Paul Dahlke - Rüdiger Petersen - E-Book

Paul Dahlke E-Book

Rüdiger Petersen

4,8

Beschreibung

Paul Dahlke galt von jeher als Charakterschauspieler, glänzte in zahlreichen Rollen am Theater, im Film und in vielen Fernsehproduktionen. Seine Rollen in Das fliegende Klassenzimmer, Drei Männer im Schnee, Die Heiden von Kummerow und die Fernsehserie M S Franziska sind neben vielen anderen Rollen unvergessen. Anhand von Paul Dahlkes unveröffentlichter Aufzeichnungen, Kritiken und Aussagen bekannter Weggefährten wie Margot Hielscher, Bruni Löbel, Christian Wolff, Jochen Schroeder, gelang es dem Autor, das Leben des großen Schauspielers detailliert nachzuzeichnen. Diese Biografie ist die erste über einen der bedeutendsten Darsteller des 20. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 569

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Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:  Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2013Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Rüdiger Petersen (Autor)

Umschlagdesign und Satz:

Brigitte Winkler– www.winkler-layout.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783944224-749

ISBN E-Book: 9783957160-270

www.verlag-kern.de

Das Titelfoto ist 1979 während eines Interviews mit Ferry Ahrlé zur Sendung "Sehr ähnlich, wer soll’s denn sein?" entstanden.

Rüdiger Petersen

Paul Dahlke Die Biografie

Donnerwetter, was fehlt denn da?

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Titel

Danksagung

Vorwort

Erstes Kapitel - 1904 bis 1926 Paul Dahlke

Zweites Kapitel - 1926 bis 1934

Drittes Kapitel - 1934 bis 1945

Viertes Kapitel - 1945 bis 1953

Fünftes Kapitel - 1953 bis 1970

Sechstes Kapitel - 1970 bis 1984

Fußnoten / Endnoten

Bildrechte

Über den Autor

Stichwortverzeichnis - Personenverzeichnis

Theater-, Film- und Fernsehverzeichnis

1a) Porträt, 1968

Danksagung

Allen, die dazu beigetragen haben, diese Biografie zu verwirklichen,hinterlasse ich hier meinen herzlichen und innigsten Dank.

Dankeschön an:

Ferry Ahrlé, Gwendolyn von Ambesser, Ingrid Andreé, Helmut Ashley, Roland Astor, Dieter Ballmann, Antje Becker (ZDF), Hans-Michael Bock (CineGraph), Kai Borsche, Wilmar Boregaard, Herbert Bötticher, Karin Buchholz, Katharina Clausen, Peter Dahlke, Tobias Degenhardt, Ulrich von Dobschütz, Jürgen Dürrwald (WDR), Oliver Durek (Theater am Dom), Eckart Dux, Dieter Eppler, Helmut Förnbacher, Friedhofsverwaltung (München), Wera Frydtberg, Elfe Gerhart, Walter Giller, Manfred Grieger (VW), Hartmut Griesmayr, Ulrike Gutzmann (VW), Carl Hahn (VW), Kristin Hartisch (Bundesarchiv), Andrea Hauer (Theatermuseum München), Claus Helmer, Claudia Heinrich (Beta Film), Dieter Henkel, Daniela Henn, Margitta Heyn, Margot Hielscher, Heinz Hölscher, Susanne Huber, Birgit Imkhaimer (TU-Clausthal), Rolf Jahncke, Jutta Kammann, Alexander Kerst, Monika Kienzle (HSU-Hamburg), Uta Klawitter (Bundesfilmarchiv), Wilma Klein, Uwe Klöckner-Draga, Barbara Koglin-Schlünz, Britta Kuhn, Ingeborg Lapsien, Klaus-Hagen Latwesen, Anita Lochner, Bruni Löbel, Lara Louwien, Maria Lutze (WDR), Daniela Martens, Max Volkert Martens, Marina Maul, Lutz Maurer, Ruth Megary, Alexandra Meyen, Andre Mieles (Deutsches Filminstitut), Christoph Moosbrugger, Thorsten Musial (Akademie der Künste), Markus Nass, Inge Niggemann, Krimhilde Nikolini, Christine Ostermayer, Bernhard Payson (Initiative-TheaterMuseum), Wolfgang Petersen, Martin Philipp (Maikammer), Matthias Ponnier, Richard Pürkhauer, Barbara Reißmann (Theatermuseum Berlin), Simone Rethel-Heesters, Oliver Rohrbeck, Daisy Schlesinger, Peer Schmidt, Ingeborg Schöner, Jochen Schroeder, Tilman Schwab, Wolfgang Semdbner, Ingeborg Solbrig, Hannelore Spranger, Studentenwerk der CAU Kiel, Rolf von Sydow, Burkhard Thon, Sandra Thon, Peter Tost, Wolfgang Trautwein (Akademie der Künste Berlin), Erika Tschofönig (Licht für die Welt), Christian Ude, Anneliese Uhlig, Lis Verhoeven, Michael Verhoeven, Claudia Wedekind, Annette Weinmann (Komödie im Marquardt), Uwe Witthöft, Jürgen Wölffer, Christian Wolff, Hans-Jürgen Wulff (CAU Kiel), Lina Zangerl (Salzburger Festspiele)

Rüdiger Petersen

1b) Zeichnung von Ferry Ahrlé: Das Porträt entstand während der Sendung „Sehr ähnlich, wer soll´s denn sein?“ am Grundlsee, 1979.

Vorwort

Aus den unveröffentlichten Aufzeichnungen von Paul Dahlke:

Es ist verdammt lange her– über ein halbes Jahrhundert!– als ich anfing, so etwas wie ein Buch zu schreiben.

Aber Theater, Film und Fernsehen ließen mir wenig Zeit. Ich hörte wieder auf, und die vollgeschriebenen Blätter vergilbten in der Schublade für „Unerledigtes“.

Das war mir ein Dorn im Auge, denn ich mag Unerledigtes nicht. Später auf Tourneen, wenn ich stundenlang im Auto eingesperrt von Ort zu Ort gefahren wurde, schrieb ich darum weiter.

