Peter Paul. Rubens Leben - Johanna Blackader - E-Book

Peter Paul. Rubens Leben E-Book

Johanna Blackader

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Beschreibung

Im Europa des 30-jährigen Krieges ist der junge Flame Peter Paul Rubens entschlossen, die Malerei zu revolutionieren. 1600 reist er von Antwerpen nach Italien, um die alten Meister zu studieren. Mit seinen außergewöhnlichen Gemälden, die von Figuren aus Fleisch und Blut bevölkert werden, feiert er in Rom erste Erfolge. Doch sein Aufstieg wird jäh durch den Tod seiner Mutter unterbrochen. Peter kehrt in die Spanischen Niederlande zurück und baut sich gemeinsam mit seiner Frau Isabella ein neues Leben auf. Seine Bilder, die den Betrachter schockieren und berühren, machen ihn bald reich und in ganz Europa berühmt. Sein Ansehen steigt so sehr, dass Mächtige wie Maria de Medici von ihm gemalt werden wollen und die Statthalterin der Spanischen Niederlande ihn schließlich als Botschafter nach Spanien und England entsendet. Dort sieht er sich einer unlösbaren Aufgabe gegenüber: Er soll im kriegsgebeutelten Europa den Frieden wiederherstellen. Geistreich und eindringlich erzählt dieser Roman aus dem Leben eines der größten Genies des 17. Jahrhunderts.

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Johanna Blackader

Peter Paul

Rubens Leben

Blackader, Johanna: Peter Paul. Rubens Leben, Hamburg,

acabus Verlag 2015 Originalausgabe

PDF-eBook : ISBN 978-3-86282-347-5 ePub-eBook : ISBN 978-3-86282-348-2 Print-ISBN : 978-3-86282-346-8 Lektorat : Daniela Sechtig, acabus Verlag Umschlaggestaltung : © Marta Czerwinski, acabus Verlag Umschlagmotiv : © Peter Paul Rubens [Public domain], via Wikimedia Commons Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2015

Alle Rechte vorbehalten.

http ://www.acabus-verlag.de

Meiner Mutter.

Und meinen Marthas.

1

Antwerpen, November 1599

Der Meister wartete auf ihn wie bei ihrer ersten Begegnung, halb in der Dämmerung des Ateliers verschwindend, griesgrämig und kugelrund. Zwei einsame Kerzen spendeten Kegel gelben Lichts, während sich draußen grauer Regen in langen Fäden vom Himmel herabkettete. Peter schüttelte Wassertropfen aus dem Haar, grüßte und sah den Meister fragend an. Der stellte sich ohne Morgengruß und mit dem Blick fest auf die Staffelei geheftet auf die Zehenspitzen, breitete die Arme zu beiden Seiten aus und vollführte langsam einen Halbkreis nach oben, bis er völlig gestreckt dastand. Es sah aus, als versuchte der dicke, kleine Mann vergeblich, noch ein wenig zu wachsen. Dann ließ er seinen Körper wieder erschlaffen, um anschließend erneut auf die Zehenspitzen zu steigen und die gestreckten Arme im Halbkreis nach oben zu führen. Peter beeilte sich, den Kittel überzustreifen und es ihm gleichzutun. Er mochte die morgendlichen Aufwärmübungen, auch wenn van Veen dabei einen Anblick bot wie eine Ente beim Eistanz.

Sie streckten, kreisten und erschlafften eine Weile und sprachen kein Wort, bis die Tür aufflog. Schwungvoll trat ein mächtiger Mann ein, winzige Augen im massigen Gesicht, begleitet von Wasser und Schmutz. Die an der Tür flackernde Kerze erlosch zischend, und van Veen verlor im gleichen Moment die Balance.

„Da scheiß doch der Ochse in die Milch! Otto, du versuchst dich im Seiltanz“, rief der Besucher.

Van Veen rappelte sich hoch, grunzte und verschwand ohne ein Wort im Nebenraum. Es war ihm offensichtlich unerträglich, vor dem städtischen Schatzmeister derart der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein. Er hatte in den vergangenen Jahren alles dafür getan, um sich als Octavius van Venius in Antwerpen ins Gespräch zu bringen, um klarzustellen, er sei kein pinselschwingender Farbenanrührer, sondern ein Schöngeist adliger Abstammung, mit einem untrüglichen Sinn fürs Klassische.

Nikolaas Rockox’ enormer Brustkorb hob und senkte sich mit tiefen Lachern. Er zog den tropfenden Mantel aus, nahm den Hut ab, in dessen Krempe sich Wasser gesammelt hatte, das auf den Atelierboden schwappte, und hängte beide Kleidungsstücke auf einen Haken neben der Tür. Anschließend machte er es sich auf einem Stuhl bequem – kein leichtes Unterfangen, überstieg doch der Umfang seines Hinterteils bei Weitem die Maße des Möbelstücks. Beim Hinsetzen stieß er mit dem Arm ein nachlässig bemaltes Tongefäß um, das auf einer Kommode gestanden hatte, nun zu Boden fiel und zerbrach.

Während Peter im hinteren Teil des Raumes von einem Bein aufs andere trat, kam der Meister zurück, in der linken Hand einige zusammengerollte Papiere. Er schien in der Kammer eine Entgegnung vorbereitet zu haben.

„Eines sei dir gesagt, Nikolaas, wenn van Venius auf den Zehenspitzen steht, dann aus gutem Grund und mit Eleganz. Aber was weißt du schon von Eleganz, oder davon, dass nur ein gestählter Körper zu den geistigen Meisterleistungen verhilft, für die man im ganzen Land bekannt wird!“

Mit heruntergezogenen Mundwinkeln blickte er von einem zum anderen. Dann sah er das kaputte Gefäß. Er tat einen schnellen heftigen Atemzug, der kurze Körper spannte sich zum Bogen, die Hände verkrampften sich zu Krallen, das Gesicht schwoll an, er ergriff ein weiteres Gefäß von der Kommode und schleuderte es kraftvoll zu Boden, offenbar um nicht auf der Stelle selbst in tausend Stücke zu zerspringen. Nikolaas Rockox wandte den Kopf ab und hielt eine schwielige Hand hoch. Bevor der Schatzmeister ein Wort von sich geben konnte, trat Peter vor.

„Entschuldigt mein Missgeschick, Meister.“

Er kniete nieder, um die Scherben so gut es ging aufzusammeln. Er wusste, dass van Veen dieses zweite Gefäß besonders gern gehabt hatte. Es war ein sorgfältig geformtes Stück mit ausladendem Bauch und elegantem Hals gewesen, verziert mit feinen Verschlingungen in Magenta und Violett.

