Papa, ich bin für dich da - Bettina Michel - E-Book

Papa, ich bin für dich da E-Book

Bettina Michel

4,9

Beschreibung

Als Rudi Assauer Anfang 2012 seine Demenzerkrankung öffentlich gemacht hat, war das Medienecho riesig. Seitdem ist einige Zeit vergangen und in der Familie Assauer ist die Normalität eingekehrt bzw. eine Normalität, wie sie in Familien üblich ist, wenn man sich um einen dementen Familienangehörigen kümmert. Sie alle haben dieselben Fragen, Ängste und Probleme, sie alle kämpfen mit denselben Schwierigkeiten. Bettina Michel erzählt authentisch, ehrlich und sehr emotional, wie sie sich um ihren Vater kümmert, mit welchen Problemen und Vorurteilen sie zu kämpfen hat, wie die Betreuung sie und die engsten Freunde und Familienmitglieder oft genug an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit bringt, aber auch, welche schönen Momente daraus entstehen. Sie erklärt, wie sie sich in ihre Rolle eingefunden hat, wo man als Angehöriger Hilfe bekommen kann, was staatliche Einrichtungen leisten können bzw. wo es große Defizite gibt. Sie lässt den Leser teilhaben an ihrem reichen Erfahrungsschatz, den sie sich im Lauf der Zeit erworben hat. Abgerundet wird der Ratgeber von einem umfangreichen Serviceteil, der betroffenen Angehörigen wichtige Adressen zur Unterstützung bietet.

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Bettina Michel

Papa, ich binfür dich da

Wie Sie Demenzkrankenhelfen können

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deutschen Nationalbibliografie.Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://d-nb.deabrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2014

© 2014 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86 D-80636 München Tel.: 089 651285-0 Fax: 089 652096

Redaktion: Matthias Teiting Umschlaggestaltung: Maria Wittek

Umschlagabbildung: Michael Hagedorn

Satz: Georg Stadler, München

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-528-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-688-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-689-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unterwww.muenchner-verlagsgruppe.de

Table of Contents
TEIL 1Der Anfang
Rudi Assauer – Wer ist das?
Wie reagiert die Öffentlichkeit?
Ein Kartenhaus bricht zusammen
Die ersten Anzeichen
Ein spätes Treffen von Vater und Kind
TEIL 2 Der Krankheitsverlauf meines Vaters
Mai 2006 bis Dezember 2011
Die drei Stadien der Demenz
Diagnose und Medikamente
Dezember 2011 bis September 2012
Er kam, setzte sich und blieb – Wie Papa einzog
Papa, jetzt bin ich für dich da
Alternative Heilmethoden und wieder zurück zur Schulmedizin
Heimpflege oder Pflegeheim?
Oktober 2012 bis Februar 2013
Projekt: Ein normales soziales Leben
März 2013 bis Mai 2014
Mir fehlen die Worte – oder: Wenn man die Sprache vergisst
Jeder Tag ein Stückchen Alltag
Fußball oder Papas gesamter Lebensinhalt
Mobilität als Grundstein für soziales Leben
Der Geburtstag – Sieben Jahrzehnte voller Ereignisse
TEIL 3Im Hier und Jetzt
TEIL 4Ein Ausblick
TEIL 5Lebendiges Zusatzwissen
»Rudi Assauer Initiative Demenz und Gesellschaft« – das frühe Erbe meines Vaters
Betreuungsvollmacht – Wem lege ich mein Leben in die Hand?
Wie erkläre ich es meinem Kind?
Sexualität – Ein weiteres Tabuthema
TEIL 6Service
Zusammenfassung der wichtigsten Umgangsformen mit Demenzkranken
Hilfe für Angehörige – Wenn nichts mehr geht, geht das …
Heimwahl
Rechtliche Fragen
Vollmachten
Haftpflicht
Pflegefall – Was ist zu tun?
Wie bekommt man finanzielle Unterstützung?
Pflegestufe I – Erhebliche Pflegebedürftigkeit
Pflegestufe II – Schwerpflegebedürftigkeit
Pflegestufe III – Schwerstpflegebedürftigkeit
Härtefallregelung
Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff
Sozialhilfe
Checkliste der Alzheimer Angehörigen Initiative e.V.
Klären Sie die rechtlichen und finanziellen Fragen
Informieren Sie sich über die Leistungsfähigkeit der Sozialstationen in Ihrer Nähe
Achten Sie auf eine kompetente medizinische Versorgung
Holen Sie sich die notwendige Anleitung und Entlastung für die Pflege
Achten Sie stets auf die Sicherheit und das Wohlbefinden des Kranken
Nehmen Sie mit Ihrer Alzheimer-Gesellschaft Kontakt auf
Deutsche Alzheimer-Gesellschaft e. V. – Selbsthilfe Demenz
Demenz-Beratung für Gehörlose und Migranten
Gedächtnissprechstunden
Quellennachweis

»Seit Papa bei mir wohnt, ist jeder Tag eine Wundertüte.«

Bettina Michel

TEIL 1Der Anfang

Rudi Assauer – Wer ist das?

Rudi Assauer: Macho, Manager, Fußballlegende – den Namen meines Vaters kennt in Deutschland vermutlich so ziemlich jeder, und bei all denen, die ihn kennen, entsteht im Kopf ein Bild von dem Menschen, der sich vermeintlich hinter diesem Namen verbirgt. Das ist für eine Person des öffentlichen Lebens vollkommen normal.

