Pink Christmas 10 - Marc Förster - E-Book

Pink Christmas 10 E-Book

Förster Marc

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Beschreibung

Nun zum zehnten Mal. Auch in diesem Jahr nun wieder viele unterhaltsam, spannende und sexy Geschichten von unseren Autoren Und vielleicht haben einige Leser ja bemerkt, dass wir mit dem Coverfoto nun einen großen Schritt gemacht haben: Es ist nicht mehr ein netter, gutaussehender junger Mann zu sehen – sondern gleich drei! – und dazu noch eine nette junge Frau. Wir wollen damit die große, breite Leserschaft widerspiegeln. Denn unsere Weihnachtsgeschichten werden längst nicht mehr nur von der Gay Community gelesen, sondern erfreuen sich einer breiten Leserschaft queer durch alle Gruppen. Geblieben ist allerdings das gay Thema, dass alle Geschichten beherrscht. Und noch eine Änderung: Nicht alle Geschichten haben zwangsläufig Weihnachten zum Thema. Viele unserer Autoren hatten sich diese Öffnung gewünscht. Grade in den aktuellen „Corona“ Zeiten, die hoffentlich zum Jahresende überstanden, oder zumindest beherrschbarer geworden sind, gibt es genug zu erzählen.

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Seitenzahl: 412

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PINK CHRISTMAS 10

Etwas andere (Weihnachts)geschichten

 

 

Bisher erschienen im Himmelstürmer Verlag:

Pink Christmas

ISBN print 978-3-86361-076-0 Herbst 2011

Pink Christmas 2

ISBN print 978-3-86361-184-2 Herbst 2012

Pink Christmas 3

ISBN print 978-3-86361-343-3 Herbst 2013

Pink Christmas 4

ISBN print 978-3-86361-421-8 Herbst 2014

Pink Christmas 5

ISBN print 978-3-86361-497-3 Herbst 2015

Pink Christmas 6

ISBN print 978-3-86361-588-8 Herbst 2016

Pink Christmas 7

ISBN print 978-3-86361-665-6 Herbst 2017

Pink Christmas 8

ISBN print 978-3-86361-729-5 Herbst 2018

Pink Christmas 9

ISBN print 978-3-86361-792-59Herbst 2019

 

Alle Bücher auch als E-book

 

Himmelstürmer Verlag, 31619 Binnen

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de E-mail: [email protected]

Originalausgabe, September 2020

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-861-2

ISBN epub 978-3-86361-862-9

ISBN pdf: 978-3-86361-863-6

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Matt Grey Sag niemals nie

Welches Hemd soll ich anziehen? Das Graue oder das Blaue? Ich kann mich wieder einmal nicht entscheiden. Schließlich wähle ich ein T-Shirt und eine Jeans. Dann blicke ich mich kurz im Spiegel an und bin zufrieden mit meinem Ebenbild. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass Marius mich gleich abholen wird. Ich bin bereit und freue mich auf meinen Freund, aber auch ebenso sehr auf den neuen Kinofilm aus dem Hause Marvel.

In diesem Moment meldet sich mein Smartphone. Eine Nachricht erreicht mich. Vermutlich sitzt mein armer Freund in einem Stau und will mich vorwarnen, dass wir zu spät zur Kinovorstellung kommen könnten. Ich kenne Marius. Wie immer wird er zu spät losgefahren sein! Ich lese also seine Nachricht und erstarre.

„Carsten! Es tut mir leid, ich komme nicht. In den letzten Wochen hatte ich das Gefühl, dass wir uns immer mehr voneinander entfernt haben. Ich brauche nun etwas Zeit für mich. Bitte melde dich nicht bei mir! Ich lasse von mir hören, wenn ich weiß, wie es weitergehen soll. Tschüss, Marius“

Ich lasse mein Telefon los und es schlägt ziemlich hart auf dem Boden auf. Aber das nehme ich gar nicht zur Kenntnis. Ich bin wie betäubt und kann nicht glauben, was ich gerade gelesen habe. Marius will eine Auszeit. Das kommt wirklich überraschend. Noch letztes Wochenende war er bei mir und hat auch in meinem Bett übernachtet. Gut, wir hatten keinen Sex. Aber wir sind nun schon über acht Jahre zusammen. Da wird man wohl nicht jede Woche mit dem Partner Sex haben müssen. Gestritten haben wir eigentlich nie, aber auch nie wirklich über unsere Wünsche diskutiert. Marius ist eher der schweigsame Typ, der all seine Probleme nie wirklich mit mir geteilt hat. Vielleicht hätte ich öfters nachfragen sollen. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, warum mein Freund gerade heute Schluss mit mir macht. Okay, er hat nichts von einem Beziehungsende geschrieben. Es ist nur eine vorübergehende Pause.

Soll ich ihm eine Antwort senden? Soll ich eine Aussprache verlangen? Soll ich ihn anflehen, sofort zu mir zu kommen?

Nein, dazu bin ich zu stolz. Ich bin im Sternzeichen Stier geboren und habe deshalb einen sogenannten Sturkopf. Wenn der Herr Marius eine Pause wünscht, dann soll er sie kriegen. Ich werde mich nicht bei ihm melden. Wenn er etwas von mir will, weiß er, wo er mich findet. Ich bin sicher, schon nächste Woche wird er zu Kreuze kriechen und mich anflehen, ihn wieder zurückzunehmen. Aber dann lass ich ihn zuerst ein paar Tage schmoren, bevor ich ihm die Absolution erteile. Mit mir kann man so nicht umgehen. Nein, mein Freundchen, ich werde dir schon zeigen, wer hier das Sagen hat!

 

Drei Jahre später

Ich sitze gelangweilt an unserem kleinen Zweiertisch und blicke auf die wogende Masse der tanzenden Kerle, die den Dancefloor bevölkern.

„Na, hast du schon ein interessantes Objekt gesichtet?“, fragt mich mein bester Freund Urs und ich schüttle den Kopf und erkläre ihm zum wohl schon tausendsten Male, dass ich keinen Freund suche.

„Vergiss doch diesen Arsch von Marius!“, findet Urs. „Dem solltest du wirklich nicht nachtrauern. Du bist nun schon drei Jahre Single, während dein Freund schon zwei Wochen nach eurer sogenannten Pause wieder in festen Händen war.“

„Erwähne Marius nie wieder in meiner Gegenwart! Er hat mir das Herz gebrochen. Ein weiteres Mal wird mir das nicht passieren. Ich brauche und will keinen Freund mehr. Wozu auch? Ich bin ganz gerne allein. Nie wieder werde ich mich an einen Kerl binden!“

Ich erhebe mich schwerfällig, beuge mich aber nochmals zu Urs herunter und knurre:

„Außerdem bin ich nun schon 48. Wer will überhaupt einen Opa als Freund? Mich schaut sowieso kein Kerl mehr an. Schau dir das junge Gemüse auf der Tanzfläche an! Für die bin ich unsichtbar.“

Mit diesen Worten verlasse ich meinen Kumpel und stapfe auf den Dancefloor zu, wo gerade eine Hymne von Lady Gaga die Tanzwütigen in Ektase bringt. Ich kämpfe mich durch die schwitzenden Körper und beginne schließlich ebenfalls zum donnernden Rhythmus meinen Körper zu bewegen. Zuerst halte ich meine Augen geschlossen, um mich besser dem Song hingeben zu können. Doch dann stoße ich etwas unsanft mit jemandem zusammen und reiße meine Augen auf. Ein Lederkerl schüttelt wenig begeistert den Kopf und wendet sich wieder von mir ab. Auch ich drehe mich um und starre in das Gesicht eines jungen Mannes, der wie ich mit geschlossenen Augen tanzt. Er ist ein wenig größer als ich, sehr schlank, hat hellbraunes, kurzes Haar und lächelt selig vor sich hin. Ein Schauer rinnt mir den Rücken herunter. Aber nicht vor Entsetzen, sondern vor Ehrfurcht! Dieser Kerl ist wunderschön. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so schönen Mann gesehen zu haben. Okay, mein Ex war auch recht ansehnlich, aber nicht zu vergleichen mit diesem Exemplar. Während ich über die Tanzfläche schwebe und mein Herz in meiner Brust hämmert, ruht mein Blick unentwegt auf dem Jüngling. Dann öffnet dieser seine blauen Augen und mustert mich für drei Sekunden. Ein kleines Lächeln erscheint in seinem Gesicht und ich glaube sogar ein Zunicken seinerseits bemerkt zu haben. Bevor ich aber irgendwie darauf reagieren kann, dreht er sich um und verschwindet in der Masse.