„Kuhfüßiger Blödesel“, zischte van Veen und gab ihm einen Schlag auf den Kopf. Peter zuckte zusammen und duckte sich, in Erwartung eines weiteren Hiebs.

„Sumpfkopf“, presste der Meister zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, bevor er sich Nikolaas Rockox zuwandte und ihm die Papierrollen hinhielt. Als eine Reaktion ausblieb, stellte er sich auf die Zehenspitzen und schlug dem Schatzmeister mit der flachen Hand auf die Brust. Der sah auf.

„Wie weit bist du mit den Wandteppichen für den Einzug des Erzherzogs?“, fragte Rockox.

Van Veen grunzte und wedelte mit den Papieren. Rockox nahm eine Rolle, zog das Papier auseinander, betrachtete die Skizzen und brummte.

„Bist du gekommen, um meine Zeit zu verschwenden?“, erkundigte sich van Veen.

„Ich hatte mit etwas mehr gerechnet.“

„Ich muss mich verhört haben.“

„Hast du nicht einen Entwurf mit etwas mehr, wie soll ich sagen, Farbe? Es geht um den Erzherzog Albert, Otto.“

Van Veen gab ein Zischen von sich, dass einer buckelnden Katze Ehre gemacht hätte. „Du bist ein Witzbold, wenn du denkst, du musst nur Alberts Namen erwähnen, und schon schmelze ich vor deinen Augen dahin. Ich, Sohn eines berühmten Anwalts, Enkel des Herzogs, größter Maler der Niederlande, bin gewiss der Habsburgischen Sache verbunden, aber niemals werde ich in deinen Händen Butter sein!“

Van Veen streckte sich, zog die Augenbrauen zusammen und sah Rockox in die Augen. „Ich will mein Geld.“

„Mir scheint, Otto, du bist heute mit dem falschen Fuß aufgestanden.“

Rockox lachte und warf Peter einen Blick zu, der wohl so viel heißen sollte wie, man möge ihn doch bitte umgehend informieren, sollte der Meister tatsächlich eines Morgens gut gelaunt im Atelier erscheinen, denn das müsse er mit eigenen Augen gesehen haben.

„Ich will mein Geld“, wiederholte van Veen.

Rockox zog ein Säckchen hervor, löste die Kordel und zählte 120 Gulden in seine Hand.

„Den Rest der 650 Gulden bekommst du, wenn du etwas mehr vorzuweisen hast.“

Van Veen nahm die Münzen und verschwand wieder im Nebenraum, um das Geld in Sicherheit zu bringen. Die winzigen auf den Dielen verteilten Tonsplitter knirschten unter seinen Schritten.

„Ich würde dich gerne um einen Gefallen bitten“, rief Rockox ihm hinterher.

Grunzen.

„Ich habe einige neue Werke erstanden …“

„Falls es sich um das alberne Gemale dieses van Noort handelt, will ich nichts davon hören.“

„Es sind einige ältere Landschaftsgemälde. Ich brauche Hilfe beim Anbringen und würde mir gern deinen Adlatus ausborgen.“

Der runde Kopf van Veens erschien im Türrahmen, seine Augen sahen skeptisch zwischen Schüler und Schatzmeister hin und her.

„Meinen Assistenten ausleihen?“

Der Meister schien zu überlegen. Peter war sich nicht sicher, wen von ihnen van Veen mehr verabscheute. Den Schatzmeister hasste er gewiss wegen dessen gewinnender Art und der ewigen Neckereien. Peter dagegen verabscheute er eher aus einer diffusen Ahnung heraus, die sich ihm in den vergangenen Monaten schleichend ins Bewusstsein gedrängt haben musste. Die Ahnung nämlich, dass der Schüler ihn eines Tages überflügeln würde, dass er jedes Werk, das van Veen je geschaffen hatte, mit ein paar schnellen Pinselstrichen in den Schatten stellen und ihn, den großen Otto van Venius, ins Unterholz der Geschichte verbannen würde. Nun, da Peter seine Lehrzeit beendet hatte und als Assistent arbeitete, war die Bedrohung noch gewachsen. Wenn er genauer darüber nachdachte, war es ganz gewiss er, Peter, den van Veen mehr hasste. Denn er stellte das glanzvolle Ende in Frage, das ihn von den Unbehaglichkeiten des Leibes befreien und sein Lebenswerk erstrahlen lassen sollte.

Seitdem er Otto van Veen kannte, hatte der die größten Hoffnungen in den Tod gesetzt. Das war gewiss schon so gewesen, als er noch ein missmutiger Junge war, den allein die Gewissheit zu trösten vermochte, dass die Dinge endlich waren, besonders zu Zeiten, wenn seine Existenz für ihn selbst zu einer ebenso große Zumutung wurde wie für die Menschen in seiner Umgebung. Und jetzt, da es ein Lebenswerk gab, auf das er zurückschaute, bedeutete ihm der Tod alles, soviel war offensichtlich. Er war seine einzige Hoffnung im Dunkel der Welt. Wenn etwas diese Hoffnung trübte, dann war das genug, um ihm den schönsten Regentag zu verderben.

„Nimm den Sumpfkopf und lebe mit den Konsequenzen. Und verschwinde“, sagte van Veen.

Rockox erhob sich schwerfällig, nahm seinen Hut und öffnete die Tür. „Bis morgen.“

Wasser wehte auf den Atelierboden und bildete scherbengesprenkelte Pfützen, die das Kerzenlicht spiegelten.

„Bevor ich es vergesse“, sagte er und wandte sich noch einmal um. „Wie ist dein Name, Junge?“

Er sah ihm so direkt in die Augen, dass Peter kurz den Blick senkte, sich dann aber seiner Manieren aus dem Pagendienst bei Prinzessin von Ligne erinnerte, wieder aufsah und seinen Namen nannte.

„Peter, wir sehen uns morgen“, sagte Nikolaas Rockox und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Als Peter die Tür geschlossen hatte und sich wieder seinem Meister zuwandte, sah er ihn erneut auf den Zehenspitzen stehen, noch griesgrämiger und merkwürdiger als zuvor. Wenn das tatsächlich der größte Maler der Niederlande war, dann hatte die Mutter Recht, dann gehörte ihm, Peter, nicht weniger als die Welt.

