Piraten - Siegfried Kohlhammer - E-Book

Piraten E-Book

Siegfried Kohlhammer

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Beschreibung

Die Piraterie zählte einst neben Krieg, Seuchen und Hungersnöten zu den Geißeln der Menschheit, der Seeräuber galt als »Feind aller«. Ab dem 17. Jahrhundert erfuhr der Pirat jedoch eine soziale und politische Aufwertung. In der aufklärerischen Literatur romantisiert, wird er seit den frühen achtziger Jahren entweder als Rebell und Vorkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit oder als hedonistischer Anarchist gefeiert. In jüngster Vergangenheit hat man eine nach ihm benannte politische Partei gegründet und ihn zur Pop-Ikone stilisiert. Das »zweitälteste Gewerbe der Welt« hat bis in unsere Gegenwart nichts von seiner Brutalität und Skrupellosigkeit eingebüßt. Siegfried Kohlhammer geht der Verzerrung und Verkehrung historischer Fakten auf den Grund und zeigt, welche Rolle Piraten bei imperialistischen Eroberungsfeldzügen und der Sklavenjagd gespielt haben. Vor den Küsten Afrikas und Asiens gefährden auch heute wieder organisierte Banden die Seefahrt, bringen Schiffe und deren Besatzungen in ihre Gewalt, um Lösegelder zu erpressen. Der Freibeuter, so belegt dieses Buch eindrucksvoll, taugt keinesfalls als sozialromantische Kultfigur.

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Siegfried Kohlhammer, geboren 1944, studierte Germanistik, Philosophie und Romanistik. Lange Jahre lebte er in Japan, 2018 kehrte er nach Deutschland zurück und lebt seitdem in Berlin. Er arbeitet als Autor und Übersetzer. Seine Texte sind vor allem in der Zeitschrift »Merkur« veröffentlicht worden. Als Buch ist bei zu Klampen zuletzt erschienen: »Islam und Toleranz. Von angenehmen Märchen und unangenehmen Tatsachen« (2011).

SIEGFRIED KOHLHAMMER

Piraten

Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär

zu Klampen

Inhalt

Vorwort

Piraterie in der antiken Welt

Die Piraterie in der Geschichtsschreibung – von der Antike bis ins 20. Jahrhundert

Die Piraten als Dionysiker: Hogarths »Gin Lane« in den Tropen

Piraten und Frauen

Piraten und Sklaven

Piraten als Sklavenhalter

Die Barbareskenstaaten

Piratische Raubzüge als Mittel der Umverteilung?

Bürger, Adlige, Könige als Geschäftspartner der Piraten

Von der Piraterie verursachte ökonomische Schäden

Piraten in den intereuropäischen Kriegen und als Speerspitze während der Kolonialisierung und imperialistischen Eroberung

Piraten als Teil staatlicher Gewalt

»Viva la muerte!« – Piraten und (proto-)faschistische Schmierenkomödianten

Der Mythos lebt

Postskriptum

Anmerkungen

Bibliographie

»Now and then we had a hope that if we lived and were good, God would permit us to be pirates.«

Mark Twain, Life on the Mississippi

Vorwort

Die Piraterie gehört mit anderen Formen des organisierten Verbrechens neben Kriegen und Sklaverei, Tyrannei und Anarchie, Seuchen und Hungersnöten zu den Geißeln der Menschheit von alters her. Sie gilt als »das zweitälteste Gewerbe der Welt«. Einem alten malayischen Sprichwort zufolge diente das erste Schiff, das jemals gebaut wurde, dem Fischfang, während der Zweck des zweiten darin bestand, das erste seines Fangs zu berauben.

Mit der Entstehung des friedlichen Handels, der Rechtsprechung, des Staates wird die vorzivilisatorische Achtung und Verehrung der gewaltsamen heroischen Aneignung von Eigentum abgelöst von einer entschiedenen Verdammung der Piraten als communis hostis omnium.