Sobald ich die Lust verlor, machte ich mir Mut mit dem Gedanken „Vielleicht liest es mal jemand“. Außerdem finde ich: Was man anfängt, soll man auch beenden.

Heute, am 10.Juli 1982, ist es so weit, ich bin fertig mit dem Buch und habe es meiner Elfenkönigin geschenkt.

Paul Dahlkes Aufzeichnungen beschreiben seine Arbeit bis ca. 1948.Die beruflichen Begebenheiten werden mithilfe von Kritiken, Aussagen von Freunden und wissenschaftlichen Arbeiten ergänzt, sodass nach mehr als 30Jahren, nachdem Paul Dahlke seine „Autobiografie“ fertiggestellt hat, die erste Biografie über ihn veröffentlicht wird.

Erstes Kapitel 1904 bis 1926

Paul Dahlke1

Geboren vor rund fünfzig Sommern

In einer kleinen Stadt in Pommern,

Kam er sehr früh schon von dort fort

Und Dortmund ward sein Kindheitsort.

Hier gibt´s viel Industrie und Zechen–

Das sollte sich an Paul bald rächen.

Er wäre gern auf See gegangen,

Des Vaters Plan war das Verlangen,

Dass er hinabstieg in die Erde,

Auf dass er Bergassessor werde…

Gehorsam tat er, was befohlen,

Und int´ressierte sich für Kohlen

In Clausthal, vier Semester lang

In jugendlichem Überschwang

Schlug er dort manchmal auch Mensuren:

Davon sieht man noch heut die Spuren,

Indem, dass er ein halbes Ohr,

Durch eines Gegners Hieb verlor…

Trotzdem– das Bergfach lag ihm nicht:

Ihn zog es hin zum Rampenlicht!

Er streckte nach Berlin die Fühler

Und wurde schließlich Reinhardt-Schüler.

Als solcher kam er auf die Bretter

Und spielte nun bei jedem Wetter

Ganoven, Helden, Kannegießer,

Auch Kriminaler, Mörder, Spießer–

Kurzum, er spielte alle Rollen.

Ein „Kerl“, stets schöpfend aus dem Vollen,

Ein derbes Mannsbild, höchst vital,

Elementar, original,

Mitunter polternd wie ein Bär

Und jedenfalls höchst populär!

In achtzig Filmen tat er mit,

Hielt mit der Produktion stets Schritt

Und stand auch viele Male schon

Vor manchem deutschen Mikrofon.

Sogar die Jugend ist ihm hold–

Sie liebt und schätzt ihn als Jim Colt!

Daheim liebt er in Holz zu schnitzen,

Gern zeichnet er auch kleine Skizzen,

Doch mit besonderer Dramatik

Betreibt er Reche-Akrobatik:

Er sucht in Fragen voller Tricks

Gern nach dem unbekannten X

Und ist befriedigt und entzückt,

Wenn ihm mal eine Lösung glückt…

Karl Ude, 1954

3) Familie Dahlke, 1915

„In Streitz an der Ostsee bin ich geboren. Streitz ist ein Dorf, nein ein Ort, na, sagen wir ein Fleckchen. In Streitz gibt es ein Gutshaus, eine Schule, ein paar Häuser „rundherum“ und schließlich ein weinumranktes Lehrerhaus. Dieses Lehrerhaus war mein Vaterhaus. Mein Vater war damals noch Landlehrer. Wir wurden von einer Gemeinde in die andere versetzt.“2

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gehört Groß-Streitz zum Königreich Preußen und zählt ganze 127Einwohner. Heute gehört Groß-Streitz zu Polen. In diesem pommerschen Dorf wird Paul Victor Ernst Dahlke, am 12.April 1904, im Tierkreiszeichen Widder an einem Dienstag geboren.

In seinem Buch Heiteres Sternbild charakterisiert und illustriert er den Widder folgendermaßen3: „mutig“, „einfach, oft rauh,…“, „… aber lebenbejahend“, „reizbar“, „unter Umständen jähzornig“, „Willen zur Tat und zu ihrer Verwirklichung“, „Verträgt weder Zwang noch Bevormundung“, „durch Hindernisse zu doppelter Kraftentfaltung getrieben“, „großzügig, stolz und treu“, „kann organisieren“, „ritterlich“, „vergisst aber Unrecht nicht leicht“ und „muss sich vor Übereilung hüten“. In manchen Begebenheiten und Situationen scheint es so, dass Paul Dahlke den Widder par excellence verkörpert.

4) Geburtshaus in Öl

Sein Geburtshaus wird er erst später kennenlernen, denn noch bevor überhaupt sein Bewusstsein erwacht, siedelt die Familie in die nahegelegene Kreisstadt Köslin über. Elfe Gerhart erinnert sich: „Ich bekam von einem Freund ein kleines Bild mit einem Haus und dieses Haus sollte das Groß-Streitzer Schulhaus sein, in dem Paul die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Paul durfte Pommern nach dem Krieg nicht besuchen, so dass er keine Vorstellung von seinem Geburtshaus hatte. Dieses Haus malte ich in mühevoller Arbeit heimlich ab. Es passierte nicht selten, dass Paul unerwartet nach Hause kam und ich sehr schnell die Malutensilien verstecken musste, dabei passierte es natürlich hin und wieder, dass ich kleckste. Und da schimpfte er, dass ich doch ein wenig vorsichtiger sein solle. Zum Geburtstag schenkte ich ihm dann sein Geburtshaus in Öl.“4

5) Paul mit seinen Eltern Anna und Ernst Dahlke, 1912

Vater Ernst Dahlke ist Lehrer und arbeitet nach den täglichen Lehrstunden an der von ihm herausgebenden Halbmonatsschrift für Schulmusikpflege oder an den grauen Chorbüchern, die er für alle Klassen der Volksschulen und höheren Lehranstalten in neuem Satz zusammenstellt5 und unter dem Titel Das deutsche Lied in den zwanziger Jahren veröffentlicht. Außerdem komponiert er gelegentlich Volks- und Kinderlieder (Steigt ein Bübleinauf den Baum und Es rauscht durch deutsche Wälder, Gedenkt der Toten, die für Deutschland fielen)6. Mutter Anna kümmert sich um Haus und Hof und um die Kinder Johannes und Paul.