2

Antwerpen, Mai 1600

Die Mutter saß im Salon. Ihr langes Haar erschien in der Morgenluft transparent und unwirklich. Sie sah ihn an, direkt und schweigsam. Er schritt zu ihr hin, ließ sich nieder und hielt ihr den Passierschein hin. Der Magistrat bestätigte darin, dass Antwerpen frei war von Pest und anderen Seuchen.

Er war erleichtert, das Dokument wohlbehalten nach Hause gebracht zu haben. Es war nicht schwierig gewesen, es zu bekommen, und dennoch hatte er gemeint, es wie eine Kostbarkeit mit spitzen Fingern durch die feuchte Morgenluft tragen zu müssen. Es war ein windstiller Tag, und doch hatte er die Finger fest auf das Dokument gepresst, welches sein ängstlicher Geist immer wieder in die gleichmäßig dahingehende Schelde schweben und langsam versinken gesehen hatte. Sie war eine Getriebene, diese Schelde, eine beständige Kraft, die ruhig aber entschieden auf die Weite des Meeres zustrebte und dabei wie zufällig die großartigsten kalten Spiegelungen hervorbrachte. Und warme Vorstellungen. Es war ihm seit jeher gewesen, als führte dieser Fluss ihm vor Augen, was in ihm war. Als gäbe er den Blick auf etwas Großes frei, indem er widerspiegelte, was noch nicht geschaffen war.

Die Mutter ließ ihren Blick über die Zeilen schweifen, nickte und weinte aus großen grauen Augen. Er musste sich gewaltsam daran erinnern, dass sie nicht zerfallen würde, trotz dieser Augen. Als der Vater vor Jahren unter Hausarrest gestellt wurde, hatte sie von einem auf den anderen Tag begonnen, allein für den Unterhalt der Familie aufzukommen. Sie fing an, auf dem Markt mit Fleisch und Gemüse zu handeln und Reisende zu beherbergen. Und als der Vater wenige Jahre später gestorben war, hatte es ihr Herz gebrochen, aber sie war dennoch ganz geblieben. Sie war keine Frau, um die man sich sorgen musste.

„Ich bleibe, wenn du willst“, sagte er, ohne es zu meinen. Sein Fuß wippte unruhig vor und zurück. Das tat er bereits seit dem Tag, als vor mehreren Wochen der Brief vom Hof des Herzogs von Mantua eingetroffen war, in dem dieser ein Treffen zwischen Peter und einem Gesandten namens Annibale Chieppo bestätigte. Zwar hatte er ihm nicht direkt eine Anstellung versprochen, aber um nichts in der Welt wollte Peter es versäumen, pünktlich in Venedig einzutreffen. Der Herzog war bekannt dafür, junge Maler, die er für talentiert hielt, bei Hofe um sich zu scharen.

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte sie und wischte sich die Tränen ab. „Du gehst. Alles andere wäre eine Beleidigung des Schöpfers, der dir mit nichts als Großzügigkeit begegnet ist.“

Es war, als redete sie mit sich selbst.

„Antwerpen wird mir fehlen“, gab Peter zurück.

„Wenn man dir eine außergewöhnliche Gabe schenkt, ist es das Mindeste, was du tun kannst, sie mit dem größtmöglichen Einsatz zu ehren.“

„Ich schreibe dir jede Woche“, sagte er. „Und wenn ich zurückkomme, bringe ich Geschenke, Berge von Kostbarkeiten.“

Sie lächelte.

„Gib auf dich Acht, und vergiss die Schelde nicht. Die Italiener mögen die Malerei erfunden haben, aber solch einen Fluss sucht man auf der ganzen Welt vergebens.“

Peter nickte stumm.

Er weckte die Mutter in der Morgendämmerung, in der Hoffnung, ihre Schlaftrunkenheit würde den Schmerz dämpfen. Es war kalt im Salon, wo sie eingeschlafen war, das Feuer nur noch ein Glimmen. Sie schlug die Augen auf, sah ihn unbewegt an und begann zu weinen.

„Geh, geh, mein Lieber“, sagte sie und fegte ihn gestenreich zur Tür hinaus. Er würde ihr etwas Kostbares mitbringen, wenn er wiederkäme, eine goldene Uhr vielleicht, oder ein edelsteinbesetztes Gewand aus schwerer Seide.

Der beginnende Frühling hatte noch immer keine Milde gebracht, und der Boden knackte unter seinen Schritten, als er hinaustrat, während die Kälte seinen Atem in die Luft zeichnete. Keine gute Zeit für lange, beschwerliche Reisen.

Sein Hengst hob ein Bein und schnaubte ihn an. Er streichelte seinen Kopf, stieg auf und ritt langsam durch die leeren Gassen davon. Kurz vor dem Tor sah er sich noch einmal um. Nach Mutter. Und der Schelde.

Am dritten Tag wurde ihm bewusst, wie lang die Reise werden würde, und er empfand die schlichte Größe der Welt als Zumutung. Eine Bäuerin gab ihm verdorbene Kartoffelsuppe, und er übergab sich einen Tag und eine Nacht lang. Danach machte er um Bauernhöfe einen Bogen und kam in Gasthöfen unter. Die meisten waren ungezieferverseucht und zugig. Am zehnten Tag hatte er Flöhe und wollte umkehren, doch schreckte ihn nun auch die Länge der Rückreise, und er ritt weiter. Nach zwei Wochen musste er einsehen, dass er den Weg niemals in den anvisierten vier Wochen zurücklegen würde. Er hatte bei seiner Planung nicht berücksichtigt, wie anstrengend das Reiten war. Voller Sorge, er könnte sein Treffen mit dem Gesandten des Herzogs von Mantua versäumen, kämpfte er gegen die Müdigkeit an.

Erst als sich die Landschaft langsam um ihn herum veränderte und er sich mit einem Mal in ein Gemälde Annibale Carraccis versetzt sah, spürte er neuen Elan in sich aufkeimen. Verdurstete Bäume ragten in einen wässrigen Himmel hinein, der den Eindruck erweckte, ein einziger Tropfen Farbe hätte ausgereicht, um ihn in seiner Unendlichkeit in göttlichem Azurblau einzufärben. In der Ferne legten sich die fabelhaftesten Grüntöne in nicht endenden Schattierungen übereinander, als wäre jeder Hügel in diesem Lande in eitelster Weise darauf bedacht, sich von seinen Nachbarn abzugrenzen.

