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Kaum jemand hat die Breaks und Beats der Dancefloor-Euphorie der frühen Neunziger so konsequent in Popmusik überführt wie DJ BoBo. Er ist ein Star der Extraklasse, ein cleverer, megaerfolgreicher Unternehmer und ein Familienmensch dazu. Für Schlagzeilen braucht er keine Skandale. Sein Geheimnis auf der Bühne ist die perfekte Show. Wer René Baumann trifft, fragt sich unweigerlich: Wie kann man im Pop-Business bloß über zwei Jahrzehnte ungebrochen Erfolge feiern und dabei so nett und so normal bleiben? DJ BoBo erzählt von den Höhen und Tiefen seiner ungewöhnlichen Karriere, aber auch von privatem Glück und den Werten, die sein Leben prägten.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2016
DJ * BOBO mit Judith Langhans
POPSTAR Der ganz normale Wahnsinn
GOLDMANN
Originalausgabe
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Der Abdruck sämtlicher Fotos erfolgt mit freundlicher Genehmigung der YES Music AG.
1. Auflage Originalausgabe November 2016 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Neumarkterstraße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagfoto: YES Music AG (Radio Pilatus – Fotograf: Michael Fankhauser) Redaktion: Antje Steinhäuser KF · Herstellung: Str. ISBN: 978-3-641-20021-3V002 www.goldmann-verlag.de
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Buch
Kaum einer hat die Breaks und Beats der Dancefloor-Ära so konsequent in Popmusik umgesetzt wie DJ BoBo. Er ist ein Star der Extraklasse, ein cleverer Unternehmer und ein leidenschaftlicher Familienmensch dazu. Für Schlagzeilen braucht er keine Skandale. Sein Geheimnis auf der Bühne ist die perfekte Show. Er inszeniert gewaltige Bühnenspektakel mit akrobatischen Tanzeinlagen und beeindruckenden Licht- und Feuereffekten. Dabei war dem Weltstar ohne Allüren seine Karriere keineswegs in die Wiege gelegt. Der sympathische Entertainer erzählt von fabelhaften Jugenddisco-Highlights, von gewagten Geschäftsideen und unvergesslichen Shows mit Michael Jackson und den damals noch unbekannten Backstreet Boys und auch von Flugangst, Freundschaft und Familie. Kaum zu glauben: 2017 feiert DJ BoBo sein 25-jähriges Bühnenjubiläum. Und manchmal wundert der erfolgreiche Megastar sich selbst, wie sein Leben bei all dem Wahnsinn so normal bleiben konnte.
Autor
Peter René Baumann alias DJ BoBo, geboren am 5. Januar 1968, wuchs mit Mutter und Großeltern in Kölliken, im Schweizer Kanton Aargau, auf. Er absolvierte zunächst eine Bäcker- und Konditorlehre. Zugleich entfaltete er sein Unterhaltungstalent in der heimischen Landdisco. Als er die Musik zum Beruf machte, war er achtzehn Jahre alt. Wenig später gelang DJ BoBo mit seinem Megahit »Somebody Dance With Me« überraschend der Durchbruch. Mit seinen Songs erreichte der Meister der perfekten Show in kürzester Zeit weltweit ein Millionenpublikum. Sein 25-jähriges Bühnenjubiläum feiert DJ BoBo 2017 mit Hunderttausenden Fans und seiner Show »Mystorial«.
Inhalt
1 Viva Las Vegas!
2 Das Zimmerstundenkind
3 Die Frisur von Sophie Marceau
4 Entdeckung des Hip-Hop in Kölliken
5 Mr Robot, weltbester Breakdancer im Dorf
6 Butterzöpfe flechten und Platten drehen
7 Sandra und der Oberschenkel von Kim Wilde
8 Fast legal, illegal – nicht egal
9 Disco King und Disco Queen
10 Die DJ-Europameisterschaften
11 Okay, press ich die Scheiben eben selber!
12 Wir waren jung und brauchten das Geld
13 Die teuersten 7 Sekunden meines Lebens
14 Unterwegs mit den Eurodance-Stars
15 DJ BoBo: Lieber ein bescheuerter Name als einer, den keiner kennt
16 Wenn Amors Pfeil im Aufzug trifft
17 »Wetten, dass …?« und BRAVO – Willkommen in der Champions League
18 Die Backstreet Boys und Justin Timberlake
19 »Tells A Palty« in Seoul!
20 Verhör in Bogotá
21 Please welcome the King of Pop: Michael Jackson
22 Air Force One – Air Forsli Eins
23 Runter mit den alten Zöpfen
24 Wie ich mit 33 meinen Vater kennenlernte
25 Julian Lennon und die Prinzessin von Monaco
26 Hochzeit im Märchenschloss
27 »What A Feeling«
28 Vom Werbespot zum Welthit
29 Schlag den Hasen
30 Im Land von Dschingis Khan
31 Urknall im Popstar-Universum
32 Lasst uns ein Piratenschiff auf die Bühne bringen!
33 Ab ins Exil
34 Andrea Berg: Auf zu einem neuen Abenteuern
35 Sternenträumer
36 Ist Musik umsonst?
37 Musik: Unsere Zeitmaschine
1
DJ * BOBO
Viva Las Vegas!