Ein Mann des Wortes, selbstbestimmt, charakterstark und vor allem auffällig. Wenn Rudolf Assauer einen Raum betrat, teilte sich die Menge, er stand sofort im Mittelpunkt. Nach außen hin ein absoluter Macho – was er in manchen Situationen ganz bestimmt auch gewesen ist. Seine öffentliche Rolle war die des burschikosen Machers, den nicht interessierte, was über ihn gesagt wurde. Doch er hatte immer auch eine andere Seite. Eine Seite, die er vor der Öffentlichkeit und oft genug auch vor seiner Familie gut versteckt hielt. Seine lieben, zärtlichen Gefühle für die Menschen, die er liebt.

Rudolf Assauer hatte immer eine Meinung, die er stimmgewaltig kundtat und verteidigte. Ihm war es egal, wenn 20 000 Leute gegen ihn waren. Er hielt an seiner Meinung fest und verteidigte sie. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es bis zum bitteren Ende durch.

Vor einigen Jahren initiierte eine große Tageszeitung eine Umfrage nach den bekanntesten Deutschen, bei der mein Vater unter den ersten zehn landete. Damals verband ihn jeder mit einem Thema: Fußball. Vor allem auch mit seinen herausragenden Leistungen beim FC Schalke 04. Am 3. Februar 2012 änderte sich die öffentliche Wahrnehmung Rudi Assauers maßgeblich, da er an diesem Tag seine Biografie veröffentlichte: »Wie ausgewechselt: verblassende Erinnerungen an mein Leben.« Und er brach ein absolutes Tabu. Rudi Assauer sprach aus, was jeder andere in seiner Position vermutlich verschwiegen hätte. »Ich bin krank. Ich habe Alzheimer.«

Zeitgleich strahlte das ZDF in seiner Sendereihe »37 Grad« eine Kurzdokumentation über meinen Vater aus, die sein durch die Krankheit verändertes Leben zeigte. Ein Jahr war er hierfür von einem Kamera- und Redaktionsteam begleitet worden. Offen und ehrlich sprach er über den Verlust seiner Fähigkeiten und die damit einhergehenden Veränderungen in seinem Leben. Ein mutiger Schritt, der vielen Betroffenen helfen sollte, ebenfalls selbstbewusst mit der Krankheit umzugehen.

Das war wiederum typisch für Rudi Assauer: Es war ihm egal, wie die Öffentlichkeit über sein Coming-out urteilen würde. Die Idee hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und wurde in die Tat umgesetzt.

Mittlerweile verbinden ihn die Menschen nicht mehr nur mit seiner Fußballkarriere, sondern auch mit seiner Krankheit. Und das ist gut so. Genau das war das Anliegen meines Vaters. Er wollte, dass Alzheimerkranke sich nicht in dunklen Zimmern und hinter dicken Gardinen verstecken müssen, sondern ihr bisheriges Leben weiterführen können, wo immer es möglich ist.

Und darum gehe jetzt auch ich diesen Weg, den er für sich und andere Patienten geebnet hat. Darum schreibe ich dieses Buch. Weil ich zeigen möchte, dass man den Alltag mit Alzheimer meistern kann und dass es sich lohnt, den Lebensmut trotz dieser Krankheit nicht zu verlieren. Die drei vergangenen Jahre, die ich meinen Vater zu Hause gepflegt habe, waren ohne Frage oft anstrengend. Aber sie waren vor allem eins: Tage voller Glück.

Aufgeben kam für meinen Vater sein ganzes Leben lang nicht infrage. Seine erfolgreiche Fußballkarriere verdankte er zwei Dingen: seinem talentierten, trainierten Körper und seinem brillanten Gehirn. Merkwürdigerweise verfolgte ihn seit jeher die Angst, dass, wie er immer sagte, »seine Birne nicht mehr mitspielen könnte«. Man sollte glauben, dass ein Fußballprofi sich größere Sorgen um eventuelle körperliche Gebrechen machen würde. Doch Rudi Assauers Angst war es immer, seine geistige Leistungsfähigkeit einzubüßen. Vielleicht weil er wusste, dass seine aktive Laufbahn ohnehin irgendwann enden und er dann nur noch seinen Kopf benutzen würde. Richtig begründet hat er seine vorausschauende Sorge jedenfalls nie.

»Ich bin der Erste, der diese Krankheit besiegt.« Ein Satz, der sich in mein Hirn eingebrannt hat. Er formulierte diese Kampfansage voller Inbrunst und aus tiefster Überzeugung kurz nach der Alzheimerdiagnose. Nicht aus Angst oder um sich selbst einzureden, dass er eine Chance hätte. Es war seine Meinung. Es lag mir damals auf der Zunge, ihn zu bitten, er solle doch nicht rumspinnen. Aber dann überlegte ich es mir anders und dachte, dass es für ihn bestimmt besser und leichter sei, diese innere Kraft und Überzeugung zu spüren und mit ihr gegen die Krankheit anzugehen. Die Diagnose ist nicht gleichzusetzen mit dem Lebensende, sondern mit dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

Niemand von uns hatte eine so rosarote Brille auf, dass wir gehofft hätten, der Kelch werde an uns vorbeigehen und es würden keine weiteren Symptome mehr auftauchen. Aber es beruhigte uns, dass mein Vater seinen Lebenswillen nicht verlor, obwohl er so große Angst vor genau dieser Erkrankung gehabt hatte. Und wenn ich ihn heute betrachte, glaube ich, dass er ein bisschen recht hatte. Denn eine Faustregel sagt, dass von der Erstdiagnose bis zur Schwerstpflege beziehungsweise bis zum Tod sechs bis acht Jahre vergehen. Wir sind im neunten Jahr, und dafür ist Rudi Assauer noch körperlich und geistig super beieinander. Seine Willenskraft hat schon immer sein Leben bestimmt.