Doch eine weitere Woche später hatte er Venedig noch immer nicht erreicht, und es breitete sich erneut Müdigkeit in seinen Knochen aus, die ihn verzehrte wie eine schwere Krankheit. Auch suchten ihn Bilder der weinenden Mutter heim, die ihn anhaltend quälten und sich nicht verjagen ließen.

Als er zum ersten Mal venezianischen Boden betrat, hatte er jeglichen Antrieb verloren. Hätte ihn jemand zu seinen Ambitionen, Plänen, Leidenschaften oder Talenten befragt, er hätte mit den Schultern gezuckt. Er war mitten in Venedig, dem Ort, nach dem er sich am ärgsten gesehnt hatte – hatte es in Antwerpen doch kein einziges venezianisches Werk gegeben – und es war ihm einerlei. Es war erst Nachmittag, aber er mietete sich in der erstbesten Herberge ein Zimmer, schleppte sich die Treppe hinauf, registrierte den schimmligen Geruch ohne sich daran zu stören, ließ sich aufs Bett fallen und schlief den Rest des Tages, die ganze Nacht und bis zur Mittagszeit des darauffolgenden Tages.

Als er schließlich aufstand und seine schmerzenden Glieder streckte, stellte er fest, dass sein Lebenswille zurückgekehrt war. Er kletterte die Stiege hinunter und fragte die hagere Wirtin nach einem Bad. Sie zog die dichten, viel zu weit oben angesiedelten Augenbrauen noch weiter in die Höhe und betrachtete ihn von oben herab, als wollte sie prüfen, ob ein Bad tatsächlich vonnöten wäre. Sie schien zu dem Ergebnis zu kommen, dass es sich in seinem Fall nicht um ein übertriebenes Ansinnen handelte, bedeutete ihm mitzukommen und brachte ihn in eine muffige Kammer hinter dem Schankraum.

Zum Mittagessen bestellte Peter einen Eintopf mit Fleischeinlage und einen Krug Bier. Er saß rasiert und zufrieden am Fenster und überblickte den angrenzenden Platz, auf dem Blumen verkauft wurden, die in der Sonne unrealistische Farben annahmen. Zwischen den Blütentupfern schoben behaarte Männer Schubkarren vorbei, kleine Mädchen mit dicken Zöpfen rannten durcheinander, und alte Männer niesten in ihre Taschentücher. Es war ihm, als hätte er den Menschen, der er am Vortag noch gewesen war, niemals gekannt.

Er genoss den Anblick, und doch kehrten seine Gedanken immer wieder zum bestellten Eintopf zurück. Es dauerte lange, bis eine süßlich duftende Schale mit Gemüse, Kartoffeln und Schweinebauch vor ihm stand. Der Eintopf schmeckte so hervorragend und nahm Peter derart gefangen, dass er den Mann, der sich ihm gegenüber niedergelassen hatte, erst nach einer Weile bemerkte.

„Sie ist ein Borstentier, aber kochen kann sie“, sagte der Mann und gähnte.

Peter sah auf. „Etwas ganz Feines“, fügte der Fremde hinzu, „dieser Schweinebauch.“

Peter nickte brummend, löffelte die Suppe und musterte sein Gegenüber. Er war ein kleiner Mann mit breiter Nase, der den Eindruck erweckte, er wäre einer Erzählung über eine lange ausgestorbene Menschenrasse entsprungen. Das gewellte Haar stand über der hohen, breiten Stirn wirr vom Kopf ab und ging weiter unten übergangslos in einen dichten Bart der gleichen rotbraunen Farbe über. Über den glänzenden braunen Augen lag ein merkwürdiger rötlicher Schimmer, der Peter gleichermaßen faszinierte wie abstieß.

„Ihr seid nicht von hier“, stellte der Mann fest.

„Sieht man es mir an?“, fragte Peter.

„Ihr sprecht hervorragend Italienisch.“

„Sieht man es mir an?“

„Einer von hier wäre gesprächiger.“

Peter zuckte mit den Schultern.

„Einer von hier bewegt sich auch mehr. So als glömme stets eine kleine Glut in seinem Inneren, die ihn treibt, mit dem ganzen Körper zu sprechen, zu singen, zu tanzen, zu malen“, sagte der Fremde, nicht ohne ein paar demonstrative Gesten mit Händen und Armen zu vollführen.

„Gewiss“, sagte Peter. „Zu schade nur, dass diese Glut, die Ihr beschreibt, zuweilen dazu verleitet, den einen oder anderen Pinselstrich zu viel zu machen. Und die eine oder andere Figur gar zu ausladend zu gestalten.“

Der Italiener hob die stacheligen Augenbrauen und beugte sich vor.

„Guter Mann! Die italienische Malerei! Tizian! Michelangelo! Correggio!“, rief er und bewegte die Arme auf und ab wie eine aufgebrachte Ente. Er sah aus, als wäre er kurz davor, aufzuspringen und ihm an den Kragen zu gehen. „Ein Pinselstrich zu viel! Ihr müsst übergeschnappt sein!“

Peter lehnte sich zurück und leckte sich langsam die mit Schweinefett überzogenen Finger ab. „Ich bin ein großer Verehrer Tizians“, sagte er. „Mir ist niemand bekannt, der eine ähnliche bildliche Ausdruckskraft besäße. Und Michelangelo, nun was kann ich sagen, der unangefochtene Meister der fleischlichen Verschlingungen. Und ich würde den kleinen Finger meiner linken Hand dafür geben, um mit meiner Kunst Correggios sakrale Weichheit zu erreichen. Eine Weichheit, die nicht von dieser Welt ist.“

Sein Gegenüber atmete schwer aus.

„Mein Name ist Annibale Chieppo“, sagte er dann. „Ich bin vor ein paar Tagen aus Mantua angereist, wo ich im Dienste des Herzogs Vincenzo Gonzaga stehe. Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“

Noch während der Mann sprach, erhob sich Peter hastig und verbeugte sich.

„Verzeiht, dass ich Euch nicht als herzoglichen Gesandten erkannt habe“, sagte er schnell und verbeugte sich erneut.

„Vor einigen Jahren war es mir vergönnt, die Bekanntschaft Eures Herrn zu machen. In Begleitung meines Meisters Otto van Veen besuchte ich damals den Hof Alberts und Isabellas, wo der Herzog ebenfalls verweilte. Er hat sofort mehrere Gemälde bei Otto van Veen in Auftrag gegeben.“

„Gewiss, er ist ein großer Förderer der Malerei“, entgegnete Annibale. „Zuweilen fällt seine Gunst sogar auf einen Maler nicht-italienischer Herkunft. Allerdings kommt das aus offensichtlichen Gründen seltener vor.“

Peter faltete die Hände und hielt sich gewaltsam von einer Entgegnung ab. Einige Sekunden verstrichen, in denen sie sich musterten.