Im Alter von fünf Jahren zieht Paul mit seinen Eltern nach Köslin. „So erinnere ich mich, welch erregenden Eindruck es auf mich machte, als ich im Strandcafé von Groß-Mölln die erste Maus entdeckte und es mir mithilfe von Kuchenkrümeln gelang, sie zum Bleiben zu veranlassen. Als mein älterer Bruder starb und ich oft mit der Mutter den weiten Weg zum Friedhof pilgerte, ereignete es sich einmal, dass ich nicht zu bewegen war, an einem bestimmten Telegraphenmast vorbeizugehen, weil die Drähte im Winde so unheimlich heulten; so blieb der Mutter nichts weiter übrig, als umzukehren.“7 Sein Bruder Johannes ist 1902 geboren und stirbt im Alter von vier Jahren an Diphterie.8 Ein weiterer Sohn (Fritz) stirbt im März 1905 einen Tag nach der Geburt.9

„Und in Köslin ist es auch gewesen, wo mich eine taubstumme Frau davor bewahrte, überfahren zu werden. Ich hatte Schrittmacher einer Postkutsche gespielt und war immer dicht vor dem Wagen, so nahe, dass das Pferd mich sanft berührte. Die Taubstumme winkte mir aufgeregt zu, aber ich kümmerte mich nicht um ihr Gebaren, und da der Kutscher mich kleinen Knirps da vorn überhaupt nicht bemerkte, hätte ich sehr leicht unter die Räder kommen können. In einem solchen bedrohlichen Augenblick riss mich die Frau von der Fahrbahn fort.“10

Nach einer weiteren Versetzung des Vaters wird Paul Dahlke in Stargard eingeschult. „Der Zufall wollte es, dass ich in der untersten Dorfschulklasse auch Unterricht bei meinem Vater erhielt, was ich keineswegs als Annehmlichkeit empfand, denn er war streng und zog mir häufig den Hosenboden stramm. Ich gehörte nämlich keineswegs zu den Muttersöhnchen und Duckmäusern, sondern war ein wilder Junge, der gern allerlei Streiche verübte. Da hatte ich beispielsweise eine Armbrust geschenkt bekommen, mit der ich so manche Fensterscheibe in Trümmern legte. Mitunter bildeten missliebige Personen das Ziel für meine Bolzen, oder ich zog gleich von der Schule aus mit Klassenkameraden zum Exerzierplatz, wo wir kriegerische Spiele vollführten, die sich bis in die späten Nachmittagsstunden ausdehnten. Das waren alles gute Gründe, um den Unwillen des Vaters zu erregen.11 Vater hatte ´ne harte Handschrift.12 In der Manöverzeit allerdings rächte ich mich.“13 Zur Kriegsvorbereitung und zur Ausbildung der Soldaten wurden regelmäßige Manöver abgehalten: „Während der Manöverzeit gab es auch Einquartierung in unserem Hause. Mit den Soldaten, die in dem Schuppen eines Tischlermeisters untergebracht waren, befreundete ich mich natürlich sofort an. Besonders begehrt waren die kleinen zwiebackartigen Brötchen aus der eisernen Ration, die ich gegen einige Zigarren aus des Vaters Kiste eintauschte.“14

Weinschenks Veröffentlichung Unser Weg zum Theater von 1941 hebt jedes Erlebnis hervor, welches das Militär positiv darstellen, streicht dabei aber jüdische Weggefährten, wie z.B. seinen Schauspiellehrer Max Reinhardt. Ob Paul Dahlke darauf einen Einfluss hatte, ist schwer nachzuvollziehen. In späteren Interviews bezeichnet er sich stets als Reinhardt-Schüler.

„Nur zwei Menschen gab es, die mein Ungestüm zügeln und mich veranlassen konnten, für eine Weile still zu sein: Die Mutter, wenn sie zur Laute griff und sang, und der pensionierte Lokomotivführer in der dritten Etage, dessen Papagei so herrlich die Militärmärsche zu pfeifen verstand. Dieser Lokomotivführer hat mir nach 26Jahren, als ich schon längst Schauspieler war, geschrieben und unter Hinweis auf ein Kinderbild, das er in einer Zeitschrift fand, angefragt, ob es sich um seinen kleinen Freund aus Köslin handle. Ich habe mich herzlich über diese Zeilen gefreut und ihm bestätigt, dass ich mit jenem Paul Dahlke identisch wäre. Im Sommer ging es zu den Großeltern nach Grünewald Gut bei Neustettin, und ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie sehr ich den Großvater bewunderte, wenn er ohne Schutz– nur in der Zeit des Schwarmes trug er eine Gesichtsmaske– an seinen Bienenstöcken herumhantierte, während ich häufig genug mit schmerzhaften Stichen heulend ins Haus lief. Imker wollte ich damals werden– aber wie oft änderten sich die Berufswünsche in diesen Jahren!“15

Ein weiteres Ereignis wird er ebenfalls sein Leben lang nicht vergessen– die Geburt seines Bruders Georg im Jahre 1912 in Stargard.