Im Jahr 2011 vollendete sich mein ganz persönliches Millennium: Mein eintausendstes Konzert stand kurz bevor. Eintausend Konzerte! Das wollte ich unbedingt in einer außergewöhnlichen Umgebung feiern. Auf dem Mond, im Bergwerk, so in dem Stil. Für mich und auch für meine Fans sollte es ein einmaliges Ereignis werden. So viel stand fest.
Las Vegas, schoss es mir bei der Planung durch den Kopf, wir reisen alle gemeinsam dorthin! Nordamerika. Der letzte Kontinent, auf dem ich noch kein Livekonzert gegeben hatte. Diese Lücke konnte ich nun schließen. Eine Reise für meine Fans und mich, ein Gesamtpaket mit Flug, Shuttle, tollem Hotel und Konzertkarten.
Ein Jahr im Voraus begannen wir, alles zu organisieren: den Auftrittsort, die Anreise. Wir ließen eine Menge Flüge reservieren für all die Fans, die uns begleiten würden. Ich war so stolz auf mich und vollkommen überzeugt: Meine Fans würden sich riesig freuen, mir womöglich ewig dankbar sein, sich verneigen vor meinem Esprit, weil ich mir etwas so Grandioses für sie ausgedacht hatte.
Klar, Las Vegas war kein Geheimtipp. Und dennoch: Ich würde erstmals in »Glamour City« auf der Bühne stehen, und die meisten meiner Fans waren vermutlich auch noch nie da gewesen. Ich erwartete mindestens eine tosende Welle der Begeisterung, die über die Alpen branden und mich gleichsam auf den Schwingen glühender Emotionen ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten tragen würde.
Euphorisch verschickte ich die Info-Mail zur Jubiläums-Fanreise an meine treuen Anhänger: Über die Jahre hinweg haben sich eine Menge von ihnen registrieren lassen. So bekommen immer alle die aktuellen Informationen über neue Songs, Tourneen, Auftritte direkt in ihren Mail-Account.
Die Botschaft diesmal: Ihr dürft alle dabei sein, wenn BoBo sein 1000. Konzert veranstaltet, in Las Vegas. Vier Tage mit Unterkunft im legendären Luxushotel MGM, Hin- und Rückflug dazu, und all das für schlanke 1200 Franken oder 990 Euro. Wenn das kein Angebot war.
Ich hatte mich zu früh gefreut: Es dauerte keine dreißig Sekunden, da füllten sich die Mail-Postfächer der YES Music mit wütenden Mails. Alle mit ähnlich lautendem Inhalt: Ob wir
a) noch alle Latten am Zaun
b) den letzten Schuss nicht gehört
c) Drogen genommen
d) die Dusche heute zu heiß gestellt hätten?
Die Fans freuten sich nicht nur nicht – nein, sie waren regelrecht empört: »BoBo, ich habe über hundert Konzerte von dir gesehen, nur woher soll ich das Geld nehmen und diese Reise nach Las Vegas bezahlen?«, schrieb einer. Eine andere gab zu bedenken: »Mein Mann und ich würden ja gern dabei sein, aber fast 2500 Euro für zwei Personen – da warten wir lieber, bis du wieder mal in Bremen bist.« Für ein lustiges Konzert eben mal einen Gutteil des Monatsgehalts investieren, das war nicht drin.
Ich bekam umgehend ein schlechtes Gewissen.
Das Dilemma war: Den runden Konzertgeburtstag wollte ich auf jeden Fall mit meinen Fans zusammen feiern. Nach Las Vegas wollte ich aber auch.
Zusammen mit meinem Team überlegte ich hin und her. Nur vierundzwanzig Stunden später hatten wir die rettende Idee: Wir würden das Konzert Nummer 1000 daheim in der Schweiz geben, in Engelberg. Das in Las Vegas würde einfach die Nummer 1001 sein.
Das war eine nahezu salomonische Lösung, wundervoll.
In Engelberg veranstalteten wir am 26. März 2011 ein Jubiläumskonzert für 1000 Leute in 1000 Metern Höhe. Der Abend war magisch, ich umarmte die Fans und sie mich.
Ich stand oben auf der Bühne, getragen vom Applaus. Meine Gedanken machten sich auf eine Reise durch die Zeit, Stationen meines Lebens gingen mir durch den Kopf: wie ich in den Schweizer Wäldern als Moossammler begonnen hatte, beim Graffiti-Sprayen erwischt worden war, Tanzen gelernt hatte. Wie mein Wunsch, Musik zu machen, immer größer geworden war, während ich als Bäckerlehrling und DJ gearbeitet hatte … dann der Durchbruch und kometenhafte Aufstieg im Showgeschäft. Ein Besuch von Tina Turner in meiner Garderobe. Gemeinsame Auftritte mit den Backstreet Boys, Justin Timberlake und Michael Jackson. Mit Oscar-Gewinnerin Irene Cara bei »Wetten, dass …?« – All das zog an meinem inneren Auge vorbei.
Ich sah meine Freunde neben mir: Curtis. Der scheue Tänzer und Choreograf war einer meiner engsten künstlerischen Berater. An meiner Seite Nancy, die Frau, mit der ich alles teile. Der lebenslustige Oli, der nun schon seit einem halben Leben mein Freund und Manager war, und irgendwo auf dem Gelände steckte Dani Burkart, Mitstreiter der ersten Stunde.