Soll ich ihm folgen? Aber wie soll ich ihn überhaupt ansprechen? Was, wenn an der Bar sein Freund auf ihn wartet? Wer so gut ausschaut, muss in festen Händen sein. Und wenn er tatsächlich noch Single wäre, würde er wohl kein Interesse an einem alten Knacker wie mir haben. Meine Chancen sind also gleich null. Deshalb bleibe ich noch eine Weile auf der Tanzfläche, bevor ich Urs aufsuche und mich auf dem freien Stuhl neben ihm niederlasse.

„Und fündig geworden?“ Urs grinst mich an.

„Vielleicht!“

„Was heißt denn vielleicht? Hast du jemanden kennengelernt?“

Urs ist völlig aus dem Häuschen und will natürlich mehr wissen. Ich spanne ihn nicht auf die Folter, sondern erzähle ihm, während mein verträumter Blick die Diskokugel streift, dass ich gerade den niedlichsten Typen der ganzen Welt beim Tanzen entdeckt habe.

„Wie heißt er?“, will Urs sofort wissen. Ich jedoch zucke mit der Schulter und gestehe Urs, dass ich kein Wort mit dem unbekannten Schönling gesprochen habe.

„Aber“, sage ich mit feierlichem Ton, „sollte ich irgendwann doch nochmals einen Freund haben, dann wird es dieser hübsche Mann sein. Keinem anderen Kerl werde ich mein Herz schenken.“

Und meine Worte tönen wie ein Schwur, während Urs mich mitleidig anlächelt.

 

Fünf Wochen später

Es ist Samstagabend und ich sitze an der Bar in meinem Lieblingsclub. Noch sind nur wenige Gäste anwesend. Urs hat mir vor fünf Minuten eine SMS geschickt, dass er sich um mindestens eine Stunde verspätet, weil er sich nach dem Abendessen noch kurz hingelegt hat und dabei eingeschlafen ist. Ich blättere gelangweilt in der neusten Ausgabe des Display, einer schwulen Zeitschrift, die monatlich erscheint. Ich habe mir die Ausgabe beim Eingang geschnappt, um mich irgendwie zu beschäftigen. Die Minuten verrinnen äußerst träge. Immerhin ist der Sound gut und ich wippe mit meinem Fuß zu einem Klassiker der Backstreet Boys.

Plötzlich bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass sich eine Person auf dem Barhocker links von mir niederlässt. Warum muss sich der Typ so nah neben mich setzen? Es gibt doch noch so viele freie Plätze. Ich fühle mich eingeschränkt und will dem Eindringling einen abschätzigen Blick zuwerfen, den ich mir aber sofort spare. Denn neben mir sitzt der junge Mann, der mich vor fünf Wochen auf der Tanzfläche so begeistert hat. Was für ein unwahrscheinlicher Zufall! Jedes Wochenende war ich hier im Club, immer in der Hoffnung, diesen Jüngling wiederzusehen. Aber immer ohne Erfolg! Und nun setzt er sich direkt neben mich. Fortuna scheint mir heute Abend hold zu sein. Ich schiele weiterhin zu ihm hinüber. Er hat sich beim Eingang desselben Magazins bedient wie ich und blättert darin. Bei einem Artikel über Madonna hält er inne und beginnt zu lesen. Ob er Madonna auch super findet? Ich jedenfalls stehe voll auf diese Sängerin und kenne alle ihre Songs und sämtliche Details aus ihrem erfolgreichen Leben. Damit hätte ich ein passendes Gesprächsthema. Aber wie soll ich ihn am besten ansprechen? „Findest du Madonna auch toll?“ „Was hältst du von Madonnas neuem Album?“ „Magst du lieber die alten oder neuen Songs der begnadeten Sängerin?“

Bevor ich mich entscheiden kann, welche Frage sich eignet, blättert der hübsche Bengel weiter und verlässt den Artikel, um nun die Veranstaltungshinweise der nächsten Wochen zu studieren. Längere Zeit ruht sein Blick auf dem Inserat, das für die nächste Black Party Werbung macht. Ich überlege mir gerade eine passende Frage dazu, die ich ihm stellen könnte, als der Barkeeper erscheint und den neuen Gast nach seinem Wunsch fragt. Soll ich mich einmischen und dem Barkeeper erklären, dass der bestellte Drink auf meine Rechnung geht? Dann muss sich der junge Typ automatisch mit mir befassen. Mindestens ein Dankeschön würde er mir schulden und ich könnte ihn ziemlich leicht in ein Gespräch verwickeln. Aber vielleicht hält er mich deswegen für einen Sugar Daddy, der auf Jungs abfährt, und sucht schleunigst das Weite. Also keine gute Idee!

In der Zwischenzeit ist die Bestellung aufgegeben und der Barkeeper beginnt das gewünschte Getränk herzustellen. Orangensaft und Tequila verwendet er dazu. Jetzt ist meine Stunde gekommen.

„Mmmmh, das sieht lecker aus!“, wende ich mich an meinen Sitznachbarn. „Was für ein Drink ist das?“

„Das ist ein Tequila Orange“, erklärt mir der eifrige Barkeeper, während die Person, an welche ich eigentlich die Frage gerichtet habe, gar nicht reagiert, sondern weiterhin einen Artikel im Display studiert.

„Willst du auch einen?“, möchte der Barmann nun von mir wissen und ich nicke rasch, denn dann habe ich die Chance, dem Mann meiner Träume zuzuprosten. In der Zwischenzeit wird auch der Barhocker rechts von mir von einem Kerl, der noch mehr Jahre als ich auf dem Buckel hat, in Beschlag genommen. Ziehe ich heute Abend alle Männer wie ein Magnet an?

Das Opfer meiner Begierde hat nun seinen georderten Drink bekommen, nickt dem Barkeeper dankend zu und vertieft sich bereits wieder in die Lektüre. Gleich werde auch ich mein Getränk serviert bekommen. „Schau mal, was für ein Zufall! Wir haben denselben Drink. Komm, lass uns anstoßen! Ich bin der Carsten. Wie ist dein Name?“ Das werden meine Worte sein. Es ist nur noch eine Frage von Sekunden. Schon stellt der Barkeeper das Glas auf die Theke vor mich. Ich greife danach und eine dunkle Gestalt drängt sich zwischen mich und meinen Jüngling.