Seit dem Ende des Mittelalters und mit der Frühen Neuzeit jedoch, ihrem Wertewandel und ihren säkularistischen Utopien, beginnt ein Umdenken, ein ideologischer Wandel, der sich bereits um 1700 in den beiden wichtigsten Quellen zur Geschichte der Piraterie in der westlichen Welt: Exquemelins »De Americansche Zee-Roovers« und Captain Johnsons »A General History of the Robberies and Murders of the Most Notorious Pyrates« andeutet. Neben der obligaten traditionellen Verdammung des Seeraubs und der damit einhergehenden Untaten erfolgt eine Aufwertung der Piraten im Kontext und auf Grundlage frühneuzeitlichen und aufklärerischen Denkens und Wollens, die deren republikanische, demokratische, egalitäre, sozialfürsorgerische Seite beschreibt und hervorhebt – oder behauptet. Daneben findet sich bald eine Romantisierung auch im Bereich fiktiver Literatur.

Mit den tiefgreifenden ideologischen Veränderungen der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und unter dem Einfluss von Hobsbawms »Sozialbanditen« kommt es dann auf seiten der Linken – auch im Bereich der Geschichtsschreibung – zu einer weitergehenden und umfassenderen Rehabilitierung der Piraten als Fortschrittsmänner, die wahlweise als Vorläufer und Vorkämpfer des Industrieproletariats, der Arbeiterbewegung, der Sklavenbefreiung und des Feminismus, als libertäre demokratische Selbstregierer, Vertreter eines hedonistischen Anarchismus (Dionysiker) etc. figurieren: kurzum als Utopie der befreiten Menschheit. Und im Namen dieser Idealisierungen und Verklärungen wurden all die Untaten, Verbrechen und Grausamkeiten der Piraten nicht notwendig geleugnet, aber hintangestellt, rationalisiert oder gar zu Tugenden verklärt.

Die Piraterie wird zur Projektionsfläche, die schwarze Piratenflagge zum Symbol diffuser utopischer Hoffnungen und Tagträume, deren Tenor die Gleichheit ist, und zwar die materielle, die absolute Gleichverteilung allen Wohlstands. Sie wird zur Flagge des Egalitarismus – Gleichheit als Ziel der Gerechtigkeit, als moralischer Selbstzweck oder Eigenwert.1

Es ist verstörend zu sehen, wie grundlegende Werte abhanden kommen, wenn es um Gleichheit – Gütergleichheit, gerechtes (= gleiches) Teilen – geht (auch wenn es sich um Raubgut handelt), in deren Namen Eigentumsrechte missachtet werden und das Recht auf die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Eigentümer, der Kaufleute und Händler, ihrer Seeleute und Passagiere, denen gegenüber alles gerechtfertigt ist, auch brutalste Gewaltsamkeit und Folter.

Anders gesagt: Dass die piratophile Sicht diese Verbrecher zur Verehrung und Nachahmung anpreist, ja dass die piratische Kriminalität – da angeblich gegen die Erzübel Staat, Nation und Kapitalismus gerichtet – als Garant der Fortschrittlichkeit gilt, zeugt von einer gewissen moralischen (und intellektuellen) Unzulänglichkeit.2

Gegen diese verquere Sichtweise wollen die folgenden Seiten argumentieren und polemisieren, zu Nutz und Frommen wie auch zur Kurzweil des interessierten Lesers. Die Übersetzungen der Zitate aus fremdsprachigen Publikationen stammen, wenn nicht anderweitig vermerkt, von mir.

Piraterie in der antiken Welt

Zu den bezauberndsten Kunstwerken der griechischen Antike gehört die Dionysos-Schale (Trinkschale) des athenischen Töpfers und Vasenmalers Exekias: Sie zeigt den Gott gelassen hingelagert in einem von Delphinen umspielten Schiff, das weiße Segel elegant gebläht, als glitte das Schiff von aller Erdenschwere befreit über die Fluten dahin. Dem Mastbaum entsprießen Weinreben, deren Blätter und Trauben ein breites laubenartiges Dach über dem Schiffe bilden.

»Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, / holdes Blüthenalter der Natur! / Ach! Nur in dem Feenland der Lieder / lebt noch deine goldne Spur.« klagte Schiller in »Die Götter Griechenlands«.

Aber der auf der Schale abgebildete Mythos – er wird im Dionysos-Hymnus (Hymne 7) der Homerischen Hymnen erzählt – handelt von der Rache des Dionysos, von der Piraterie als einer der steten Heimsuchungen und dunklen Drohungen der mittelmeerischen Welt: »die fast ständige Bedrohung durch Piraterie«, wie es David Abulafia in seiner Geschichte des Mittelmeers formuliert.1 Die Delphine auf der Schale sind von Dionysos verwandelte Piraten. Sie hatten ihn am Strande gefangengenommen, wo er »ganz gleich einem jüngeren Manne« gestanden hatte, und hofften nun auf reiches Lösegeld, hielten sie ihn doch »für einen Sohn von zeusgenährten Königen«. Aber bald nachdem das Schiff abgelegt hatte, geschahen seltsame Dinge: »Wein zuerst überströmte das schwarze Schiff, das geschwinde, / lieblich süß, wohlriechend«; dann entfalten sich der Weinstock und andere Pflanzen und Früchte – schließlich verwandelt sich der Gott in einen brüllenden und reißenden Löwen und erschafft noch eine Bärin – in panischem Schrecken springen die Piraten »hinab in die göttliche Salzflut, / in Delphine verwandelt.«

In der geschichtlichen Realität war es anders: Da verursachten die Piraten panischen Schrecken, Entsetzen und Flucht: In der Einleitung zu seinem »Piracy in the Graeco-Roman World« spricht der britische Historiker Philip de Souza von der in jener Welt verbreiteten »Todesangst vor einem plötzlichen Überfall der Piraten und der Panik und dem Leiden, die damit meist einhergingen. Mord, Plünderung und Entführung durch die vom Meer herkommenden Gewalttäter waren gewohnte Schrecken für viele Bewohner des Mittelmeerraums in der Antike. In den erhaltenen historischen Dokumenten finden sich zahlreiche Beispiele für Angriffe der Piraten an Land und zur See. Von den Gedichten Homers bis zu den Werken des heiligen Augustinus waren Piraten und Piraterie ein stets wiederkehrendes Motiv der antiken Literatur.«

Verhängnisvoller noch als die Raubzüge zur See waren laut einem weiteren Standardwerk zum Thema, Henry A. Ormerods »Piracy in the Ancient World«, die Raubzüge an Land mit den ständigen Entführungen. »Das erregte die meiste Furcht und übte die nachhaltigste Wirkung auf das Leben am Mittelmeer aus.«2

In »The Rape of Troy« schreibt Jonathan Gottschall: »In schnellen Booten mit geringem Tiefgang rudert man an die Strände, und die Siedlungen am Meer werden gebrandschatzt (…) Die Männer werden in der Regel getötet, Vieh und andere transportable Wertgegenstände werden geplündert, und die Frauen werden mitgenommen; sie müssen unter den Siegern leben und ihnen sexuelle und niedere Dienste leisten. Die Männer lebten zu Homers Zeiten mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Todes; die Frauen hatten ständig Angst um ihre Männer und Kinder und fürchteten sich vor den Segeln am Horizont, die unter Umständen ein neues Leben voller Vergewaltigungen und Sklaverei ankündigten.«3

Ormerod erinnert daran, dass Piraterie jahrhundertelang zur Lebenswirklichkeit des Mittelmeerraums gehörte und deshalb großen Einfluss auf das Leben in der antiken Welt ausübte. Und das gilt ebenso für die anderthalb Jahrtausende nach dem Ende des Römischen Reiches.4