Zusammen mit ihnen und noch vielen anderen großartigen Wegbegleitern hatte ich die ganze Welt bereist und meinen Erfolg geteilt. Sie hatten mich aufgefangen, als ich beim Eurovision Song Contest eine bittere Niederlage erlebt hatte. Auf sie konnte ich mich verlassen. Mir fiel ein, wie ich erst wenige Jahre zuvor meinem Vater zum ersten Mal persönlich begegnet war. Und welches Gefühlsuniversum mir meine Kinder Jamiro und Kayley öffneten. Ich dachte, wie wahnsinnig und zugleich völlig normal mein Leben doch war. Eintausend Konzerte.
Ein paar Tage später saßen wir im Flieger nach Amerika. Im Landeanflug sahen wir Las Vegas unter uns in der abendschwarzen Wüste von Nevada glitzern. Ein Blick wie in Ali Babas Schatzhöhle. Leider funkelte es auch am Himmel beträchtlich. Einen Moment später ertönte die Stimme des Kapitäns: »Sorry, due to bad weather we can’t land the plane right now … We are just crossing a region of stormy clouds.« Wegen schlechten Wetters sollten wir nicht landen können?
»René, du quetschst mir alles ab! Jetzt entspann dich, wir fliegen halt noch ein bisschen im Kreis«, stöhnte Nancy und versuchte, meine verkrampften Finger von ihrem Arm zu lösen.
»Ich …? Ach, das macht mir doch gar nichts aus …«
Ich lächelte gezwungen. Genau das Gegenteil war wahr. Warum sich Hunderte Tonnen Stahl in die Luft erhoben und oben blieben, hatte ich noch nie verstanden. Als der liebe Gott die Fähigkeiten verteilt hat, hab ich bei Entertainment laut »Hier!« gerufen und bei Physik bereits nur noch auf meine tanzenden Füße geschaut. Und jetzt konnte ich schon gar nicht über Flugtheorie nachdenken. Durch meine Adern waberte pure Angst.
Draußen knallte und donnerte es, das Flugzeug schaukelte wie eines dieser irren Kirmesfahrgeschäfte, die Breakdance oder Deadly Looping heißen. Ein Albtraum! Den Auftakt zur Verwirklichung meines Kindheitstraumes hatte ich mir anders vorgestellt.
Seit ich ein kleiner Teenager war, wollte ich genau hier spielen, wo schon Frank Sinatra und Dean Martin am Spieltisch gesessen hatten, wo die Nacht zum Tag wird und die Stromrechnung eines einzigen Abends so hoch ist wie die vom Kanton Graubünden im ganzen Jahr. Die nächste Böe warf die Tüte mit den Nüssen um. Schade, ich würde wohl vorher eines jähen und unerfreulichen Todes sterben.
Nancy machte das alles nichts aus. »Ach, René, das schaukelt nur ein bisschen, gleich landen wir.«
Eine Dreiviertelstunde mussten wir noch am Himmel Kreise ziehen. Immerhin, meine Traumfrau behielt recht. Der Airbus landete sicher, kurz darauf fuhren wir den Strip entlang ins MGM Grand.
Und da war es wieder, dieses Las-Vegas-Feeling, diesmal aus unmittelbarer Nähe: das Glitzern, Funkeln und Schimmern der Leuchtreklamen und Hotels. Neonblau, silbern, rot leuchtete ein Fesselballon am nachgebauten Eiffelturm, Wasserfontänen schossen gen Himmel. Unzählige Menschen schoben sich über den Strip. New York mochte in sein, doch das hier war die Stadt, die wirklich niemals schlief.
Unser erster Tag begann mit einer echten Hochzeit. Keine in einer billigen Wedding Chapel, wo Hinz und Kunz und Krethi und Plethi sich ewige Ehen versprechen, die selten lange halten. Sondern eine Hochzeit mit Herz und Liebe und allem Drum und Dran.
Der Bräutigam war mein Jugendfreund Oli Imfeld. Mein Freund, Geschäftspartner, Best Boy, Sparringspartner und Inspirator. Oli, der Athletische mit den dunklen Haaren und den dunklen Augen, die immer so funkelten. Der Frauenschwarm, der mehr Charme hatte als alle Bachelors miteinander. Nur irgendwie war es bisher bei keiner Dame von Dauer gewesen.
Er hatte nach vielen Jahren der Wanderschaft seine Jugendliebe Euridice wiedergetroffen und ihr einen Antrag gemacht. Die strahlende Braut hieß wie die griechische Eurydike, die Orpheus, der Schussel, trotz Persephones Gnade endgültig an die Unterwelt verlor. Die Geschichte von Oli und seiner Schweizer Euridice mit holländischen Wurzeln endet viel romantischer. Die beiden waren schon als sehr junge Leute ineinander verliebt und ein Paar gewesen, allerdings war die Zeit damals noch nicht reif für sie. Jahre später waren beide wieder solo. Mit über vierzig funkte und knallte es erneut wie bei einem illegalen polnischen Silvesterböller, kawumm! Diesmal für immer.
Und jetzt standen Oli und Euridice tatsächlich im Bellagio, dem Las-Vegas-Hotel mit den riesigen Wasserfontänen, in dem auch »Oceans Eleven« mit George Clooney gedreht worden war, um einander das Jawort zu geben. Als beide »Yes« sagten, drückte ich gerührt Nancys Hand. Was für ein Event.
Mein persönlicher Mega-Event war natürlich der Abend meiner 1001. Show.
