Pasvikelva - Thomas Ross - E-Book

Pasvikelva E-Book

Ross Thomas

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Beschreibung

Nach einer Fortbildungsveranstaltung wird die Journalistin Marit in einer Bar angesprochen. Ein Mann bietet ihr an, sie mit Informationen zu versorgen, deren Veröffentlichung großes Aufsehen erregen und sie schlagartig bekannt machen würde. Was er ihr erzählen will, ist allerdings höchst brisant, und schon treten mächtige Widersacher auf den Plan, die mit aller Macht verhindern wollen, dass das, was sich am Grenzfluss Pasvikelva abgespielt hat, an die Öffentlichkeit gerät. Wer ist schneller, der russische Geheimdienst? Der norwegische Geheimdienst? Oder gelingt es Ketil und Marit, die hochexplosiven Informationen zu publizieren, bevor die Geheimdienste sie daran hindern und ausschalten? Ein Spionageroman, der an der Grenze zwischen Nordnorwegen und Russland beginnt und aufzeigt, was passieren könnte, wenn mächtige Akteure der Weltpolitik sich wie Schachspieler verhalten, immer auf der Suche nach dem einen spielentscheidenden Zug.

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Vorbemerkung

Der Pasvikelva ist ein norwegisch-russischer Grenzfluss im äußersten Norden Europas. Auf beiden Seiten des Flusses gibt es Wasserkraftwerke. Ein großer Teil der erzeugten Energie wird exportiert.

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

KAPITEL 1: DUBLIN, TEMPLE BAR STREET

KAPITEL 2: DUBLIN, O’CONNELL STREET

KAPITEL 3: OSLO

KAPITEL 4: NEW YORK, 1956

KAPITEL 5: Txf3

KAPITEL 6: BEWEISE?

KAPITEL 7: Sxe4

KAPITEL 8: TERJE HELGESEN

KAPITEL 9: Sxd4+

KAPITEL 10: KRAFTWERK LJUSCHIN 3, PAZ

KAPITEL 11: Tc2# 0-1

KAPITEL 12: BEGEGNUNG MIT KARI

ZWEITER TEIL

KAPITEL 13: SNORRE SVINDAL

KAPITEL 14: KARLSTAD, GYLLENIUSGATAN 24

KAPITEL 15: TORA DAHL

KAPITEL 16: STEFAN LUND PERSSON

KAPITEL 17: NACH DER VERÖFFENTLICHUNG

KAPITEL 18: EPILOG

ENDNOTEN

ERSTER TEIL

KAPITEL 1DUBLIN, TEMPLE BAR STREET

„Ich möchte schließen, wie ich begonnen habe, und Mark Twain zitieren: Die Lüge ist dreimal um die Erde gelaufen, bevor die Wahrheit ihre Schuhe anzieht!“ Mit salbungsvoller Stimme fordert der Redner das Publikum auf: „Lasst uns gemeinsam die Schuhe anziehen und für die Wahrheit streiten!“ Und dann kommt, nicht minder staatstragend, der gewöhnlichste aller Schlusssätze: „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!“

Höflicher Applaus setzt ein, es ist der Applaus für das Mittelmaß, gerade laut genug, um nicht peinlich zu sein. Inspiration sieht anders aus, wissen die Zuhörer, Twain hätte es gekonnt, aber der Meister ist nicht da. Das zaghafte Klatschen geht im Räuspern und Scharren der Füße unter, Hände greifen ungeduldig nach Mänteln und Taschen. Es ist spät geworden, alle wollen gehen, manche können es kaum erwarten, aus dem Saal zu kommen. Die junge Blondine im hellgrauen Businesskostüm aus der dritten Reihe ist die Erste, die aufsteht. Die Nacht ist noch jung und die Gelegenheit kommt nicht oft, wird sie sich gedacht haben, als sie ihre Sitznachbarinnen durch Drängeln und Kleiderzupfen zum schnellen Aufbruch animierte. Auf geht‘s! Kirstens Ellbogen bohrte sich in Marits Rippen. Die Getroffene stöhnte auf, krümmte sich, aber Kirsten ging lachend darüber hinweg. Es war Zeit, das Leben zu genießen, dachte sie, und das Leben duldet keinen Aufschub. Marit betastete ihre Rippe, der Schmerz ließ ein wenig nach, aber schon zupfte Anna an ihrem Ärmel. Stimmt, dachte Marit, schließlich wurden die drei jungen Frauen nur selten zusammen ins Ausland geschickt, und wenn, dann war meistens der Chef mit von der Partie. So wie der gestrickt war, bedeutete das viel Arbeit und wenig Vergnügen. Doch diesmal, allein auf weiter Flur, war ihnen ein ungeahntes Maß an Freiheit vergönnt. Freiheit, die genutzt werden wollte!