Es ist sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, dass Piraterie von den Anfängen bis heute – und offenbar überall auf der Welt – ein amphibisches Phänomen war. »Tatsächlich könnte man Piraten weniger als rein maritime Figuren, sondern eher als ›amphibische Wesen‹ ansprechen. Das gilt ebenfalls für die Frühe Neuzeit. Zum Beispiel nutzten die Karibikpiraten im 16. und 17. Jahrhundert geographisch Land und Meer gleichermaßen.«5 Ihre Beute und ihre Opfer fanden die Piraten von jeher – und zu manchen Zeiten in erster Linie – auf dem Land, an den Küsten und in den Häfen, Dörfern und Städten, oft weit hinein ins Inland. Das gilt um so mehr, je weiter man historisch zurückgeht, einfach weil der Umfang des Seehandels damals so viel geringer war.

Das alte englische Recht trug der Realität insofern Rechnung, als es von »Piraterie zu Wasser oder zu Lande« sprach, später differenzierter formuliert: »eine auf dem offenen Meer oder herrenlosem Land oder auf dem Territorium eines Staates durch einen Angriff von See her von einer Vereinigung von Männern begangene Gewalttat, die unabhängig von jeder politisch organisierten Gesellschaft handeln.« Der französische Althistoriker Yvon Garlan schreibt in bezug auf die Antike: »Wollte man Piraterie (auf dem Meere) von Banditentum (zu Lande) trennen, so hieße das die Einheit ein und desselben geschichtlichen Phänomens zu zerstören – (…) denn diese beiden Arten räuberischer Unternehmungen waren im konkreten Fall schwer zu unterscheiden, da die antike Piraterie im allgemeinen eher in Küstennähe denn auf hoher See praktiziert wurde.«6 Und das gilt bis in die Gegenwart; auch die Herausgeber von »Pirates, Ports, and Coasts in Asia« sehen sich genötigt, »Aktivitäten« wie »den Überfall auf Küstensiedlungen, deren Zerstörung und Plünderung und die Gefangennahme der Einwohner« als »Akte der Piraterie« zu bezeichnen, um der Realität gerecht zu werden. Ikurya Tokoro schreibt dort, dass »zur Piraterie im heutigen Sulu auch Angriffe auf Küstendörfer, -städte und andere Küstenanlagen etc. gehören (…) diese Überfälle auf Küstengebiete waren traditionell die am weitesten verbreiteten Aktivitäten in diesem Teil des maritimen Südostasiens seit vorkolonialer Zeit.«7

Noch heute weisen die Küsten des Mittelmeers die Spuren der ständigen Überfälle der Piraten auf. Thukydides schon betonte, dass die ältesten bewohnten Orte sowohl auf dem Festland wie auf den Inseln der Piraterie wegen von der Küste entfernt lagen. Man denke nur an die erste Siedlung auf dem Hügel von Knossos, vier Meilen vom Meer entfernt, oder das frühe Athen auf der binnenländischen Akropolis und die erste Siedlung auf dem Akrokorinth. Was Thukydides für das frühe Griechenland festgestellt hatte, gilt für den gesamten Mittelmeerraum. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es normal, dass sich die wichtigsten Städte und Dörfer in einiger Entfernung vom Meer und oft außer dessen Sichtweite befanden.8 Die uralten Nuraghen Sardiniens sollen auch dem Schutz vor Piraten gedient haben und die ersten Bewohner Siziliens sich aus eben diesem Grund auf steilen felsigen Erhebungen angesiedelt haben.