Fans aus der ganzen Welt hatten sich mit uns auf die Reise gemacht. Sie warteten an den Tischen im Hard Rock Café Las Vegas. Um in den Veranstaltungssaal zu gelangen, musste man Treppen steigen, die an Glaskästen mit den Fotos all der großen Stars vorbeiführten, die hier schon gespielt hatten: Queen, die Spice Girls, Bob Dylan, Joe Cocker.
Viele Fans waren mit ihren Familien angereist, aus Argentinien, von den Philippinen. Ein Mädel aus Arizona erzählte, sie habe meine Musik über ihren Papa kennengelernt – nun waren sie beide da.
Und weil es auch Alkohol gab und die Gesetze in den USA streng sind, wurden am Einlass die Pässe kontrolliert. Jeder, der unter einundzwanzig war oder seinen Ausweis vergessen hatte, bekam mit schwarzem Edding ein dickes Kreuz auf den Handrücken gemalt. Das hieß dann: »Sorry, but no booze for you, guy.« Die anderen kriegten ein grünes Bändchen ums Handgelenk.
Heimlich warf ich vorab einen Blick durch die Tür, durch die ich auftreten würde: Schon eigenartig, da waren sie alle, der ganze Raum war voll, all die bekannten Gesichter. Doch, im Ernst, einige meiner treuen Fans kannte ich inzwischen persönlich. Nicht alle namentlich, aber ich erkannte sie.
Dort, wo ich auf meinen Auftritt wartete, sah es reichlich unglamourös aus: Die Tänzer Renick, Curtis und Claire sowie meine Liebste und ich standen zwischen Alu-Regalen voller Gläser und Plastikboxen, in denen Essen gelagert werden konnte. Auf den stählernen Ablageflächen standen Ketchup- und Senfflaschen, der Boden war gekachelt, wie eine Küche halt aussieht.
So ist das im Showgeschäft: Schaust du hinter die Bühne, ist es mit dem Glitzer schnell vorbei.
Viva Las Vegas! Wir legten los.
Das Konzert war wie ein Rausch für mich. Irgendwann stand auch das Barpersonal in der ersten Reihe, und die Jungs nickten mit ihren langen Bärten im Takt der Musik, wie späte ZZ-Top-Lookalikes, die Sonnenbrille auf der Nase. Selbst der Schweizer Botschafter war anwesend, eigens aus Washington angereist.
Nach drei Stunden fantastischer Stimmung, gelungener Show und vier Zugaben war das Konzert vorbei. Ich huschte in den Backstagebereich und zog mir zum gefühlt zehnten Mal ein frisches T-Shirt über. Mann, ein bisschen platt war ich inzwischen schon.
Draußen warteten indes bereits alle Zuschauer artig in einer Reihe. Im Überschwang hatte ich mich dazu hinreißen lassen und den Fans zugerufen: »Hey, es ist so schön, dass ihr da seid. – Ich mach nachher mit jedem von euch ein Foto und signiere alle CDs, die ihr mitgebracht habt!«
Gut, wer gackert, muss auch legen, das habe ich immer so gehalten. In diesem Fall stand fest: Das würde dauern.
Einer hatte einen roten Cowboyhut auf mit Schweizer Fahne drauf, ein anderer hielt mir die Fahne gleich zum Unterschreiben hin. Fast drei Stunden schrieb ich meinen Namen und lächelte in die Kameras. Das ist schließlich Teil des Popstar-Berufes. Ah, da waren ja Anne aus Esslingen und ihr Mann, die hatten gleich auch ihre beiden Jungs mitgebracht. Ich fand es super, meine Fans zu treffen. Anne und ihr Mann hatten sich auf einem der ersten DJ BoBo-Konzerte kennengelernt, 1994 beim Mega Dance Festival in Prag, und danach 97 weitere Bühnenshows von mir gesehen.
Ein großes schwarzes Kreuz prangte auf Annes Hand. »Haha, noch unter einundzwanzig, was?«, lachte ich, doch Anne, Anfang vierzig, fand es weniger lustig. »I hend mei Ausweis halt vergesse«, schwäbelte sie, »un jetzt krieg i net amol a Viertele Wein.« Kurzerhand marschierte ich los und organisierte ein Glas Weißwein für sie. Ich durfte das.
Draußen auf dem Las Vegas Strip war die Sonne längst untergegangen. Ich lehnte mich zufrieden zurück: Mein Abend war ein voller Erfolg gewesen.
Keine vierundzwanzig Stunden zuvor wäre das Ganze beinahe geplatzt. Denn wir wollten in Vegas auch den zweiten Teil zu meinem Video »Viva Las Vegas!« drehen.
Wir hatten beim Frühstück gesessen. Stefan Siebert, mein Produktionsleiter, kam im MGM zu uns an den Tisch. Hastig schluckte ich meinen letzten Bissen hinunter. Wir hatten für die kommende Nacht den halben Strip für die Dreharbeiten gesperrt, damit ich in meinem schicken goldenen Glitzeranzug mit dem knallroten Riesencabrio ein paarmal lässig singend hin- und herfahren konnte. An mein Revers hatte die Kostümbildnerin extra noch ein paar Kristalle geklebt, damit es noch mehr funkelte. Jedenfalls hatten wir Hunderte Dollar für die Drehgenehmigung bezahlt. Zwei Stunden, von 21 bis 23 Uhr, sollten wir unbehindert auf dem Las Vegas Boulevard arbeiten können. »Ich hab hier alles geregelt und im Griff«, hatte der örtliche Scout Joe, ein Mittvierziger im grauen Langarm-Rippenshirt, am Tag zuvor noch glaubhaft versichert. Ich verkündete: »Das wird toll, da freu ich mich!«
Um 19:30 Uhr trafen wir uns auf einem abgerockten Hinterhofparkplatz. Die ganze Crew, Regisseur Gregor Skowronek, Kameramann Helmut Hofer, Curtis und Nancy, ingesamt rund zwanzig Leute waren mittlerweile anwesend, und wir gingen den Dreh noch einmal durch. Im Mittelpunkt des Videodrehs sollte ein schickes Auto stehen, ein 1964er Cadillac, ein rotes Cabrio mit Ledersitzen und einem Lenkrad groß wie ein Adventskranz. Das Riesenschiff hatte den Benzinverbrauch eines ganzen LKW-Geschwaders. Ist den Amis wurscht, hier gibt es den Sprit zu Spottpreisen.