Doch Marit konnte mit ihren Kolleginnen nicht mithalten. Der Tag war lang gewesen, der Workshop über effektives journalistisches Schreiben hatte ihr viel abverlangt, und der letzte Vortrag, zum Einschlafen langweilig, hatte ihr den Rest gegeben. Ganz anders ihre Kolleginnen, deren Gesichter blühten und strahlten wie im Frühling. Die Verheißung einer langen Nacht vor Augen, glänzten ihre Augen und lechzten nach Abenteuer. Kirsten hatte schon in der Kaffeepause ihren Lippenstift nachgezogen und Anna brauchte keine zwanzig Minuten, um nach der Veranstaltung wie aus dem Ei gepellt in einem hautengen schwarzen Bodycon-Cocktailkleid in der Hotelhalle zu stehen.

Und doch. Marit war nicht begeistert. Sie war müde, vielleicht lag es auch nur an der Erkältung, die sie sich im Flugzeug eingefangen hatte. Ihr Hals kratzte schon den ganzen Tag, und ihre Stimme klang rau und tiefer als sonst. Die Freundinnen wollten es nicht gelten lassen. Sie nahmen Marit unter die Arme und schleppten sie kichernd und scherzend wie Schulmädchen über den regennassen Asphalt. Sie stiegen in den Bus Richtung Innenstadt, das Ziel war längst ausgemacht. Die Temple Bar Street musste es sein, eine Bar reihte sich an die andere, es wurde live musiziert, getrunken und getanzt bis in die frühen Morgenstunden. Fake News, Aufklärung und Demokratie im digitalen Zeitalter? All das wollten sie vergessen, die Verheißungen einer feuchtfröhlichen, schwerelosen Nacht auskosten, bis am nächsten Tag das Flugzeug sie wieder nach Hause brachte.

Marit ging es etwas besser. Die frische, kühle Luft tat ihren Lungen gut, das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe auf dem feuchten Asphalt klang irgendwie lustig, manchmal gingen sie im Gleichschritt, die Körper in der kühlen Nacht eng aneinandergepresst, schon stolperte eine, die anderen fingen sie auf, kicherten, ahnten erwartungsvoll die Augen lächelnder Männer und Frauen auf ihren Körpern ruhen und gingen lachend weiter. In der Temple Street suchten sie die gleichnamige Bar auf, an der Theke war Platz. Kirsten bestellte ein Pint, Anna wollte lieber einen Cocktail, aber den gab es hier nicht. Marit winkte ab, sie wollte mit dem Alkohol noch etwas warten, aber daraus wurde nichts. Schon standen drei Pints vor ihren Nasen, zwei davon waren eine Viertelstunde später leer. Die Musik war laut und gut, die Band hatte sich warm gespielt, und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Schon waren Kirsten und Anna untrennbar mit der wogenden Masse verwoben, ein Knäuel aus Körpern, das sich im Takt der Geigen und Gitarren immer weiter von Marits Gemütszustand entfernte.

Nach einer Weile löste sich Anna aus der Masse, fordernd zupfte sie an Marits Ärmel. Doch die nippte lustlos an ihrem Glas und schüttelte den Kopf. Nein, heute würde das nichts mehr werden. Es war nicht ihr Tag, der Müdigkeit war nicht beizukommen, und Alkohol und laute Musik halfen nicht.