„Ich war gerade Sextaner geworden, da erhielt der Vater seine Versetzung an die Dortmunder Oberrealschule, die ich nun auch besuchte. In Dortmund schloss ich mich einer Jugendorganisation an, die viele Fußmärsche mit Zeltlager und Kampfspielen veranstaltete. Diese Gefechte– es gab auch Schlachten mit Jungen anderer Städte– waren so ganz nach meinem Sinn und gaben ein wenig Trost dafür, dass man noch zu jung war, um den Soldatenrock zu tragen. Denn es dauerte nicht lange, da brach der Weltkrieg aus, und einige Tage später, genau zu dem Zeitpunkt, wo auch England eingriff, erhielt der Vater seine Einberufung. Ich hatte das Gefühl, als läge nun das Schicksal der Familie auf meinen jungen Schultern.“16

Mit der Versetzung des Vaters und der Beförderung zum Studienrat leisteten sich die Dahlkes ein Abonnement für das Stadttheater.17 Eines Tages wird die romantische Oper Der Freischütz von Carl Maria von Weber aufgeführt, da Ernst Dahlke an diesem Abend dienstlich verhindert ist, darf der zehnjährige Paul ausnahmsweise seine Mutter in die Oper begleiten.18 Rena Tusch gibt er 20Jahre später ein Interview, das sie folgendermaßen in der „Filmwelt“ wiedergibt19: „Freischütz, 2.Akt. Unheimlich, unter Grollen, Blitzen und Tosen tut sich die Wolfsschlucht auf.– Vorn, in einer der ersten Reihen, hockt ein kaum zehnjähriger Junge.… Dem Jungen fallen vor Aufregung fast die Augen aus dem Kopf. Er ist bis an die äußerste Sesselkante gerutscht. Das heißt: jetzt rückt er langsam wieder zurück --- Was heult und kracht denn da so grässlich?– Und da gespenstert doch etwas?– Ein greller Blitzschlag– Der Junge kneift die Augen ganz fest zusammen, lüpft sie, sacht erst nach einer Weile, erstarrt– Alle guten Engel! Ein Geist ist erschienen!… „Samiel“– Samiel!“ „Vor mir saß eine sehr statiöse Dame, ich verkroch mich hinter ihrem Rücken wie in einer Festung und traute mich nicht mehr hochzusehen. Auf dem Nachhauseweg umklammerte ich meine Mutter mit beiden Händen, hundert Samiels lösten sich aus jedem Raum, aus jeder dunklen Zimmerecke, und geisterten wochenlang durch jeden Traum…“

„Nein, angezogen hat mich das ganze Spektakel nicht. Aber beeindruckt. Und somit wohl etwas gefangen. Jedenfalls ging ich nun öfter hin. Hörte Opern und sah Schauspiele.“20

Die nächsten Aufführungen, die er im Stadttheater besucht, betreffen wiederum Opernwerke: Es sind die komischen Opern Die Schneider von Schönau von Jan Brandts-Buys und Fra Diavolo von Daniel Francois Esprit Auber. Dann sieht er seine ersten Schauspiele: Kolberg von Paul Heyse, Wilhelm Tell von Schiller und Zriny von Carl Theodor Körner und ist begeistert.21 „Ab Quarta und Untertertia natürlich bin ich viel ins Theater gegangen. Wir bekamen dann auf Schülerfeiern, mittlerweile war schon Krieg, Schülerkarten für 50Pfennig. Da sind wir natürlich viel ins Theater gegangen und da spukte das schon mit mir rum und das wurde dann nichts. Als das Abitur kam, 1922, hätte ich gar nicht gewagt zu sagen, ich will Schauspieler werden. Dann hätten meine Eltern vielleicht gesagt: Du bist auch so ein Vogel. Die Sehnsucht war aber immer da.“22 Paul Dahlke stellt dazu jedoch später fest: „Aber das alles sind ja keine Beweise für vorhandene künstlerische Begabung eines Menschen, und wenn ich auch gelegentlich in der Schule bei Klaviervorträgen nach dem Urteil der Lehrer ein auffälliges Gedächtnis bewies und gelegentlich einer Weihnachtsfeier in der Aula als junger Luther auftrat und meine Aufgabe zur Zufriedenheit löste, so besagt das schließlich auch noch nicht viel.“23 Seine Interessen liegen im Schwimmen und Turnen, aber auch seine Bastelleidenschaft beginnt schon während der Schulzeit. Die naturwissenschaftlichen Fächer begeistern ihn nur zum Teil: „Allenfalls machte mir Physik Spaß, weniger die Chemie, zumal unser Lehrer, ein alter, sonderbarer Kauz, überhaupt nicht in der Lage war, das Interesse für dieses Gebiet zu wecken. Er ging immer von feststehenden Tatsachen aus und konnte nichts erklären. So sagte er beispielsweise: Eine Mischung von Wasserstoff und Sauerstoff ist in jedem Verhältnis möglich, nicht aber im Wasser! Ich wollte wissen, warum das so sei, er antwortete: „Das ist eben so!“ Mit dieser Redensart tat er alle lästigen Fragen ab. Kein Wunder, wenn unsere Kenntnisse höchst mangelhaft waren und dementsprechend auch die Zensuren ausfielen. Da griffen wir einfach zur Selbsthilfe. Verschwand er einmal im Nebenraum, um ein Reagenzglas oder irgendetwas anderes zu holen, so nahm der in der vordersten Reihe sitzende Schüler einfach das Notizbuch vom Katheder und ließ es kursieren, so dass jeder Gelegenheit hatte, sich eine gute Note einzuschreiben.“24

Zu seinen Schulerinnerungen gehört auch folgende Situation. Der Lateinlehrer Brömmel erklärt die Konjugation unregelmäßiger Verben an der Tafel.25 Paul schläft ein und das Rufen des Lehrers ignoriert er zunächst. Erst nachdem Brömmel ihn mit einem Schlag auf den Tisch versucht zu wecken und laut schimpft, öffnet Paul seine Augen. Angst hat er in dem Moment nicht, denn sein Vater hat ihm immer wieder folgenden Satz mit auf dem Weg gegeben: „Duckmäusertum und Angst vor der Obrigkeit sind falsch und ungesund. Respekt und Achtung dagegen sind erwünscht. Aber du solltest nie vergessen, dass Polizisten und Lehrer von den Steuern deines Vaters bezahlt werden!“26 Dieser weise Satz passt ebenfalls nicht in den Artikel von 1941 hinein. Die Geschichte erzählt er erst in einem Interview in den 1970er Jahren. Dem wütenden Lehrer entgegnet er: „Ich war eben müde. Außerdem sehe ich absolut nicht ein, warum ich unregelmäßige Verben lernen soll, die ich in meinem Beruf sowieso nie benutzen werde.“