Um verstehen zu können, was die Krankheit für meinen Vater bedeutet, und um unser Vater-Tochter-Verhältnis nachvollziehen zu können, ist es wichtig, ein wenig aus dem Leben meines Vaters zu erzählen.

Rudi Assauer bezeichnete sich immer selbst als Kind des Ruhrgebiets, obwohl er am 30. April 1944 in Sulzbach-Altenwald, einem Städtchen an der Saar im Saarland geboren wurde. Er sagt, er sei »nur zufällig im Saarland rausgerutscht.« Meine Oma, seine Mutter Else war gebürtige Saarländerin und als junges Mädchen nach Herten im Ruhrgebiet gezogen. Dort lebte sie auch während des Krieges mit meinem Opa Franz und meinem Onkel Lothar. Die Bombardierungen nahmen zum Ende des Zweiten Weltkriegs in dieser Region stark zu, und meine Oma wollte ihre Zwillinge, mit denen sie schwanger war, lieber im sichereren Saarland bei ihrer Schwester Karin und deren Mann Rudolf zur Welt bringen.

Papa und meine zehn Minuten jüngere Tante Karin wurden nach den beiden Menschen benannt, die ihnen ein sicheres Dach über dem Kopf boten.

Die ersten Jahre seines Lebens lebte Papa mit seiner Familie in Herten-Süd in der Herner Straße und später in der Augustastraße. Sein jetziges Zuhause ist nur 15 Minuten von seinem damaligen Elternhaus entfernt. Dieses Elternhaus lag genau gegenüber vom Fußballplatz der Spielvereinigung Herten, dem Klub, in dem Papa 1962 seine Fußballkarriere begann. Schon im Alter von acht Jahren pöhlte er im sogenannten Katzenbusch. Mein Vater ist noch heute der absoluten Überzeugung, dass seine komplette Karriere von seiner Heimatregion geprägt ist. Im Pott gehörte der Fußball ebenso zum Leben wie der Bergbau. Die Verbundenheit, die die Kumpel unter Tage brauchten, lebten sie auch als Fans mit ihrem Verein aus.

Mein Vater kannte diesen Zusammenhalt nicht nur vom Platz. Wie die meisten Jungs im Revier machte er eine Lehre als Stahlbauschlosser bei der Firma Heese und malochte ein halbes Jahr auf dem Steinkohlebergwerk Zeche Ewald in Herten. Auch unter Tage. Rudi Assauer war und ist einer »von ihnen«. Sowohl beim BVB Dortmund, wohin er im Juli 1964 wechselte, als auch später während seiner Zeit bei Schalke 04.

Während seiner ersten Profistation in Dortmund machte er eine Bankkaufmannslehre – zur Sicherheit, falls seine Fußballkarriere nicht wie geplant verlaufen würde. Mein Vater hatte immer einen Plan B. Bis er krank wurde. Heute erlaubt ihm sein Kopf keinen Plan B mehr. Er kann sich nicht mal mehr an den Plan A erinnern.

Im Juli 1970 wechselte er zum SV Werder Bremen, wo er seine aktive Laufbahn im Mai 1976 beendete und beim gleichen Verein mit nur 32 Jahren zum jüngsten Manager der Liga wurde. Erst 1979 wurde dieser Rekord eingestellt, als Uli Hoeneß mit 27 Jahren vom FC Bayern München in derselben Position verpflichtet wurde. Rudi Assauer war der Job in München ebenfalls angeboten worden, er hatte aus Loyalität gegenüber den Bremern jedoch abgelehnt. Bremen befand sich im Abstiegskampf, und er wollte dem Verein in einer nervlich aufreibenden Phase der Saison eine derartige Hiobsbotschaft nicht zumuten.

Im Mai 1981 begann die Erfolgs- und Leidensgeschichte des Rudi Assauer beim FC Schalke 04. Er wurde Manager bei dem Traditionsverein aus Gelsenkirchen, was er mit einer kurzen Unterbrechung als Manager beim VfB Oldenburg von 1990 bis 1993 und mit einer Auszeit von 1986 bis 1990 bis zum Ende seiner Karriere am 17. Mai 2006 blieb.

Neben den sportlichen Erfolgen wie dem Gewinn des UEFA-Cups am 21. Mai 1997 und der finanziellen Sanierung des Vereins ist ihm vor allem ein Erfolg zuzuschreiben: der Bau der Arena AufSchalke. Das damals modernste Stadion Europas wurde am 13. August 2001 eröffnet. Der Bau der Arena ist wieder einmal typisch Assauer: Alle rieten ihm davon ab. Aber er hatte sich die Sache vorgenommen und war nicht davon abzubringen. Heute sind alle dankbar, dass das Ding da steht.