Marit entschied sich zu gehen, und da Anna schon wieder weg war, suchte Marit nach ihren Kolleginnen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Kolleginnen gefunden hatte, dann rief Marit „Ich will gehen!“ und Kirsten antwortete „Wir auch!“. Überraschung, aber es stellte sich schnell heraus, dass die beiden einfach weiterziehen wollten. Musik und Tanz mussten sein, aber hier fehlten ruhige Ecken, Rückzugsorte, falls sich etwas ergeben sollte. Kirsten und Anna drängten in Richtung Ausgang, Marit fiel zurück; es war schwierig und unangenehm, sich zwischen den Menschen durchzwängen zu müssen, Berührungen zu ertragen, die für Marit, die kaum getrunken hatte, nur allzu deutlich spürbar waren. Es war mehr als deutlich, Marit gehörte nicht hierher, nur weg von hier. In diesem Moment hielt jemand ihren Arm fest. Empört riss sie sich los und hörte auf Norwegisch:

„Marit, unsere Armee schickt Soldaten auf russischen Boden.“ Marit blieb augenblicklich stehen. Ein Mann stand dicht vor ihr. Jetzt trafen sich ihre Blicke, ruhig und fest sah der Mann sie an. Marit trat einen Schritt zur Seite, der Mann streifte ihren Unterarm. War das der Mann, der sie angesprochen hatte? Woher kennt er meinen Namen? Der Mann deutete mit dem Kopf auf einen Platz im hinteren Teil der Bar, etwas abgeschirmt von der lauten Musik. Marit schob sich an ihm vorbei, drängte zum Ausgang, wo Kirsten und Anna warteten. Dann drehte sie sich plötzlich um. Sie fand den Mann an der gleichen Stelle wie zuvor, und als hätte er gewusst, dass Marit zurückkommen würde, stand er breitschultrig da.

„Wer arbeitet mit den Russen zusammen?“ Der Mann lächelte freundlich, aber das Lächeln galt nicht Marit. Kirsten und Anna waren Marit gefolgt, sie wollten gerade gehen, als sie ihn sahen. Ein hübscher Kerl war er, groß, kräftig, das dunkle Haar fiel von der hohen Wikingerstirn auf breite, kräftige Schultern. Ein gepflegter Vollbart in dem fein gezeichneten Gesicht ließ eine gute Mischung aus kräftiger Männlichkeit und maskuliner Zärtlichkeit erahnen, es roch nach schöpferischer Kraft und zärtlicher Potenz. Kirsten war ganz aus dem Häuschen, auch Anna war entzückt, was für ein Lächeln! Verlegenes Kichern und zwei neidische Blicke, die Marit suchten und fanden. Was für ein unverschämtes Glück sie hatte! So schlecht gelaunt und doch ... es war nichts zu machen. Geschlagen zogen sich Kirsten und Anna zurück. Der Mann gab Marit ein Zeichen, und sie folgte ihm zu einer Sitzecke, wo ein Paar an einem wackeligen Holztisch saß und zwei Pints und zwei Gläser Wasser trank. Der Mann wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann standen sie auf und gingen.

„Woher kennen Sie meinen Namen?“ Der Mann verstand nicht, aber er lächelte. Marit kam näher und rief: „Wer arbeitet mit den Russen zusammen?“ Der Mann hielt Marit den Finger an die Lippen. Unwillkürlich zuckte sie zurück, ihre Hände umklammerten die Tischkante. Auch der Mann wich ein wenig zurück, schaute sich suchend um, dann sah er, was er gesucht hatte. Das Mädchen, das vorhin noch in der Sitzecke gesessen hatte, bahnte sich einen Weg durch die Menge, mit ausgestreckten Armen öffnete sie den Raum auch für den Jungen, der zwei Gläser in den Händen balancierte. Er stellte sie vor Marit ab. Der Mann nickte, und das Paar verschwand. Auf dem Tisch stand ein halbes Pint Strongbow Cider, das gleiche Getränk, von dem Marit vorhin getrunken hatte. Was war das für eine Anmache? Marits Neugier auf den Mann war wie weggeblasen. Sie sprang auf, schnappte sich ihre Jacke und schob sich am Tisch vorbei ins Freie.

