Pelé - Stéphane Cohen - E-Book

Pelé E-Book

Stéphane Cohen

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Beschreibung

Das Jahrhunderttalent: Wie Edson Arantes do Nascimento Fußballgeschichte schrieb Weltweit bekannt ist der brasilianische Ausnahmefußballer unter seinem Spitznamen (dessen Ursprung übrigens nicht ganz klar ist): Pelé. Er avancierte beim FC Santos zum Superstar, gewann mit der brasilianischen Nationalmannschaft drei Weltmeister-Titel und wurde 2000 von der FIFA zum Fußballer des Jahrhunderts gekürt. Doch wer war der Mensch hinter der Fußballlegende? Für diese Sportler-Biografie hat sich der französische Autor und Journalist Stéphane Cohen in Brasilien auf Spurensuche begeben. Er erzählt von Pelés Liebe zur Musik, seiner Zeit als Sportminister Brasiliens und von seiner Familie. Ein Blick auf die echte Person hinter der Legende! - Die Sportler-Biografie über den besten Fußballer der Welt - Kindheit und Jugend: Der Beginn einer beispiellosen Fußball-Karriere - Wie aus Edson Arantes do Nascimento Pelé wurde: Ein Blick hinter die Kulissen - Er schrieb Fußballgeschichte: Was machte Pelé zum Supertalent? Politisches Engagement und drei WM-Titel für Brasilien: Pelés viele Rollen Er liebte nicht nur den Fußball, sondern auch die Musik. Nach seiner Zeit als aktiver Fußballer war er Minister für Sport in seiner Heimat Brasilien, die er mit seinem Talent weltweit als Fußballnation bekannt machte. Stéphane Cohen hat die vielen Facetten von Pelé in dieser Biografie zusammengefasst. Ein absolutes Muss für alle Fans des großartigen Fußballkünstlers, die mehr wissen wollen als Torstatistiken!

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„Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer meinen ersten Fußball.“Edson Arantes do Nascimento

Stéphane Cohen

Pelé

Die Biografie

Aus dem Französischen von Sandra Wisniewski

VERLAG DIE WERKSTATT

Coverfoto: Getty Images/Stuart Davidson/Fairfax Media

Seite 1: Witters; S. 2: Witters; S. 3 Getty Images; S. 4 (oben): Imago Images/Horstmuller, (unten): Getty Images; S. 5 (oben): Imago Images/TT, (unten): Imago Images/Varley Media; S. 6 (oben) Getty Images, (unten): Witters; S. 7 (oben): Getty Images/1969 Popperfoto, (unten): Picture Alliance/Associated Press; S. 8: Picture Alliance/Associated Press; S. 9: Ullstein Bild/Werek; S. 10 (oben): Imago Images/Werek, (unten): Picture Alliance/Associated Press; S. 11 (oben): Picture Alliance/dpa, (unten): Picture Alliance/Associated Press; S. 12 (oben): Picture Alliance/dpa, (unten): Imago Images/PPS, S. 13: Imago Images/Ane Edition; S. 14 (oben): Getty Images/Nelson Almeida/AFP, (unten): Picture Alliance/IPA; S. 15 (oben): Picture Alliance/Sebastiano Moreira/Epa, (unten): Picture Alliance/AA; S. 16: Ullstein Bild/Adoc-Photos

© Éditions Solar

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel „PELÉ“, www.lisez.fr.

1. Auflage 2023

© Verlag Die Werkstatt GmbH, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7307-0665-7 (Print)

ISBN 978-3-7307-0681-7 (Epub)

Umschlaggestaltung: Michael Geisler/factorywerbeagentur

Übersetzung: Sandra Wisniewski

Lektorat: Stephanie Jaeschke, Lorenz Knieriem

Gesamtherstellung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.werkstatt-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung EINE REISE

Kapitel 1„O MILÉSIMO“ – DAS TAUSENDSTE

Kapitel 2 DER SOHN VON CELESTE UND DONDINHO

Kapitel 3 DICO

Kapitel 4 DER SCHUHPUTZER

Kapitel 5 EIN VERSPRECHEN

Kapitel 6 DAS PHÄNOMEN

Kapitel 7 AUS DICO WIRD PELÉ

Kapitel 8 VOM VILA BELMIRO INS MARACANÃ

Kapitel 9 „WENN PELÉ GESUND IST, WIRD ER SPIELEN“

Kapitel 10 EINE NEUE WELT

Kapitel 11 DER NATIONALSCHATZ

Kapitel 12 DIE ÄRA DER SANTISTAS

Kapitel 13 EIN GEFANGENER DES FUSSBALLS

Kapitel 14 DIKTATUR, GELD UND FUSSBALL

Kapitel 15 DER VERRAT

Kapitel 16 „PELÉ ERMORDET“

Kapitel 17 AUF EINEM ANDEREN PLANETEN

Kapitel 18 DIE LETZTE HERAUSFORDERUNG

Kapitel 19 DREI NIE GESCHOSSENE TORE

Kapitel 20 „ICH BIN NICHT TOT!“

Kapitel 21 DAS ENDE DER SANTISTAS

Kapitel 22 DER MISSIONAR

Kapitel 23 NEW YORK, NEW YORK!

Kapitel 24 VON EINEM LEBEN INS NÄCHSTE

Kapitel 25 DER ZWEITE FRÜHLING

Kapitel 26 EIN TODESFALL UND EINE HOCHZEIT

Kapitel 27 DER ERSTE SCHWARZE MINISTER BRASILIENS

Kapitel 28 MULTIMILLIONÄR

Kapitel 29 VOM LEBEN EINGEHOLT

Kapitel 30 ABSCHIED AUF RATEN

Kapitel 31 DAS VERMÄCHTNIS

Kapitel 32 DAS ENDE DES WEGES

STECKBRIEF PELÉ

DANKSAGUNG UND QUELLEN

Einleitung

EINE REISE

„Diese 1.000 Tore schenke ich den armen Kindern meines Brasilien!“ Am 19. November 1969, er hatte gerade das berühmteste Tor seiner Karriere erzielt, brach Pelé vor den versammelten Journalisten in Tränen aus, als er die criancinhas erwähnte, diese Straßenkinder ohne Schulbildung und Zukunft, diese Opfer extremer Armut in einem Land, das sie ignorierte.

Jahre später, nach dem Candelária-Massaker 1993, als die Todesschwadronen auf den Treppenstufen einer Kirche in Rio schlafende Heranwachsende ermordeten, übernahm Pelé das Amt des Sportministers. Er war fest entschlossen, sich für Jugendliche einzusetzen, die nicht dasselbe Glück gehabt hatten wie er. Diese Besessenheit, den Grundstein zu legen für eine bessere Welt, offenbart den privaten Pelé, den Mann hinter dem alles überstrahlenden Engel des „schönen Spiels“ mit seinen drei WM-Titeln und dem anziehenden Lächeln.

In den Jahrzehnten unaufhörlichen Reisens für den Fußball, für seine Geschäfte und seine Verpflichtungen, war Pelé hingegen nicht da für seine Nächsten, angefangen mit seinen eigenen Kindern. Sein Sohn Edinho wurde wegen Verbindungen zum Drogenhandel zu Gefängnis verurteilt, seine Tochter Sandra Regina aus einer heimlichen Affäre, deren Vaterschaft er nach jahrelangem Leugnen und Prozessieren letzten Endes doch anerkennen musste, starb bereits mit 42 Jahren. Ihm schien auch nicht bewusst zu sein, dass die Welt sich geändert hatte, als er sich als glühender Verfechter der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien präsentierte, einem von Korruption und Armut zerfressenen Land.

Deshalb wirft die junge Generation der Brasilianer ihm, dem in einem anderen Jahrhundert die ganze Welt huldigte, politischen Opportunismus, Geldversessenheit, familiären Abwege und mangelnde Courage im Angesicht der einstigen Diktatur vor und zieht ihm gar Garrincha vor, der auf einmal als authentischer und rückblickend auch als der begabtere Fußballer gelten soll. Am Ende seines Lebens wurde klar, dass Pelés Stern gesunken war. Das Maracanã würde seinen Namen nicht tragen, und über allem schwebte eine Frage, die wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen war: Ist er wirklich der beste Spieler aller Zeiten?