„Hallo, Carsten! Sorry für die Verspätung! Was? Du trinkst Alkohol, obwohl du mit dem Auto in die Stadt gefahren bist? Ich habe gemeint, du seist in dieser Angelegenheit absolut strikt.“

Urs! Warum muss mein Kumpel gerade jetzt auftauchen? Er hätte sich ruhig noch eine Stunde Zeit lassen können. Jetzt hat er mir diesen Versuch ebenfalls vereitelt. Ich murmle ein paar Begrüßungsworte, während ich versuche meinen unbekannten Liebling im Auge zu behalten, was mir aber recht schwerfällt, weil Urs kein Stückchen zur Seite weicht und mir nun haarklein erzählen will, was ihm gestern im Büro widerfahren ist. Dabei redet er ausgesprochen laut, um die Musik zu übertönen. Ich höre aber nur mit halbem Ohr zu, denn mein Hauptinteresse liegt auch weiterhin an dem noch immer namenlosen, jungen Mann. Doch diesem wird das Gequatsche von Urs zu viel. Er greift sich sein Glas und die Zeitschrift und flieht in den hinteren Teil des Clubs, wo ich ihn nicht mehr sehen kann.

Verärgert wende ich mich an meinen Kumpel: „Was soll denn das? Warum hast du dich in meinen Flirtversuch eingemischt? Jetzt ist der niedliche Kerl wegen dir abgehauen.“

„Ich stehe wohl auf der Leitung. Wen soll ich vertrieben haben?“

„Na, den jungen Bengel, der neben mir gesessen ist.“

„Der ist mir gar nicht aufgefallen. Habe ich mich in euer Gespräch eingemischt? Das tut mir leid.“

„Wir haben noch nicht miteinander gesprochen. Aber ich wollte gerade einen Anfang starten, als du dich zwischen uns gestellt hast.“

„Wer ist denn dieser Kerl? Sollte ich ihn kennen?“

„Das ist oder war der Typ, der mir so gut gefallen hat. Erinnerst du dich nicht mehr? Vor fünf Wochen habe ich ihn auf der Tanzfläche entdeckt und mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ich habe dir doch alles haarklein erzählt.“

„Kann schon sein!“, murmelt Urs und zuckt mit der Schulter. „Wenn er dir so wichtig ist, dann folg ihm doch!“

„Und was soll ich sagen?“

„Sprich ihn an! Frag ihn, ob er öfter hierherkommt!“

„Ich will ihm aber nicht hinterherrennen wie ein Fuchs dem fliehenden Huhn.“

„Dann warte noch ein paar Minuten! Wo bin ich überhaupt stehengeblieben? Ach ja, mein Chef hat gestern Nachmittag …“

Während Urs also wieder den Faden seiner Geschichte aufnimmt und ununterbrochen redet, kreisen meine Gedanken nur um die vergebene Chance. Ich ärgere mich über mich, aber auch über Urs. Als er endlich nach geschlagenen zehn Minuten seinen Bericht beendet hat, ist mein Glas leer und ich erhebe mich, um mich auf die längst fällige Suche zu machen.

„Viel Glück!“, ruft mir mein Kumpel hinterher. In der Zwischenzeit hat sich der Club merklich gefüllt. Die ersten Männer tanzen bereits. Ich blicke in jede Ecke. Meine Augen suchen den Dancefloor ab. Ich begebe mich sogar aufs Männerklo. Aber meine Beute ist verschwunden. Der junge Kerl hat sich scheinbar in Luft aufgelöst. Dreimal schlendere ich durch sämtliche Räumlichkeiten. Nichts! Er ist weg. Vielleicht hat ihn sich ein anderer Jäger geschnappt und die beiden sind bereits auf dem Weg in ein anderes schwules Etablissement der Stadt. Ich breche also meine Suche ab und kehre zu Urs zurück. Während er mir eine weitere Story über seinen Chef erzählt, bin ich völlig frustriert und bestelle einen weiteren Tequila Orange.

 

Ein Monat später

Ich lasse den Eingang keine Sekunde aus den Augen. Sobald jemand den Club betritt, erstarre ich, kneife die Augen zusammen, um den Ankömmling besser zu erkennen, und hoffe, dass es sich um meinen Traummann handelt. Aber jedes Mal seufze ich enttäuscht auf und wende meinen Blick desinteressiert von den Kerlen ab, die wie ich den Samstagabend hier in diesem Tanzschuppen für schwule Männer verbringen wollen. Die letzten drei Samstagabende wurde ich bitter enttäuscht. Der junge Mann, den ich einfach nicht vergessen kann, tauchte nicht auf. Ich bin sogar immer allein erschienen und habe Urs nicht gefragt, ob er mich begleiten wolle, aus Angst, dass er mir erneut die Chance vermasselt, Worte mit dem Fremden, der mein Herz erobert hat, auszutauschen.

Ich bestelle bereits mein zweites Glas Cola und beginne daran zu zweifeln, meinem Traummann nochmals zu begegnen, als dieser den Raum betritt. Zwar ist sein Haar noch kürzer geworden und er trägt ein rotes Shirt und eine weiße Jeans. Aber ich erkenne ihn sogleich. Er blickt sich kurz um, und ich bin mir absolut sicher, dass seine Augen für einen kurzen Moment auf mir ruhen, bevor er mit federnden Schritten in Richtung des Herrenklos verschwindet. Jetzt oder nie! Ich springe auf, lasse sogar mein Getränk auf der Theke zurück und eile in dieselbe Richtung, die der junge Mann eingeschlagen hat. Mein Herz hämmert wie verrückt. In diesem Augenblick aber werde ich an der Schulter gepackt und zurückgehalten.

„Hallo, Carsten! Lange nicht mehr gesehen!“

Das darf doch nicht wahr sein. Marius, mein Ex, steht grinsend neben mir. Seit unserer Trennung vor drei Jahren habe ich kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Wenn er auf einem Event aufgetaucht ist, welches ich ebenfalls besucht habe, bin ich ihm konsequent aus dem Weg gegangen oder habe den Anlass sogar schnellstens verlassen.

„Wie geht es dir?“, fragt er mich und grinst mich fröhlich an.

„Danke der Nachfrage! Bis vor zwei Sekunden ging es mir prima. Aber jetzt …“

„Hast du mir immer noch nicht verziehen? Du warst schon immer sehr nachtragend. Es tut mir leid, dass ich dich damals so plötzlich verlassen habe.“

„Du hast dich von einem Tag auf den anderen mit einer knappen Nachricht verabschiedet. Das war wirklich das Allerletzte.“

„Ich weiß. Aber mir wurde plötzlich alles zu viel. Wir hatten uns irgendwie auseinandergelebt und ich brauchte eine dringende Pause.“

„Eine Pause? Zwei Wochen später habe ich dich in Ottos Bar gesehen, wie du mit deinem neuen Lover herumgemacht hast. Wie heißt er schon wieder? Rudolf?“

„Du meinst Rolf.“

„Wie auch immer sein Name ist, du hast dich einzig und allein wegen ihm von mir getrennt. Du brauchtest gar keine Pause, denn du hattest bereits einen neuen Partner. So, und nicht anders ist es abgelaufen.“

„Es tut mir leid“, wiederholt Marius etwas schuldbewusst, „aber ich habe Rolf wirklich erst während unserer Auszeit getroffen.“

Ich schüttle nur den Kopf. Er kann mir erzählen, was er will, aber ich glaube ihm kein Wort. In diesem Augenblick kommt der hübsche Kerl wieder aus dem Klo und schlendert an uns vorbei. Wieder meine ich, dass er mich kurz mit seinen blauen Augen streift. Liebend gerne möchte ich die Diskussion mit Marius abbrechen. Ich habe ihm wirklich nichts mehr zu sagen. Also wende ich mich mit einem „Tschüss“ ab, aber Marius gibt nicht auf.