Die letzten Jahre während seiner verantwortungsvollen Tätigkeit als Manager war mein Vater bereits an Alzheimer erkrankt. Sein Umfeld verstand viele seiner Entscheidungen und Handlungen nicht mehr. Er wurde massiv kritisiert, was letztlich in seinem Rausschmiss gipfelte. Sogar sein Freund Huub Stevens sagte im April 2014 zu der Tageszeitung Die Welt, dass er nach sechs Jahren als Trainer auf Schalke zu Hertha BSC Berlin wechselte, weil er Assauers Aussetzer damals auf einen viel zu hohen Alkoholkonsum zurückführte.

Für meinen Vater selbst war die Übergangsphase eine anstrengende und fürchterlich belastende Zeit, weshalb ihm nur der Weg in die Öffentlichkeit blieb.

Wie reagiert die Öffentlichkeit?

An dem Abend vor dem Schritt in die Öffentlichkeit saßen wir zu Hause in Herten in unserem gemeinsamen Wohnzimmer nebeneinander auf der Couch und ich weinte, weil ich fürchterlich aufgeregt war. Ich hatte Angst vor den Reaktionen. Wie mein Vater sich wohl fühlen würde, wenn die Sache einmal öffentlich war? Ob er bereuen würde, die Sache publik gemacht zu haben? Es schnürte mir den Hals zu, dass wir nicht mehr zurückkönnen würden.

Papa war irritiert und wollte wissen, was los sei. Ich erklärte ihm, wie sehr es mich bedrückte, dass sich am nächsten Tag alles ändern und unser Leben nie mehr so sein würde wie zuvor. Darauf sagte er: »Und genau das will ich. Dann ist es endlich raus. Das ist gut so.« Für ihn zählte nur die Erlösung von der Angst. Endlich hätte diese Situation ein Ende, die Anstrengung, sich ständig verstellen zu müssen, die immer wiederkehrende Unterstellung, man sei betrunken. Endlich würde nicht mehr hinter vorgehaltener Hand getuschelt werden.

Die Reaktionen gaben ihm recht. 99,9 Prozent reagierten positiv. Der winzige Rest schien nicht verstanden zu haben, warum mein Vater diesen Weg wählte. Ein berühmter Moderator und vermeintlich guter Bekannter meinte in einem Interview, es sei abscheulich, eine Krankheit so in die Öffentlichkeit zu ziehen und damit noch Geld machen zu wollen. Dieser Mensch hat die Idee und die Botschaft nicht begriffen. Papa hat sich freigeschwommen, er holte sich ein Stück weit sein Leben zurück. Mittlerweile hat dieser Moderator seine Meinung geändert, weil er erkannt hat, dass es richtig war. Wir haben immer versucht, negative Reaktionen wie diese von Papa fernzuhalten, weil sie ihn vielleicht verunsichert hätten.

Fußballdeutschland war fassungslos, nicht nur die Schalke-Fans, sondern auch die Anhänger anderer Vereine. Aus vielen Ländern schrieben uns die Leute Briefe und E-Mails, oder sie riefen im Büro an und wünschten Rudi Assauer alles Gute. Viele wollten nicht aus Sensationsgier, sondern aus aufrichtigem Mitgefühl mehr über seinen Zustand wissen. Der Beistand war überwältigend und bestätigte ihm, dass er richtig gehandelt hatte.

Beim ersten Heimspiel nach seinem Coming-out, zu dem wir wegen des großen öffentlichen Interesses bewusst nicht gingen, hing ein riesiges Banner in der Kurve: »Glück auf, Rudi!« Wir sahen das Spiel im Fernsehen und bekamen alle eine Gänsehaut.

Auch das Medienecho war riesig. Jede Zeitung, jedes Magazin, jeder Fernsehsender wollte ein Interview mit meinem Vater. Wir hatten jedoch gemeinsam besprochen, dass wir nur wenig zulassen würden, da er die Dauerbelastung nicht mehr verkraftet hätte. Bei aller Stärke, die er mit seinem mutigen Schritt noch einmal bewiesen hatte, war er ein kranker Mann, der viel Ruhe brauchte.

Nachdem sich der Trubel gelegt hatte, wurde in der Familie und im engen Freundeskreis auch die Erleichterung spürbar. Papa stand nicht da wie ein Verlierer, der sich für etwas schämen musste, sondern wie ein Held, der ein Schreckgespenst aus dem Keller geholt und besiegt hatte. Wieder ein Erfolg in der langen Karriere des Rudi Assauer.