Die Antwort ist so vielschichtig, wie der Mann es war: „Pelé“ für die Welt, „Dico“ für seine Lieben. Immer wieder erinnerte er daran, in zahlreichen Interviews ebenso wie in seinen Autobiografien: Pelé, das war ein anderer, eine Rüstung, eine Maske, die es ihm erlaubte – wie er es häufig tat –, von sich in der dritten Person zu reden. Es ging nicht um übertriebenen Hochmut; vielmehr erlaubte ihm diese Kunstperson, bequem zwischen seinem öffentlichen und seinem Privatleben zu unterscheiden.

Dieses Buch ist eine Reise ins private Leben des Edson Arantes do Nascimento, dem ersten Weltstar des Fußballs, der wegen seines außergewöhnlichen Talents gefeiert wurde, aber auch, weil seine Karriere mit dem Aufkommen des Fernsehens und den Anfängen der Globalisierung zusammenfiel. Geboren in einem bescheidenen Häuschen mit undichtem Dach im Bundesstaat Minas Gerais, machte sich „Dico“ auf, die Stadien der Welt und die Herzen der Massen zu erobern. Seine Reise sollte ein ganzes Leben dauern und endete schließlich nicht weit vom Stadion seines FC Santos und von dem Museum, das seinen Namen trägt.

Pelé hat meine Fußballbegeisterung nicht direkt geprägt – ich bin die Generation von Michel Platini und AS Saint-Étienne, ich bin zu jung. Pelé, das war ein Poster in meinem Zimmer, ein Spieler von Cosmos New York am Ende seiner Laufbahn, den mein Vater den „König des Fußballs“ nannte. Als kleinem Jungen wurde mir beigebracht, dass über den Fußballgöttern meiner Jugend – Platini, Keegan oder Zico – ein Mann stand, den ich nie hatte spielen sehen und der doch für alle Zeiten eine höhere Gottheit bleiben würde. Ich habe es geglaubt, und ich glaube es noch immer. Als Erwachsener gehe ich nun einem Beruf nach, in dem alles bis ins Letzte analysiert wird, in dem man unaufhörlich nach dem Schlüssel des Verständnisses sucht, auch für die nichtigsten Dinge – ganz so, als sei die Welt eine wenig komplexe Maschinerie, in der alles einen Sinn hat. Es bleibt wenig Raum für Entzücken, für das Betrachten der Seele und ihrer Widersprüche, alles ist oberflächlich geworden. Ich hatte das Glück, einen Verlag zu finden, der es mir ermöglicht hat, auf den Spuren des wahren Pelé zu wandeln, ohne versprechen zu müssen, den großen Scoop zu landen oder seine letzten Augenblicke zu dechiffrieren. Aber auch, ohne etwas auszulassen von dem, was sein Leben ausgemacht hat, im Guten wie im Schlechten.

Dies ist die Geschichte von Edson Arantes do Nascimento, der so oft weinte, wie er lachte, der die Musik liebte, die Frauen und das Kino, der in seinem Gepäck stets seinen alten Schulhofkreisel bei sich trug und für alle Liebhaber des „schönen Spiels“ für immer das Symbol der ewigen Kindheit bleiben wird.

Kapitel 1

„O MILÉSIMO“ – DAS TAUSENDSTE

Pelé wird bald das 1.000. Tor seiner Karriere schießen. Seit Wochen schon kennt die Presse nur ein Thema. Wann? Gegen wen? Wo? 1969 ist es das zweite Ereignis von globaler Bedeutung, nach der Mondlandung. In den Straßen der Provinzstädte, in denen der FC Santos zu Gast ist, kommt es zu spontanen Karnevalsszenen. Hunderte Reporter, Fotografen und Kameraleute, Leitartikelschreiber und anonyme Begleiter der Medienkarawane sowie die Volksmassen haben ihr Leben auf seines ausgerichtet. Die Fußballstadien, in denen er spielt, summen wie Bienenstöcke. Spieler, Journalisten, Zuschauer, Politiker und Militärs strömen herbei. Alle warten sie darauf, auf den Rasen zu laufen, ihn zu interviewen, zu sehen, zu umarmen, ihn auf ihren Schultern zu tragen oder eben das zu verhindern. Es herrscht Ungeduld. Denn Pelé trifft nicht mehr. Der Erfolg ist ihm abhandengekommen. Nicht gegen die Corinthians, deren Trikot er als Kind so gern getragen hätte. Nicht gegen den FC São Paulo. Zweimal verhindert der Pfosten den Treffer, einmal die Latte. Gegen Bahia feuert das ganze Estádio Fonte Nova nicht etwa die Heimelf an, sondern ihn, Pelé. Wenige Minuten vor dem Abpfiff tanzt O Rei, der König, mit einem seiner unnachahmlichen Dribblings, die alle kennen und jeder fürchtet, den Torwart aus. Er schießt auf das leere Tor. Die Menschen stehen, sie schreien „Goooool“, doch da taucht Verteidiger Nildo auf und lenkt das Leder mit dem linken Bein am Pfosten vorbei. Für den Rest des Spiels brüllen die eigenen Anhänger ihn nieder und beleidigen ihn, der den historischen Moment zunichtegemacht hat. Jetzt werden andere die Ehre haben, dabei gewesen zu sein, nicht sie. Nach der Partie gegen Botafogo glauben manche gar, Pelé habe absichtlich den Platz seines verletzten Torhüters eingenommen (Ersatzspieler gab es zu jener Zeit noch nicht), weil er die große Gala im Maracanã plante.

Trotz des unvermeidlichen Rekords, der da ansteht, befindet sich Pelé in einem Zustand ständiger Anspannung. Diese Ungeduld, die er in den Blicken spürt, in den Zeitungsartikeln und im Radio, raubt ihm den Schlaf und lässt sein engelsgleiches Lächeln verkrampfen. Fünf Tage später, am Tag der brasilianischen Nationalflagge, treten Zehntausende im Regen von Rio im Maracanã von einem Fuß auf den anderen. Wie viele mögen es sein in der so lange verfluchten Arena, die damals 220.000 Zuschauer fasst? Bis zum Bau des Stadions im Jahr 1948 stand der größte Fußballtempel der Welt in Europa, in Glasgow. Und nun ist genau hier, in diesem Kolosseum aus Beton, das errichtet wurde als Schrein für die goldenen Momente des brasilianischen Fußballs, an diesem 19. November 1969 um 23:11 Uhr Pelé nach einem Steilpass von Clodoaldo im gegnerischen Strafraum zu Boden gegangen. Sogleich zeigt Schiedsrichter Manoel Amaro de Lima auf den Punkt. „Ich war allein gegen den Rest der Welt“, wird der 2019 verstorbene argentinische Torhüter Edgardo Andrada später sagen. Zwölf Minuten bleiben noch zu spielen in der entscheidenden Partie des Robertão-Turniers, dem Vorläufer der brasilianischen Meisterschaft. Es steht unentschieden zwischen dem FC Santos und Vasco da Gama, einem der als Ruderklubs gegründeten Vereine Rio de Janeiros, wie auch Flamengo und Botafogo. Das schwarze Trikot zieren das Malteserkreuz und weißer Diagonalstreifen – Schwarz wie das unbekannte Meer und Weiß wie der Seeweg nach Indien, den der portugiesische Seefahrer entdeckte.

Die Spieler von Vasco da Gama, die Pelé von Spielbeginn an ständig provoziert haben, beschweren sich beim Schiedsrichter. Derweil skandieren ihre eigenen Anhänger seinen Namen. „Pelé! Pelé!“ Die übrigen Spieler von Santos reihen sich an der Mittellinie auf – ein zuvor abgesprochenes Szenario. Ein Vasco-Verteidiger versucht, den Elfmeterpunkt unbrauchbar zu machen, indem er zornerfüllt mit dem Fuß darauf herumstapft. Pelé und Andrada fassen sich am Arm, tauschen einige – der Gestik nach zu urteilen – höfliche Worte aus. Die Spieler von Vasco sind noch nicht fertig mit ihrer Einschüchterungsaktion. Sie umzingeln ihn, schubsen ihn, bearbeiten erneut den Strafraum. Pelé reagiert nicht. Pelé legt sich den Ball zurecht. Ein gegnerischer Spieler legt ihn zur Seite. Der Schiedsrichter legt ihn zurück. Andrada versetzt ihn nochmals, ehe er auf seine Linie zurückgeht – der Einzige, der das 1.000. Tor noch verhindern kann. Die Hände in die Hüften gestemmt, beugt Pelé sich vor, als müsse er Luft holen, dann dreht er sich um zu seinen Mitspielern, die in über 40 Metern Entfernung aufgereiht stehen. „Zum ersten Mal in meiner Karriere war ich nervös. Andrada war in Form. Ich hatte noch nie so einen Druck verspürt. Ich zitterte.“ Ein Raunen geht durch die Ränge, dann folgt eine atemlose Stille. Pelé dreht sich zum Tor und läuft in einer einzigen flüssigen Bewegung zum Ball. Es folgt eine paradinha, dieser kleine Moment des Verzögerns, den die FIFA Jahre später zunächst verbieten und dann wieder zulassen würde. Pelé platziert den Ball präzise in die rechte untere Ecke. Andrada berührt ihn leicht mit den Fingerspitzen. Er lenkt ihn ab, aber es reicht nicht. Der Ball ist drin.