„Falls Ihr Werke Eurer Hand bei Euch tragt, könnte ich sie mir ansehen“, sagte Annibale dann. „Sie könnten dem Herzog gefallen. Ausgeschlossen ist das nicht.“

„In der Kammer.“ Peter wies mit dem Zeigefinger nach oben. Der Italiener nickte.

Peter erhob sich und bedeutete Annibale, ihm zu folgen. Er führte ihn die Stiege zur schimmeligen Kammer hinauf, wobei er sich zwingen musste, seinen Schritt zu mäßigen.

Als sie eintraten, verzog Annibale das Gesicht. Peter holte ein Gemälde und eine Zeichnung hervor, die er in einer Truhe verstaut hielt.

Das Gemälde zeigte die nackten Körper Adam und Evas vor dunklem Blattwerk. Van Veen hatte sich einst mit heruntergezogenen Mundwinkeln darüber gebeugt und gebrummt, dieses Werk könne beinahe als Stück seiner eigenen Hand durchgehen, so anständig sei es gelungen. Peter hatte vor Verwunderung für einen Moment das Luftholen vergessen.

Die Zeichnung war eine Kopie in Tinte nach einem Holzschnitt Tobias Stimmers und zeigte eine Audienz-Szene bei Kaiser Maximilian II. Annibale hielt die breite Nase dicht ans Papier, als wollte er die Qualität der Werke schnüffelnd erfassen, und ließ die Augen hin und her laufen.

„Ausgezeichnet“, sagte er dann. „Hier und dort sehe ich dieses und jenes, aber alles in allem ist Eure Hand nicht eben übel“, sagte er und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das seine Nase zusätzlich in die Breite zog.

„Dieses und jenes“, wiederholte Peter.

„Gewiss, mein flämischer Freund“, sagte Annibale, verbeugte sich kurz und verschwand.

Als Peter am folgenden Tag frierend aus der Frühmesse kam, wartete der Mann aus Mantua vor der Wirtschaft. Wie ein winziger Kobold stand er dort, mit hochgezogenen Schultern und einem vertrockneten Eichenblatt im wirren Haar. Wieso glaubte dieser Wicht, der gewiss niemals ein bedeutendes Werk erschaffen hatte, wenn überhaupt eines, er wüsste, was Malerei war?

„Seid gegrüßt“, sagte Annibale. Peter nickte ihm knapp zu und schritt schnell an ihm vorbei. Die Begegnung am Vortag war in keiner Weise nach seinen Vorstellungen verlaufen und seine Hoffnung auf eine Anstellung am Hof von Mantua war geschwunden.

„So wartet doch“, rief der Italiener und eilte ihm nach. „Ich habe ein Angebot für Euch.“

„Ich habe zu tun“, gab Peter im Gehen zurück.

„Es ist ein Angebot des Herzogs.“

Peter öffnete die Tür zur Wirtschaft, trat ein, genoss die Wärme und schritt auf einen leeren Tisch zu, den Verfolger auf den Fersen.

„So hört mich an“, bat Annibale.

Peter setzte sich und sah sich nach der Wirtin um, während der Italiener sich ihm gegenüber niederließ und zu reden begann. Der Herzog habe Verwendung für einen Mann wie ihn, dafür lege er, Annibale, seine Hand ins Feuer. Gonzaga lade ihn an den Hof, das heiße, er, Annibale, lade ihn an den Hof, aber das sei im Grunde ein und dasselbe. Der Herzog habe vollstes Vertrauen in seine Expertise, wenn es die Malerei betreffe, und deshalb sei es keine Vermessenheit, wenn er, Annibale, ihm an des Herzogs Stelle eine Stellung als Hofmaler anbiete.

Peter versuchte angestrengt, sich die Aufregung, die bei der Erwähnung des Wortes Hofmaler in ihn gefahren war, nicht anmerken zu lassen.

„Ich war der Auffassung, meine Arbeiten sagten Euch nicht zu“, sagte Peter und bemühte sich, seinen Tonfall sachlich zu halten.

„Ganz im Gegenteil! Ich sehe enormes Potenzial in Euch!“

Potenzial! Peter musste sich davon abhalten, die Augen gen Decke zu drehen.

„Wie viele Hofmaler hat der Herzog?“, fragte er, mit dem Geiste bereits bei dem Brief, den er der Mutter schreiben würde. Hofmaler!

„Reitet mit mir nach Mantua“, gab der Italiener zurück.

Peter streckte die Hand aus und griff nach dem Eichenblatt im Haar des Italieners, zog es heraus und zerbröselte es langsam zwischen Daumen und Zeigefinger.

3

Mantua, Juni 1600

Nach zwei Tagesritten landeinwärts stieg der Hof der Gonzagas plump in der Diesigkeit auf. Die Tristesse, die von diesem Ort ausging, traf Peter unvorbereitet, waren die Gonzagas doch für ausschweifenden Prunk und legendäre Feste bekannt.

Die Wachen betrachteten sie feindselig, und seine Beine schienen sich mit Blei zu füllen, während er mit Annibale durch das mächtige schwarze Tor schritt. Es war ihm, als schreite er durch eine Pforte ins dunkle Nichts, aus dem es kein Entkommen gäbe. Die Steine der Burg waren so schwarz wie die Bärte der Männer, das Gras so grau wie die Luft. Nichts deutete darauf hin, dass die Künste hier einen Platz haben könnten. Er schloss die Augen, und bemerkte, wie sich seine Lippen zu einem Ave Maria bewegten.

Als er die Augen wieder öffnete, war er im Himmel. Goldüberzogene Leuchter, weiße Seidenvorhänge, hundert Spiegel und tausend brennende Kerzen, die gewiss mehr Wert waren als er bei van Veen in einem Sommer verdient hatte, versetzten die Gänge der Gonzagas in sonnigen Glanz. Er sah Annibale an, der lächelte wissend, und Peter wandte sich geschwind wieder ab, um zu verhindern, dass das Gesicht des Italieners den Anblick verdarb. Annibale wechselte ein paar Worte mit einem groß gewachsenen Bediensteten im weinroten Mantel, an dem passend zur Innenausstattung der Gänge goldene Knöpfen blitzten und der sich daraufhin fleißig verbeugte, erst vor Annibale, dann vor Peter. Auf ein weiteres Wort Annibales setzte sich der Mann unter Verbeugungen in Bewegung, offensichtlich um Peter seine Kammer zu zeigen. Er war erleichtert, seinen Begleiter los zu sein und folgte dem roten Mantel mit beschwingten Schritten.