„Wollen Sie ein Buch schreiben?“ Hatte Marit richtig gehört? Sie setzte sich wieder.

„Ich biete Ihnen an, ein Buch zu schreiben.“

„Was für ein Buch? Worüber?“

„Über den Stoff, den ich Ihnen liefern werde.“ „Sie sind verrückt“, rief Marit und sprang auf, der Hocker kippte, ihre Füße verhedderten sich in seinen Beinen, sie taumelte. Aber der Fremde war da, fing sie auf, sie spürte einen starken Arm in ihrem Rücken.

„Norwegen schickt Soldaten auf russischen Boden.“ Marit riss sich los, nervös fuhr sie sich durchs Haar. Wovon redete er?

„Haben Sie Beweise?“

„Ich bin der Beweis“, sagte der Mann. Wie um zu schwören, legte er die Hand auf die Brusttasche seines Jacketts. Ein Dokument schaute heraus. Es sah aus wie ein norwegischer Militärausweis. „Sie werden meine Geschichte schreiben“, sagte der Mann entschlossen, „sie hat mein Leben verändert, sie wird auch Ihres verändern. Es geht um die Zukunft unseres Landes!“

Später kehrten Marits Gedanken oft zu diesem Moment zurück. Was wäre gewesen, wenn sie sich anders entschieden hätte? Wenn sie den Rückzug angetreten, auf Sicherheit gesetzt und das getan hätte, was ihr die Stimme der Vernunft riet: Lauf weg, du bist in Gefahr!

Warum ist sie sitzen geblieben, wird sie sich später fragen. Warum hat sie auf den Fremden gehört? Es gab ein Geheimnis zu entdecken. Und da waren Augen, intensive Augen, die sie anzogen, und eine samtene Männerstimme, die sich wie ein Kontrapunkt gegen all die Gefahren erhob, die Marits Verstand zu erkennen glaubte. Aber war es wirklich so einfach?

Immer, wenn sie in Gedanken an diesen Punkt kommt, schüttelt Marit den Kopf, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Gut, dass sie sitzen geblieben ist.

Der Mann hatte nicht zu viel versprochen.

Er sagte, er kenne Marits Namen, weil eine ihrer Begleiterinnen sie so genannt habe. Marit glaubte ihm nicht, aber der Mann lächelte. Natürlich habe er ihren Namen nicht mir nichts dir nichts aufgeschnappt.

„Ich weiß“, sagte er, „dass du Marit Haugland heißt und Journalistin bei Dagens Nyheter bist. Ich habe dich ausgewählt ... Ich bin nicht verrückt, Marit, ich werde dir nichts tun, im Gegenteil. Ich biete dir eine Geschichte...“ Der Rest ging in einem Trommelwirbel unter.

„Was machst du da?“

Der Mann hatte einen Stift und einen Zettel aus der Tasche gezogen und schrieb: „Ich biete dir ein Geschäft an, einen Tauschhandel.“ Dann stand er auf, und ein Nicken bedeutete Marit, ihm zu folgen. Sie gingen zum Ausgang und nach draußen. Dort sagte Marit, dass sie nicht weitergehen würde.

„Wir gehen nicht weg“, beruhigte der Fremde sie und ging ein paar Schritte um die Ecke, wo sich eine überdachte Nische befand. Vor ihnen prasselte der Regen, drinnen dröhnte die Party, die Bässe drangen bis in die Gasse.

„Hier ist es gut“, sagte der Fremde. „Zieh deine Jacke an.“ Er reichte Marit die Hand. „Ich bin Ketil.“

Und er erzählte.