Gooooooooool! Ein lang gezogener Schrei zerreißt die Nacht. Es ist 23:23 Uhr, und niemand beachtet Andrada, der vor Zorn heult und immer wieder mit der Faust auf den Boden schlägt: „Ich war verzweifelt. Ich hatte absolut keine Lust, auf diese Weise in die Geschichte einzugehen.“ Die Welt schaut nur noch auf Pelé, der ins Tor läuft. Der Ball rutscht ihm aus den Händen. Er hebt ihn auf und küsst ihn lange, bevor er hinter einer Traube von Menschen verschwindet, die aus allen Ecken des Stadions zu ihm gelaufen sind. Es sind fast 100 Männer. Seine Mitspieler stehen noch immer an der Mittellinie. Schließlich taucht er wieder auf, von irgendwelchen Schultern getragen, in den Händen den Ball, den er wie eine Opfergabe präsentiert und inbrünstig küsst. Endlich gelingt es ihm, sich der Meute zu entziehen und sich in die Arme seiner Mitspieler zu werfen. Erneut wird er im Triumphzug getragen. Man reicht ihm ein Trikot, das er überzieht, während er in Richtung Tribüne läuft. Dann folgt eine fast dreißigminütige Ehrenrunde in einem Dress von Vasco da Gama mit der Rückennummer 1000. Es ist einer der wichtigsten Tage seiner Karriere. Wie seinerzeit das WM-Finale 1958 in Schweden oder seine intergalaktische Leistung beim Weltpokal-Rückspiel in Lissabon 1962, wie der spätere Triumph 1970 in Mexiko oder wie sein Abschiedsspiel Cosmos gegen Santos 1977. Doch dieser Tag gehört dem 1.000. Treffer seiner Karriere, eine unvorstellbare Zahl. Kaum ist die Partie vorüber, wird Pelé zum Stadioneingang geführt, wo bereits eine Marmorplatte eingelassen worden ist, auf der steht: „Hier krönte am 19. November 1969 mit seinem 1.000. Tor Pelé seine Karriere als bester Fußballer aller Zeiten.“

Gefeiert wurde er wegen seines herausragenden Talents, aber auch, weil das Ereignis in die Zeit fiel, als gerade das Fernsehen populär wurde und die Globalisierung ihren Anfang nahm. Pelé erhielt für seine Leistung einen Ball aus 18-karätigem Gold. Das Magazin Drible schenkte ihm ebenfalls einen vergoldeten Ball. Die Regierung von São Paulo ließ sich zu einer Bronzebüste herab, und General Médici, der diktatorisch herrschende Präsident und Urheber des berühmt gewordenen Satzes „Brasilien liebt man, oder man verlässt es“, empfing ihn am 22. November in seinem Palast in Brasília. Jahre später ergab eine genauere Zählung, dass Pelés 1.000. Tor eigentlich in einem Spiel am 12. November 1969 gefallen war – also eine Woche zuvor, gegen den bescheidenen Verein Santa Cruz de Recife, weit weg von der grandiosen Szenerie des Maracanã. Pelé bestritt das nicht.

An diesem 19. November aber sprach er ins Mikrofon des Journalisten Geraldo Blota von Radio Gazeta eine Botschaft der Hoffnung für die criancinhas („Kindlein“) Brasiliens. Was genau hatte er gesagt? „Diese 1.000 Tore schenke ich den armen Kindern meines Brasilien“ oder „Ich widme dieses Ziel den Kindlein Brasiliens“ oder „Jetzt, wo alle zuhören: Helft um Himmels willen den Kindern, helft denen, die in Not sind. Das ist mein einziger Wunsch in diesem für mich so besonderen Moment“? Pelé erinnerte sich später nicht mehr so genau. Aber indem er die criancinhas erwähnte, diese Straßenkinder ohne Schulbildung und Zukunft, diese Opfer extremer Armut in einem Land, das sie ignorierte, hatte er sein Schicksal besiegelt und damit begonnen, das Drehbuch für sein restliches Leben zu schreiben.

Jahre später brachte ihn das Candelária-Massaker dazu, das Amt des Sportministers zu übernehmen und sich für Jugendliche einzusetzen, die nicht dasselbe Glück haben würden wie er. Das Thema wurde für ihn zur Obsession. Er, der Nachfahre afrikanischer Sklaven, wurde UNICEF-Botschafter, und er suchte zeitlebens die Begegnung mit Kindern, auf allen Kontinenten. Die Kinder der Welt brachten Edson Arantes do Nascimento die Unschuld seiner Jugend zurück, die er bis spät in seinem Leben immer wieder verlängerte, indem er sich zu Kicks zwischen Freunden auf einem Bolzplatz in Santos oder auf dem gepflegten Rasen des Central Park hinzugesellte. Lange nach seiner aktiven Karriere nannte er bei Fragen nach den Momenten in seinem Leben, an die er mit Sehnsucht zurückdächte, weder sein 1.000. Tor noch seine spektakulärsten Treffer oder Siege: „Der Geschmack frisch gepflückter Mangos, die Einfachheit jenes Lebens, wo das Glück darin bestand, mit meinen Freunden auf der Straße Fußball zu spielen. Meine Kindheitserinnerungen haben nie ihren Glanz und ihre Lebendigkeit verloren.“ Egal wo er hinging – selbst noch kurz vor seinem Lebensende, sofern er die Kraft hatte, aus dem Haus zu gehen –, trug er einen Kreisel bei sich, der ihm aus seinen Grundschultagen geblieben war.

Seine leiblichen Kinder haben auf anderem Wege versucht, sich einen Namen zu machen. Edinho wurde von seiner Mutter aufgezogen und hatte bis zur Volljährigkeit keine Beziehung zu seinem Vater. Er war ein durchschnittlicher Fußballer. Sandra Regina kämpfte bis zu ihrem Tod darum, als seine uneheliche Tochter anerkannt zu werden, nach einem Leben voller Prozesse, deren Urteil Pelé letztendlich akzeptieren musste. Für seine Kinder war Pelé eher ein Mythos denn ein Vater. In jeder anderen Hinsicht blieb er ein Kind. Er vertraute Menschen, die ihn gleich zweimal ruinierten, er bevorzugte den Kosenamen, den seine Mutter ihm gegeben hatte, er brachte Inspiration und einen verrückten Wagemut in ein raues, limitiertes Spiel, er wechselte seine Partnerinnen, ohne die Verantwortung der Vaterschaft übernehmen zu wollen, er lieferte sich kindische Schlachten mit Maradona und Cristiano Ronaldo, er benahm sich wie ein verwöhntes Kind und verlangte, dass ein Treffer, den er beim Dreh des Films „Flucht oder Sieg“ erzielte, auf sein offizielles Torekonto eingehen sollte, und er weinte noch mit 80 Jahren, wenn er über seinen Vater Dondinho sprach. Denn Pelé konnte nichts anderes sein als ein wahr gewordenes Kindermärchen, das Versprechen eines Lebens, das aus Vergnügungen bestand und damit begann, dass er einen guten Geist traf, der ihn unter seine Fittiche nahm, als er 15 Jahre alt war und nur eine lange Hose besaß. Der Geist hieß Waldemar de Brito, Nachwuchstrainer beim BAC, dem Sportverein der Stadt Bauru im Bundesstaat São Paulo, und würde ihn eines Tages FC-Santos-Trainer Lula vorstellen mit den prophetischen Worten: „Das ist der Junge, von dem ich Ihnen erzählt habe. Der, der einmal der Beste der Welt werden wird.“