In der Antike erreichte diese Bedrohung von Küsten und Binnenland mit den kilikischen Piraten ihren Höhepunkt. Plutarch nennt dreizehn Heiligtümer, die in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. geplündert wurden. Ihm zufolge betrug die Zahl der Seeräuberschiffe damals über tausend, die Zahl der von den Piraten eroberten Städte vierhundert. Dio erzählt, wie die Räuber Häfen und ganze Städte ausplünderten und fast wie Nationen organisiert waren. Cicero beklagt die Plünderung heiliger Stätten in Knidos, Kolophon und Samos, die wiederholten Überfälle auf Sizilien, die Plünderung von Delos, Caieta, Misenum und sogar Ostia: »nunmehr mussten wir nicht nur auf die Provinzen und die Seeküsten Italiens und unsere Häfen, sondern sogar auf die appische Straße verzichten.«9 Pompeius schaffte dann 67 v. Chr. auf der Grundlage von Notstandsgesetzen und enormem finanziellen und militärischen Aufwand das Problem aus der Welt. Einem modernen Kommentator zufolge setzte Rom damals das Äquivalent des halben Staatshaushaltes und der Hälfte der Streitkräfte der heutigen USA ein.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches wurden nach den vandalischen die muslimischen Piraten zu Nachfolgern der kilikischen. Zunächst die arabischen »Sarazenen«, an die heute noch die villages perchés im Hinterland der Côte d’Azur erinnern, dann die Türken und die Korsaren der Barbareskenstaaten, die laut Salvatore Bono keine Küste verschonten und eine ständige Gefahr für die Küstenbewohner darstellten. »Noch heute erinnern zahlreiche steinerne Wehr- und Beobachtungstürme an den europäischen Mittelmeerküsten daran, wie groß die Bedrohung durch die muslimischen Korsaren war. Die meisten dieser Türme stammen aus dem 16. Jahrhundert. Manche wurden auf Vorgängerbauten errichtet, die schon im Mittelalter zum Schutz gegen die Sarazenen gedient hatten. Größere Städte suchten sich durch Bau und Verstärkung von befestigten Mauerringen und Befestigungsanlagen zu schützen. Bei diesen Maßnahmen war die Furcht vor Überfällen durch Korsaren oder einem Angriff der türkischen Flotte das Hauptmotiv.«10 Auch die muslimischen Bewohner Nordafrikas und der Levante waren von – christlichen – Piraten und Korsaren bedroht wie etwa den Schiffen des Malteserordens. David Mitchell weist in seinem Buch »Pirates« darauf hin, dass die ständigen Überfälle dazu führten, dass Siedlungen aufgegeben, Inseln evakuiert, Städte und Dörfer ins Binnenland verlegt und schwer befestigt wurden.11

In West- und Nordeuropa waren es zumal im neunten und zehnten Jahrhundert die Wikinger, die jahrhundertelang die Küsten plünderten und tief ins Land eindrangen. »Die Raubzüge der Wikinger waren im wesentlichen amphibische Operationen. Dänen und Norweger verheerten die Küsten Irlands, Englands, Schottlands, Frankreichs, Spaniens, Nordafrikas und Italiens. (…) In den Kirchen und Klöstern Nordfrankreichs beteten die Menschen ›Vom Wüten der Nordmänner, Herr, erlöse uns‹.«12 Anna Franchi schreibt in ihrer Universalgeschichte der Piraterie, dass die Meere Nordwesteuropas niemals frei von Piraten gewesen seien, »auch nicht nach der Befriedung der Wikinger«.13

In der Karibik wurden die spanischen Städte und Siedlungen zunächst von den Franzosen geplündert, dann von den englischen Freibeutern. »All die Dörfer und Städte, wo ich anlegte, verbrannte und plünderte ich«, prahlt Thomas Cavendish. Robert Bohn weist darauf hin, dass »die Seezüge der englischen Freibeuter« im 16. Jahrhundert »weniger gegen die spanische Schifffahrt selbst als gegen spanische Häfen in Westindien« gerichtet waren.14 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dann kam es zu »monoton sich wiederholenden Plünderungen«. »Überfälle zu Land wurden zur Norm«, da der Erfolg der Piraten und Bukaniere die spanische Schiffahrt mit Ausnahme der jährlichen flota weitgehend von der Karibik fernhielt. »Immer wieder räumten die Spanier ihre Siedlungen, verbargen ihre Wertgegenstände, wurden gefoltert, um deren Aufbewahrungsort zu verraten (…) Stets aufs neue bauten sie ihre Häuser mit geradezu heroischer Widerstandskraft wieder auf und gingen wieder ihren Alltagsgeschäften nach.«15

Bis ins 19. Jahrhundert – und mancherorts auch darüber hinaus – lebten die Menschen in weiten Teilen der Welt, und eben nicht nur die seefahrenden, sondern ebenso und mehr noch die in Küstennähe angesiedelten, unter der Drohung piratischer Überfälle und Raubzüge.16 Das Bild aber des Piraten in der westlichen Kultur hatte sich grundlegend geändert.