„Bis vor eineinhalb Jahren war ich Soldat, Mitglied einer Spezialeinheit, die im Grenzgebiet zu Russland operiert. Ihre Hauptaufgabe ist die Überwachung der russischen Bodenaktivitäten im Hinterland.“ Marits Augen weiteten sich. „Russische Spionagekräfte überqueren regelmäßig die Grenze nach Norwegen.“ Ungläubigkeit blitzte in Marits Augen auf, Ketil sah es. „Du willst wissen, warum wir nicht klagen? Nun, die Russen würden es natürlich abstreiten, und mit Beweisen ist das so eine Sache. Was für die eine Seite ein Beweis ist, ist es für die andere noch lange nicht. „Außerdem“, Ketil räusperte sich, „machen wir auf russischer Seite das Gleiche.“ Marit riss den Mund weit auf. Ketil trat näher, legte seinen Finger auf ihren Mund. Seine Stimme war leise und eindringlich.

„Du musst mitspielen, Marit! Wir sind ein Mann und eine Frau, die sich gerade kennen lernen. Wir interessieren uns füreinander, wir flirten und lachen wie tausend andere in diesem Moment. Behalte dein Erstaunen für dich, halte dich mit Fragen zurück. Das ist kein Interview, du musst dich zusammenreißen, sonst wird das nichts.“ Marit schob Ketils Finger von ihrem Mund. Sie atmete tief durch, ihr Herz klopfte unangenehm. Dann nickte sie, lächelte, lachte laut. Ketil tat es ihr nach, seine Hand berührte ihren Unterarm. Er rieb sich an der Nase und fuhr fort.

„Die Einheit berichtet einer Behörde über Truppenbewegungen im russischen Grenzland. Russland baut geheime Anlagen an der Grenze, die Behörde beobachtet und dokumentiert das. Sie weiß mehr als jeder andere über die Energietransportwege von den Kraftwerken am Pasvikelva durch das russische Karelien und nach Finnland.“ Marit blinzelte. „Willst du wissen, welche Behörde das ist?“ Ketil lachte plötzlich, eine Gruppe Jugendlicher näherte sich der Temple Bar. Ketil wartete, bis sie drinnen waren. „Das kann ich dir nicht sagen. Noch nicht. Nur so viel: Offiziell gibt es uns gar nicht. Nicht einmal die Regierung weiß, was wir machen.“

Marit hätte fast geschrien. Stattdessen hustete sie in die Hand und sagte freundlich lächelnd. „Ich glaube dir nicht.“

„Ich weiß, es klingt unglaublich, Marit. Aber es ist die Wahrheit. – Die Einheit leistet norwegischen Spionen in Russland logistische Unterstützung. Beweise? Warte ab.“ Seine Hand berührte beiläufig ihre Schulter. „Im September 2018 entdeckten unsere Techniker im Grenzgebiet Magnetfelder, die es dort vorher nicht gegeben hatte. Wir erhielten den Auftrag, die Energiequelle zu lokalisieren.“ Marit schüttelte den Kopf, Ketil ergänzte: „Die Felder bewegten sich. Das schloss aus, dass sie von den russischen Kraftwerken am Pasvikelva kamen, aber woher kamen sie dann? Unsere Physiker tappten im Dunkeln. Das Oberkommando beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie schickten uns über den Pasvikelva mit dem Befehl, weit ins russische Hinterland vorzustoßen.“

„Was heißt weit vorstoßen?“, fragte Marit.

„So weit wie nötig, um die Quelle zu identifizieren“, antwortete Ketil. „Es war Anfang Oktober, die Nächte waren schon lang. Die Einheit bestand aus sechzehn Mann. Wir überquerten den Pasvikelva im Abstand von zwei Kilometern. Wir waren gut ausgerüstet, die Technik war auf dem neuesten Stand: Nachtsichtgeräte, speziell beschichtete Tarnanzüge mit Gesichtsmasken, Wärmebildkameras. Die Russen haben überall im Grenzgebiet Kamerafallen aufgestellt, denen entgeht nichts. Aber unsere Anzüge können sie nicht ...“ Ketil hielt plötzlich inne, dann beugte er seinen Oberkörper vor, sein Kopf kam Marits Ohr näher. Er lachte laut, Marit zuckte zurück und sah nun, dass sich zwei Männer schnell näherten. Die Männer schoben sich zu Ketil und Marit in die Nische. Der kleinere wischte sich den Regen von der Jacke, der größere sprach mit starkem irischen Akzent.