„Einen Beruf wirst du nie ausüben, wenn du so weitermachst. Im Übrigen gilt auch in unserer Schule der Satz: Non scholae, sed vitae discimus!“ Den soll Paul Dahlke dann so kommentiert haben: „Ja, ja, ich weiß, wir lernen nicht für die Schule, sondern fürs Leben! Aber können Sie mir sagen, wann ein Kapitän lateinische Vokabeln braucht?“27

Seine Zukunft ist im Grunde genommen schon sehr früh vorgezeichnet. In einem ausführlichen Interview für eine Zeitschrift über seine Filmkarriere gibt er an, dass der Wunsch zur See zu fahren bereits nach einem Nordsee-Urlaub in jungen Jahren geweckt wurde.28 Später verstärkt sich der Wunsch Offizier bei der Marine zu werden, denn vier Brüder mütterlicherseits waren aktiv beim Militär.29 „Ich wollte zur See gehen– Kapitän werden– meine Eltern waren auch damit einverstanden und es war eigentlich eine beschlossene Sache. Nach dem Abitur sollte ich ein Jahr ins Ausland, um die Sprachen perfekt zu beherrschen, und dann zur Marine. Aber– der Mensch denkt– und das Schicksal will es anders. 1918 war der Krieg verloren, das Geld war weg– durch Kriegsanleihe und später Inflation– und unsere Flotte war auch hin. Die Aussichten bei der Marine waren– na ja, eben gleich Null. Aber ich machte mir damals weiter keine Sorgen, bis zum Abitur war es noch lange hin.“30

Zwei Jahre später will es der Zufall, dass er immer noch nicht den direkten Weg zur Bühne geht, sondern erst einmal den Umweg über die „Zeche“.

„Längst war der Krieg aus, ich saß bereits in der Oberprima und bereitete mich langsam auf das Abitur vor– da fragte mich eines Tages ein Klassenkamerad, dessen Vater Betriebsführer auf der Zeche Dorstfeld war, ob ich nicht Lust hätte, in den großen Ferien praktisch in einer Grube zu arbeiten, einerseits, um den interessanten Betrieb unter Tage kennen zu lernen, andererseits, um mir etwas Taschengeld zu verdienen. Da mir auch der Vater eine Einfahrt in den Schacht sehr romantisch geschildert hatte, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich wurde zunächst ärztlich untersucht und fand mich eines Morgens um 6Uhr im Zechenbetrieb ein, holte mir eine Grubenlampe und fuhr mit dem Försterkorb 600Meter tief zur ersten Sohle.

Der Steiger brachte mich zur Arbeitsstelle und übergab mich mit den Worten: ‚Hier ist ein neuer Kumpel!’ dem Kohlenhauer. ‚Zieh dir man deine Jacke aus, denn hier ist es verdammt warm!’ meinte der ältere Arbeitskamerad. ‚Dann setz´ dich hier auf die Werkzeugkiste– zunächst wird gefrühstückt!’ Ich tat, wie er sagte, und verzehrte meine Butterbrote und trank den selbst aufgebrühten Kaffee. ‚Was bist du eigentlich?’ fragte er. ‚Ich gehe noch zur Schule’, war meine Antwort. ‚Und dein Vater?’ examinierte er weiter. ‚Lehrer!’, erwiderte ich. Und fortab hieß ich bei den Arbeitskameraden „Der Magister“. Meine Tätigkeit bestand darin, die durch Hacken, Bohren oder Sprengen gelösten Kohlestücke in die Schüttelrutsche zu füllen, durch die das gewonnene Gut zur Förderstrecke bewegt wird. Um 2Uhr nachmittags erfolgte die Ausfahrt. In der Waschkaue reinigte ich mich vom ärgsten Schmutz, zog mich um und trat den Heimweg an. Drei Wochen ging das so, dann musste ich meine Tätigkeit einstellen, weil die Arbeiter dagegen protestierten, dass bei der herrschenden Erwerbslosigkeit Söhne besser situierter Eltern sich Nebenverdienste suchten. Bald danach– es war im Frühjahr 1922– stieg ich ins Abiturientenexamen.“31

„Zwei Klippen gab es für mich: Französisch und Chemie. Die eine Gefahr überwand ich dadurch, dass ich einfach das Chemiebuch auswendig lernte und rein mechanisch die paar Fragen beantwortete. Und im Französischen kam mir das Glück zu Hilfe. Während noch andere Kandidaten über ihren Arbeiten saßen, kam der Professor zu mir und einem Klassenkameraden, der ebenfalls mündlich geprüft wurde, legte uns ein Buch hin und erklärte, dass wir uns kurz die Lektüre auf Seite 120 ansehen möchten, denn die hätten wir nachher zu übersetzen. Wir starrten auf das Kapitel, versuchten es ins Deutsche zu übertragen, aber eine Unmenge von Vokabeln war uns völlig fremd. Zwar kam mir der Gedanke, rasch alles abzuschreiben und in der Pause übersetzen zu lassen, aber schon nahm der Professor das Buch an sich und verschwand. Wir hatten drei Stunden Zeit, bis wir an die Reihe kamen, und kaum war die Mittagspause eingetreten, da stürmten wir los und klapperten die Buchhandlungen ab, um das Lektürebuch zu kaufen, was uns glückte. Dann suchten wir den Primus, aber erst eine halbe Stunde vor Wiederaufnahme der Prüfung trafen wir ihn vor der Schule. Er übersetzte uns das Kapitel, wir schrieben den Text über die Zeilen, und so hatten wir eigentlich nur noch die eine Sorge, dass auch der Abschnitt bestimmt herankäme; es blieb tatsächlich dabei. Damit nun eine zu fließende Vorlesung nicht auffiel, markierte ich etwas Stocken und Überlegen. Das bestandene Examen wurde dann im Freundeskreis begossen, da ich aber damals eine ausgesprochene Abneigung gegen Bier hatte, steckte ich mir etwas Schokolade ein, um den bitteren Geschmack zu versüßen. Diese seltsame Mischung hatte eine entsprechende Wirkung: mir wurde schrecklich übel…“32