Kapitel 2

DER SOHN VON CELESTE UND DONDINHO

Pelé ist in seiner Heimat nicht unumstritten. Er ist vielmehr Gegenstand ständiger Diskussionen, ja Kontroversen. Zwar stammte er ursprünglich aus Três Corações, doch gilt er vorrangig als Kind Baurus, der Stadt, in die seine Eltern zogen, als er drei war. Dort entwickelte er sein Fußballtalent, und dort wurde man auf ihn aufmerksam, während die meisten Nachwuchshoffnungen Brasiliens in São Paulo und Rio de Janeiro entdeckt wurden. Folglich fühlte man sich in Três Corações beraubt. Natürlich ist der „König des Fußballs“ überall in der Stadt präsent. Sein Bild hängt in Eingangshallen, Bars, Geschäften und Wohnzimmern. Eines der bedeutendsten Unternehmen der Stadt, eine Kaffeerösterei, heißt Café Terra Do Rei – „Kaffee (aus dem) Land des Königs“. In manchen Restaurants hängen Bilder, die ihn beim Handschlag mit Lokalpolitikern zeigen. Touristen können eine Kopie der unterzeichneten Geburtsurkunde von Edson Arantes do Nascimento erwerben. Aber der echte Pelé kam schon lange nicht mehr. Es herrschte allgemein das Gefühl vor, dass Pelé Três Corações untreu geworden war. Er war hier weniger beliebt als anderswo, obwohl er die Stadt weltweit bekannt gemacht hatte. Seine Fürsprecher sagen, dass die verschiedenen Gremien nie wirklich verstanden hätten, wie sie das Beste aus der Verbindung zu „König Pelé“ machen konnten. Denn meistens seien sie nur zu ihm gekommen, wenn sie Geld brauchten.

Doch die Hassliebe von Três Corações zu dem berühmten Sohn scheint vor allem auch eine Geschichte unerfüllter Sehnsüchte zu sein. Die Einwohner wünschten sich lediglich mehr Besuche ihres Königs, was wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner gesundheitlichen Probleme schon länger nicht mehr möglich war. Das Warten, aber auch der Versuch, ihn in die Stadt zu locken, führte dazu, dass Três Corações anfing, ihm Denkmäler zu errichten: eines am Stadtrand, eine Siegespose über drei Herzen, dem Wahrzeichen der 77.000-Einwohner-Stadt im Bundesstaat Minas Gerais. Lange Zeit boten die namensgebenden Minen in der Region Gold und Arbeit für alle. Zur Einweihung eines weiteren Denkmals im Stadtzentrum 1970, kurz nach der Weltmeisterschaft, war Pelé endlich wieder gekommen. Die Zeit stand still. Die Läden hatten geschlossen. Alle waren da, um ihn zu bewundern. Ein Freundschaftsspiel zwischen Santos und Três Corações war organisiert worden, und die Lokalmatadoren gewannen mit 2:1, was lange für einen gewissen sportlichen Stolz und ein süßes Gefühl der Revanche gegenüber dem sorgte, der sie verschmähte oder sich lieber im Hotel Calabreza versteckte, wo man ihm komplizenhafte Diskretion zusicherte, wenn er inkognito in die Stadt kam, um Verwandte zu besuchen. Etwas weiter, im João-Ramos-do-Nascimento-Stadtpark, steht noch eine dritte Statue, die zeigt, wie sein Vater Dondinho den Arm um ihn legt.

So feierte Três Corações Pelé lange in seiner Abwesenheit, bis er wieder einmal auftauchte, zur Einweihung der „Casa Pelé“, einem Nachbau des Hauses seiner Kindheit. Es wurde an derselben Stelle errichtet wie das ursprüngliche Haus, in Sichtweite des Estádio Elias Arbex, früher gern „Pelé-Arena“ genannt, und seine einzigartige Tribüne mit Blick auf den Rio Verde. Das war 2012 – das erste Mal seit 42 Jahren, dass er offiziell in seine Heimatstadt zurückkehrte. Três Corações, ein Ort, an dem man sonst weniger aus sich herausgeht, befand sich an jenem Tag im Ausnahmezustand. Tausende Menschen liefen auf den Gehwegen, fielen hin, rappelten sich wieder auf, rannten los, um dem Pelémobil zu folgen. Aus einem Militärjeep, der von einem knappen Dutzend Leibwächtern und von drei Polizeiwagen begleitet wurde, grüßte Pelé in die Menschenmenge. Er hatte der schier liebestollen Masse ein sehr persönliches Geschenk mitgebracht, ein selbst komponiertes Lied, das er mit Gitarrenbegleitung zum Besten gab: „In Três Corações bin ich geboren, in Três Corações wurde mir das Leben geschenkt; das Vorbild meines Vaters, die Liebe meiner Mutter und die Zuneigung dieser Menschen, die ich nie vergessen habe …“ Dann war er unter dem donnernden Applaus der Menge und umzingelt von unzähligen in die rot-weißen Farben von Atlético Três Corações gekleideten Kindern in dieses unechte Haus verschwunden. Er tat so, als würde er es wiedererkennen, wobei er eher wirkte, als suche er nach Erinnerungen, die seit über sechzig Jahren unter dem Jaboticaba-Baum im Garten vergraben lägen. Das längliche Haus über der Stadt liegt in einer Straße, die man in Rua Edson Arantes do Nascimento umbenannt hatte. Es steht noch heute. Draußen: eine kleine Wiese und der Holzkarren seines Großvaters, der Holzhändler gewesen war. Pelé erinnerte sich, auf dem Pferd geritten zu sein. Der ärmliche Bau wurde in architektonischer Hinsicht ganz dem Original nachempfunden, bis auf eine Erinnerungsplakette und ein Wandfresko, das die ganze Familie zeigt. Drinnen: eine nach hinten hinausgehende Küche, zwei Zimmer und ein Wohnraum für die vier Erwachsenen und Pelé. Es sind Möbel und Küchengeräte ausgestellt, von denen man nicht genau weiß, ob es sich um Originalstücke oder Repliken handelt. Es ist das Haus Pelés, aber nicht das Haus seiner Kindheit. Zu sauber, zu ordentlich hergerichtet, ohne die geringsten Spuren der Armut jener schwierigen Jahre, als es gebaut worden war, aus hier und da aufgelesenen Steinen. Diese Einweihung war der letzte Versuch der Stadt, sich Pelé wieder zu eigen zu machen. Die Facebook-Seite des Museums ist seit 2013 inaktiv. Und wer es besuchen kommt, hat sich von der über fünfstündigen Fahrt aus Rio oder São Paulo nicht abschrecken lassen – überwiegend handelt es sich um Einheimische.

Seine Mutter, Dona Celeste, war noch nicht volljährig, als Pelé dort am 23. Oktober 1940 geboren wurde. Sein Vater, João Ramos do Nascimento, den sie ein Jahr zuvor kennengelernt hatte, als er seinen Militärdienst leistete, war 22 Jahre alt. Dondinho, so sein Spitzname, stammte aus Campos Gerais und lebte von Gelegenheitsarbeiten, hatte sich einen Namen als Torjäger in der Regionalliga gemacht und galt als begabterer Fußballer als sein Bruder, der bereits mit 25 Jahren verstorben war. In der Zeitung Bom Dia Brasil schrieb der Journalist Alexandre Garcia: „Ich möchte eine Geschichte erzählen, die von Pelés Vater Dondinho handelt, einem Milchmann, groß und stark, der der Star von Campos Gerais war. Dondinho war besser als Pelé. Bis zu dem Tag, als in einem Spiel gegen Alfenas Dondinho und der Ball nicht zueinanderfanden. Dondinho musste krank gewesen sein, und die Heimmannschaft verlor. Der Vereinspräsident Alcides, ein Bäcker, warf Dondinho hinaus, und der musste Campos Gerais wegen des Zorns der Bewohner verlassen. Er ging nach Três Corações, wo er der Armeemannschaft beitrat und sein Herz öffnete. Er heiratete, und im Oktober 1940 wurde Edson geboren. Das ist das einzige Mal, dass die Wut der Menge einen König hervorgebracht hat!“ Dondinho war Mittelstürmer und über 1,80 Meter groß, was damals selten war und ihm im Strafraum einen Größenvorteil verschaffte. Er spielte als Halbprofi und verdiente einen Hungerlohn. Fußballer zu sein brachte genauso wenig ein wie Tänzer oder Künstler. Er zog von Stadt zu Stadt, stieg in dreckigen Bleiben ab – „Null-Sterne-Hotels“, wie Pelé später sagen würde –, um sein Glück zu versuchen. Allerdings begannen die Zeitungen Rio de Janeiros, über die Erfolge des groß gewachsenen Angreifers von Atlético Três Corações zu berichten:

„Dondinho, die schwarze Perle Atléticos, hatte zwar keinen guten Nachmittag, traf aber dank vier schöner Kopfbälle trotzdem“, vermerkte O Jornal am 20. August 1939. Er war talentiert, gut aussehend, groß und schlank und überragte die Leute auf der Straße um Längen, genau wie seine eigenen Mannschaftskameraden. Er erinnerte an die Romanfiguren von Gabriel García Márquez, denen das Leben ständig gibt und nimmt. Er trug den Beinamen Leônidas do Sul de Minas („Leônidas aus dem Süden von Minas Gerais“), in Anlehnung an Leônidas da Silva, einen der größten Fußballer jener Zeit, der auch „der schwarze Diamant“ genannt wurde. Unter Fußballfans war Leônidas dafür bekannt, den Fallrückzieher erfunden und bei der WM 1938 in Frankreich barfuß gespielt zu haben. Sein Name taucht dennoch nie auf der Liste der Fußballlegenden im Range eines Pelé, Cruyff, Platini oder Maradona auf, weil es zu seiner Zeit noch kein Fernsehen gab.