Die Kammer war ein kleiner Raum, aber die Einrichtung war ebenso prächtig wie die Gänge, durch die er zuvor geschritten war. Das hohe Himmelbett mit den gelben Vorhängen leuchtete golden im Schein der langen weißen Kerzen, die den Raum warm erhellten. Er merkte wie sich sein Mund unwillkürlich zu einem Lächeln aufschwang. Dies war durchaus ein Raum, in dem man Meisterwerke erschaffen konnte.

Nachdem er sich bei Hofe eingerichtet hatte, wollte er malen, nichts als malen. Doch die Tage vergingen, ohne dass man ihm einen Auftrag erteilte. Und als aus den Tagen Wochen wurden, musste er einsehen, dass er dem Herzog einerlei war.

So saß er entweder zeichnend in der Kammer, seinen privaten Bildideen nachhängend, oder er wanderte durch die Gänge auf der Suche nach Ablenkung. Einmal begegnete ihm dabei eine gesprächige Hofdame, die ihn zu seiner Verwirrung in ihre Kammer einlud, ein anderes Mal sah er ein paar ernsthafte, edel gekleidete Kinder, und er war versucht, sie aufzurütteln und mit ihnen durch die Gänge zu toben. Doch die wichtigste Begegnung war die mit Frans Pourbus. Zunächst sah er ihn nur von hinten, eine schlanke Gestalt mit beschwingtem Gang und aschblondem Haar, das bis in den Nacken reichte. Ohne zu wissen, wie ihm geschah, wurde sein Geist im selben Moment mit Bildern geflutet. Die vorbeieilende Schelde, der schlafende Marktplatz früh am Morgen, die flatternde Burg Steen, Nikolaas Rockox polterndes Lachen, die Augen der Mutter.

„Wartet!“, rief er der sich entfernenden Gestalt auf Flämisch hinterher.

Der junge Mann blieb sofort stehen und wandte sich ihm lächelnd zu. Peter stellte erstaunt fest, dass er ihn nie zuvor gesehen hatte. Er wusste nicht, was es war, aber etwas in der Art und Weise, wie er sich bewegte und kleidete, hatte Peter das unmissverständliche Gefühl gegeben, der Fremde und er wären vom gleichen Schlag.

Doch vielleicht hatte er sich getäuscht, vielleicht hatte er Altbekanntes und Vertrautes vermutet, wo nichts als Fremdes und Zufälliges war.

„Es ist immer eine Freude, einen Landsmann zu treffen“, sagte der junge Mann und hielt Peter die Hand hin. „Mein Name ist Frans Pourbus, Maler aus Antwerpen.“

Peter nahm seine Hand, lachte, nannte seinen Namen und musste sich zurückhalten, Frans vor Begeisterung nicht zu umarmen. Sie verbrachten den Rest des Tages miteinander, betrachteten Skizzen, trieben etwas Wein auf und redeten und tranken bis spät in die Nacht.

Es war Peter ein Rätsel, wie sie es angestellt hatten, sich in Antwerpen niemals über den Weg zu laufen. Er mochte Frans von der ersten Sekunden an, und das änderte sich auch nicht, als er herausfand, dass sein neuer Freund eine kindliche Liebe zur Porträtmalerei hegte, die Peter unverständlich war, waren die höfischen Personenabbilder doch kaum mehr als ein notwendiges Übel auf dem Weg zu Größerem. Frans trug, wo immer er auftauchte, eine unverwüstliche Fröhlichkeit mit sich herum, um die Peter ihn still beneidete. Es schien seinen Mundwinkel ein natürliches Bedürfnis, sich stets zu einem Lächeln hinaufzuziehen, während seine unnatürlich grünen Augen das warme Licht von Kronleuchtern verbreiteten.

Peters Neid erlosch erst, als er das unbeschwerte Wesen des Kollegen eines Tages in Zusammenhang mit dessen einfältiger Vorliebe für Porträts brachte, und ihm bewusst wurde, dass es seine Fröhlichkeit war, die es Frans niemals erlauben würde, etwas wahrhaft Großes zu erschaffen.

Frans machte ihn mit den höfischen Bräuchen bekannt, und viel wichtiger, mit den Gerüchten. Peter erfuhr, dass der Herzog nicht nur die Malerei förderte und eine umfangreiche Kunstsammlung mit Gemälden Tizians, Correggios und Raphaels besaß, sondern auch der Dichtung, dem Theater, der Wissenschaft und der Musik zugetan war. Frans behauptete, der Dichter Torquato Tasso habe bis zu seinem Tode bei Hofe gelebt, und der Physiker Galileo Galilei sei regelmäßiger Gast der Gonzagas. Claudio Monteverdi lebe sogar bei Hofe, sei aber selten gesehen, da er die meiste Zeit in seiner Kammer über Notenblättern brüte.

„Wenn man sich diesem Ort von außen nähert, würde man es niemals vermuten, aber es ist einer, der einen die Kürze des Lebens vergessen lässt“, sagte Peter, woraufhin Frans ihn rasch um eine Ecke zog und begann, auf ihn einzureden. „Niemals“, sagte er mit einem ernsten Gesicht, das an ihm unendlich komisch aussah, „erwähne in diesen Mauern die Endlichkeit.“

„Die Endlichkeit“, wiederholte Peter, ohne zu verstehen.

„Niemand erwähnt in Gonzagas Gegenwart den Tod. Es ist am besten du hältst selbst deinen Kopf frei von Gedanken an die Endlichkeit des Lebens. Einmal hat er einen Mann einkerkern lassen, weil er über einen fauligen Apfel gesprochen hatte. Ein anderes Mal hat er einem die Zunge abschneiden lassen, weil er sich danach erkundigt hatte, wie lange so ein Gaul in der Regel lebe.“

Peter nickte achselzuckend. Der Herzog schien der Überzeugung zu sein, der Tod würde ihn nicht holen, solange er so täte, als gäbe es ihn nicht. Er war offensichtlich nicht der hellste Geist.

Frans sah sich um. „Gonzaga ist außerdem ein großer Liebhaber der Frauen“, fuhr er fort, nun wieder grinsend. „Er hat sechs eheliche Kinder und wohl mindestens die gleiche Anzahl an Bastarden und ebenso viele Mätressen.“

„Wenn man den Gerüchten glaubt“, fügte Peter hinzu. Er hatte sich angewöhnt, den Dingen grundlegend skeptisch gegenüber zu stehen, insbesondere, wenn der menschliche Hang zur Übertreibung oder Geltungssucht im Spiel war.