„Nun stand ich vor der Frage, welchen Beruf ich wählen sollte. Die Marine-Offizierslaufbahn hatte sich durch den Ausgang des Krieges von selbst erledigt. Wohl war mir hin und wieder der Gedanke gekommen, Schauspieler zu werden, aber ich hatte mir auch gleichzeitig gesagt, dass die Eltern sicherlich dazu nicht die Einwilligung geben würden. So lag es eigentlich nahe, das Bergfach zu studieren, zumal ich durch meine Tätigkeit in der Grube Gefallen an diesem Beruf gefunden hatte und der Vater den Plan sehr befürwortete.“33 Nicht ganz uneigennützig stimmt er den neuen Berufsplänen seines Sohnes zu, denn bevor das Studium beginnen kann, muss Paul Dahlke noch ein Praktikum absolvieren. In der Zeit wohnt er noch zu Hause, da er die Zeche Dorstfeld ausgewählt hat und die kann er von zu Hause aus erreichen.34

6) Praktikum im Bergwerk, 1922

Im Februar beginnt das Praktikum: „Ich schaute noch einmal in den Spiegel, bevor ich mit der Seilbahn die hundert Meter in die Grube einfuhr und dachte: Mensch, Paule, wie haste dir verändert! Aber ich war stolz und glücklich, dass ich als Kumpel arbeiten durfte und meinen Eltern beweisen konnte, dass ich mein eigenes Geld verdiente und auf eigenen Beinen stand! Die Kumpels begrüßten mich gleich wieder mit ihrem „Glück auf“, ich hing mein Brotpaket unter die Decke, damit die Mäuse nicht drankämen und fing an zu arbeiten. Wenn man tüchtig zulangte, gehörte man sofort zur Gemeinschaft.“35 „Es kamen schwere Monate– oft war ich so müde, dass ich daheim während des Essens am Tisch einschlief, oder die Anstrengung bewirkte, dass sich Hände und Füße schmerzhaft verkrampften. Einmal gab es eine kleine Aufregung unter Tage. 

7) Paul Dahlke, 1923

Die Streckenförderung auf sohliger Bahn bis zum Schacht erfolgt meist in Zügen, die sich aus einer Unzahl miteinander verkuppelter Wagen zusammensetzen und von Pferden gezogen werden. Die Stallungen der Tiere befanden sich größtenteils ebenfalls unterirdisch. Ich sollte nun einen Gaul herausholen, um ihn zur Förderung zu führen; da das Tier drei Tage gestanden hatte, war es sehr unruhig. Als ich mich nun in die enge Box zwängte, erschrak das Pferd, riss sich von der Kette und galoppierte davon. Ich war heilfroh, dass es so glatt herausgekommen war, denn bei der Enge des Stalles hätte ich sehr unangenehm an die Wand gequetscht werden können. Mein Kamerad und ich liefen nun hinter dem Pferd her, das im Stollen herumirrte. Endlich gelang es uns, den Ausreißer einzufangen, ehe Schaden angerichtet worden war.“36

8) Paul Dahlke in der Studentenverbindung, 1924

Nach Beendigung des Praktikums beginnt er mit dem Studium des Bergfachs auf der Bergakademie in der Harzstadt Clausthal-Zellerfeld am 30.Oktober 192237: „An einem regnerischen Oktobertag kam ich in dem Städtchen, das auf dem Plateau des Oberharzes gelegen ist, an. Eine Abordnung der Burschenschaft „Schlägel und Eisen“ holte mich vom Zuge ab, geleitete mich ins Hotel, und am nächsten Morgen fand ich mich beim Stehkonvent ein und wurde gekeilt.“38 Dieses erste Mal übersteht Paul Dahlke noch ohne schwerwiegende Verletzungen und Entstellungen, so dass er sich auf die nächsten Mensuren freut. Aber eines Tages duelliert er sich erneut im Florettfechten, jedoch gegen einen älteren Kommilitonen. Die Partie soll „40Gänge zu vier Hieben mit scharfen Schlägen“39 dauern. Zum Schutz tragen die Kontrahenten eine Schutzbrille für die Augen mit breiten Brillenbügeln, die die Ohren schützen sollen. In der Aufregung denkt er nicht daran, die Bügel über die Ohren zu legen. Einen kurzen Schmerz spürt er nach kurzem Gefecht am Ohr und sieht zu Boden40: „Da lag es vor mir, auf den staubigen Dielenbrettern des Tanzsaales, in dem wir kämpften, und ich weiß noch, wie ich dachte: Komisch, da liegt ein Teil von deinem Körper!“41

In seinem Personalausweis steht unter besondere Merkmale: „Linkes Ohr kriegsbeschädigt!“42

„In einer Dachkammer quartierte ich mich ein– es war ein ungemütlicher Raum, der in den Wintermonaten so kalt wurde, dass das Wasser in der Waschschüssel gefror. Das Mittagessen nahm ich im Bundeshaus ein, wo ich mich sonst viel aufhielt, und die Abendmahlzeit bestand regelmäßig aus Brot, Margarine und Harzer Käse. Die Vorlesungen bezogen sich auf Mineralogie, Geografie, Chemie, Mechanik und Maschinenlehre– alles das interessierte mich aber wenig, und so ging ich mit geringer Lust ans Studium heran. Nur wenn in den Ferien die praktische Arbeit einsetzte– ich war auf der Zeche in Langendreer tätig, lebte das Interesse wieder auf. Durch die Ausdehnung der Besetzung auf das Ruhrgebiet im Jahre 1923 konnte ich nicht mehr heimfahren, da ich keine Einreisepapiere besaß, und so arbeitete ich in den Sommerferien im Erzbergwerk in Clausthal. Weihnachten aber wollte ich unter allen Umständen bei den Eltern verbringen. Ich trat deshalb mit einem alten Schulfreund, der in der Dortmunder Verwaltung tätig war, in Verbindung, und er schickte mir auch tatsächlich einen Ausweis der Besatzungsbehörde, der zwar einen Stempel trug, aber keine Unterschrift besaß, da es sich natürlich um eine Schiebung handelte. Mit diesem immerhin sehr zweifelhaften Dokument machte ich mich auf den Weg, doch als ich die Grenzsperre bei Aplerbeck passieren wollte, war mir doch recht unbehaglich zumute. Ich hatte aber Glück, denn gerade in dem Augenblick; wo ich dem französischen Kontrollsoldaten meinen Ausweis überreichte und er einen kurzen Blick auf den Stempel geworfen hatte, gab es in der Nähe eine kleine Aufregung: Man hatte im Gepäck eines Mannes einen Kindersäbel entdeckt, der als Weihnachtsgeschenk für einen Jungen bestimmt war, und beschlagnahmte die „gefährliche Waffe“. Durch diesen Zwischenfall war der mich abfertigende Franzose abgelenkt worden, und ich konnte wieder den Zug besteigen.“43