Ich sollte hinten im Wagen stehen und singen, während aus dem vorausfahrenden Kamera-Auto gefilmt wurde. Keine unlösbare Aufgabe für mich. Trotzdem gingen wir den Dreh wieder und wieder durch, während wir auf Scout Joe warteten, der die Genehmigung für uns klargemacht hatte. Doch der Mann kam und kam nicht. Es wurde allmählich kalt. In der Wüste steigen die Temperaturen tagsüber locker auf dreißig Grad – und nachts kühlt es massiv herunter. Mein goldener Anzug glitzerte zwar noch immer mordsschick, ich fror aber darin wie ein Küken ohne Federn. Das Jackett war eine wunderbare Showklamotte – gefüttert war da gar nichts. Die Frau des Regisseurs lieh mir ihren Schal. Der war rot und blau und gelb und maximal bunt und sah zu meinem flitternden Goldanzug maximal beknackt aus. Egal, Hauptsache warm.
Es wurde immer später. Kein Joe in Sicht. Wenn wir noch irgendetwas in den Kasten kriegen wollten, mussten wir ohne Joe losfahren. Immerhin hatten wir die Papiere. Und ein gesundes Catering aus Mandarinen, Chips, Bananen und Tortilla-Crackern hatte er uns wenigstens hinstellen lassen.
Oh oh, dachte ich, das ist jetzt nicht gut.
Wenn unser zwanzigköpfiges Team unverrichteter Dinge ins Bett gehen müsste, wäre das jedoch auch nicht gut. Die kostbare Genehmigung galt nur für diesen Abend. Immerhin, die Beamten des Las Vegas Metropolitan Police Department mit ihren gelben Warnwesten hatten uns nicht im Stich gelassen, sie begleiteten uns.
Vorne ein Wagen der Polizei, danach das Kamera-Auto und dann auf einem Trailer: ich in dem knalligen 1964er Cadillac-Cabrio und mit dem Goldjäckeli-Anzug bekleidet (ohne Schal). Ein weiterer Wagen der Polizei bildete den Schluss unserer Kolonne. Wir bogen auf den Las Vegas Boulevard, die sechsspurige Pulsader der Stadt.
The Strip!
Ich erhob mich und intonierte »Viva Las Vegas!«. Am Straßenrand standen neugierige Menschen, winkten, machten Fotos, freuten sich – ah, meine Fans, jawohl, hier bin ich, euer BoBo! Schnell entstand ein Verkehrschaos. Da merkte ich, dass sie nur in die Kamera winkten. Oh, mich brauchte es hier wohl gar nicht, um Begeisterung zu erzeugen. Schade. Ich sang noch mal und noch mal »Viva Las Vegas!«.
Ich freute mich sooo sehr auf mein Bett … Zum x-ten Mal sang ich »Vivaaaa Las Ve…!« Zu »…gas!« kam ich nicht mehr. Mein Fahrer hatte plötzlich scharf gebremst. Fast kippte ich in Slapstick-Manier aus dem schicken Cadillac-Cabrio, konnte mich gerade noch an die Lederlehnen klammern. Eine Sperrung hielt uns auf. Nur handelte es sich dabei leider nicht um die für unser Team.
Es ging gar nichts mehr. Oli sprang kreidebleich aus dem hinteren Begleitwagen und begann, am Straßenrand mit einem Polizisten zu diskutieren. »Excuse me, Sir, why do we have to stop, here, see my official papers …«, begann er, in der Hoffnung, direkt für Klarheit sorgen zu können. Wir waren ja noch nicht fertig mit dem Dreh, wir hatten noch nicht einmal richtig angefangen.
Olis Gesten nach zu urteilen, lief es nicht gut. Der Ordnungshüter schüttelte den Kopf und würdigte die Papiere, mit denen Oli eifrig winkte, keines Blickes.
»Das indische Fernsehen hat hier alles lahmgelegt, die drehen irgendeinen Bollywood-Schinken!«, rief Oli mir zu. Ich konnte es nicht fassen. Wir hatten doch eine Genehmigung!
An cooles Autocruisen und einen lässigen Videodreh war jetzt nicht mehr zu denken. Ich wickelte mich in der kühler werdenden Luft der Glücksspielermetropole wieder in den wärmenden Schal und setzte mich schmollend auf die Rückbank des Cadillacs.
Wir mussten eine Pause nach der anderen einlegen und kamen nur im Schneckentempo vorwärts, vorbei an dem ausgelassenen Filmset der fröhlichen Inder.