Neben den Fans und der Presse sowie denen, die sich mit Rudi Assauer verbunden fühlten und von denen eine Reaktion zu erwarten war, riefen uns viele Alzheimer-Erkrankte oder deren Angehörige an und bedankten sich. Das Beispiel meines Vaters habe ihnen Mut gegeben, auch sie hätten ihrem Umfeld von der Krankheit erzählt, und es gehe ihnen seitdem viel besser. Genau das hatte mein Vater erreichen wollen. Er wollte, dass Alzheimer enttabuisiert wird. Dass erkrankte Menschen nicht länger auf dem Abstellgleis dahinvegetieren würden, sondern erhobenen Hauptes sagen könnten: »Ich bin krank, und ich lebe trotzdem weiter.«

Papa nahm ganz ruhrgebietstypisch nie ein Blatt vor den Mund. Schon in der 1970er-Jahren sagte er in einem Interview: »Das Wichtigste ist, ehrlich und geradeaus zu sein.« Sein Credo war immer »Offenes Visier«. Er ahnte nicht, wie sehr diese Aussage auch in Bezug auf seinen Umgang mit Alzheimer zutreffen würde.

Ich rate jedem, die Krankheit nicht zu vertuschen. Schon allein aus pragmatischen Gründen: Weiß das nähere Umfeld Bescheid, ist die Wachsamkeit der Freunde entsprechend erhöht. Und das ist ganz wichtig, weil man auf jede Hilfe angewiesen ist, die man nur bekommen kann. Gerade zu Beginn, wenn die Patienten eher tüddelig und desorientiert sind, wenn sie sich verlaufen oder im Bademantel auf die Straße gehen, dann ist es sehr gut, wenn man sagen kann: »Meine Angehöriger ist krank. Bitte wundert euch nicht. Sagt mir einfach, wenn ihr etwas beobachtet. Oder bringt ihn mir wieder nach Hause.« Informierte Nachbarn haben Verständnis und behandeln den Erkrankten nicht mit abfälligen oder missbilligenden Blicken.

Häufig treten auch extrem irritierende Veränderungen auf. Manche Patienten sind sehr laut und schreien viel. Das ist für Nachbarn, die wissen, was los ist, viel leichter einzuordnen. Man stelle sich nur einmal vor, dass die bis noch vor Kurzem so liebe Frau Müller plötzlich die schlimmsten Schimpfworte benutzt und man ihr gegenübersteht, ohne sich ihr Verhalten erklären zu können. Man würde natürlich zurückschimpfen oder ihren Mann fragen, was das Benehmen denn solle. Das ist für alle Beteiligten peinlich. Einige Patienten zeigen auch eine vollständige sexuelle Enthemmung. Sie kennen keine körperliche Distanz mehr und laufen nackt durch die Gegend. Ich will nicht sagen, dass man als Nachbarschaft alles tolerieren muss. Die Angehörigen sollten selbstverständlich darauf achten, dass die Einschränkungen so gering wie möglich gehalten werden. Aber sollte es mal nicht gelingen, ruft man als Nachbar nicht sofort die Polizei, sondern lieber die pflegende Person an.

Eine repräsentative Befragung der Bertelsmann-Stiftung und der Barmer GEK im Oktober 2013 zeigte, dass 82 Prozent der Menschen Mitleid mit Demenzkranken empfinden, jeder sechste von zehn Befragten verspürte Sympathie gegenüber den Patienten. Damit löst diese Erkrankung offenbar deutlich mehr prosoziale Einstellungen aus als andere psychische Leiden wie Depressionen oder Schizophrenie. Man geht davon aus, dass dies dem Bild des hilflosen, alten Menschen geschuldet ist. Diese Ergebnisse untermauern, dass ein offener Umgang der beste Weg ist.

Ebenfalls erstaunlich ist, wie viele Leute einem plötzlich erzählen, dass sie Erkrankte in der Familie haben oder Leute kennen, die unter Alzheimer leiden. Eigentlich ist das nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass in Deutschland auf 100 000 Einwohner 1600 Demenzkranke kommen. Bei der oben erwähnten Erhebung gaben 45 Prozent der Befragten an, schon einmal Kontakt zu Dementen gehabt zu haben. Von diesen 45 Prozent waren wiederum mehr als ein Viertel persönlich einmal oder gar laufend in die Betreuung eingebunden gewesen. Verrückt, dass trotzdem noch immer ein solches Geheimnis aus der Krankheit gemacht wird!

Vor dem Coming-out meines Vaters war die Demenz kein offenes Thema. Papa hat den ersten Schritt gemacht, und viele sind ihm durch das geöffnete Tor gefolgt. Die Grundlage, um über die Krankheit sprechen zu können, ist, dass sie erkannt wird. Dafür muss man wissen, was Demenz überhaupt ist – man muss ihre Symptome einordnen können.

Ein Kartenhaus bricht zusammen

Demenz leitet sich von dem lateinischen Wort demens ab, was »ohne Geist« bedeutet. Dieses Wort setzt sich aus den Einzelteilen »mens« und »de« zusammen – »Verstand« und »abnehmend«. Man spricht von einer Demenz, wenn ein alltagsrelevanter Verlust der kognitiven Fähigkeiten über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten vorliegt. Zu den kognitiven Fähigkeiten eines Menschen zählen unter anderem die Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit, die Erinnerung, die Lernfähigkeit, der Umgang mit Problemen, die Kreativität, die Orientierung, die Vorstellungskraft, die Argumentation und der Wille. Der deutsche Psychiater Dr. Alois Alzheimer hat 1901 als Erster eine besondere Form der Demenzerkrankung sowie ihre Ursache beschrieben. Daher trägt die Krankheit natürlich seinen Namen.

