Padre Padrone - Gavino Ledda - E-Book

Padre Padrone E-Book

Gavino Ledda

4,7

Beschreibung

Nur für wenige Wochen erlebt der kleine, kaum sechsjährige Gavino 1944 im sardischen Bergdorf Siligo das Privileg der Schulbildung – dann wird er von seinem Vater gewaltsam aus der Zivilisation herausgerissen und in die Einsamkeit der rauen, archaischen Bergwelt Sardiniens fortgeholt. Mit strenger Hand weist der Patriarch seinen erstgeborenen Sohn in das harte, von Verzicht geprägte Hirtenleben ein, fern von der Mutter und den Geschwistern – so will es die Tradition und so erzwingt es der Vater. In „Padre Padrone“ erzählt Gavino Ledda die erschütternde Geschichte seiner von Gewalt, Zwang und einer komplizierten Hassliebe zwischen Vater und Sohn geprägten Kindheit und Jugend. Doch Gavino zerbricht nicht an den psychischen und physischen Schikanen seines despotischen Vaters. Seine Fähigkeit, die ihn umgebende Natur als tröstenden Schutzraum anzunehmen und in innige Zwiesprache mit ihr zu treten, hilft ihm, seinen wachen Verstand zu bewahren. Begierig saugt er alle Geschichten über Sardiniens gerade erst zu Ende gehende archaische Zeit der Hirten und Herren, Banditen und Patriarchen in sich auf, die ihm bei den seltenen Kontakten zur Zivilisation von Verwandten und anderen Hirten erzählt werden. Mit ungeheurem Lebenswillen trotzt er Naturgewalten und Krankheiten – und er bewahrt seinen Freiheitsdrang … Gavino Leddas mehrfach ausgezeichneter autobiografischer Roman „Padre Padrone“ wurde allein in Italien mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft und in 40 Sprachen übersetzt. Die Verfilmung des Buches wurde in 1977 in Cannes mit einer „Goldenen Palme“ geehrt. In seiner Kolumne "Das Beste aus aller Welt“ stellte Axel Hacke am 5. Juli 2018 unter dem Titel "Über eine segensreiche, erkenntnisstiftende, kurzweilige, aber halb vergessene Kulturtechnik: das Bücherlesen" im Süddeutsche Zeitung Magazin Padre Padrone vor (siehe "Rezension").

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Coverfoto: Sardische Landschaft (bambolo Fotolia.com)

Kapitelaufmacher: Korkeiche (iStockphoto/ggodby)

Gavino Ledda:

Padre Padrone. Mein Vater, mein Herr

Übersetzt von Heinz Riedt

Stuttgart 2013

ISBN 978-3-944561-03-5

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 1974 Gavino Ledda

© 2011 Baldini Castoldi Dalai editore / Dalai editore

Deutsche E-Book-Ausgabe © 2013 red.sign media, Stuttgart

© für die Übersetzung Angelika Sander-Riedt und Dr. Peter Sander

Am 7. Januar 1944 saß ich zum ersten Mal auf einer Schulbank, drei Monate später als meine Kameraden. Offiziell gehörte ich zu den Sechsjährigen; in Wirklichkeit war ich erst vor Kurzem fünf geworden. Aber da ich demselben Jahrgang angehörte wie meine Kameraden, musste mich die Lehrerin aufnehmen. In den ersten Tagen machten sich die Kameraden über mich lustig, belachten meine Unwissenheit. Alle Jungen und Mädchen waren sie älter als ich. Viele wiederholten die Klasse. Und sie taten mir gegenüber recht forsch: Sie konnten die Grundstriche schon malen und Vokale und Konsonanten lesen und schreiben. Glücklicherweise hatte ich Pizzente als Banknachbarn, der so alt war wie ich und auch am selben Tag in die Schule gekommen war. Unseretwegen musste die Lehrerin noch einmal ganz von vorn anfangen. Eine Zeit lang war Pizzente ebenso befangen und schüchtern wie ich; aber schon bald reagierte er mit Herausforderung: als bockiger Schüler, der lieber alles andere lernen wollte als Lesen und Schreiben.

Ich weiß noch, dass mein Banknachbar stets unordentlich war: Er hatte nie eine Schulmappe oder Hefte dabei und passte auch im Unterricht nicht auf. Wenn die Lehrerin den anderen die einzelnen Buchstaben mit deutlichen Mundbewegungen vorsprach und ich schweigend meine Grundstriche machte, knöpfte er sich oft die Hose auf und produzierte mit vorsichtigen Körperverdrehungen den nächsten Nachbarn sein Spätzchen. Für ihn war dies eine Mutprobe, mit der er beweisen wollte, dass er sich von niemandem einschüchtern ließ. Die ganze Klasse geriet darüber in Aufruhr. Wenn die Lehrerin nicht mehr anders konnte, schlug, tadelte und bestrafte sie ihn. Bemerkten ihn jedoch nur wenige und die Aufmerksamkeit der Klasse litt nicht darunter, zog sie es vor, ihn gar nicht zu beachten. Dann fühlte sich Pizzente wirklich als der Stärkere.

Ging die Lehrerin einmal hinaus, stellte er sich auf die Bank und reizte in aller Offenheit unsere Neugierde und begleitete seine Exhibition mit einem Lachen, das noch anmaßender war als das Lachen derjenigen, die ihre Buchstaben schon gut malen konnten. Einige Kameraden machten es ihm nach. Die Mädchen taten zwar schämig empört, konnten aber ihre Neugier nicht ganz verbergen. Doch für die meisten, darunter für mich, war das, was sich hier abspielte, ein Ärgernis und eine Schande. Ich fühlte mich sogar schuldig, als hätte ich diese Bravourstücke selbst vollbracht. Die Angeberei meines Kameraden verstärkte meine Schüchternheit nur noch. Zudem musste ich ja die verlorene Schulzeit aufholen und den Abstand überwinden, der mich ohne eigenes Verschulden von meinen Kameraden trennte. Ich durfte mich nicht von Pizzente ablenken lassen. In den Pausen bat ich die Mitschülerinnen und Mitschüler, mir bei der Niederschrift von Vokalen und Konsonanten zu helfen, die sie selbst ja schon einigermaßen flüssig schreiben konnten.

Meine Schulerfahrung dauerte gegen meinen eigenen Willen und gegen den Willen der Lehrerin kaum mehr als einen Monat und endete, lange bevor ich zu einem wirklichen Schüler geworden war. Meine Lehrerin mochte mich sehr. Und viele Mitschüler und Mitschülerinnen, die in den ersten Tagen über mich gelacht hatten, waren inzwischen dadurch für mich eingenommen, dass ich ihnen die Grundstriche, die Konsonanten und Vokale abgeschaut hatte. Aber während die Tage verflossen, arbeitete die Zeit unerbittlich gegen mich. Eines Februarmorgens, die Lehrerin ließ mich gerade etwas an die Tafel schreiben, stürzte sich mein Vater, in der festen sittlichen Überzeugung, dass ich sein Eigentum war, und mit dem harten Blick eines ausgehungerten Falken auf die Schule. Laut und ungestüm kam er in die Klasse. Ging wortlos zum Katheder, grüßte die Lehrerin mit einem knappen Guten Tag. »Guten Tag«, erwiderte die Lehrerin, als er sich stocksteif und verdrossen ob der Situation vor sie hinpflanzte.