„Good place to hide, isn‘t it?“ Ketil lächelte gequält. “Best place on a night like this!“ Ein Gespräch entspann sich, die Männer waren redselig, aber Marit verstand kaum etwas. Sie fühlte ihre Müdigkeit zurückkehren und begann zu frieren. Sie spürte Ketils Arm um ihre Schultern. „Lass uns gehen, Schatz“, und er zog sie hinaus in den Regen. Sie gingen die Straße hinunter.

„Wo wohnst du?“, fragte er. Marit nannte den Namen eines Hotels, aber Ketil durchschaute die Lüge sofort. „Ist schon gut“, sagte er. „Ich komme nicht mit.“ Er sah sie mit seinen großen, haselnussbraunen Augen an. Marit versuchte, ihren Ausdruck zu entziffern, warm und traurig leuchteten sie.

Marit trat einen Schritt zurück. „Wie kann ich dich erreichen?“ Ketil schüttelte den Kopf. Aus einem Impuls heraus sagte sie: „Komm morgen um zehn zum Obelisken in der O‘Connell Street.“ Junge Männer stapften grölend die Straße hinunter. Betrunkene Frauen stolperten aus der Temple Bar. Ketil nickte und ging wortlos in die Nacht hinaus.

KAPITEL 2DUBLIN, O’CONNELL STREET

Marit nahm ein Taxi zum Hotel. Sie kam nicht zur Ruhe, verbrachte unruhige Stunden im Bett, döste vor sich hin, ein Wirbel von Gedanken schoss ihr durch den Kopf. Was für eine verrückte Nacht! Was für eine absurde Geschichte! Was für ein seltsamer, undurchsichtiger Mann! Irgendwann schreckte sie auf. Sie erinnerte sich an ihren Rückflug nach Norwegen um 10.30 Uhr. Er musste gestrichen werden, das war jetzt klar, und eine Ausrede musste her. Aber welche? Marit stieg aus dem Bett und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Sie würde sich krank melden. Krank genug, dass an einen Flug an diesem Morgen nicht zu denken war. Das Problem war nur: Kirsten und Anna wohnten im selben Hotel. Treffpunkt um acht Uhr unten in der Lobby, dann mit dem Taxi zum Flughafen, so war es abgesprochen. Den Kolleginnen musste sie aus dem Weg gehen, auf keinen Fall wollte sie ihnen unter die Augen treten. Was also tun? Nach einer Weile hatte Marit eine Idee. Kirsten und Anna hatten sie am Abend zuvor mit Ketil gesehen. Wenn sie nun morgens, sagen wir um sieben, nicht im Hotel war, mussten ihre Kolleginnen denken, dass sie die Nacht mit diesem Mann verbracht hatte. Für eine Rückkehr ins Hotel hätte es einfach „nicht mehr gereicht“. Marit war sich sicher, dass dieser Plan funktionieren würde. Sie würden es verstehen, sich insgeheim vor Neid verzehren und Marit bestimmt nicht bei ihrem Arbeitgeber verpetzen. Marit schenkte sich noch ein Glas Wasser ein. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es halb fünf Uhr morgens war. Marit zog sich aus, duschte und fühlte sich besser. Sie ging ihren Plan noch einmal durch und fügte eine Variante hinzu.

Kirsten wachte um sechs Uhr auf und hatte Kopfschmerzen. Die natürliche Folge einer durchzechten Nacht. Nach Temple Bar waren sie in einen anderen Pub gegangen. Sie hatten getanzt bis „last orders!“, den Absacker in der Hotelbar genommen. Sie hatten viel Spaß gehabt, auch wenn das ganz große Abenteuer ausgeblieben war.