Es kam nicht selten vor, dass Dondinho in einer Partie mehr als zweimal traf. Als dann bei Clube Atlético Mineiro, Stadtrivale von Cruzeiro Belo Horizonte, Mittelstürmer Guará ausfiel, holte man Dondinho auf Probe. Es war die Chance seines Lebens, die Möglichkeit, endlich seine Familie ernähren zu können, in eine Wohnung oder ein Haus zu ziehen, ein Auto zu fahren, sich in der riesigen Hauptstadt auszuleben, wo es Schulen und Universitäten für seine künftigen Kinder gab. Es handelte sich lediglich um ein Freundschaftsspiel, und Dondinho traf am 6. April 1940 in Belo Horizonte ein. Am 7. stand er in der Elf gegen São Cristóvão-RJ, ein Team aus Rio. Am 8. war er nicht mehr beim CAM. Es sollte sein erstes und einziges Spiel für O Galo, „den Hahn“, wie der Verein mit den schwarz-weißen Trikots genannt wurde, bleiben. Mitte der ersten Halbzeit prallte Dondinho im Kampf um den Ball heftig mit einem rustikalen Verteidiger namens Augusto da Costa zusammen, dem künftigen Spieler Vasco da Gamas und späteren Kapitän jener Nationalelf, die das Land 1950 ins Reich der Tränen stürzen würde. In seinen Memoiren behauptete Pelé später stets, dass sein Vater erst 1942 probeweise von Atlético Mineiro geholt worden sei und sich diese Verletzung, die seine Karriere beendete, in jenem Jahr zugezogen habe. Allerdings findet sich im Sportteil der Tageszeitung O Globo vom 8. April 1940 ein Spielbericht mit der Aufstellung beider Mannschaften, der auch Dondinho nennt.

Diese Ungereimtheit ist für die Geschichte keineswegs von großer Bedeutung, aber sie ist eines von vielen Elementen, auf denen Pelés Legende fußt. Vor dem Aufkommen des Jogo Bonito, des freudesprühenden, federleichten „schönen Spiels“ der Siebzigerjahre, war Fußball eine Angelegenheit von Muskeln und Testosteron, ohne Schienbeinschoner. Das rechte Knie von Dondinho hatte beim Aufprall nachgegeben, und er konnte nicht weiterspielen. Die Bänder? Der Meniskus? MRT gab es damals noch nicht. Man wird nie erfahren, was er wirklich hatte. Er bekam Eis auf die schmerzende Stelle gepackt, aber Dondinho erholte sich nicht. Der Ersatz für Stammspieler Guará, der sich beim Frontalzusammenstoß mit Caieira, einem Abwehrrecken von Palestra Itália – dem Klub der italienischen Gemeinde São Paulos, heute Palmeiras – verletzt hatte, war nun seinerseits lädiert. Von jenem Tag an schwoll sein Knie bei jeder größeren Anstrengung an, und zu den körperlichen Schmerzen gesellte sich ein Gefühl des Versagens. Er kehrte heim nach Três Corações, der winzigen Hoffnung beraubt, die er seit so vielen Jahren gehegt hatte: ein großer Berufsfußballer zu werden. Anfangs blieb er zu Hause, um sein kaputtes Bein zu schonen und später zu Atlético Mineiro zurückzukehren oder sein Glück bei einem anderen Verein zu versuchen. Aber er wurde nie wieder ganz der Alte, musste viele Male absagen, wenn man ihn aufstellen wollte, da die Schmerzen unerträglich wurden und das Knie noch stärker anschwoll, und wurde dann nicht bezahlt. Der Traum von Dondinho war geplatzt, auch wenn er weiter als vereinsloser Spieler aktiv war, bescheidenen Gagen hinterherlief und sich zunächst weigerte, seine Ambitionen zu begraben. Dieses persönliche Drama eines unbekannten brasilianischen Fußballers wäre sicher in Vergessenheit geraten, wäre nicht sein Sohn, der bald geboren werden sollte, zum meistverehrten Spieler aller Zeiten avanciert.

Kapitel 3

DICO

Das amerikanische Magazin Sports Illustrated schrieb: „Pelé hatte das Glück, in einem der wenigen Länder der Welt aufzuwachsen, in denen die Hautfarbe keinen Einfluss auf das Leben eines Menschen hat.“ Ob dem Autor des Artikels, seinem Chefredakteur und einem Teil der Leser nicht bewusst war, dass erst 1995, also fast 200 Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes, ein Schwarzer zum Minister einer brasilianischen Regierung ernannt wurde? Und dass kein Absolvent der besten Universitäten und kein Spross einer der großen Aristokratenfamilien gemeint war? Wussten sie nicht, dass der Regierungssitz 1960 wegen der Korruption und der Konzentration der Reichtümer in den Händen der Weißen von Rio nach Brasília verlegt wurde? Angesichts der unbeschreiblichen Armut des Landes und seiner politischen Fragilität fragte ihn Nelson Mandela einmal, weshalb Brasilien nicht reich sei, wo es doch im Gegensatz zu Südafrika nur eine Sprache kenne und Sprache der wichtigste Kitt einer Gesellschaft sei. Pelé hatte keine Antwort darauf.

Seine Großmutter, Dona Ambrosina, war Tochter von Sklaven gewesen. Minas Gerais hatte sie aufgenommen, oder vielmehr wurde bis ins 18. Jahrhundert eine große Zahl von Menschen aus Westafrika dorthin „geliefert“. Heute geht man davon aus, dass die Nascimentos ursprünglich aus Angola oder Nigeria stammten und später den Namen einer Viehzüchterfamilie aus dem Nordosten annahmen. Ihre Vorfahren zählten zu den rund sechs Millionen Sklaven, die nach Brasilien gebracht wurden – 20-mal mehr als in die USA, ohne die Million mitzuzählen, die auf dem Weg dorthin starb. Einigen gelang es, durch die weiten Ebenen zu flüchten und Gemeinschaften im Herzen des Regenwaldes zu gründen. Es heißt, dass sie eine Kampfkunst erfunden hätten, den Capoeira. Dass aus diesem Kampftanz die ginga entstanden sei, was so viel bedeutet wie „Spiel der Beine“, mit einer Anmut, die Pelé später in seine Choreografie umwandelte. Es gab eine Zeit, in der es in Brasilien mehr Sklaven gab als freie Menschen. Es gab eine andere, in der ehemalige Sklaven eigene Sklaven besaßen, eine Praxis, die toleriert wurde und einen sozialen Status versprach sowie die Befreiung von schwerer Arbeit. Dies war auch der Grund, weshalb die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien auf wenig Gegenliebe stieß und das Land eines der letzten auf dem amerikanischen Kontinent war, das dafür stimmte. Das war 1888, nachdem man lange Zeit gegen internationale Vereinbarungen verstoßen hatte. Das Kaiserreich verlor daraufhin die Unterstützung der Großgrundbesitzer, ein Jahr später war die Monarchie Geschichte und Brasilien wurde diese sogenannte Rassendemokratie, die nur einem Teil der Bevölkerung zugutekam. Pelé, der auch Negão („Neger“) bzw. Crioulo („Kreole“) genannt wurde, war die erste Ausnahme. Seine Genialität, seine weltweite Bekanntheit, seine Kinderstube und sein Verhalten verhalfen den ethnischen Minderheiten des Landes zu neuer Stärke.