„Carsten, lass uns diese Sache endgültig aus der Welt schaffen! Es wäre doch schön, wenn wir wieder normal miteinander reden könnten. Immerhin waren wir ein paar Jahre zusammen und hatten trotz allem eine gute Zeit miteinander.“

„Ich habe unsere Trennung schon längst verdaut. Aber ich brauche deine Freundschaft beim besten Willen nicht mehr. Geh zu deinem Rudolf und lass mich einfach in Ruhe!“

„Rolf! Er heißt Rolf, und wir haben uns vorgestern getrennt.“

Soll ich jetzt Mitleid mit meinem Ex-Freund haben? Nein, ganz sicher nicht! Soll er nur an Herzschmerz leiden. Das hat er mir auch angetan. Also ist es nur gerecht, wenn er selber spürt, wie schlimm eine Trennung ist. Ich sehe, wie eine einzelne Träne über Marius‘ Wange gleitet. Nein, ich habe kein Mitleid mit ihm! Marius schnieft und schaut mich mit einem betrübten Hundeblick an.

„Ich bin heute in den Club gekommen, weil ich es zuhause nicht mehr ausgehalten habe. Mir ist im wahrsten Sinne des Wortes die Decke auf den Kopf gefallen. Ich brauche jemanden zum Reden.“

„Schau dich um! Hier wimmelt es nur so von Männern, die dir bestimmt gerne ihr Ohr leihen. Aber ich bin der falsche Ansprechpartner. Mich interessiert deine Liebeskrise mit Rudolf überhaupt nicht.“

Ich gebe zu, ich bin etwas gar gemein zu Marius. Aber mir fehlt die Lust, jemanden zu trösten, der mich vor drei Jahren eiskalt abserviert hat. Ich versuche mich erneut abzuwenden und sehe dabei meinen Traummann, der an der Bar steht und zu uns herüberschaut. Genau dort, wo er jetzt steht, wartet meine Cola auf mich. Eine bessere Gelegenheit gibt es nicht. Ich atme tief ein und will Marius endgültig verlassen, als dieser mich plötzlich umarmt und sein Gesicht in meiner linken Schulter vergräbt. Dann wird sein ganzer Körper von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Hilflos stehe ich da und rühre mich nicht vom Fleck. Am liebsten würde ich den weinenden Marius von mir wegschieben. Aber so herzlos bin ich nun auch wieder nicht. Gleichzeitig aber nehme ich ihn nicht in meine Arme, sondern warte ab, bis er sich wieder beruhigt hat. Das dauert aber ziemlich lange.

„Ich bin so froh, dass du heute hier bist, Carsten“, erklärt er mit weinerlicher Stimme und drückt mich noch mehr an sich.

„Ist schon gut!“, versuche ich ihn zu trösten. „Du solltest aufs Klo gehen und dir deine Tränen vom Gesicht waschen.“

Leider interessiert ihn mein Tipp nicht im Geringsten, denn er entlässt mich weiterhin nicht aus seiner Umklammerung. Ich schiele rasch zur Bar. Scheiße, mein Lieblingsmensch hat sich aus dem Staub gemacht! Ich muss unbedingt Marius loswerden. Aber der denkt nicht daran, mich freizugeben. Schließlich gebe ich auf und führe ihn zu einem kleinen Zweiertisch nahe der Tanzfläche. Hier setzen wir uns hin und schweigen einander an, bis Marius zu erzählen beginnt. Er teilt mir mit, wie super dieser Rolf im Bett ist, dass sie gerade aus den Ferien in Thailand zurückgekommen sind und sie endlich zusammenziehen wollten. Marius kann es nicht fassen, dass Rolfs Liebe von einem Tag auf den anderen scheinbar erloschen ist. Ich höre nur zu, nicke hin und wieder, stelle aber keine Zwischenfragen und spende meinem Ex schon gar keinen Trost. Fast eine halbe Stunde beschlagnahmt Marius meine Aufmerksamkeit. Aber als der DJ einen Hit von HRVY auflegt, ist Marius plötzlich wie ausgewechselt.

„Das ist mein Lieblingssänger“, ruft er entzückt, und ehe ich mich versehe, rast er zur Tanzfläche und beginnt sich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Noch vor wenigen Sekunden war er ein Häufchen Elend und jetzt strahlt er übers ganze Gesicht. Ich schüttle genervt den Kopf. Aber immerhin kann ich mich jetzt endlich auf die Suche nach meinem Wunschkandidaten machen. Bevor Marius es sich anders überlegen und sich wieder zu mir gesellen kann, verlasse ich den Tisch und steuere den vorderen Teil des Clubs an, den ich von hieraus nicht beobachten konnte.

Jawohl, dort sitzt der Mann meiner Träume an der Bar. Aber er ist nicht allein. Er unterhält sich gerade mit Jürgen. Ausgerechnet Jürgen! Er ist der größte Schwerenöter, den ich kenne. Er ist zwar ein paar Jahre älter als ich, aber er lässt nichts anbrennen. Niemand kann sich seinem Charme entziehen. Auch nicht mein Jüngling, wie es scheint, denn die beiden lachen unbeschwert miteinander, und mit Schrecken erkenne ich, dass Jürgens Hand auf dem Schenkel meines zukünftigen Partners ruht. Nein, das darf doch nicht wahr sein! Ich habe nur noch einen Wunsch, nämlich möglichst schnell diesen Ort zu verlassen. Ich stürme auf den Ausgang zu und stoße ziemlich hart mit Marius zusammen.

„Hier steckst du!“, meint er tadelnd. „Ich habe dich gesucht. Stell dir vor, Rolf hat mir gerade eine SMS geschickt und sich bei mir entschuldigt! Ist das nicht toll?“

Wahnsinnig toll! Warum haben solche Arschlöcher wie Marius immer und immer wieder Glück, während sich Fortuna keinen Deut um mich schert? Mir reicht’s! Ich lasse meinen Ex wortlos stehen und suche verzweifelt das Weite.

 

Eine Woche später

Eigentlich wollte ich wirklich nicht mehr an diesen furchtbaren Ort zurückkehren. Die ganze Woche über habe ich mich in meiner Wohnung verkrochen, habe sie nur verlassen, um zur Arbeit zu gehen, suchte keinen Kontakt zu meinen Bekannten, habe einen Anruf von Urs ignoriert und die Kinopremiere von SPIDERMAN sausen lassen. Aber je näher der Samstagabend rückte, desto größer wurde mein Verlangen, diesen verfluchten Club aufzusuchen. Es ist wie eine Sucht, der ich nichts entgegenhalten kann. Vielleicht habe ich ja heute endlich das verdiente Glück. Mit Absicht erscheine ich erst gegen Mitternacht im Tanzlokal. Es ist schon brechend voll und ich bezahle rasch den Eintritt. Dann drehe ich voller Hoffnung meine Runde. Ich sehe viele schöne Männer, aber keiner von ihnen kann mein Herz berühren. Ich habe es bereits vor zehn Wochen verschenkt.

An der Bar entdecke ich den Gesuchten nicht. Also mische ich mich unter die Tanzwütigen. Ich bleibe nie lange an derselben Stelle, sondern tanze einmal in der Mitte, dann wieder auf der rechten Seite, um mich schließlich wieder am linken Rand zu bewegen. Aber stets halte ich Ausschau nach dem Räuber meines Herzens.

Fündig werde ich aber nicht auf dem Dancefloor, sondern im hinteren Teil des Clubs, wo ein paar Sofas herumstehen. Dort sitzt er. Aber er ist nicht allein. Jürgen sitzt neben ihm. Und wieder befindet sich Jürgens Hand auf dem Schenkel meines Mannes. Natürlich ahne ich, was das zu bedeuten hat. Sie sind also jetzt zusammen. So schnell kann das gehen, zumindest bei Jürgen.