Da stellte sich plötzlich ein Polizist frontal vor meinen Wagen, winkte uns an den Straßenrand. Er zeigte auf mich wie dieser Uncle Sam auf dem Rekrutierungsplakat »Your country needs you« und dröhnte: »You have to come with us!!«
Ich …?! Jetzt …? Aber … also … ich war doch hier der Hauptdarsteller …!
Der Polizist wollte mich allen Ernstes festnehmen. Ich sei ja der Verantwortliche und Veranstalter und überhaupt BoBo höchstpersönlich und damit schuld an der Misere. In dem aufgebrachten Wortschwall war außerdem das Wort »stop« deutlich zu identifizieren – waren damit etwa die Dreharbeiten gemeint? Oli versuchte, die Situation zu befrieden.
Es stellte sich heraus, dass Joe, von dem wir unsere Genehmigung bekommen hatten, in Vegas als Hochstapler stadtbekannt und vorbestraft war …
Oli zückte ein Papier nach dem anderen, um die Rechtmäßigkeit unseres Drehs zu beweisen, während ich im Auto an meinen Fingernägeln knabberte, auf meine polierten Schuhe schaute und so tat, als ginge mich das Ganze nur entfernt etwas an.
Ich war erleichtert, als der Police Officer endlich abzog.
»Können wir etwa weiterdrehen?«, fragte ich.
»Ja.« Oli war einsilbig. Nicht so gut.
»Der ist wohl ein Fan, deshalb hat er uns dann doch durchgewunken, oder?«, fragte ich leicht ironisch.
»Nein …«, knöterte Oli zurück.
Okay, also nicht.
»Der Officer sagte, hier könnten auch Madonna und Lady Gaga zusammen vorbeikommen und er wäre gnadenlos. Hier kommen alle paar Tage mächtig berühmte Leute vorbei. Las Vegas halt. Ich habe jetzt eine Stunde für uns rausgeschlagen. Weißt du, warum er sich hat erweichen lassen? Sein Sohn ist gerade in der Schweiz als Austauschschüler. Die Schweiz-Connection! Das hat den Ausschlag gegeben. Und zahlen müssen wir leider auch noch mal. Immerhin, think positive, du musst nicht in den Knast.«
Der Tag endete schließlich noch ganz versöhnlich. Der Officer nahm es mit der Stunde nicht so genau, sodass wir etwa die halbe Nacht den Strip rauf- und runtergondelten, während ich unermüdlich »Viva Las Vegas« sang.
Bis der Kameramann mich endlich erlöste: »Alles im Kasten.«
Wir drehten natürlich auch am berühmten Sign, dem neonbeleuchteten Wahrzeichen der Stadt. »Las Vegas« steht da, gestaltet in einer Fünfzigerjahre-Schrift, verschnörkelte Neonröhren. Man kennt dieses Leuchtschild aus unzähligen Filmen. Ich trug wieder den goldenen, knallengen Showstar-Anzug. Wir warteten auf das richtige Licht, genau wie das bei Topmodels auch immer ist. Jawohl, ich war heute ein Topmodel. Na, vielleicht spielte es auch eine Rolle, dass der auf Hochglanz polierte Wagen in der Nachmittagssonne besonders schick aussah.
Gregor, der Regisseur, erklärte mir die Einstellungen und was ich tun sollte: Mit dem knallroten Cadillac losfahren, auf dass Staub aufgewirbelt werde. Nur bitte nicht zu viel Staub, weil sonst die sündteure Kameratechnik den Geist aufgeben würde, wir drehten schließlich in 3D. Da werden zwei Kameras in ausgefeiltem Winkel direkt nebeneinandergeschraubt. Alles sehr heikel, ja, ich verstand seine Sorgen.
Bei der ersten Probe drehten die Räder quietschend durch, die Wüste wolkte kameraträchtig hinter mir auf. Ein Topmodel bei der Arbeit.
Der Kameraassistent weinte um sein Equipment. Der Best Boy heulte auf, weil er stundenlang an der Lackpolitur gearbeitet hatte, und Gregor hatte ebenfalls Tränen in den Augen. Ob wegen des Staubs oder weil ich es wirklich soo klasse gemacht hatte, keine Ahnung.
Nach dem Dreh schaute ich mir erst alles auf dem kleinen Monitor an und ging dann rüber zu den wartenden Fans. Es rührte mich, dass sie solchen Anteil nahmen. Und schon war ich umringt von drei hübschen englischsprachigen Damen in Cocktailkleidern mit Leopardendruck und Petticoat. Sie hatten Marilyn-Monroe-Frisuren und Fünfzigerjahre-Hütchen auf dem Kopf. Ich gab Autogramme, posierte für Fotos, und sie erzählten mir, dass sie riesengroße Fans seien. Die Damen waren aus Australien angereist, wie ich erfuhr. Aus Down Under, das war der Hammer! Obwohl ich da doch nur ganz wenige Hits gehabt hatte. Aber die hatten anscheinend eingeschlagen. Wir lachten über Sydney, den Aussie-Slang und Kylie Minogue, die in den Neunzigern mit Jason Donovan ihre ersten Erfolge hatte. Ich hakte die Damen unter, und wir sangen »I should be so lucky …«
Herzlich verabschiedeten wir uns schließlich, ich kehrte beschwingt ins Hotel zurück. Ich hatte treue Fans in Australien!