Am 21. Oktober 1940 wandte sich Winston Churchill auf Französisch an die Franzosen und rief zum Widerstand gegen Nazi-Deutschland auf: „Wappnen Sie Ihre Herzen erneut, bevor es zu spät ist!“ Am selben Tag brachte Celeste ihren Sohn „Edison“ Arantes do Nascimento zur Welt. Dieses Datum und diesen Namen hatte jedenfalls der Standesbeamte versehentlich ins Geburtsregister eingetragen. Am 23. Oktober 1940 traf Hitler in Hendaye mit Franco zusammen und versuchte vergebens, ihn zum Kriegseintritt zu bewegen. An diesem Tag wurde die Geburt in einem anderen Register – dem der Pfarrgemeinde, in der „Edison“ getauft wurde – festgehalten; mit neuem Datum, aber demselben Fehler im Vornamen. Denn seine Eltern hatten eigentlich beschlossen, dass er Edson heißen sollte, ohne den Vokal, weil das besser klang, aber dennoch in Anlehnung an den Pionier der Elektrizität und des Kinos, dank dessen in jenem Jahr die erste Glühbirne in Três Corações in Betrieb genommen worden war. Doch der Standesbeamte sollte seinen Fehler nie korrigieren, und so blieb Edson offiziell Edison. Mit diesem doppelten Namen musste Pelé als der unermüdlich Reisende, der er später wurde, sein Leben lang bei jedem Grenzübertritt und jedem Verwaltungsakt Zeit dafür aufwenden, seine Identität zu rechtfertigen. „Mädchen oder Junge?“, hatte der Vater nach der Geburt gefragt. „Auf jeden Fall ist es schön schwarz!“, hatte Onkel Jorge geantwortet, der mit ihnen unter einem Dach lebte.

Er war es wohl auch, der ihn „Dico“ taufte – eine Abkürzung, die in etwa „Sohn eines Kriegers“ bedeutet. Das sollte im Erwachsenenalter wichtig werden, als Edson und Dico hinter Pelé verschwanden. Den Spitznamen Pelé hat er offenbar immer gehasst. So sprach er manchmal von sich selbst in der dritten Person, wenn er sich nicht mit etwas identifizieren konnte: „Egal wo du auch hingehst, es gibt drei Dinge auf der Welt, die jeder kennt: Jesus Christus, Pelé und Coca-Cola.“ Oder auch: „Pelé stirbt nicht, Pelé wird niemals sterben, Pelé wird ewig leben.“ Dank des Künstlernamens konnte er bei Großereignissen und den zahllosen Anfragen an ihn den Druck kanalisieren und sein Selbst vom Rest trennen: „Edson ist die Person, die Pelé stützt. Edson ist das Fundament. Pelé ist danach gekommen und hat sein Gesicht gegeben.“ Seine Mutter zog ihm Kleidung an, die aus dem Sackleinen alter Weizensäcke geschneidert war, Laufen lernte er barfuß. An manchen Tagen gab es nur ein Stück Brot und ein Stück Banane, manchmal ein wenig Reis oder Bohnen, die Onkel Jorge aus dem Lebensmittelladen mitbrachte, in dem er arbeitete. Das Dach war undicht, und wenn es regnete, war der ganze Fußboden nass. Von Kindesbeinen an spürte Dico die Angst, nicht genug zu haben: „Dieser lähmende Gedanke, der dich nie wieder loslässt … Manchmal spüre ich ihn heute noch.“ Er hatte das Lächeln seiner Mutter, ein Lächeln, das einen einhüllte und einem aus diesem Gesicht mit den großen, neugierigen Augen entgegenstrahlte. Wenig später kam ein kleiner Bruder hinzu, Jair, der bis zu seinem Tod 2020 nur „Zoca“ genannt wurde. Dico und Zoca waren sich immer nah.

Er war drei Jahre alt, als die Familie einschließlich Großmutter und Onkel ein erstes Mal nach Lorena umzog, wo sein Vater für Hepacaré spielte. Dann nach São Lourenço, wo Dondinho dem Team von Vasco angehörte. In der Thermalstadt, die sie näher an São Paulo und Rio de Janeiro brachte, wurde auch Dicos Schwester Maria Lúcia geboren. Trotz seiner Schwächung genoss Dondinho nach wie vor einen guten Ruf. Man nannte ihn den „Baltazar vom Lande“, denn er war groß und traf häufig mit dem Kopf, wie der berühmte Baltazar von den Corinthians, der den Spitznamen Cabecinha de Ouro („Goldköpfchen“) trug, dessen Kopfballstärke aber die Schmach der Seleção von 1950 auch nicht verhindern konnte. Der kleine Dico war beim Training seines Vaters regelmäßiger Zaungast. Der Torhüter der halbprofessionellen Mannschaft hieß Bilé. Dico war fasziniert von dem Mann, der wie eine Katze den Ball fing – in seiner späteren aktiven Zeit sollte Pelé häufig Ersatztorwart sein. Im echten Leben hieß „Bilé“ José Lino. Als kleines Kind hatte José Lino kein Wort gesprochen. Seine Mutter machte sich große Sorgen und befürchtete, dass eine Behinderung oder, schlimmer, ein böser Zauber ihren Sohn getroffen hatte. Sie suchte Hilfe bei den benzedeiras, den Zauberinnen, die in Vollmondnächten vor dem Kleinen beschwörende Klagelieder anstimmten und Voodoo-Sitzungen abhielten. Wobei sie ihn unaufhörlich mit der lokalen Zauberformel bili-biluteteia bedachten, bis der Junge eines Nachts „Biléééééé!“ krähte.

Auch wenn Bilé vielleicht einfach nur ein kleines bisschen später dran gewesen war als seine Altersgenossen: Unter der Euphorie der Frauen in ihrer Trance schuf er mit seinem Ausruf einen Spitznamen für sich, sorgte für Erleichterung bei seiner Mutter und leistete einen wesentlichen Beitrag zur Zeitgeschichte. Denn hinter dem Tor von Bilé stand der kleine Dico am liebsten, und unter den gerührten und amüsierten Blicken der Spieler geizte er nicht mit Unterstützung und Bewunderung: „Bravo, Bilé! Gut gemacht, Bilé!“ Seine kindliche Aussprache tat ein Übriges, und so wurde aus Bilé Pilé, und aus Pilé Pelé. Seine Klassenkameraden machten sich über ihn lustig und gaben ihm den Spitznamen des anderen. Er hasste es vom ersten Moment an, Pelé genannt zu werden. Doch bald gab es kein Zurück mehr, und wenn er beispielsweise in der ersten Halbzeit ins Tor ging, zogen die jugendlichen Zuschauer an der Seitenlinie ihn auf: „Hey, Pelé, hältst du dich für Bilé? Oh, schaut mal, Bilé hat einen Ball gehalten!“, und Pelé versuchte, sich mit Fäusten zu wehren, aber es ging immer wieder von Neuem los.

Das ist die wahrscheinlichste Theorie, die sein Onkel Jorge erzählte, als Dico noch klein war, und die dieser später selbst bestätigte. Die anderen Geschichten, dass „Bilé“ auf Hebräisch „Wunder“ bedeute und der Himmel seinen Boten auf die grünen Felder der Fußballwelt gesandt habe, sind Spitzfindigkeiten für besonders Gewiefte. Er hätte auch Tiziu werden können – ein anderer Spitzname, den er in Anlehnung an die Jacarinifinken erhalten hatte – kleine, flinke schwarze Vögel, die er mit seinen Freunden im Wald jagte, auch wenn er sie nie lange behielt. Viel später, als er als Nachwuchshoffnung beim FC Santos spielte, bekam er noch einen weiteren Spitznamen: Gasolina („Benzin“), wegen seiner Hautfarbe. Er hätte Zito antworten können, dass Benzin farblos und Rohöl schwarz sei, dass sein Spitzname Dico sei und er seinen Rufnamen Edson am liebsten mochte, aber dem Kapitän des FC Santos, mit dem zusammen er bald in der ersten brasilianischen Weltmeisterelf spielen würde, widersprach man nicht. Der Name hatte ohnehin keinen Bestand, denn als er nach Bauru im Bundesstaat São Paulo kam, wo sein Vater endlich eine feste Stelle in der lokalen Verwaltung gefunden und, obendrein, einen Spielervertrag beim FC Luzitana ergattert hatte, wurde aus Edson Arantes do Nascimento, allein kraft des Willens der Tribüne, Pelé.