Ich drehe mich um, während mein Herz in tausend Stücke zerbricht, und verlasse das Lokal. Nie wieder werde ich hierher zurückkommen. Nie wieder! Hätte ich doch nicht meinen Schwur gebrochen, für immer Single bleiben zu wollen. Ohne Partner ging es mir doch gut. Drei Jahre war ich allein und habe die einsame Zeit wirklich ganz gut überstanden. Warum musste ich mich verlieben? Ich wusste doch von Anfang an, dass ich chancenlos war. Das wird mir nicht mehr passieren. Dieser Club ist ab sofort Sperrzone. Auch Ottos Bar will ich nicht mehr betreten. Ich werde samstags wieder allein im Kino sitzen und Filme genießen. Jawohl, das werde ich machen! Ich werde mein Herz nie mehr an einen Kerl vergeuden. Wozu auch? Es geht mir viel besser ohne einen Mann an meiner Seite.

Als ich zuhause ankomme, werfe ich mich heulend aufs Bett und verfluche alle schwulen Typen.

 

Drei Wochen später

Hallo Carsten! Warum gehst du nicht ans Telefon? Ich habe schon mehrmals versucht dich zu erreichen. Jetzt probiere ich es über WhatsApp. Komm, melde dich!

Urs! Ich habe keine Lust. Es geht mir nicht gut.

Gebrochenes Herz? Tut mir leid. Aber mit totaler Abschottung machst du es nicht besser.

Ich will einfach nur meine Ruhe.

Soll ich mal bei dir zuhause vorbeischauen? Ich bringe auch eine Pizza mit.

Du weißt doch, ich vertrage keinen Käse.

Sorry, hatte ich vergessen! Aber ich könnte sonst was für dich kochen.

Danke für dein Angebot. Vielleicht ein anderes Mal! Okay?

Wenn du meinst. Vielleicht könnten wir nächstes Wochenende zusammen weggehen. Was meinst du?

Wie gesagt, ich habe keine Lust dazu. Ottos Bar und der schwule Club am Radweg sind tabu für mich.

Dann lass uns ins MM gehen!

MM? Noch nie gehört. Was ist das? Eine Saune? Mag ich sowieso nicht!

MM steht für Magic Men. Das ist eine neue Bar in der Innenstadt. Hat erst vor einer Woche mit einer Opening-Party gestartet.

Und wie war es?

Keine Ahnung. ich war nicht dort. Also wollen wir sie gemeinsam anschauen?

Nope!

Ach, sei doch kein Spielverderber. Allein möchte ich nicht gehen. Ich komme mir dann so ausgestellt vor.

Das kenne ich. Das brauche ich nicht.

Deshalb könnten wir ja gemeinsam gehen.

Vielleicht in ein paar Wochen. Im Augenblick vermeide ich die schwule Szene.

Ich nehme dich beim Wort und melde mich in ein paar Wochen bei dir. Übrigens was machst du an Weihnachten?

Nix!

Was nix?

Meine Eltern besuchen über die Feiertage meine Schwester in Frankreich.

Und du geht’s nicht mit?

Meine Schwester hat vier kleine Bälger! Das bedeutet andauernd Stress und Gezeter!

Dann bleibst du ganz alleine zuhause?

Jup! Scheint so. Ist mir auch egal.

Ich gehe mit meinem großen Bruder und seiner Frau zum Wellnessen nach Oberstaufen.

Schön für dich!

Willst du mitkommen? Du kennst ja Paul und Alice.

Nope! Ich bleibe zuhause. Ich muss nun weg.

Um 23 Uhr abends?

Ja, ins Bett. Tschüss!

Bye, Carsten!

 

24. Dezember

Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich Weihnachten über alles geliebt. Den Heiligabend haben wir immer im engsten Familienkreis gefeiert. Nur meine Eltern, meine kleine Schwester und ich. Das Wohnzimmer war jeweils schon am Morgen verschlossen, damit das Christkind den Tannenbaum schmücken und die Geschenke vorbeibringen konnte, ohne gestört zu werden. Also verbrachte ich den Tag bei meinem Schulfreund, weil bei ihm der Fernseher nicht im Wohnzimmer stand. Abends gab es dann einen Schinken mit verschiedenen Salaten als Beilage und kaum hatten wir den Abwasch gemeinsam erledigt, klingelte schon ein Glöckchen im Wohnzimmer und meine Schwester und ich eilten schnell dorthin. Hell beleuchtet stand der Weihnachtsbaum im Zimmer und zu seinen Füßen lagen die Geschenke. Bevor ich aber meine auspacken durfte, holte mein Vater seine Handorgel und wir sangen die altbekannten Lieder.

Heute hat Weihnachten seinen Glanz für mich verloren. Jedes zweite Jahr fahren meine Eltern zu meiner Schwester nach Frankreich, um dort zu feiern. Vor vier Jahren war ich das letzte Mal dabei. Die vier Gören meiner Schwester haben mich so genervt, dass ich mir geschworen habe, erst in ein paar Jahren wieder bei ihr an Weihnachten vorbeizuschauen. Dann sind diese schrecklichen Kinder etwas älter und hoffentlich ruhiger geworden. Deshalb verbringe ich jedes zweite Weihnachtsfest alleine in meiner Wohnung. Ich bestelle mir online zuvor ein paar Bücher, DVDs und CDs, die ich aber bis an Weihnachten in ihren Paketen lasse und erst am 24. Dezember auspacke. Dann lege ich sie auf die Seite, wo sie dann Wochen lang herumliegen, bevor ich sie wieder hervorhole. Natürlich schmücke ich meine Wohnung nicht mehr. Wozu auch? Es kommt ja kein Mensch vorbei. Meistens liege ich schon vor 22 Uhr im Bett, kann aber nicht schlafen, weil unzählige Gedanken durch meinen Kopf schießen.

So läuft es also auch dieses Jahr. Nach einem kargen Abendessen, packe ich meine selbst bestellten Geschenke aus. Dann zappe ich mich durch die unzähligen Fernsehsender, die mir aber nichts zu bieten haben, und greife schließlich nach der schwulen Zeitschrift „Die Mannschaft“, die ich abonniert habe. Ich blättere eher lustlos darin und entdecke tatsächlich ein Inserat vom MM, dieser neuen, schwulen Bar, von der mir Urs erzählt hat. Ich schaue die Anzeige näher an.

„Bist du Weihnachten allein zuhause? Fällt dir die Decke auf den Kopf? Dann bieten wir dir eine gemütliche Alternative. Komm zu uns und lass dich verwöhnen! Wir haben für dich über die Festtage geöffnet. Du bezahlst für sämtliche Getränke nur die Hälfte und das Weihnachtsgebäck ist sowieso kostenlos. Worauf wartest du also noch?“

Ja! Worauf warte ich noch? Ich lege die Zeitschrift auf die Seite. Es ist erst kurz nach 20 Uhr. Zu früh fürs Bett! Soll ich wirklich nochmals ins Auto steigen und in die Stadt fahren? Ich erhebe mich schwerfällig und trete ans Fenster. Bis zum Nachmittag hat es immer leicht geschneit. Doch jetzt funkeln Sterne am Himmelszelt. Vermutlich sind die Straßen bei dieser Kälte mit Eis bedeckt. Soll ich mich unnötig in Gefahr begeben? Ich werfe einen kritischen Blick auf die Straße vor meinem Wohnblock. Sie scheint schneefrei zu sein. Der Winterdienst hat auch am heutigen Tag gute Arbeit geleistet. Das Risiko eines tödlichen Autounfalls ist also eher klein. Ich suche rasch nach einem anderen Grund, daheim bleiben zu können. Mir fällt aber im Augenblick keiner ein.

Ich betrete also mein Schlafzimmer und blicke in meinen Schrank. Was könnte ich anziehen, falls ich mich tatsächlich nach draußen wage?