Mit lässigem Hüftschwung und breitem Rücken, na ja, so breit der halt bei mir möglich war, setzte ich mich am nächsten Morgen mit Nancy und Oli an den Tisch. Mein Freund und Manager empfing mich mit nachdenklicher Miene.
»BoBo, sie wollten dich gestern schon wieder verhaften. Beim Dreh am Las-Vegas-Schriftzug.«
»Verhaften? Ja, wer denn – und wieso?«
Hatten wir etwa wieder keine gültige Genehmigung? Hatte ich zu viel Staub aufgewirbelt? War der Wagen nicht zugelassen? Hatte ein Teammitglied kein Visum?
Stockend erklärte Oli mit mühsam unterdrücktem Lachen, was vorgefallen war: Die drei netten Australierinnen hatten nach meinem Abgang den Regisseur befragt, ob ich ein Pornostar wäre. Der es wagte, in aller Öffentlichkeit zu drehen …
Ich!
Ich war schockiert, und mir dämmerte: Die Damen kannten mich überhaupt nicht. Eine Verwechslung. Wieso wollten sie dann Autogramme – von einem Pornostar?
Die gnadenlose Erkenntnis: Das waren gar keine Fans aus Australien!
Oli und Nancy kicherten. Ich schmierte mir ein Brötchen, tat gelangweilt und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Immerhin unsere Dreherlaubnis war diesmal einwandfrei. Oli hatte die herbeigeeilten Behörden beruhigt, erklärt, ich sei kein Popp-Star, sondern ein berühmter Popstar.
Mit der Berühmtheit ist das ja so eine Sache. Mir fiel ein, wie ich vor 160 000 Menschen gespielt hatte, in Tirana, und vor ähnlich vielen in Kiew. Oder in all den großen Arenen und Hallen.
Am Ende solcher Riesenkonzerte dachte ich dann, ich sei ein Held und könne übers Wasser laufen. Da hatten Tausende jubelnder Menschen vor mir gestanden. Ein Meer von wogenden Armen, wie eine Welle traf mich ihre Energie. Ich konnte Menschen zum Mitsingen bewegen, zum Mitklatschen und -tanzen, sie begeistern, ja, das konnte ich sogar sehr gut.
Vielleicht konnte ich ja doch übers Wasser gehen!
Gott sei Dank sorgen meine Weggefährten in solchen Momenten des anfliegenden Größenwahns stets dafür, dass ich auf dem Teppich bleibe.
Wenn die Adrenalinwolken einer Tour aus meinem Großhirn verschwunden sind, denke ich: Sie haben recht. Ich liebe meinen Beruf. Aber wenn die Scheinwerfer aus sind, bin ich René. Und dafür, dass mein Team mir das immer wieder klarmacht, liebe ich sie alle.
Alle! Leute, ich liebe euch!
Na gut, fast alle.
Manche Menschen sagen, nichts funktioniert so gut als Zeitmaschine wie Musik. Man brauche nur einen Song zu hören, und schon versetze es einen zurück zu der Party der Eltern, als man heimlich geraucht und zu viele Bowlenfrüchte genascht hat, oder in den Campingurlaub in den Achtzigern, als man das erste Mal hinter den Dünen geknutscht hat.
Kommt in diesem Buch mit auf eine Reise durch die Zeit – durch meine Kindheit und Jugend, vielleicht auch durch eure. Wir reisen in der Zeitmaschine durch mein ganzes Leben.
Auf der glatten weißen Oberfläche der futuristischen Maschine blinken Jahreszahlen, Momentaufnahmen erscheinen auf einem Monitor. Der Swing der Sechziger tändelt, der Funk der Siebziger blinkt wie eine Discokugel, Synthesizerklänge der Achtziger erzeugen breite Soundflächen, und der coole Beat des Eurodance der Neunziger groovt mit 140 Beats pro Minute. Bis wir die chilligen DJ-Klänge der Nullerjahre erreichen.
Einsteigen, bitte – los geht unsere Reise durch Raum und Zeit!
2
DJ * BOBO
Das Zimmerstundenkind
Die Schweiz 1967. Die Haare waren hochtoupiert oder mit Brillantine gegelt, Hahnentrittmuster, Etuikleider, der Mann trug Anzug. Jeans waren nur etwas für Feldarbeiter. Im Radio lief »Puppet on a String«, im Kino schmachtete »Doktor Schiwago«.
Das ist die Zeit, in der zwei Menschen sich fanden und der kleine René entstand. Nun, so wirklich geplant war ich wohl nicht.
Ja, liebe Leute, ich bin ein Kind des Schicksals. Ein Kind der Liebe, so sagte man in den Sechzigern.
Meine Mama Ruth war gelernte Floristin. Damals trug sie das dunkelblonde Haar halblang und glatt. Ihr Lächeln betörte, sie war schlank – und erst zweiundzwanzig Jahre alt. Sie stammte aus dem kleinen Schweizer Dorf Kölliken. Dort war es ihr zu eng geworden, sie wollte hinaus, die Welt sehen – vielleicht hab ich diesen Drang von ihr geerbt.
Ein Jahr zuvor, 1966, hatte sie noch in Davos gearbeitet, dem schnuckeligen Schweizer Kurort mit reichen und mondänen Sommerfrischlern. In einem weißen strahlenden Hotel hatte sie Tischdekorationen gemacht. Er arbeitete dort an der Rezeption. Luigi aus Bella Italia, Sehnsuchtsland. In seinen Augen leuchtete die Sonne, er machte ihr den Hof und Komplimente wegen ihrer schlanken Beine und ihres roten Mundes. Und amore brach sich Bahn.