Drei Tage später glaubte er jedoch mit einem Male jedes Wort. Er stand Gonzaga leibhaftig gegenüber, und seinen neuen Herrn umgab eine solche Aura von zur Schau gestelltem Dünkel und ungezügelter Fleischeslust, dass keine der Geschichten über ihn mehr unglaubwürdig erschien. Der Herzog trug den schweren Umhang und das seidene Gewand derart nachlässig, dass es wirkte, als hätte er sich in einen Kartoffelsack gewickelt. Dazu waren Unterarme, Hals und Nacken derart dicht mit kurzem schwarzen Haar bewachsen, dass Peter den Eindruck hatte, der Schöpfer hätte ursprünglich vorgehabt, aus Gonzaga einen Ochsen zu machen, und es sich in letzter Sekunde anders überlegt.

Als Peter ansetzte, um mit ihm über die Malerei zu sprechen – wie er es als Hofmaler für seine Pflicht hielt –, winkte der Herzog ab und rief, Peter müsse unbedingt seine Ställe besuchen. „Die prächtigsten Tiere, die Ihr je gesehen habt, das garantiere ich Euch! Von solchen Exemplaren könnt Ihr in Antwerpen nur träumen! In der ganzen Welt beneidet man uns. Brecht noch heute auf, in egal welchen Erdteil, und fragt nach den besten Rössern, die sich finden lassen. Sie werden sich winden und winden, aber schließlich werden sie es zugeben: Wer die besten, schönsten, stärksten Pferde sucht, der muss nach Mantua reisen. Wir haben die prächtigsten Gäule!“, rief er aus und lachte. „Und die prallsten Weiber!“, fügte er hinzu und lachte lauter.

Auf Peters Frage nach seinen Aufträgen für die folgenden Wochen, zuckte der Herzog mit den Schultern und schrie nach Annibale.

„Ich möchte, dass Ihr mich zur Medici-Hochzeit nach Florenz begleitet, alles andere wird Euch Annibale unterbreiten“, sagte er und entließ ihn mit einer desinteressierten Geste der Hand.

Angesichts der vielen Frauengeschichten des Herzogs hatte Peter beinahe vergessen, dass Vincenzo Gonzaga in zweiter Ehe mit Eleonore de Medici verheiratet war. Ihre jüngere Schwester Maria würde im nächsten Monat den König von Frankreich heiraten.

Annibale zog seine Nase in die Breite und erteilte Peter den Auftrag über drei Kopien für die fürstliche Sammlung und einen weiteren über ein Porträt einer Dame fragwürdiger Herkunft. Peter atmete erleichtert aus, verbeugte sich und verließ den Saal, um sich an die Arbeit zu machen. Es würden keine aufregenden Werke sein, aber sie boten doch ansatzweise die Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen.

Er aß kaum in den folgenden Wochen. Es war ihm, als lebte er von den beißenden Dämpfen, die seine Farben verströmten. Kein Hungergefühl wollte sich einstellen. Erst als die Kopien schließlich zum Trocknen in einem der Pavillon-Gärten des Hofes standen, genehmigte er sich eine Pause und ein gebratenes Salbei-Huhn.

Es dauerte lange, bis er den Raum gefunden hatte, in dem die Dame, die er für den Herzog zu porträtieren hatte, ihn erwartete. Zweimal hatte ein Diener ihm den falschen Weg gewiesen, und mit dem Skizzenmaterial unter dem Arm schritt er zunehmend ärgerlich die herzoglichen Gänge entlang. Als er bereits aufgegeben hatte und sich auf den Weg machte, um Annibale zu suchen, sah er endlich das Erkennungszeichen. Die kurzstielige rote Tulpe, die vor der Tür in einer winzigen Vase stand.

Er klopfte, eine Frauenstimme rief „Herein“, und er trat ein. Sie war eine junge Frau mit intakten weißen Zähnen und langem erdig-braunem Haar. Er war sofort überzeugt, es müsse sich um eine der prallen Mätressen des Königs handeln. Sie saß rauchend inmitten der lichtdurchfluteten Kammer, die mit vier deckenhohen Sprossenfenstern ausgestattet war. Peter stellte sich vor. Sie wies auf einen Schemel und fragte mit heller, weicher Stimme und Augen voll von zur Schau gestellter Melancholie, ob er jemals auf Sizilien gewesen sei. Er setzte sich kopfschüttelnd.

„Mein Großvater würde kein Wort mit Euch wechseln“, sagte sie und blies ihren Rauch in einer dünnen, taumelnden Säule gen Decke. Er fragte nach ihrem Namen. Sie sah ihn schweigend aus den Augenwinkeln an.

Während er sein Material ordnete und mit seiner Skizze begann, fing sie an zu erzählen, von irgendeinem winzigen Dorf auf Sizilien, von dem er noch nie gehört hatte, das aber offenbar die feinsten Weine und die treusten Menschen hervorbrachte. Peter schwieg, eingenommen von ihren fleischigen Armen und dem Burgunderton ihrer Wangen. Wer von dieser Frau kein anständiges Bild auf die Leinwand bringen konnte, war kein Maler. Er hätte diese Haut gern berührt, wäre mit den Fingern durch das wilde, volle Haar gefahren, hätte gern ihre Brüste gesehen. Einem solchen Körper musste man das Recht einräumen, sich auf der Leinwand zu entfalten. Wie sonst konnte er vom Wesen berichten, das er beherbergte. Nur wenn er frei war, erzählte er von sizilianischen Weinbergen und feuerfesten Familienbanden.

Die junge Frau missverstand seinen Blick.

„Ich bin des Herzogs Mädchen“, sagte sie und tätschelte mitleidig seine Hand. Peter errötete und vertiefte sich in seine Skizze.

Bei ihrem zweiten Treffen versammelte er die zuvor angefertigten Kohleskizzen auf den Dielen zu seinen Füßen. Im Vergleich zum Modell wirkten sie blass und ungewöhnlich unzureichend. Er wählte eine Skizze aus, auf der die Italienerin den Betrachter aus den Augenwinkeln ansah, als wäre sie dabei abzuschätzen, ob er jemals auf Sizilien gewesen war. Doch sobald er seine Ölskizze begonnen hatte, würdigte er das Papier zu seinen Füßen keines Blickes mehr.