Ein paar Minuten später liegen eine schwarze Jeans und mein grauer Pulli auf dem Bett. Gehe ich denn auf eine Beerdigung? Ich tausche den grauen Pullover gegen einen orangen aus. Das Outfit passt. Nun folgt eine Dusche, denn dafür habe ich mir heute noch keine Zeit genommen. Deo, Parfum, Gesichtscreme, ein bisschen Haargel folgen, als ich vor dem Badezimmerspiegel stehe. Schließlich schlüpfe ich in die ausgewählten Klamotten. Nochmals ein Blick in den großen Spiegel im Schlafzimmer, und ich bin zufrieden mit meinem Erscheinungsbild.

Fünfzehn Minuten später fahre ich langsam auf der einsamen Autobahn Richtung Stadt. Überall wird gefeiert, nur ich bin unterwegs. Vermutlich werde ich im MM der einzige Gast sein. Vielleicht haben sie die Bar auch schon geschlossen, weil keiner erschienen ist. Ich beschließe nachzuschauen, eine Cola zu trinken und dann wieder nach Hause zu fahren.

Parkplätze sind heute Abend keine Mangelware in der Innenstadt. Wenigstens muss ich nicht allzu weit laufen. Die Bar ist weihnächtlich geschmückt. Bunte Lichterketten funkeln wild am Eingang. Im Innern erwarten mich Weihnachtssongs im Discostil und ein künstlicher Tannenbaum mit pinkem Schmuck. Ich blicke mich interessiert um. Die Bar ist mit etwa zehn leeren Hockern bestückt. Dazu kommen noch drei, vier Tische. Auch sie sind nicht besetzt. Ich bin der einzige Gast. Hinter der Bar lehnt ein gelangweilter Kellner mit roter Nikolausmütze auf dem Kopf. Als er mich bemerkt, nickt er mir freundlich zu und ich setze mich auf einen der Hocker. Nach der Bestellung starre ich konzentriert die schwarze Flüssigkeit in meinem Glas an, während der Kellner in einem Hinterzimmer verschwindet. Ich bereue meine spontane Aktion und werde sie so rasch wie möglich zu Ende bringen. Ich nehme einen extra großen Schluck von der Cola.

Da höre ich ein Geräusch. Die Eingangstür öffnet sich. Ein weiterer einsamer Gast erscheint wohl. Vermutlich ein fetter Greis, der sich neben mich setzen wird, um mich mit belanglosem Gequatsche zu langweilen. Ich lausche und habe Recht. Die Schritte kommen näher. Ich sehe eine schemenhafte Gestalt, die nach dem Hocker, der neben mir platziert ist, greift. Muss das denn sein?

„Hallo! Auch allein unterwegs am Heiligabend?“

Bevor er überhaupt Platz genommen hat, versucht der Neue ein Gespräch mit mir zu führen. Ich wende mich betont langsam in seine Richtung. Der aufdringliche Kerl scheint ein wenig größer zu sein als ich, ist sehr schlank, hat hellbraunes, kurzes Haar und lächelt mich an. Das kann doch nicht wahr sein. Habe ich Halluzinationen? Hat mir der Kellner irgendeine Droge in die Cola gemischt? Neben mir sitzt er, der Mann meiner Träume, der Kerl, der mir manch schlaflose Nacht bereitet hat, der Typ, der mein Herz geraubt hat.

Sofort nicke ich ihm zu und nuschle ein freundliches „Hallo“.

„Ich bin Lars“, klärt er mich auf, „und du bist Carsten, nicht wahr?“ Jawohl, ich träume. Warum sollte mein Traummann meinen Namen kennen? Vielleicht hat sich ja das Christkind verplappert. Ich kneife mich unauffällig ins Bein, damit ich durch den mir zugefügten Schmerz aus meinem Traum gerissen werde.

„Warum kennst du mich?“, stelle ich die Frage in den Raum, die mich quält, weil mir bewusst wird, dass ich tatsächlich nicht in meinem Bett liege und der junge Mann keine Fata Morgana sein kann.

„Ich habe Jürgen gefragt“, lautet die simple Antwort.

„Jürgen?“, echoe ich überrascht.

„Jürgen ist ein Bekannter von mir, ein bisschen aufdringlich, aber sonst ein netter Kerl. Vor ein paar Wochen, als ich ihn zufällig im Club getroffen habe, wo du auch oft anzutreffen bist, habe ich ihn nach dir gefragt.“

„Du hast ihn nach mir gefragt?“

„Keine Angst, ich bin kein Stalker. Ich bin ein ganz normaler, junger Mann, der eine kleine Schwäche hat.“

„Eine Schwäche?“, wiederhole ich.

„Ich stehe auf Männer, die voll im Leben stehen, die etwas älter als ich sind“, erklärt mir Lars und schenkt mir ein himmlisches Lächeln.

„Du stehst also auf Jürgen“, stelle ich fest, denn ich bin im Augenblick sehr schwer von Begriff.

„Auf Jürgen? Nein, der ist zwar wie gesagt ein lieber Kerl, aber nicht mein Typ. Ich spreche von dir.“

„Von mir?“, antworte ich schwerfällig und blicke mich im Lokal um. Wo steckt die versteckte Kamera? Aber wir sind weiterhin die einzigen Gäste und der Kellner bleibt verschollen.

„Ich kann mich gut erinnern, als du vor etlichen Wochen plötzlich vor mir auf der Tanzfläche aufgetaucht bist. Ich habe dich angeschaut und sofort gewusst: Dies ist der Mann, auf den ich schon lange gewartet habe.“

„Aber du hast nichts gesagt.“

„Manchmal bin ich schüchtern.“

„Aber heute nicht“, entgegne ich.

„Das kann daran liegen, dass ich bei meinen Eltern zum Abendessen Wein getrunken und danach vor dem Weihnachtsbaum noch mit Schampus angestoßen habe. Alkohol nimmt mir meine Zurückhaltung. Aber manchmal ist das gar nicht so schlecht. Oder sollen wir wieder wie schon einmal sprachlos nebeneinander sitzen, bis sich jemand zwischen uns drängt?“

Sofort erinnere ich mich an die Szene mit Urs. Lange konnte ich ihm nicht verzeihen, dass er mich damals bei meinem Flirtversuch unterbrochen hat.

„Und ein anderes Mal, als ich mir fest vorgenommen hatte, endlich den ersten Schritt zu machen, da lag plötzlich ein anderer Kerl in deinen Armen.“

„Marius!“, rufe ich und schüttle den Kopf. „Das ist mein nerviger Ex. Rudolf, sein Freund, hatte sich gerade von ihm getrennt und Marius wollte sich deshalb bei mir ausheulen. Aber zwischen Marius und mir läuft seit Jahren nichts mehr.“

„Genauso wie zwischen Jürgen und mir noch nie etwas gelaufen ist!“

„Dann bist du also auch Single?“

„Du also auch?“

Ich nicke und er nickt zufrieden. Dann wird unser Gespräch für einen kurzen Moment unterbrochen, denn der Kellner kehrt zurück und will wissen, was Lars gerne hätte. Auch er bestellt eine Cola. Wir prosten uns zu, grinsen uns an, schweigen und nippen am Getränk.

„In der letzten Zeit habe ich dich nirgends mehr gesehen. Ich hatte schon Angst, du seist in festen Händen“, berichtet Lars und mir läuft ein wohliger Schauer über den Rücken. Er hatte Angst, dass ich einen Freund gefunden habe.

„Und wie kommt es, dass du an einem solchen Tag eine einsame Bar aufsuchst?“, frage ich Lars.