Dr. Stefan Spittler, Chefarzt der psychiatrischen Instituts­ambulanz im Krefelder Alexianer-Krankenhaus, begleitet meinen Vater und mich seit Beginn der Diagnose. Seine Erklärung der Krankheit hat es mir leichter gemacht, sie zu verstehen – Dr. Spittler nämlich hat das Bild eines Kartenhauses benutzt.

Um diesen Vergleich nachvollziehen zu können, muss man zunächst wissen, dass Alzheimer eine rückbildende Hirnerkrankung ist. Bereits viele Jahre, bevor die ersten klinischen Symptome sichtbar werden, bilden sich im Gehirn des Betroffenen sogenannte Plaques, die, um es ganz genau zu sagen, aus fehlerhaft gefalteten Beta-Amyloid-(Aβ-)Peptiden bestehen. Alzheimer ist eine neurodegenerative Erkrankung, bei der sich fehlerhafte Tau-Proteine aus dem Zellkörper heraus an die Axone anlagern, wodurch die Funktionstüchtigkeit der Zellen bis zur Unfähigkeit hin eingeschränkt wird. Anders gesagt: Es bilden sich Eiweißanhäufungen in den Zellen und zwischen den Zellen. Wenn diese Eiweißablagerungen nicht mehr abtransportiert werden können, platzen die Zellen und gehen unwiderruflich kaputt.

Nun hilft diese Beschreibung natürlich keinem medizinisch nicht vorgebildeten Menschen weiter, sondern sie verstärkt eher noch die Unsicherheit und Distanz gegenüber dem Erkrankten. Dass etwas körperlich nicht in Ordnung ist, wissen wir Angehörigen ja längst, aber wir wollen auch verstehen, was es ist, und vor allem, was in Zukunft passieren wird. Darum hat Dr. Spittler diesen komplizierten Sachverhalt in einfachen und verständlichen Worten formuliert.

Ich solle es mir so vorstellen: Das Gehirn des Erkrankten ist ein Raum, in dem ein riesigen Kartenhaus aufgebaut ist, und jede Karte steht für eine Nervenzelle und somit für bestimmte Fähigkeiten. Wir als Angehörige beziehungsweise das Umfeld stehen vor der Tür und schauen in diesen Raum hinein. Mit Ausbruch der Krankheit wird jeden Tag eine Karte herausgezogen. Bis dem Betrachter etwas auffällt, fehlen bereits Millionen Karten. Zuvor wirkt das Haus für Außenstehende noch vollkommen intakt. Der Patient spürt allerdings schon viel früher Einschränkungen, aber kann diese nicht fassen oder will sie einfach nicht wahrhaben. Das Haus wird allmählich instabil, und die Gefahr, dass wirklich wichtige Karten herausgezogen werden, wird größer. Das Risiko steigt, dass durch eine einzige Karte ein ganzer Teil des Hauses einstürzt. Plötzlich fehlen die Querverbindungen zu anderen Teilen des Gebäudes. Und in diesem Moment wird nun das Fehlen der entscheidenden Karten auch von außen sichtbar.

Landläufig spricht man in diesen Augenblicken von einem Schub. Die Auswirkungen sind gravierend und irreparabel. Nach und nach stürzen mehr Teilbereiche des Hauses ein, und letztlich bleiben keine Fähigkeiten mehr übrig. Der Patient ist vollkommen dement. Je intelligenter der Patient ist, umso komplizierter war das Grundhaus, wodurch er vielleicht in der Lage ist, die Krankheit länger zu vertuschen oder hinauszuzögern. Doch egal wie intelligent man ist, wenn eine entscheidende Karte gezogen wird, ist der Vorteil dahin.

Meine Aufgabe in der Pflege besteht nun darin, meinem Vater dabei zu helfen, die fehlenden Karten zu ersetzen und neue Brücken und Tunnel zu bauen. Ich bin sein Gerüst.

Die ersten Anzeichen

Warum vergisst er ständig Termine? Warum ist er so ungeduldig? Warum fehlen ihm so oft die Worte? Warum ist er bloß so sonderbar? Zunächst tauchen Fragen wie diese auf, der leise Verdacht, dass etwas nicht stimmt. Oder wie Papa sagen würde: »dass die Birne nicht mehr richtig funktioniert.« Nicht nur bei den Angehörigen, sondern auch bei den Betroffenen sind diese Fragen der erste Indikator. Niemand traut sich, die Gedanken laut auszusprechen, aus Angst davor, dass alles, was einmal im Raum steht, tatsächlich auch wahr wird. Man findet seine eigenen Antworten, man findet Erklärungen und Entschuldigungen. Die häufigste Ausrede ist natürlich das allmählich fortschreitende Alter.

Papa war 2004, als die ersten Anzeichen zutage traten, mit 60 Jahren noch nicht alt. Für Alzheimer gilt man erst ab 65 Jahren als Risikopatient. Und wer will sich die schreckliche Wahrheit schon vorschnell eingestehen? In der Regel machen alle erst einmal weiter, als sei nie etwas gewesen. Der Erkrankte versucht, die Mängel mit geschickten Tricks zu überspielen, das Umfeld verheimlicht jede Irritation. Das ist natürlich genau die falsche Herangehensweise, da eine frühe Diagnose wichtig wäre, um schnell an Hilfe und Medikamente zu kommen und den Verlauf der Krankheit hinauszuzögern oder zu bremsen.