Dass ihm das Weihnachtsfest viel bedeutet, zeigt ebenfalls ein Bericht, in dem er über seine Faszination für den Weihnachtsbaum berichtet: „Die stärkste Erinnerung behält man wohl immer an den ersten Baum, den man als Kind erlebte, und an Feste, die mit Hindernissen verliefen, die ungetrübten vergisst man weit schneller. Dieser erste Baum war ganz weiß, nur mit Glitzerstaub, Watte und Kerzen geschmückt, ich stand davor und dachte fassungslos: ‚Wie kommt so viel Schnee mitten ins Wohnzimmer?’ Denn ich war überzeugt, was auf den Zweigen dickbeladen glitzerte, seien echte Flocken. Ich glaube, nie war ich je wieder von einem Baum so begeistert. Jedes Jahr konnte man die künstliche Schneepracht nicht wiederholen, denn beim Aufkleben und Leimen des Staubes ging mindestens ein Anzug drauf, vom Teppich usw. ganz zu schweigen. Aber mein Vater dachte sich jedes Jahr einen neuen Schmuck aus, und wenn Dezember kam, dann warteten wir schon gespannt auf das Bild, das unsere Tanne diesmal zeigen sollte.“44

Vier Semester studiert er mehr oder weniger interessiert: „Zink mit Schwefelsäure gibt das und das gibt das… Das kann man nicht erklären, das muss man eben glauben. Aber was ich mir nicht erklären kann, das kann ich auch nicht behalten…“45 Ohne Chemie geht es aber nicht. Dass ihm die Chemie nicht liegt, weiß er auch schon aus der Schulzeit. Zusätzlich entdeckt er, dass es von Doktor Ings nur so wimmelt.46 Noch einmal arbeitet er in den Semesterferien im Erzbergwerk Clausthal: „Ich bin mit in die Tiefe gefahren. Ich habe es gesehen, wie manch einem Kameraden ein Glied abgequetscht wurde. Ich habe es selbst einmal erlebt, das einen halben Meter hinter mir krachend der Stollen zusammenbrach.“47 Der Entschluss Clausthal-Zellerfeld noch vorm Examen zu verlassen, ist bereits gefallen.

9) Familienfeier, 1924– mit Paul Dahlkes Großeltern väterlicherseits, Großvater (3. v. r, stehend), Großmutter (5. v. r. stehend)

Zwei Tagebucheintragungen aus der Zeit werden später in Zeitschriften zitiert: „Mein Freund Conny hat mich überzeugt, dass ich weder zum Kapitän noch zum Kumpel wirkliches Talent habe. Er meint: ‚Du spielst nur eine Rolle, und die gar nicht mal gut!’ Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mir selbst vor dem Spiegel die albernsten Grimassen schneide und mir vorstelle, dass ich so etwas wie der Glöckner von Notre-Dame bin, mit einem Buckel und verkrüppelt, und dass ich nachts durch die Straßen meiner Stadt laufe und die Menschen erschrecke. Vielleicht liegt doch ein wenig Schauspieltalent in mir.”48 Der zweite Eintrag aus dem Jahre 1924 lautet: „Heute, an meinem Geburtstag, habe ich mir Schillers Die Räuber im Theater angesehen und habe mich endgültig entschlossen, Schauspieler zu werden!”49

„Ich wusste, dass ich dem Vater eine große Enttäuschung bereiten würde, denn schließlich hatte ich schon eine Reihe Semester hinter mir.“50 Der Wunsch Schauspieler zu werden liegt nicht nur in der Luft, sondern er soll jetzt realisiert werden: „Ich hatte nur nicht den rechten Mut, meinem Vater diesen Wunsch zu gestehen. Eines Tages fand ich doch den Mut, zu meinem Vater zu gehen und ihm zu sagen, dass ich ja sehr viel Interesse an dem Bergmannsberuf hätte, dass da aber noch eine Sehnsucht wäre, die größer, stärker sei– das Theater.“51

Wie die Eltern und vor allem der Vater diesen neuen Berufswunsch aufnehmen, ist sehr unterschiedlich belegt.

Folgender Dialog zwischen Vater, Mutter und Sohn wird in den 1970er Jahren in einem Artikel über Paul Dahlke abgedruckt52:

10) Familie Dahlke, 1926

Ernst Dahlke: „Du wechselst alle paar Jahre dein Berufsziel. Du bist jetzt zwanzig und benimmst dich immer noch wie ein unreifer Schulbub.” Paul Dahlke: „Ich bin für mein Leben selber verantwortlich. Ich verlange ja keinen Pfennig von dir!”

Anna Dahlke: „Lass den Jungen doch selber entscheiden. Er wird schon wissen, was er tut.”