„Ich habe es zuhause nicht mehr ausgehalten. Ich bin sozusagen aus dem Haus meiner Eltern geflohen.“

„Hattet ihr denn Streit? Ich habe gerade in der Zeitung gelesen, dass es an Weihnachten in vielen Familien zu heftigen Konflikten kommt“, gebe ich mein Wissen an Lars weiter. Doch der schüttelt den Kopf.

„Viel schlimmer! Mein Bruder und seine Frau sind mit ihrem Nachwuchs zum Weihnachtsfest gekommen. Drei Jungs! Herumrennen, Schreien, Weinen! Und das die ganze Zeit! Ich habe es schließlich nicht mehr ausgehalten und mich daran erinnert, dass ich in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass das MM heute Abend geöffnet ist. Darum bin ich hier. Aber ich glaube, dass das Schicksal mich hierhergeführt hat.“

Er blinzelt mir verführerisch zu. Tief im Innersten muss ich ihm recht geben. Entweder hat das Christkind uns beide hierhergeführt oder das Schicksal. Wer es auch immer war, ich bin ihm sehr dankbar.

Wir reden den ganzen Abend über dies und das. Lars ist Student und wohnt noch bei seinen Eltern. Diese wissen, dass er schwul ist und auf ältere Kaliber steht. Er hatte schon einmal einen über fünfzigjährigen Freund, der gleich alt wie sein Vater gewesen ist. Die beiden sollen sich sehr gut verstanden haben. Seine blauen Augen ruhen immer wieder auf mir und sein Lächeln bringt mich fast um den Verstand.

An diesem Abend bleiben wir die einzigen Gäste. Als wir merken, dass der Kellner auffällig oft auf seine Uhr blickt, ist es Zeit für uns die Bar zu verlassen. Gemeinsam spazieren wir durch die ausgestorbene Stadt. Telefonnummern und Adressen haben wir schon im MM ausgetauscht. Obwohl Lars noch Student ist, besitzt er bereits sein eigenes Auto. Als wir seinen roten Flitzer erreicht haben, schaut er mir nochmals tief in die Augen und haucht mir plötzlich einen Kuss auf die Wange.

„Was machst du morgen?“, will er wissen.

„Nichts!“

„Kann ich vorbeikommen? Ich möchte dich noch besser kennenlernen.“

Natürlich habe ich nichts dagegen. Mein Herz trommelt schon aufgeregt in meiner Brust.

„Ich bin gespannt, wie du deine Wohnung geschmückt hast“, sagt Lars beiläufig, während er bereits die Autotür öffnet und der Trommelwirbel meines Herzens jäh stoppt. Ich murmle ein paar undeutliche Worte. Dann steigt Lars in sein Gefährt, winkt mir nochmals zu und fährt davon. Ich aber eile zu meinem Auto, das zum Glück ganz in der Nähe steht.

Als ich zuhause ankomme, steige ich zuerst in den Keller. In meinem Kellerabteil suche ich nach den Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck, den Lichterketten und anderen festlichen Dingen, die ich schon ein paar Jahre nicht mehr gebraucht habe, und trage die ziemlich staubigen Pakete in meine Wohnung. Morgen muss ich früh aufstehen. Ich habe noch viel Arbeit vor mir. Um 15 Uhr will Lars bei mir erscheinen. Bis dahin muss meine Wohnung perfekt geschmückt sein. Denn es ist ja Weihnachten.

Ach, wie ich Weihnachten liebe!

Matt Grey Corona sei Dank!

Ein Samstagabend im Dezember 2019

Ich blicke gelangweilt auf meine Uhr. Bald 22 Uhr! Noch immer ist das Prinz, die einzige schwule Bar St. Gallens, nur spärlich bevölkert und ich entschließe mich in den nächsten fünf Minuten das Weite zu suchen. In diesem Augenblick betritt ein neuer Gast das Lokal, blickt sich um und steuert dann direkt auf mich zu. Jetzt erkenne ich die Gestalt. Es ist tatsächlich Werner. Ihn habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

„Wen haben wir denn hier? Hallo, Matt!“, begrüßt er mich und lässt sich auf dem freien Barhocker neben mir nieder. Ich begrüße Werner freundlich, denn er war mein allererster Freund in der Szene. Unsere Beziehung dauerte zwar kaum ein halbes Jahr, aber wir hatten eine schöne, gemeinsame Zeit damals in den 80ern.

Rasch beginnen wir ein Gespräch und erinnern uns an die Zeit, als wir noch jung und begehrt waren.

„Warum sieht man dich nie bei der HOT?“, will Werner plötzlich von mir wissen und ich zucke nur mit den Schultern.

Die HOT ist eine Schwulenorganisation des Kantons Thurgau, und ich bin tatsächlich schon bald zwanzig Jahre Mitglied in diesem Verein, ohne je eine Veranstaltung besucht zu haben.

„Ich habe immer viel zu tun. Du weißt ja, die Arbeit ruht nie“, versuche ich mein Fernbleiben zu rechtfertigen.

„Ich kann ja verstehen, wenn du während der Woche keine Zeit findest. Aber die HOT hat zahlreiche Veranstaltungen, die am Wochenende stattfinden“, erklärt mir Werner und ich erwidere:

„Aber am Wochenende bin ich oft mit Schreiben beschäftigt.“

„Richtig, du hast ja ein Buch veröffentlicht. Stell dir vor, als ich die Anzeige in der Zeitschrift Display entdeckt habe, habe ich deinen Erstling sofort bestellt!“, verkündet mein ehemaliger Freund stolz und ich bedanke mich natürlich für sein Wohlwollen gegenüber meiner schriftstellerischen Tätigkeit.

„Warum kommst du im März nicht zur Schlagerparty in unserm Clubhaus? Du magst doch Roy Black und Co, wenn ich mich recht erinnere. Ich könnte dann dein Buch „American Boy und sein Prinz“ mitbringen, damit du mir eine Widmung hineinschreibst. Was meinst du?“

Ich bin mir ziemlich unschlüssig und erkläre Werner, dass ich doch praktisch keine Menschenseele in diesem schwulen Verein kenne.

„Dann wird es sowieso Zeit, dass du dich dort blicken lässt“, findet Werner und fügt hinzu, dass er bestimmt anwesend sein werde und ich somit nicht allein sei. Ich gebe mich erstmal geschlagen und verspreche ihm, mich im neuen Jahr anzumelden, obwohl ich mir ganz und gar nicht sicher bin.

Kurz vor Mitternacht verabschiede ich mich von Werner und trete hinaus in die kalte Winterwelt.

 

Donnerstag, 5. März 2020

„Vor allem im Kanton Tessin steigt die Anzahl der Menschen, die sich mit COVID-19 angesteckt haben“, erklärt der Tagesschausprecher des Schweizer Fernsehens und blickt mich mit ernstem Gesicht aus dem Bildschirm an. Ich schalte den Fernseher aus. Diese Panikmache nervt mich. Jedes Jahr haben wir hier in der Schweiz irgendeinen Grippevirus zu Besuch. Dieser Corona-Virus wird zwar ein paar Menschen ins Bett treiben, aber bevor der Frühling kommt, wird der ganze Spuk wieder vorbei sein. Mich plagen wichtigere Probleme. Am Samstag findet in Wängi diese Schlagerparty statt, von der mir Werner vor über zwei Monaten erzählt hat. Ich habe mich immer noch nicht entschieden, ob ich diese Veranstaltung aufsuchen soll oder lieber einen weiteren Samstagabend vor der Glotze verbringen will. Ich klappe mein Notebook auf, um noch einmal die Mail der HOT zu lesen. Ein feines Abendessen, ein lustiges Quiz und eine Preisverleihung für diejenigen Besucher, die sich als Schlagerstars verkleiden, würden mich bei einer Teilnahme erwarten. Ein Link bringt mich zur Anmeldeseite dieser Party. Wie ich sehe, haben sich knapp 30 Männer angemeldet. Darunter ist Werner, aber auch Hanspeter, den ich ebenfalls kenne. Die anderen Namen sagen mir hingegen nichts. Ich habe nur noch bis Mitternacht Zeit, um mich anzumelden. Was soll ich nur tun? Ich werfe einen Blick auf mein Wochenhoroskop. Fürs Wochenende verspricht mir die bekannte, französische Astrologin eine interessante, neue Bekanntschaft. Ich bin schon einige Jahre Single, meistens glücklich, aber hin und wieder auch ein bisschen einsam. Also gut! Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht! Ich füge meinen Namen der Liste hinzu, schalte danach mein Notebook aus und suche mir auf Netflix spannende Unterhaltung für den restlichen Abend.