Daher mein Rat und meine Bitte an alle: Nehmt euren ganzen Mut zusammen und sprecht einen Anfangsverdacht an! Das ist schwer, und ziemlich sicher wird es zunächst Streit geben, der Betroffene wird sich sehr wahrscheinlich zurückziehen. Doch diese unangenehme Situation muss man aushalten – jede Minute, die man später länger zusammen hat, ist diese frühe Anstrengung wert.

Die ersten Anzeichen der Erkrankung bemerkte in unserem Fall die langjährige Sekretärin und Wegbegleiterin meines Vaters: Sabine Söldner. Nach insgesamt 33 Jahren an seiner Seite kannte sie ihren Chef in- und auswendig. Auch Sabine und ich standen seit jeher in Kontakt, sodass ich selbst in schwierigen Vater-Tochter-Phasen immer wusste, wie es ihm ging. Sie berichtete mir bereits 2004 von Auffälligkeiten, vom schleichenden Beginn seiner Krankheit. Da Sabine diesen Prozess jedoch viel intensiver als ich oder sonst ein Mensch auf der Welt begleitete, soll sie hier selbst zu Wort kommen. Ihr Bericht wird Menschen, deren Angehörige ähnliche Symptome zeigen, helfen, diese zu erkennen. Selbstverständlich ist jeder Krankheitsverlauf ein anderer. Doch aus den Ähnlichkeiten kann man durchaus seine Schlüsse ziehen.

Mein Chef war ein gradliniger, klarer Mann mit großem Selbstbewusstsein. Ich habe nicht erlebt, das er je unsicher oder verlegen gewesen wäre. Er war überzeugt von dem, was er tat. Manchmal wirkte es nach außen wie Arroganz. Gerade wenn ein solcher Mensch, den nahezu nichts aus der Bahn zu werfen scheint, plötzlich unsicher wird, schaut man zweimal hin.

Die ersten, zunächst winzigen Mosaiksteine der Krankheit waren bereits 2004 zu erkennen. Rückblickend weiß ich, dass sein ganzes Verhalten auf seiner durch die Krankheit verursachten Unsicherheit basierte. Vermutlich konnte sich der Chef selbst nicht erklären, weswegen er in vielen Situationen, in denen er sonst so sicher war, auf einmal Hilfe brauchte. Allmählich und ganz unauffällig baute er einen Kokon aus Personen um sich auf, denen er hundertprozentig vertraute, die ihm Schutz gaben, ohne darüber zu sprechen. Wie eine kleine Privatarmee. Das verwunderte niemanden, weil Rudi Assauer immer gerne Menschen um sich hatte und umgekehrt sich viele in seiner Nähe auch wohlfühlten. Die Veränderung fiel erst gar nicht auf. Auch nicht, dass er nur noch Orte besuchte, an denen er sich auskannte und sich sicher fühlte. Ich selbst hielt unbewusst alles von ihm fern, von dem ich merkte, dass es ihm unangenehm war, ich stand immer wie eine Schutzmauer vor ihm. Jeder Fehler, jeder versäumte Termin, alles, was er vergaß, nahm ich auf mich oder erfand dafür eine plausible Erklärung. Ich rechtfertigte ihn nicht nur vor der Außenwelt, sondern auch vor mir. Ich war genauso blind wie alle anderen, und das allzu oft, weil ich es sein wollte.

Anfangs waren es Kleinigkeiten, die sich summierten. Als würde man jeden Tag einen Cent in ein Glas werfen und plötzlich steht man vor 10 000 Euro und denkt: »Nanu, da ist aber echt was zusammengekommen.« Nur dass die Überraschung im Falle meines Chefs eben keine freudige war.

So schmeckte ihm plötzlich sein Tee nicht mehr. Den ersten kochte er sich morgens immer selbst, weil er vor mir im Büro war. Leicht verärgert warf er mir vor, dass ich eine schreckliche, neue Sorte gekauft hätte. Das stimmte jedoch nicht, es war dieselbe Sorte wie seit 25 Jahren. Durch Nachfragen stellte ich fest, dass er vergessen hatte, dass er den Tee mit Zucker trank. Selbstverständlich wundert man sich in so einem Moment: »Hä, wieso wusste er das denn plötzlich nicht?« Aber wer denkt in so einem Moment schon an Alzheimer …

Die erste wirklich große Verwunderung bemerkte ich im Frühjahr 2003. Hamit Altıntop kam mit den Vertretern seines damaligen Vereins SG Wattenscheid 09 zu Vertragsverhandlungen zum FC Schalke 04. Eine Angelegenheit, die der Chef sonst garantiert allein geregelt hätte. Nach dem Gespräch hätte ich typischerweise einen Zettel mit den besprochenen Details erhalten, um die Unterlagen fertigzumachen. Doch vor diesem Termin bat er mich dabei zu bleiben. Auf meine erstaunte Frage, weswegen, gab er mir keine befriedigende Antwort, sondern nur, dass er es eben so wünsche. Er war der Chef. Warum hätte ich ihm den Gefallen nicht tun sollen? Während der Verhandlungen schaute er mich ständig rückversichernd an und ließ sich bestätigen, dass ich auch alles mitgeschrieben hatte. Das war komisch. Vermutlich fiel es aber abgesehen von mir niemandem auf, da ja niemand unsere Gewohnheiten kannte.