Kapitel 4

DER SCHUHPUTZER

Am 15. September 1944 ging Edson Arantes do Nascimento auf seine erste große Reise. Die Landschaften, die vor dem Zugfenster vorbeizogen, sollten für immer in der kindlichen Erinnerung des Vierjährigen verankert bleiben. In Bauru angekommen, stieg die Familie im Station Hotel ab, an der Avenida Rodrigues Alves und Avenida Alfredo Ruiz. Dondinho hatte eine Stelle in der Casa Lusitana gefunden, dem Kaufhaus, dessen Besitzer Präsident des FC Lusitana war. Unter der Woche kochte er dort u. a. Kaffee und servierte ihn, lieferte die Post. Am Wochenende verwandelte er sich in den Startorjäger des Vereins. In jener Saison änderte der FC Lusitana seinen Namen in BAC, Bauru Atlético Clube, was das Leben von Dondinho entscheidend beeinflussen sollte. 2019 feierten die letzten Klubmitglieder das hundertjährige Bestehen des FC Lusitana bzw. BAC. Sie waren nur noch zu zehnt, und das Stadion wurde nach langen Rechtsstreitigkeiten abgerissen. Bald sollte dort lediglich noch ein verrostetes altes Eisentor in den Farben des BAC stehen, umgeben von einer lavendelblauen Mauer.

Von dem Fußballplatz, über den Pelé rannte, ist also nichts geblieben. Die Lichter waren endgültig ausgegangen in diesem Verein, dem historischen BAC, der als Lusitana FC gegründet worden war und sechsmal die Stadtmeisterschaften gegen den Lokalrivalen Noroeste aus dem Viertel Vila Pacífico gewonnen hatte. Der Bau der Eisenbahn hatte es gar ermöglicht, dass Lusitana Bauru AC eine polnische Mannschaft empfing, die mit 5:0 abgefertigt wurde, sowie Atlanta aus Argentinien, die 8:2 geschlagen wurden. Unter den Einheimischen machte sich eine Mischung aus Erleichterung und Ungläubigkeit breit. Vor diesem Hintergrund ging der BAC zuversichtlich in eine Partie gegen eine Auswahl aus dem Bundesstaat Mato Grosso, die mit 10:1 nach Hause geschickt wurde.

1942 hatte Lusitana die Meisterschaft im Bundesstaat São Paulo, eine Art zweite Liga, auf Platz zwei beendet. Hätte es einen Aufstieg in die erste Division gegeben, wie es heute der Fall ist, dann wäre Lusitana, bzw. der BAC, aufgestiegen, und der Vater von Pelé hätte in einem Klub mit nationaler Reichweite gespielt, eines Tages vielleicht sogar im Maracanã. Aber Mitte der 2000er-Jahre war all das in Vergessenheit geraten. Die einzige Tribüne, mit Wellblechdach und Holzstufen, war verschwunden. Der Supermarkt, der an ihre Stelle getreten war, versäumte es nicht, an den BAC zu erinnern, und hängte einige historische Fotografien in seinen Gängen auf. Und selbst heute gibt es dort noch ein Wandbild vom Eingang des Estádio Lusitana in den Dreißigerjahren, als er wie der eines kleinen Provinzflughafens wirkte, mit drei weißen Säulen und blauem Schriftzug darüber. Nachdem sie dank des Verkaufs der bedeutenden Vermögenswerte all ihre Schulden hatte bezahlen können, nahm die alte Vereinsleitung ihren Sitz an einem bescheideneren Ort weitab des Stadtzentrums, und man hörte nichts mehr von dem Klub, der mit seinen Erfolgen der Stadt so viele stolze Momente beschert hatte.

Celeste und Dondinho hatten ein Haus in der Rua Rubens Arruda gemietet, umgeben von Weinreben, einem Mangobaum und Zuckerrohrplantagen. Es war in einem kosmopolitischen Stadtteil gelegen, in dem Syrer, Portugiesen, Japaner und Italiener zusammenlebten. Gleich nebenan wohnte die Familie Barone, die Großeltern von Baroninho, der später bei Noroeste und Palmeiras spielte und Ersatzmann in der legendären Flamengo-Elf von Zico und Junior war – der bedeutendsten Mannschaft Brasiliens nach dem FC Santos, die im Weltpokal 1981 die Modellelf des FC Liverpool besiegte, als diese Trophäe noch in Japan vergeben wurde. Der mittlerweile erwachsene Baroninho und seine Rot-Schwarzen hatten die 3:0-Show seinerseits ihrem Trainer Cláudio Coutinho gewidmet. Der Ex-Nationaltrainer, der Brasilien bei der WM 1978 betreut hatte, hätte direkt nach der Partie ein Traineramt in Saudi-Arabien übernehmen sollen, hatte sich jedoch vor der Reise nach Tokio einige Urlaubstage gegönnt. Beim Speerfischen war der 42-Jährige, der als ausgezeichneter Taucher galt, vor dem Strand von Ipanema bei Rio de Janeiro ertrunken.

In der ersten Zeit hielt das Knie von Dondinho. Er half Lusitana, die Meisterschaft der halbprofessionellen Liga des Bundestaats São Paulo zu gewinnen. Er war charismatisch, elegant und trotz seines Pechs in der Vergangenheit immer gut gelaunt. Aber das Schicksal meinte es ein weiteres Mal nicht gut mit ihm. Der FC Lusitana, der Klub, der Dondinhos letzter Strohhalm gewesen war, hatte, wie bereits erwähnt, den Besitzer und den Namen gewechselt. Lusitana hieß nun offiziell BAC, und die neue Vereinsführung änderte die Regeln: Sie waren einverstanden mit dem bereits unterzeichneten Spielervertrag, aber eine Arbeit nebenbei kam nicht infrage. Mittlerweile waren die do Nascimentos zu siebt (Dondinho, Dona Celeste, Dico, Zoca, Maria Lúcia, Großmutter Dona Ambrosina und Onkel Jorge), und zum ersten Mal sahen sie wirklich unsicheren Zeiten entgegen. Wie zum Ausgleich stellte der alte Arbeitgeber von Dondinho Onkel Jorge als Lieferanten bei der Casa Lusitana an. Sein Gehalt half der Familie enorm, zumal er jedes Jahr befördert wurde. Tante Maria, die in São Paulo lebte, brachte von Zeit zu Zeit Essen und manchmal auch Kleidung vorbei. Und sonntags spielte Dondinho. Aber sein Meniskus machte immer wieder Probleme. Er sollte zwei Jahre brauchen, bis ihm das klar geworden war, und sechs weitere, bevor er den Verein verließ.

Als Dondinho endlich bewusst wurde, dass es mit seiner Karriere vorbei war, setzte er sich in den Kopf, sich um die von Dico zu kümmern. In der Rua Rubens Arruda, die Pelé „das Arruda-Stadion“ nannte, oder im kleinen Hof ihres Hauses begann der Vater, den Sohn zu trainieren. Rechter Fuß, linker Fuß, Kopf. Rechter Fuß, linker Fuß, Kopf. Stunde um Stunde, bis spät in die Nacht. Dribbeln, Schießen, Passen, Grundlagen, Mauer … Er sprach über Fußball, über Taktik. Er erzählte von seinem Bruder. Seinem toten Bruder, der mehr Talent gehabt habe als er – eine Lüge oder eine Ehrerbietung oder beides zugleich. Er organisierte endlose Kopfballtrainingseinheiten: „Nicht blinzeln! Nicht blinzeln!“ Er befestigte den Ball an einem Ast, und Dico jonglierte damit, ohne ihn jedes Mal wieder holen zu müssen, da er nicht wegsprang. Dondinho sprach, und Dico hörte zu. Rechter Fuß, linker Fuß, Kopf. Er lernte die beiden Dinge, die der Albtraum all seiner Gegenspieler sein würden: den Ball beim Dribbling so nah wie möglich am Fuß zu führen und mit dem rechten und dem linken Fuß exakt dieselben Dinge zu beherrschen. Fußballer zu werden, das war der Weg in die Freiheit.