Kirsten dachte an Marit. Mädchen, Mädchen, dachte sie, erst den sterbenden Schwan spielen und dann ... mechanisch griff Kirsten nach ihrem Smartphone. Eine Nachricht von Marit: „Hi Kirsten, hi Anna, bin bei Jamie (der von gestern Abend; Smiley mit Sonnenbrille). Wartet nicht auf mich! Jamie bringt mich zum Flughafen.

„Das ist ja unglaublich!“, rief Kirsten. „Was hat die für ein Glück!“ Später beim Frühstück mit Anna gab es kein anderes Thema. Um acht Uhr brachen die beiden Frauen auf, um neun waren sie am Flughafen. Eine Dreiviertelstunde vor Abflug, als Kirsten und Anna schon am Gate standen, schickte Marit noch eine Nachricht.

„Hatte einen Unfall, werde es nicht schaffen. Bin unverletzt, aber Jamie hat es erwischt. Habe ihn ins Krankenhaus gebracht. Komme morgen mit dem Flug um 10.30 Uhr. Bitte sagt Petter, dass ich krank bin und die Rückreise um einen Tag verschieben musste. Magen-Darm-Grippe oder so. Euch fällt schon was ein! Danke, Mädels, und macht euch keine Sorgen, mir geht es gut. Liebe Grüße, Marit.“

Der Obelisk war in einen dichten Nebel gehüllt. Marit spürte eine Berührung an ihrer Jacke, drehte sich um. Ein Mann kniete auf dem Boden, er schien etwas zu suchen. „Da ist es“, sagte er auf Englisch, und ein kurzer Blick beim Aufstehen genügte Marit, um zu erkennen, wer der Mann war. Ketil lief rasch die O’Connell Street hinunter und betrat ein Schnellrestaurant. Hier war schon früh am Morgen viel los. Am Eckfenster im zweiten Stock war ein Platz für zwei, Ketil holte Frühstück. Beide nahmen einen Bissen und taten so, als ob es ihnen schmeckte. Ketils Augen wanderten umher, blieben länger an einer muslimischen Familie hängen, die ein paar Meter von ihnen entfernt saß und zwei Tische für sich hatte. Weiter hinten schaufelten zwei junge Frauen in Jogginghose und Bomberjacke Rührei in sich hinein. Die Ecke, in der Ketil und Marit saßen, war nicht leicht einzusehen, aber sie hatten einen guten Blick auf den Speisesaal und die Treppe.

Ketil kam gleich auf das zu sprechen, was er loswerden wollte: „Du erinnerst dich: Unsere Einheit erhielt den Marschbefehl. Anfang Oktober rückten sechzehn Mann im Abstand von zwei Kilometern zur Grenze vor. Ich überquerte den Pasvikelva, zwanzig Kilometer südöstlich von Kirkenes. Das Gebiet ist bewaldet, auf den ersten Blick ist es leicht, dort nicht aufzufallen, aber das wissen die Russen auch. Ich war sehr vorsichtig, habe mich lange nicht bewegt, jede Bewegung war langsam und überlegt. Dann, einen Kilometer hinter der Grenze, hatte ich die Position erreicht, die mir als Ausgangspunkt meiner Mission zugewiesen worden war. Ich hatte Funkkontakt zu meiner Truppe und hörte, dass alle ihre Positionen eingenommen hatten. Wir begannen, den Boden nach Energiefeldern abzusuchen. Bald zeigten zwei meiner drei Messgeräte – ich hatte zwei an der Hüfte und eines mit elastischen Riemen an der Brust befestigt – eine Anomalie an. Eine Abweichung von den Basiswerten, die an dieser Stelle aufgrund natürlicher Ursachen – Erdmagnetismus – zu erwarten sind.“

Marit war jetzt sichtlich interessiert. Ihre Augen waren fest auf das Gesicht des Mannes gerichtet, der bei Tageslicht jünger wirkte als in der Nacht zuvor. Seine braunen, warmen Augen blickten freundlich aus dem wohlproportionierten Männergesicht. Ein gepflegter Vollbart und eine tiefe, feste Stimme machten Ketil zu dem Krieger, der er nach eigener Aussage war.