»Mit dem Seeraub pflegen die Historiker zu wenig zu rechnen«, monierte 1893 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. Davon kann heute angesichts der Flut von Veröffentlichungen zum Thema keine Rede mehr sein. Und auch die einschlägige wissenschaftliche Forschung ist so umfangreich und wird so intensiv betrieben wie nie zuvor. Michael Kempe fühlt sich genötigt, in der Einleitung zu seiner eindrucksvoll gelehrten und informativen Habilitationsschrift »Fluch der Weltmeere« (2010) zu erklären, dass Historiker, die sich mit der Geschichte der Piraterie beschäftigten, »in den Verdacht geraten« könnten, »sie würden einem modischen Trend aufsitzen«.17 Dieser modische Trend entstand offenbar ganz unabhängig vom Wiederaufleben der Piraterie in den letzten Jahrzehnten (vor der Küste Somalias oder der Westküste Afrikas zum Beispiel): Piraten sind wieder sexy, und neben der wissenschaftlichen Forschung erlebten sie auch in der Populärkultur eine Renaissance: »der kulturelle Appetit auf Piraten ist enorm«, heißt es bei dem amerikanischen Historiker und Kapitän der dortigen Piratenforschung, Marcus Rediker. Die Piraten des sogenannten Golden Age – etwa 1685 bis 1725 – verloren zwar den Kampf gegen die Herrscher ihrer Tage, stellt Rediker bedauernd fest, aber »sie gewannen seitdem eindeutig die Debatte« (nicht zuletzt dank Autoren wie Rediker). »Sie kaperten das gute Schiff Populär Imagination und auch dreihundert Jahre später gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie bereit sind, es herauszugeben.« So etwas nennt man soft power. »Sie wurden im Laufe der Jahre zu kulturellen Helden, Antihelden vielleicht, auf jeden Fall aber zu romantischen und wirkungsmächtigen Figuren einer amerikanischen und immer globaler werdenden Populärkultur.«18

Robert Bohn, Historiker und einer der besten Kenner der Materie, macht vor allem »das englische Schriftgut« der letzten Jahrhunderte dafür verantwortlich, ein »Bild vom Piratenwesen geliefert« zu haben, »das letztlich zu dessen mythischer Überhöhung führte«.19 Generell ist unser Bild von Piraten in erstaunlichem Ausmaß anglophon bestimmt und vernachlässigt beispielsweise eklatant die Bedeutung der französischen oder holländischen Piraterie, von der in Asien ganz zu schweigen.

Die Romantisierung und Idealisierung des Piraten finden sich, wie oben erwähnt, ansatzweise schon in den beiden wichtigsten historischen Quellentexten: Alexandre Olivier Exquemelins »De Americaensche Zee-Rovers« / »Die amerikanischen Seeräuber von 1678« und mehr noch die lange Daniel Defoe zugeschriebene »A General History of the Robberies and Murders of the Most Notorious Pyrates« von 1724, die seitdem stets im Buchhandel erhältlich war. (Von beiden Werken später mehr.) Mit letzterem, meint Angus Konstam, hatte »der Mythos bereits begonnen, die Realität zu ersetzen«. Sein Historikerkollege B. R. Burg – der mit »Sodomy and the Pirate Tradition« Aufmerksamkeit erregte – stimmt dem zu: »Seit den Zeiten Defoes erlag fast jeder Autor zum Thema Piraterie, ob Forscher, faszinierter Berichterstatter oder Romancier, mehr oder minder romantischen Vorstellungen dazu.« Ein auf den Taten des erfolgreichen Piraten Henry Every (Avery) basierendes Stück, »The Successful Pyrate«, zog etwa zur selben Zeit die Zuschauer ins Londoner Drury Lane Theater, so dass »selbst als der letzte der Piraten des Golden Age noch auf freiem Fuße war, ihre Romantisierung bereits begonnen hatte«20.