Ernst Dahlke: „Ich werde dir diese Flausen schon austreiben!”53 Der Familienrat diskutiert die ganze Nacht und sie kommen zu dem Ergebnis, dass er noch einmal wechseln darf, wenn er folgende Bedingungen erfüllt: Paul soll seinem Vater einen Befähigungsnachweis vorlegen und in Berlin das angefangene Studium zunächst fortsetzen.54 Einen Nachsatz kann sich Ernst Dahlke jedoch nicht verkneifen: „Viele sind berufen, aber nur wenige sind auserwählt. Jetzt biste schon alt (Ich war damals 21), wenn das daneben geht, kannste nur mehr Kaufmann oder in eine Bank gehen.“55

Im Interview mit Weinschenk gibt er an: „Ein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der mich in Berlin besuchte und im Begriff stand, nach Dortmund zu fahren, musste die Mission übernehmen und die Eltern schonend vorbereiten. Überraschenderweise machte der Vater keine Schwierigkeiten…“56

Am 3.Oktober 1924 lässt er sich sein Abgangszeugnis ausstellen, so dass er bereits zum Wintersemester an die Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg wechseln kann. Seinem Umzug nach Berlin steht somit nichts mehr im Weg. Kurz nach der Immatrikulation merkt er, dass ihn die Theaterstadt Berlin mehr fesselt als die Vorlesungen zur Mineralogie und Chemie. „Da es nun so gut wie sicher war, dass ich zur Bühne gehen würde, belegte ich noch an der Berliner Universität Germanistik und Theaterwissenschaften.“57 Er kauft sich das Buch Die Kunst der Bühne von Carl Hagemann und verschlingt dieses Lehrbuch für Schauspieler und markiert unter anderem einen Satz, den er Zeit seines Theater- und Filmlebens beherzigt: „Jede Kunst ist individualistisch. Vor allem die des Schauspielers, dessen Material sein eigener Körper ist. Jeder Künstler kann nur das geben, was in ihm steckt, und zwar nur so, wie es seine Eigenart zulässt, mit den Ausdrucksmitteln, die seiner geistigen und körperlichen Verfassung angemessen sind. Hierauf hat der Regisseur, wenn er wirklich etwas künstlerisch Wertvolles erreichen will, auf das peinlichste zu achten.“58

Anfang 1926 schreibt er seinen Eltern:

„Liebe Eltern!

Herzlichen Dank für Eure Briefe mit Inhalt. Die Herrn von der Hochschule werden wohl am wenigsten Schwierigkeiten machen. Ich war bei Epstein und der wird im Notfall auch mit denen reden. Nachricht noch nicht. Jessner hatte bis heute wegen einer Neuaufführung viel zu tun. Morgen wollte Epstein auch noch nicht mit ihm sprechen. Am 3.Februar ist Jessner bei Epstein zu Gast. Falls ich bis dahin noch nichts höre, wird Epstein reden.

Schickt mir bitte meine wollenen Strümpfe, ich trag sie jetzt. Vielleicht auch Honig!?

Ich war sehr oft im Theater. Auch habe ich mir einen Spirituskocher und Kasserolle gekauft. Ich koche mir jetzt immer selbst Kaffee oder Tee. All solche Nebenausgaben ziehen natürlich Geld.

Herzlichste Grüße Euch allen

Paul

Wie geht´s Schorsch?“59

Erst ab September 1926 geht er dann konsequent den Weg, den er bis zu seinem Tod nicht verlassen wird. „Und dann entschloss ich mich endgültig, das Bergfach an den Nagel zu hängen– und dieser Nagel saß sehr fest in der Wand.“60

Zweites Kapitel1926 bis 1934

„Eigentlich wissen wir alle bis heute nicht so recht, wie es kam, dass Paul plötzlich Schauspieler werden wollte. Gewiss war seine unzureichende Begabung in Chemie schuld, vielleicht waren es auch die allgemein schlechten Berufsaussichten der 1920er Jahre– wer weiß…“

Ernst Dahlke61

11) Paul Dahlke, 1926

Die Semesterferien nutzt er, um Rollen zu lernen, die er Leopold Jessner vorsprechen möchte: „Im September begannen die Schauspielschulen mit dem Unterricht. Ich suchte den Intendanten des Staatstheaters auf und trug ihm meinen Wunsch vor, in die Schauspielschule aufgenommen zu werden. Er bestellte mich nochmals, aber als ich ihm u.a. den Lear und den Kandaules (Gyges und sein Ring von Friedrich Hebbel) vorgesprochen hatte, meinte er, ich solle mir jüngere Rollen aussuchen und mich zur allgemeinen Prüfung einfinden.“62

Paul Dahlke kommt wieder und spricht „Hamlet“, „Mechthal“ aus Wilhelm Tell und „Franz Moor“ aus Schillers Räubern vor. „Hier bemühte ich mich bei der ersten Prüfungskommission, um unter den 16Auserwählten von 300 zu sein.“63 Doch auch diesmal kann er nicht überzeugen.

„Als ich meine Rollen gesprochen hatte, hieß es: ‚Machen Sie das noch einmal, aber menschlicher!’ Ich war ganz verdutzt, denn ich glaubte, bereits ein Gemälde menschlicher Leidenschaft entworfen zu haben, deshalb begann ich in der gleichen Art von neuem. Schon nach ein paar Sätzen unterbrach man mich, und ich musste im Nebenraum warten, bis wir wieder hereingerufen wurden, um das Ergebnis zu hören. ‚Ob Sie Talent haben, können wir nicht entscheiden. Nur für unsere Schule sind Sie nicht geeignet,’ hieß es, ‚es wäre wohl ratsamer, einen anderen Beruf zu ergreifen!’64 Das Urteil ist niederschmetternd, für diese Schule nicht geeignet zu sein. Es ermuntert ihn jedoch, auch noch an anderen Schulen vorzusprechen.65 Er geht zur Schauspielschule des Deutschen Theaters. Max Reinhardt, Leiter des Theaters, soll nun der Experte sein, der ihm bestätigt, dass er für den Schauspielberuf geeignet ist. Der Weg zu Reinhardt ist nicht ganz leicht: „‚Haben Sie 30Mark mitgebracht?’, fragte mich die Sekretärin. Ich verneinte und versprach, den Betrag nachzureichen, aber darauf ließ man sich nicht ein. Nachdem ich also die Prüfungsgebühr bezahlt hatte, wurde ich vor die Kommission gelassen.“66 Auf der kleinen Vorsprechbühne des Deutschen Theaters spricht er vor.67 Max Reinhardt nimmt nicht am Vorsprechen teil, sondern der Leiter der Schauspielschule Berthold Held und Paul Günther. Der Druck, es dieses Mal zu schaffen, wächst. Der Vater sitzt ihm im Nacken. Schließlich hört er die Aufforderung: „Der nächste, bitte!”

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