„Ich ging in Deckung und wartete. Die Messgeräte zeigten eine Energiequelle im Osten an, dreihundert Meter entfernt. Ich drehte meinen Kopf nach Osten und spähte durch das Nachtsichtgerät. Da sah ich vier Rentiere, die auf dem kargen Boden nach Futter suchten. Falscher Alarm also. Ich legte das Gerät auf den Boden. Jetzt kam eine Meldung von Thore, der weiter nördlich unterwegs war. „Habe Rentiere geortet, keine Anomalien“. Ich bestätigte und ging langsam weiter. Als es dämmerte, suchte ich Schutz in einer Baumgruppe. Später, in völliger Dunkelheit, erreichte mich ein Befehl aus dem Hauptquartier: „Position halten“. Ketil bemerkte die Anspannung im Gesicht der jungen Frau und fuhr fort: „Hatten uns die Russen entdeckt? Waren wir in Gefahr? Fragen, die du dir stellen kannst, Marit, als Zivilistin hast du jedes Recht dazu. Soldaten sind anders. Wir lernen, nicht das zu denken und zu tun, was andere denken und tun. Der gesunde Menschenverstand ist ein Werkzeug, das für den Alltag taugt, aber nicht für den Einsatz im Feindesland. Im Einsatz ist die Gefahr allgegenwärtig, die Sicherheit immer nur scheinbar und trügerisch, das Vertrauen auf das Offensichtliche tödlich. Unsere Instinkte und die Impulse, die von ihnen ausgehen, auszuhalten, zu beherrschen und ihnen zu widerstehen, ist unsere Aufgabe und unsere Versicherung“.

Marit fasste sich an die Stirn. Ihre Augen blinzelten. Einsatz im Feindesland? Sie spürte Zweifel, die sie nervös machten.

„Ich habe die Nacht unter halbhohen Bäumen verbracht“, fuhr Ketil fort. „Es war kalt und feucht. Das lockere Unterholz und die braune Erde machten mich unsichtbar. Gegen drei Uhr morgens erhielt ich einen Funkspruch von Lars. Wir rücken weiter ins Hinterland vor. Um fünf Uhr dann Thore ...“

„Moment mal“, unterbrach Marit, „das war der im Norden?“

„Ja. Aber im Norden waren mehrere Kameraden, er war sozusagen mein Nächster, zwei Kilometer nordöstlich. Im Süden und im Südwesten waren noch andere Kameraden. Es war so: Wir überquerten den Pasvikelva in zwei Linien entlang der Nord-Süd-Achse“, Ketil zog zur Veranschaulichung zwei Linien über den Tisch und tippte auf die vordere, „drei Mann nördlich von mir, vier südlich. Dahinter die anderen acht.“

Für einen Moment löste sich Ketils Blick von den imaginären Linien auf dem Tisch. Seine Augenlider senkten sich, sein Gesicht wurde traurig und leer.

Marit schien den Stimmungsumschwung nicht zu bemerken. „Und was hat Thore gesagt?“

Ketil tupfte sich den Mund ab. „Ekelhaft, dieser Fraß hier.“ Marit nickte, lächelte. „Thore hatte den Befehl bekommen, weiterzuziehen. Ich habe seine Koordinaten bekommen und gewartet.“

„Und die anderen?“

„Zunächst keine Informationen. Ich nahm an, dass sie wie ich den Befehl erhalten hatten, die Stellung zu halten.“

Marit rieb sich ein Auge. Ketil zog ein Tuch aus der Tasche und reichte es ihr. Es war mit orientalischen Motiven verziert und sah kostbar aus.

„Nimm es“, sagte er, „es ist sauber.“ Und mit einem verächtlichen Blick auf den Serviettenspender neben dem Geschirrwagen: „Viel besser als das hier. Aber gib es mir zurück, bevor wir gehen.“

Marit nickte. Natürlich bekommst du es zurück, dachte sie und merkte erst gar nicht, wie gekränkt sie plötzlich war.

Aber Ketil war die Veränderung in Marits Gesicht nicht entgangen. Er lächelte. „Es ist besser für uns, wenn du nichts