 

Samstag, 7. März 2020

Ein letzter Blick in den Spiegel, dann bin ich bereit für mein Abenteuer. Ich will gerade meine Wohnung verlassen, als mir im letzten Augenblick einfällt, dass ich den Fernseher auszuschalten vergessen habe. Natürlich wird auch am Samstagabend zur besten Sendezeit nur noch über diesen neuen Virus diskutiert. Blitzschnell schalte ich das Gerät aus. Heute Abend will ich mir meine Laune wegen COVID-19 nicht vermiesen lassen.

In meinem silbernen Gefährt sause ich durch die dunkle Nacht nach Wängi, wo sich in einem Industriequartier das Vereinslokal der HOT befinden soll. Zur Sicherheit habe ich das Navigationsgerät programmiert, damit ich nicht plötzlich in Genf strande. So erreiche ich also problemlos mein Ziel, parke mein Auto in einer Seitenstraße und suche in diesem menschenleeren Quartier nach einer Hausnummer oder zumindest nach einem Anzeichen von Leben. Schon will ich meine Suche verzweifelt aufgeben, als ich an einer Glastür ein kleines Schild mit der Aufschrift „HOT“ entdecke. Die Tür ist tatsächlich unverschlossen und ich betrete einen dunklen Flur. Ich lausche, höre aber nichts. Vorsichtig steige ich eine Treppe hoch und finde einen beleuchteten Flur mit Garderobe. Zahlreiche Jacken und Mäntel sind hier aufgehängt. Ich bin also am Ziel. Nachdem ich mich meiner Jacke entledigt habe, öffne ich eine große Tür und vor mir liegt ein recht geräumiger Saal mit Tischen, Stühlen und natürlich Männern. Etwas schüchtern trete ich ein, aber kein Mensch beachtet mich. In kleinen Gruppen stehen die Kerle zusammen und unterhalten sich. Einige lehnen auch an der Bar im hinteren Teil des Raumes. Ich wage ein paar weitere Schritte ins Ungewisse. Ich bleibe weiterhin unsichtbar, obwohl ich die Zauberdecke aus dem Harry Potter Romanen nicht dabei habe. Schon verfluche ich mich, dass ich mich angemeldet habe, als ich Werners Stimme höre.

„Hallo, Matt, super, dass du gekommen bist!“

Ich wirble herum und blicke in das fröhliche Gesicht meines Ex. Er hält doch tatsächlich mein Buch und einen Stift in der Hand.

„Weil ich in der Anmeldeliste deinen Namen entdeckt habe, habe ich natürlich dein Buch mitgebracht. Würdest du es mir bitte signieren?“

Klar, will ich das! Stolz schreibe ich ein paar nette Worte in das Exemplar, während mir Werner an der Bar etwas zu trinken besorgt, denn er spielt heute Abend den Barkeeper. In der Zwischenzeit hat mich auch Hanspeter bemerkt und stürmt auf mich zu. Automatisch strecke ich meine Hand zur Begrüßung aus. Aber mein Kollege bleibt abrupt stehen und schüttelt entsetzt den Kopf.

„Du weißt doch“, klärt er mich sofort auf, „dass ich in der Lebensmittelindustrie arbeite. Da ist besondere Vorsicht wegen Corona geboten.“

Schon wieder dieser verdammte Virus! Aber ich verstehe die Bedenken meines Kollegen und wir begrüßen uns nur mit den Ellbogen, wie das in den letzten Tagen modern geworden ist.

Hanspeter trägt einen schwarzen Schlapphut und ebenfalls dunkle Kleider.

„Hast du dich als Drafi Deutscher verkleidet?“, will ich von ihm wissen, denn er erinnert mich an diesen Sänger, der mit ‚Marmor, Stein und Eisen bricht‘ vor vielen Jahren einen riesen Hit landete. Aber ich habe mich getäuscht. Hanspeter stellt den französischen Sänger Danyel Gerard dar, der mit ‚Butterfly‘ zu Beginn der 70er Jahre die europäischen Charts erobert hat. Wir tauschen noch ein paar Worte und ich wage es schließlich sogar einen andern Mann anzusprechen, der alleine herumsteht. Nun kenne ich also bereits drei Kerle an dieser Party.

Ein paar Minuten später wird verkündet, dass das Abendessen bereit ist und wir uns an den beiden Tischreihen niederlassen sollen. Hanspeter winkt mich zu sich und seinem anwesenden Freund Steve. Ich darf mich zwischen die beiden setzen und habe nun Gesprächspartner während des Essens. Mit Hanspeter rede ich über die neusten Kinofilme und besuchte Theatervorführungen. Immer wieder treffen wir uns nämlich zufällig auf solchen Veranstaltungen. Hin und wieder wandert mein Blick über die versammelte Männerschar. Mit meinen bald 58 Jahren bin ich bei Weitem nicht der Älteste, sondern gehöre eher zum jungen Gemüse. Da bleiben meine Augen plötzlich an einem anderen Mann hängen, der am Ende unseres Tisches sitzt. Was ihn interessant macht, ist einerseits die Tatsache, dass er sich verkleidet hat. Er trägt nämlich typische Klamotten der 70er Jahre und auf dem Kopf eine schwarze Perücke. Andererseits scheint er sogar etwas jünger als ich zu sein. Am meisten beeindrucken mich aber sein Lächeln und die strahlenden Augen. Mein Interesse ist geweckt. Immer wieder erwische ich mich, dass mein Blick zu ihm hinüberwandert. Aber auch er wirft mir hin und wieder neugierige Blicke zu, was mich irgendwie nervös macht.

Es folgen nun die Vorspeise, danach der Hauptgang und schließlich die Ankündigung für das Schlagerquiz. Zettel und Schreibzeug wird verteilt und Udo spielt den Quizmaster. Seine Fragen haben es in sich, und es gelingt mir nur zwei von zehn Fragen korrekt zu beantworten. Ein Blick zu meinem unbekannten Objekt der Begierde zeigt mir, dass auch er bei der Beantwortung der Fragen zu kämpfen hat. Er wirft mir nämlich einen ratlosen Blick zu und zuckt mit den Schultern. Udo sammelt die Zettel wieder ein, um sie nun zu bewerten, während im Hintergrund erneut Schlagersound ertönt und in der Küche die Nachspeise vorbereitet wird.

Plötzlich bin ich verwirrt, denn der Typ am unteren Tischende hat sich seiner Perücke entledigt und gefällt mir noch besser. Es liegt nun doch schon einige Zeit zurück, dass ich an einem fremden Mann solches Interesse bekundet habe. Ich wundere mich selber über mich. Immerhin bin ich seit fünf Jahren zufriedener Single und habe nicht geplant, diesen Zustand in absehbarer Zukunft zu ändern. Wieder treffen sich unsere Blicke.