Für Dona Celeste allerdings führte genau dieser Weg mit Sicherheit in die Armut. Nur eine gute Schulbildung würden ihren Sohn vor Not, kaputten Knien und einer Karriere voller Widrigkeiten retten. Was würde aus Dico, wenn er sich verletzte, wie sein Vater? Aber der Weg durchs brasilianische Bildungssystem war ebenso mühevoll wie der zum Profifußballer, noch dazu für ein Kind mit afrikanischen Wurzeln. Eines von sechs Kindern schaffte es in die Sekundarschule. Dico wurde in der Ernesto-Monte-Grundschule von Bauru angemeldet, die Kleidung aus Weizensäcken geflickt und eine Packung Farbstifte in seine Umhängetasche gepackt, die jedoch nicht lange hielten, weil er alles malte, was er sah. Anfangs war sein Benehmen tadellos, aber er avancierte schnell zum Klassenclown. Seine erste Lehrerin, Dona Cida, ließ ihn manchmal auf trockenen, steinharten Bohnen knien. Zu jener Zeit faszinierte ihn die Fliegerei, er wollte Pilot werden und verbrachte viel Zeit damit, die Luftschiffe zu bestaunen, die auf dem nahe gelegenen Flugfeld starteten und landeten. Er erzählte sogar seinem Vater davon, der ihn ernst nahm und ihn überzeugte, sich ein bisschen mehr aufs Schreiben und Rechnen zu konzentrieren und besser zu gehorchen.

Also strengte der kleine Edson sich an, in dem Bestreben, einmal ein großer Pilot zu werden. Eines Tages beobachtete er vom Rande des Flugfelds aus mehrere Männer, die sich um einen Segelflieger scharten, dessen Nase im Boden steckte. Die Männer hoben die Arme, als sei nichts mehr zu machen, und er folgte ihnen bis zur nahe gelegenen Klinik, wo er durch das Fenster der Pathologie so viel Blut aus dem Arm des toten Piloten austreten sah, dass das Entsetzen darüber seiner frühen und kurzen Berufung für immer ein Ende setzte.

Dico begann wieder, sich wie ein Flegel zu benehmen. Dico war unverschämt. Dico krabbelte unter das Pult von Dona Laurinda, um seiner zweiten Lehrerin unter den Rock zu schauen. Manchmal verließ er einfach das Klassenzimmer, um draußen zu spielen. Das wahre Leben fand auf der Straße statt. Alles konnte zu einem Fußball werden: zusammengerollte Stofflappen, Pampelmusen, Konservenbüchsen, Gegenstände aus dem Müll … Er stibitzte Socken von Wäscheleinen und kaufte sich seinen ersten echten Lederball erst als Jugendlicher. Sein Kopf war in Aufruhr, sein zweites Schuljahr ein Desaster. Dona Laurinda bestrafte ihn oft, er musste mit ausgestreckten Armen dastehen, wie die Christusstatue hoch oben auf dem Corcovado. Es war eine Qual. Nachts schrie und sprach er häufig im Schlaf. Am Tag tat er Dinge, deren Konsequenzen er nicht verstand, wie die Tatsache, dass er für das Stehlen einer über einer Mauer hängenden Mango, die er unter seinen Freunden aufgeteilt hatte, bestraft wurde. Einmal wäre er beinahe ertrunken, als er mit seinem Freund Zinho versuchte, den Fluss entlang der Noroeste-Eisenbahn zu durchschwimmen. Ein anderes Mal versteckte er sich in einem Loch, das von sintflutartigen Regengüssen ausgehöhlt worden war, aber Dona Celeste zog ihn an den Ohren heraus. Als man nur wenige Tage später die Leiche eines anderen Kindes herausholte, Augen und Mund voller Schlamm, da brachte ihn dieser Anblick Gott ein Stück näher.

Mit sieben Jahren fing er an zu arbeiten. Dondinho hatte eine Stelle bei einem sozialmedizinischen Zentrum der Stadt ergattert, wo er undankbare Aufgaben zugeteilt bekam: Putzen, Aufräumen, Transporte. Aber es reichte nicht. Also lieh Onkel Jorge Dico etwas Geld, damit er sich eine Schuhputzerausrüstung kaufen konnte: eine kleine Kiste mit Bürsten und eine Umhängetasche aus Leder. Er übte zuerst bei Verwandten, dann suchte er sich einen Platz am Bahnhof. Aber die Menschen in Bauru waren genauso arm wie der Rest Brasiliens. Daher verdiente sich Dico in den Teesalons der Stadt und als Haushaltshilfe Geld hinzu. Später dann in einer Schuhfabrik. Er lieferte auch pasteis aus, frittierte Teigtaschen gefüllt mit Hackfleisch, Käse oder Palmherzen, die eine syrische Nachbarin für einen Händler zubereitete, der sie an die Passagiere einer der drei Nahverkehrslinien der Stadt weiterverkaufte. Dico hatte sich auch vor dem Stadion des BAC eingerichtet. Dort putzte er in Begleitung seines Vaters Schuhe, und zwischen zwei Kunden trommelte er auf seiner Kiste. Beim ersten Mal verdiente er zwei Cruzeiros! Stets übergab er seine Einnahmen brav der Mutter, die davon Lebensmittel kaufte, wie es in allen armen Familien der Fall war. Wenn sie konnte, gab sie ihm eine Münze, damit er sonntagvormittags ins Kino gehen konnte. Auf dem Weg dorthin sah er Jungen, die größer waren als er, auf der Straße kicken, und er hätte gern mitgemacht. Aber Edson, der anfing, nur noch an Fußball zu denken, traute sich nicht, spielte nicht. Er fand sich zu klein und zu schmächtig.

Kapitel 5

EIN VERSPRECHEN

Die Weltmeisterschaft von 1950 verlor Brasilien bereits 1938. Denn es hatte nichts aus der Vergangenheit gelernt, hatte sich an der Organisation des Wettbewerbs berauscht, da es nach einem leichten Sieg vor heimischem Publikum klang. Wie Uruguay 1930. Wie Italien 1934. Sie kommt zu uns, also gehört sie uns, dachten Politiker, Journalisten und die Menschen auf der Straße, die genauso zuversichtlich waren wie die Verantwortlichen der Seleção zwölf Jahre zuvor, die sich im Halbfinale aufgrund von Hochmut und Überheblichkeit verrannt hatten: 1938 hatte Nationaltrainer Pimenta geglaubt, dass die beiden Angreifer Perácio und Romeu die Lücke füllen könnten, die die strategische Schonung von Hochkaräter Leônidas mit Blick auf das Finale riss. Die Brasilianer hatten diese bereits im Vorfeld gewonnen geglaubte Partie verloren.

Zwölf Jahre später trat dieselbe Arroganz erneut zutage, als Brasilien den Zuschlag als WM-Ausrichter erhielt, da es vom Krieg verschont geblieben war und angesichts des verwüsteten Europas eine offensichtliche Wahl darstellte. Es brauchte ein Land, das Stadien errichten konnte, ohne davor ganze Städte wieder aufbauen zu müssen. Auch sollte der Alte Kontinent nur acht der am wenigsten ausgebluteten Nationen entsenden. Durch die Absage zunächst der Türkei und dann Schottlands waren es am Ende sogar nur sechs: Doppelweltmeister Italien, England, die Schweiz, Schweden, Jugoslawien und Spanien. Frankreich, in letzter Minute als Nachrücker für Schottland benannt, nahm an der offiziellen Auslosung teil, machte dann jedoch einen Rückzieher unter dem Vorwand, dass die Entfernungen zwischen den Austragungsorten zu groß seien.

Es hatte zweier Jahre frenetischer Bautätigkeit und mehr als zehntausend Arbeiter bedurft, um das Maracanã zwischen den drei größten Krankenhäusern der Stadt hochzuziehen. Jedes Mal, wenn ein Teil der Tribüne fertig war, drängten sich die Arbeitskräfte minutenlang unter den Augen von Ingenieuren und Architekten enger und enger zusammen und hüpften zur Simulation von Jubelszenen, um die Standfestigkeit der Ränge zu testen. Das Maracanã würde nicht zusammenbrechen, und die riesige „Untertasse“ sollte genauso berühmt werden wie das Wembley-Stadion, das jeder bei der bloßen Nennung des Namens kennt. 2021 stimmte die Regierung von Rio de Janeiro dafür, die Arena in „König-Pelé-Stadion“ umzubenennen, aber sogleich erhoben sich Stimmen dagegen, allen voran die seiner ehemaligen Mitspieler, wie Gérson. Zwar hatte er dort für Brasilien gespielt und mit Santos das 1.000. Tor seiner Karriere erzielt, doch Pelé war nicht aus Rio, er war im Bundesstaat São Paulo aufgewachsen und stammte aus Minas Gerais. Das Projekt wurde vom Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro eingestampft, der sein Veto einlegte. Denn König hin oder her: Über Pelé waren die Brasilianer stets geteilter Meinung gewesen.