Zwischen dem zweiten und dem dritten Treffen vergingen fünf Tage, in denen Peter ungeduldig und ziellos umherlief. Als es endlich soweit war, spannte er eine Leinwand auf, rührte Farben an und zog einen himmelblauen Kittel über, von dem er glaubte, dass er ihm schmeichelte. Er nahm zwei Staffeleien mitsamt der Kohle- und Ölskizzen unter den Arm, den Kasten mit den Farben und Pinseln in die Hand, und machte sich auf den Weg. Anstatt der roten fand er vor ihrer Kammer eine gelbe Tulpe vor. Als er eintrat und sie sah, war er überzeugt, sie wäre seit der letzten Begegnung noch schöner geworden.

„Wechselt sie ihre Farbe je nach Eurer Stimmung?“, fragte er, auf die Tür deutend.

„Ihr kommt spät“, sagte sie.

„Antwortet Ihr niemals auf eine Frage?“

Sie reckte das Kinn hoch. „Großvater Alberto sagt, gelb ist die edelste aller Farben, denn sie spiegelt die Sonne, die auf unsere Felder scheint.“

„Ein kluger Mann“, sagte Peter, während er die Ölskizze auf der einen Staffelei und die aufgespannte Leinwand auf der anderen platzierte. Als er aufblickte, sah er sie zum ersten Mal lächeln. Ihre Zähne waren nicht so perfekt, wie er geglaubt hatte, wurde ihr Lächeln im linken Mundwinkel doch von einer auffälligen Zahnlücke unterbrochen. Und trotzdem sah er vollkommene Schönheit, welche die Traurigkeit für einen Augenblick aus ihrem Blick verbannte.

Er begann mit den Vorarbeiten, und sie mit einer Geschichte über Großvater Alberto und einen Stier, der offenbar in dessen Vorgarten eingedrungen war und die Bettlaken von den Leinen gerissen hatte. Mitten in der Erzählung begann sie, die Schnüre am Ausschnitt ihres Kleides zu lösen. Einen Moment später sah er ihre Brüste, spitz und weiß, und er wusste nicht, was er zuerst tun sollte. Rasch schob er die Staffelei weg, griff nach einem leeren Blatt und begann zu zeichnen. Er musste diese Gelegenheit nutzen, um sie aus jeder denkbaren Perspektive aufs Papier zu bringen. Immer wieder sah er zur Tür, während das sizilianische Mädchen redete und rauchte. Wie ein Naturforscher, der einen seltenen Schmetterling untersucht, kreiste er um sein Modell. Ihre Brüste hatten keine Ähnlichkeit mit denen, die er an antiken Statuen gesehen hatte. Sie waren nicht nur spitzer, sondern besaßen auch größere Brustwarzen, die wie ein leicht schielendes Augenpaar in unterschiedliche Richtungen wiesen. Die rechte Brust war etwas voller als die linke. Dafür besaß die linke unter der Brustwarze einen Halbkreis aus vier kleinen Muttermalen.

Peter stellte sich unwillkürlich ihre Mutter vor, mit dem gleichen Muster auf der Brust, dann ihre Tanten, ihre Schwestern, und schließlich die gesamten weiblichen Einwohner ihres Heimatdorfes. In seiner Vorstellung trug schließlich ganz Sizilien die halbmondförmigen Male unter der linken Brustwarze.

„Ich werde Euch auf ewig dankbar sein“, sagte er, als sie begann, sich wieder zu bekleiden. Sie nickte und sagte, sie heiße Giulia.

4

Norditalien, Herbst 1600

In den folgenden Monaten erteilte der Herzog ihm einige recht angenehme Aufträge außerhalb von Mantua. Mehrmals reiste er nach Florenz und Genua, um Kopien für die Sammlung der Gonzagas anzufertigen. Und immer blieb noch etwas Zeit, um die großen Werke vor Ort zu studieren und private Skizzen anzufertigen.

Die Hochzeit Maria de Medicis mit dem französischen König dagegen war ein höchst nutzloses Spektakel, und ein skurriles obendrein. Der zum Katholizismus konvertierte Protestant Heinrich, sechsundvierzig Jahre alt, hatte eingewilligt, die schwer vermittelbare fünfundzwanzigjährige Maria zu ehelichen, hielt es aber nicht für nötig, zu seiner Hochzeit zu erscheinen und ließ sich durch Marias Onkel, den Großherzog der Toskana, vertreten. Peter war es gestattet, die Zeremonie aus der Ferne zu beobachten, war aber nicht zu den anschließenden Feierlichkeiten geladen.

Zurück in Mantua stellte der Herzog ihn zusammen mit Frans ab, um weitere Porträts für die Galerie der Schönheiten anzufertigen. Es war nicht eben schlecht, an der Seite des stets lächelnden Freundes zu arbeiten, umgeben von schönen Weibsbildern. Doch er sah Giulia nicht mehr, und er stellte fest, dass die anderen Modelle, obwohl hübsch anzuschauen, nicht die gleiche Wirkung auf ihn ausübten wie das sizilianische Mädchen. Er hatte sich mehrmals dabei ertappt, wie er in den langen Gängen der Gonzagas Ausschau nach ihr hielt, und einmal hatte er von ihr geträumt. Wenn er dem Herzog begegnete, musste er Bilder aus seinem Kopf verdrängen, die den ochsenartigen Mann zusammen mit Giulia zeigten.

Bald begann die Arbeit, ihn zu langweilen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er so etwas wie Antriebslosigkeit und Ermattung in sich aufsteigen, ohne dass er körperlich müde war.

Er sei nicht nach Italien gekommen, um Porträts anzufertigen, sagte er zu Frans, als sie malend nebeneinander in der lichtdurchfluteten herzoglichen Bibliothek saßen. Er sprach offen, weil er wusste, der gut gelaunte Freund würde ihm die nicht zu verbergende Verachtung in der Stimme vergeben.

„Ich will malen, nicht arbeiten“, sagte er und seufzte.

„Man müsste Gonzaga darauf hinweisen, wie wichtig anständige Kopien der großen Werke der Antike sind, wenn man im Begriff ist, eine bedeutende Sammlung aufzubauen“, sagte Frans, während er mit einem winzigen Pinsel die letzten Details einer blassen Rothaarigen korrigierte. „Du musst nach Rom.“

Rom. Allein der Klang dieses Wortes flößte Peter auf der Stelle neue Kraft ein. Er setzte sich auf und beugte sich vor.