumpendorf verstorbene Joseph Haydn war zunächst hier beigesetzt worden. 1820 wurde er exhumiert und auf den Eisenstädter Friedhof verlegt. Sein Schädel soll jedoch von Anhängern der Schädellehre Franz Joseph Galls gestohlen worden sein. Auch die Maler Jakob Gauermann und Josef Danhauser ruhten hier, nach Schließung des Friedhofes 1874 wurden sie auf dem Zentralfriedhof begraben. Sie kamen an der Kirche vorbei, auf der stand Neu-Margareten. Alex wunderte sich, wir sind doch schon in Meidling. Franz Joseph klärte ihn auf. Im Jahre 1907 trat der Bezirk Margareten freiwillig die jenseits des Gürtels gelegenen Bezirksteile an Meidling ab.

 

Wieso das hier Hundsturm heißt, wollte Alex wissen. Er hatte nämlich bereits in der Schönbrunnerstraße beim Bruno Kreiskyplatz ein Haus gesehen, auf dem im zweiten Stock eine riesige Hundefigur angebracht war. Darauf Franz Joseph: "Als alter Hundefreund kann ich dir das sagen! Im Jahr 1600 hat der spätere Kaiser Matthias hier ein Rüdenhaus errichtet. Es kann aber auch sein, dass der Begriff auf die alte Hundsmühle zurück geht, die wurde schon 1408 errichtet. Auf dem Wappen von Hundsturm, das 1850 noch eine eigene Gemeinde war, ist ein silberner Turm vor einem blauen Hintergrund mit einer grünen Wiese zu sehen, der Turm hat ein goldenes Tor, aus dem ein Hund springt. Nicht wahr, Farkas!" Er klopfte seinem Hund auf die Schulter, dieser bellte freundlich und sprang in die Höhe.

"Woher du das alles weißt", musste Alex verblüfft feststellen. "Ich bin eben ein heimatbewusster Mensch", erklärte Franz Joseph, "aber ich bin sicher kein Nazi!"

 

Schließlich waren sie in die Marx-Meidlinger Straße eingebogen. Alex brachte diesen Straßennamen zunächst mit der nahe liegenden Ringstraße des Proletariats in Verbindung. Zum Glück ist Franz Joseph ein belesener Mensch und sehr heimatbewusst. So konnte er Alex aufklären, dass es sich hier nicht um Karl Marx handle, sondern um St. Marx. Diese Straße, so kurz sie heute auch ist, verband noch im neunzehnten Jahrhundert den damaligen Vorort St. Marx, der heute im dritten Bezirk gelegen ist und nicht zuletzt durch den St. Marxer Friedhof berühmt ist, auf welchem angeblich Wolfgang Amadeus Mozart begraben sein soll mit den damaligen Meidlinger Vororten. Trotzdem wirkt diese Straße und ihre Umgebung eindeutig proletarisch, hier wird nichts vorgegeben, was nicht ist.

 

Ja, schon einige Wochen vorher, fiel ihm jetzt noch ein, war er mit Franz Joseph und Farkas im Kino gewesen, nämlich in den Breitenseer Lichtspielen im vierzehnten Bezirk. Dieses ist das älteste dauernd bespielte Kino der Welt. Franz Joseph war nämlich vom ehemaligen TV-Showmaster Hermes Phettberg zu seinem neuesten Film eingeladen worden. In seinen Rollen verkörpert Phettberg gewissermaßen den "Ecce Homo", den Schmerzensmann, indem er sich selbst gerne als den „Elenden“ bezeichnet. Der Begriff "Ecce Homo" stammt aus der Vulgata, er wird Pontius Pilatus zugeschrieben, der den gefolterten, in purpurnes Gewand gehüllten und mit einer Dornenkrone gekrönten Jesus nicht verurteilen wollte und ihn dem Volk als leidenden Menschen präsentierte. „Ecce Homo“ ist lateinisch und heißt: "Seht! Der Mensch!" Ecce heißt "Seht" und verlangt den ersten Fall. In der Kirche sagte früher der Priester: "Ecce agnus Dei ecce qui tollet peccata mundi. Seht das Lamm Gottes, das auf sich die Sünden der Welt nimmt".

 

Normaler Weise ist es ausdrücklich verboten, Hunde ins Kino mitzunehmen, aber Hermes Phettberg hatte es Franz Joseph ganz besonders freundschaftlich erlaubt. Nachdem Farkas aber bereits zu Beginn mehrmals laut gebellt hatte, forderte die Kinobesitzerin, eine ältere, sehr engagierte Dame Franz Joseph und seinen Hund freundlich, aber bestimmt auf, das Kino zu verlassen.

 

Alex grinste in sich hinein, gähnte noch einmal lautstark, streckte sich, legte den Kopf zur Seite und verfiel in einen angenehmen Tiefschlaf. Viel geredet hatte er heute nicht, aber immerhin viel gedacht.

Peter Campa: Der leere Kinderwagen in der Leopoldau

Werden Männer von ihren Frauen verlassen, sind sie oft nicht lebensfähig. Auch Friedrich Kudrna tat sich am Anfang schwer. Wohl gab es manche Handgriffe, die er noch nicht gemacht hatte, aber da es nicht das erste Mal war, dass er alleine lebte, waren es derer nicht so viele. Wäschewaschen und Bügeln war für ihn kein Problem. Nur mit dem vielen Staub in der Wohnung kämpfte er.

 

Allmählich emanzipierte er sich aber so weit, dass er endlich seine Unabhängigkeit genießen konnte. Wohl war er sich auch dessen bewusst, dass es eine solche nicht wirklich gab und auch nicht geben konnte, doch zunächst einmal war er mit der neu gewonnenen Freiheit durchaus zufrieden.

 

Zu dieser Freiheit gehörte unter anderem auch die Spaziergänge in der näheren Umgebung, ohne sich rechtfertigen zu müssen. So saß er jetzt in einem Autobus der Linie 32A, die von Strebersdorf in die Leopoldau führte. Bei der Iselgasse stieg schon wieder diese Frau ein, die war ihm schon des Öfteren aufgefallen. Sie war mittleren Alters, trug eine Brille und stieg mit einem Kinderwagen ein, aus dem man aber nie ein Baby schreien hörte. Trotzdem schien etwas drinnen zu sein, verborgen unter einer schwarzen Decke. Sollte er die Frau darauf ansprechen?

 

Ein sportlicher junger Mann kam ihm zuvor. "I mach' ma Sorgen um Sie!" sagte er zu der fremden Frau. "GehnS´, heans auf, um mi brauchen Sie si wirklich kane Sorgen machen!" "Ah, so, da bin i aber froh," erwiderte der junge Mann, "i hab ma scho denkt, i muaß ma um Sie Sorgen machen!" Damit endete das Gespräch.

 

Friedrich rätselte noch immer. Da fiel ihm ein, dass ihn vor zwei Monaten eine junge Frau bei der Jesuitenkirche im ersten Bezirk um einen Euro gebeten hatte. Auch sie hatte einen Kinderwagen. Friedrich gab ihr einen Euro und blickte in den Kinderwagen. Da war aber kein Baby, sondern eine Puppe darin. "Wo ist denn das Baby?" fragte Friedrich. "Ich weiß nicht!" sagte die Mutter.

 

Einige Male hatte er schon Frauen gesehen, die hatten einen Hund darin.