Die Prozesse gegen die Piraten und deren Hinrichtungen füllten die Seiten der britischen Presse und erhöhten die Auflage, was Konstams Ansicht nach zu einem geschönten positiven Piratenbild beitrug, das die brutale Realität des Piratenlebens unterschlug.21Kein Disney-Amusement-Park ohne »Pirates of the Caribbean«, die so erfolgreich waren, dass daraus noch erfolgreichere Videospiele und Filme wurden. In 31 US-Staaten gibt es heute pirate festivals, darunter ein viertägiges in Fort Walton Beach, Florida (sozusagen das Oberammergau der Piratenfestspiele). Dabei stürmen 450 Geschäftsleute in Piratenkostümen die Stadt und kidnappen den Bürgermeister.22 Die Störtebeker-Festspiele auf Rügen wurden zum erfolgreichsten Freilicht-Theater Deutschlands.23 »… in Literatur, im Film, in Kinderspielen und -büchern (in ihrer neuesten Variante auch in Computerspielen) – überall begegnet uns der Pirat als in der Regel positiv konnotierte Figur«, obwohl doch die »Geschichte der Piraterie eine endlose Kette von Greuel- und Mordtaten (ist), von Raub und Plünderung, Elend und Verzweiflung, aber auch von blutiger Verfolgung und gnadenloser Ahndung«.24

Aus den Feinden des Menschengeschlechts, aus »einem Haufen ungewaschener Halsabschneider«, waren also »romantische Helden und antiautoritäre Rebellen geworden«25. Von diesem Bild versucht – oder eher: versuchte – die Piraten-Partei zu profitieren; deren Parteilogo zeigte nicht die Totenkopfflagge, sondern eine Art Campingplatzwimpel: Die wollten nur spielen.

Die Piraterie in der Geschichtsschreibung – von der Antike bis ins 20. Jahrhundert

Schon in der Antike wurden Piraten und Piraterie – ihrer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung entsprechend – zum Gegenstand der Geschichtsschreibung: Thukydides zunächst, auch Polybius, Diodorus Siculus, Appian, Strabo, Plutarch, Livius, Cassius Dio. Die Liste ist sicher nicht vollständig. Allerdings scheint es in der Antike keine Monographien zu diesem Thema gegeben zu haben.1 Die antike Geschichtsschreibung folgte dem allgemeinen Trend der »schrittweisen Entwicklung eines negativen Bilds der Piraterie in der griechisch-römischen Welt«, wie de Souza es formuliert.2 Ciceros Rede vom Piraten als communis hostis omnium, als gemeinsamem Feind aller, lebte in der kirchlichen Lehre, im mittelalterlichen Recht fort und fand noch in Prozessen des 18. Jahrhunderts gegen Piraten Anwendung.3

Mit dem in der Antike sich ereignenden eigenen Prozess der Zivilisation – der Entstehung von Recht und Staat etwa, der Ausdifferenzierung von Krieg, Handel und Piraterie4 – entstand ab dem ersten Jahrhundert v. Chr. ein Konsens unter den Gebildeten der griechisch-römischen Welt, wonach Piraterie nicht länger ein heroisch-ehrenvoller Waffengang war, sondern »ein Übel, das zivilisierte Völker heimsuchte. Piraten wurden folglich als apolitische Gesetzlose betrachtet, die von den herrschenden Mächten (…) zum Wohle der gesamten Menschheit unterdrückt werden sollten.« De Souza sieht darin vor allem eine Rechtfertigungsideologie imperialistischer Expansion, muss aber einräumen: »Zweifellos erwiesen sich die Eroberung, Befriedung und politische Vereinigung des Mittelmeerraums durch die Römer langfristig als sehr vorteilhaft für die dortigen Seefahrer und Küstenbewohner. Während mehrerer Jahrhunderte blieben die Gewässer des Mittelmeers weitgehend frei von den Schiffen der Piraten und den marodierenden Kriegsschiffen, deren Angriffe auf die Küstensiedlungen und die Händler des Mittelmeers ein integraler Bestandteil dieser maritimen Welt seit den Zeiten Homers gewesen waren. Solange die Pax Romana dauerte, war das Mittelmeer eine bemerkenswert sichere maritime Welt.«5