Darauf folgte im Herbst 2004 ein weiteres gravierendes Erlebnis. Schalke trat am 30. September 2004 zu einem EL-Auswärtsspiel bei Liepāja Metalurgs, Lettland an. Ich begleitete ihn nicht. Das war nicht ungewöhnlich, da ich grundsätzlich nicht zu allen Spielen mitfuhr. Mein Job war ja die Leitung des Büros. Es machte viel mehr Sinn, dass ich vor Ort blieb.

Vormittags rief der Chef mich viermal kurz hintereinander an und sprach mich mit Simone an, mit der er damals noch zusammen war. Obwohl ich ihm jedes Mal geduldig erklärte, dass ich nicht Simone, sondern Sabine sei, nahm er diesen Fakt nicht wahr. Hilflos rief ich seinen damaligen Assistenten Andreas Müller an und fragte zugegeben etwas vorwurfsvoll, ob sie eigentlich im Trainingslager nur saufen würden, weil Rudi Assauer so total daneben sei. Müller reagierte verständlicherweise total sauer und erzählte, dass die gesamte Mannschaft bis gerade in einer Teamsitzung gewesen sei und keiner Zeit zum Feiern habe. Zudem berichtete er mir, dass Assauer mit Simone Thomalla telefoniert habe und es ein Streitgespräch gegeben habe. Mir wurde klar, dass er den Streit hatte beilegen wollen und sie deshalb mehrfach zu erreichen versucht hatte. Da Simone mit Dreharbeiten beschäftigt war, hatte sie ihr Handy ausgestellt, und entweder lagen wir in der Anrufliste beieinander, weil ich mit ihm an dem Tag bereits telefoniert hatte, oder er hatte in seinem Telefonbuch nachgesehen, wo unsere Vornamen – Simone und Sabine – hintereinanderstanden. Er war nicht in der Lage zu reflektieren, dass ich nicht Simone war. Schon damals war sein logisches Denken stark vermindert, nur dass es noch niemand wusste.

Diese extremen Beispiele fallen natürlich schnell ins Auge. Die Kleinigkeiten sind jedoch viel irritierender und entscheidender. Telefonieren war nie sein Ding. Handys waren für Rudi Assauer ein notwendiges Grauen. Er wollte immer die einfachsten, ohne jeden unnötigen Schnick-Schnack. Benutzt wurde das Handy nur, wenn es keinen anderen Ausweg gab. Sein Motto war: »Wer mich erreichen will, findet mich auch ohne Handy.«

Und auf einmal meldete er sich täglich mehrmals. Fragte irgendwelche irrelevanten Dinge, für die er früher niemals den Hörer in die Hand genommen hätte. Am Ende eines jeden Gesprächs stellte er mir noch einmal dieselbe Frage, die ich ihm vorher schon mehrfach beantwortet hatte. Durch lustiges Herumgeplapper versuchte er mich abzulenken, was natürlich nicht funktionierte. Er konnte nicht mehr so weit denken, dass allein seine ständigen Anrufe schon auffällig waren.

Später telefonierte er ausschließlich mit Lautsprecher, wenn ich im Raum war. Stockte das Gespräch seinerseits, sah er mich hilfesuchend an und bat über Blickkontakt darum, dass ich ihm half, den Faden wieder aufzunehmen. Zunehmend musste ich Termine absagen, häufig sehr kurzfristig und mit fadenscheinigen Ausreden seinerseits. So oft wie er damals angeblich unter Bauchschmerzen litt, hätten wir besser einen Gastroenterologen aufgesucht.

Oft wurde er ohne Grund übertrieben hektisch und lief ziellos suchend umher. Der Tisch vom Chef war immer extrem ordentlich, er war ein regelrechter Ordnungsfanatiker gewesen, jedes Teil lag an seinem Platz und in einer bestimmten Anordnung. Eines Tages sah es aus, als wäre ein Orkan durchs Zimmer gerauscht. Rudi Assauer wusste nicht mehr, wo die Dinge ihren Platz hatten. Kugelschreiber fand er großartig und schrieb immer mit demselben. Auf einmal verlegte er ausgerechnet diesen Stift ständig, manchmal lag er direkt vor ihm und er sah ihn nicht. Dann nahm er hektisch fünfmal in kürzester Zeit seine Aktentasche vom Boden auf den Schoß und suchte nervös darin nach dem Kugelschreiber. Im nächsten Moment schien er die Sache wieder vergessen zu haben und schrieb mit einem anderen Stift.

In der BILD-Zeitung las er prinzipiell nur den Sportteil. Er schlug sie von hinten direkt bei dem Teil auf, las die wichtigen Passagen und warf sie weg. Schicksalsgeschichten interessierten ihn nicht. Plötzlich fing er mit der Schlagzeile an und kommentierte diese mit Aussagen wie: »Der arme Mann« oder »Die Familie kann einem leid tun.« Damit will ich nicht sagen, dass er nie mitfühlend war, aber er hielt solche Sachen von sich fern. Am auffälligsten war jedoch, dass er die Zeitung manchmal mehrmals aus dem Müll holte und die gesamte Lektüre und auch das Gespräch noch einmal von vorn begannen.