Das spricht doch eigentlich entschieden für das Imperium Romanum. Aber damit war Schluss, als die Vandalen als Piraten kamen und dann die Araber, die Kreuzfahrer und ihre Nachfolger wie der Malteser Orden, Piraten aus christlichen Städten und Staaten – auch außerhalb des Mittelmeers wie die Engländer ab dem 16. Jahrhundert –, die Türken schließlich und die Piraten der Barbareskenstaaten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet die mittelmeerische Welt wieder zu dem Frieden ohne Piraten, der so lange unter den Römern geherrscht hatte.

Gegen 1700 beginnt die europäische Geschichtsschreibung sich wieder für Piraten zu interessieren, auch wenn Piraterie an den Küsten Süd- und Westeuropas wie auch in der Ostsee selten längere Zeit unterbrochen war und fast immer eine schwere Bedrohung und Behinderung von Handel und Reisen darstellte, von Bewohnern der Küsten und Hafenstädte. Das spanische Gold und die Attraktion der karibischen Tropen haben den dortigen Piraten anscheinend einen deutlichen PR-Vorteil verschafft, realiter war die Piraterie an den Küsten des Ärmelkanals, an den anderen britischen Küsten und den Kanalinseln, waren Städte wie Dünkirchen, Saint Malo oder Calais oder die Cinque Ports der englischen Küste als Piratenhäfen Städten wie Jamaikas Port Royal oder New Providence auf den Bahamas ebenbürtig oder überlegen.

Im 15. und 16. Jahrhundert, schreibt David Childs in »Pirate Nation« – und damit ist das elisabethanische England gemeint: »Zweihundert Jahre lang war die am wenigsten sichere Route, auf der ein Engländer seinen legalen Geschäften nachgehen konnte, der Seeweg zwischen Ushan«– das ist Ouessant, die bretonische Insel am Eingang zum Ärmelkanal – »und London Bridge, wo wie in einem Meeresgestrüpp Piraten lauerten, um mit ihren Widerhaken all diejenigen zu ergreifen, die schwächer zu sein schienen als sie selber.«

Das elisabethanische England sah dann aber einen Imagewandel des Piraten vom Seestraßen-Räuber zum Verteidiger des Landes, der Königin und des Protestantismus gegen die katholischen, papistischen Spanier (und Portugiesen). Die Sea Dogs der Königin endeten nicht am Galgen, sondern konnten bei befriedigendem Erfolg geadelt werden; hundert Jahre später wird Henry Morgan, einer der erfolgreichsten piratischen Plünderer und Totschläger in der Karibik (und an der Pazifikküste), zum Vizegouverneur von Jamaika ernannt und geadelt. In Frankreich und Holland war es ähnlich – Piraten wurden zu nationalen Heldenfiguren, denn ihre Opfer waren – im Idealfall – die Bürger anderer, verfeindeter Länder.

Daneben erfolgte eine Umdeutung der Piraten: vom communis hostis omnium zum edlen Räuber, Mitglied einer Bruderschaft, die ihre Beute gleich teilte – nichts erregt bis heute mehr Bewunderung, Achtung, Bereitschaft zur Strafmilderung – es scheint die Kardinaltugend Nummer eins geworden zu sein, egalitär, kommunitarisch, republikanisch!