»Let’s Spend the Night Together« sangen die Stones, »All You Need Is Love«, meinten die Beatles. Die Gesellschaft war zwar stockkonservativ, die Schweiz vielleicht noch mehr als Deutschland. Manch einer betrachtete die »freie Liebe« als Ideal und sagte: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.
Mit den Blumenkindern aus San Francisco hatte meine Mama zwar nichts am Hut. Aber »Something Stupid« hatte sie vielleicht im Sinn, schlug alle Warnungen in den Wind und verliebte sich Hals über Kopf in den schicken Italiener.
Ruth fuhr zurück nach Kölliken in die Schweiz, Luigi nach Guardia Lombardi, östlich von Neapel. So ganz aus dem Kopf schlagen konnten sie einander nicht.
Im Frühjahr 1967 war Mama als Floristin in Ascona angestellt, am Lago Maggiore. Jetzt scharf aufpassen – ich werde ja 1968 geboren …
Das Wasser leuchtete tiefblau neben den Palmen, die Damen hatten die Augenbrauen ausgezupft und Pillenschachteln auf dem Kopf wie die amerikanische First Lady Jackie Kennedy. Die Herren trugen Krawatten, breit wie Autobahnen – gut, ich sah auch manchmal albern aus in den Neunzigern, aber wie die in den Sechzigern rumgelaufen sind …
Mama aber sah nicht albern aus. Luigi und sie hatten sich nach der Sommerliebe in Davos Briefe geschrieben, von »amore« und »sempre« und »voglio rivederti« – ich will dich wiedersehen.
In Ascona besuchte Luigi sie noch einmal, amore, solo una ultima volta, bitte bitte, nur noch ein Treffen.
Luigi arbeitete wieder als Rezeptionist, buon giorno, hier ist Ihr Schlüssel, nein, es gab keine Nachrichten für Sie, Frühstück im Saal hinten rechts. Der Tag eines Rezeptionisten begann früh am Morgen und endete erst spät in der Nacht. Am Nachmittag gab es eine Pause, »Zimmerstunde« genannt. Weil andere sich da im Zimmer ausruhten.
Luigi und meine Mama ruhten sich auch aus, damals im Frühjahr 1967, nur, na ja, sagen wir – aktiver als andere das taten. Und so entstand ich – in einer entspannten Pause. Ein »Zimmerstundenkind«.
Nach der Saison fuhr Mama Ruth wieder heim, nach Kölliken. Kölliken im Kanton Aargau.
Die Gegend, wo ich aufgewachsen bin, ist ländlich, lieblich mit sanft geschwungenen Tälern. Schroffe Berge oder gar Gletscher gibt’s hier nicht. Hinter einem kunterbunt angestrichenen Betonwerk biegt man rechts ab und erreicht Kölliken. Unter dem Ortsschild ist ein Blumenkasten mit Geranien.
Eine schlichte Kirche, viele Holzhäuser, manche geschnitzt, ein Heimatmuseum mit einem Dach aus Naturweide bis fast zum Boden, das Oberdorf und das Unterdorf, drum herum sind Hügel und auch Berge. In der Mitte des Dorfes rauscht der Köllikerbach. Rund 4500 Menschen wohnen hier – und meine Mutter war einer von ihnen. Und ich auch.
Mama kam heim, 1967, nach dem Ende des Sommerjobs in Ascona. Sie band wieder Blumen als Floristin, da wurde ihr immer öfter flau und auch schlecht. Irgendwann wurde der Bauch rund, und Ruth ahnte, dass sie wohl alleine schon zu zweit war.
Ruth und Luigi schrieben sich weiter Briefe, und die Floristin »in guter Hoffnung« gestand dem Italiener ihren Zustand. Nun waren die Sechziger nicht die Ära der klaren Worte, und so schrieben beide um den heißen Brei herum. Nie war die Rede von: »Ich bekomme ein Kind« oder »Ich bin schwanger«, sondern es ging immer allgemein um »die Gesundheit«.
»Geht es dir denn auch gut, so gesundheitlich«, fragte Luigi aus Italien, und Ruth in der Schweiz antwortete geduldig: »Ja, ja, mit der Gesundheit ist alles bestens …«
Natürlich bot Luigi als guter Italiener ihr auch die Ehe an, il padre mio. Allerdings konnten Ruths Eltern zu diesem Zeitpunkt schon den Bauch sehen. Und sie reagierten großartig.
»Ruth«, sagten sie zu Mama, »das kriegen wir hin. Wir helfen dir, dein Kind großzuziehen, gemeinsam.« Schon nobel – in den Sechzigern flogen viele ledige Mütter zu Hause raus, wenn sie ungewollt schwanger wurden. Ich war als Bambino sehr erwünscht in meiner Familie.
Luigi war sein Heimatörtchen Guardia Lombardi auch zu klein geworden, 1800 Einwohner auf 55 Quadratkilometern, das Dörfchen liegt im kampanischen Hinterland, da, wo beim Stiefel der Spann anfängt. Er wollte mit Mama Ruth nach Neapel.
Jedoch – sie wollte nicht.
So wurde ich im Januar 1968 in Kölliken geboren.
3
DJ * BOBO
Die Frisur von Sophie Marceau
Vati, Mueti (so nannte ich Opa und Oma) und meine Mama Ruth zogen mich in Kölliken auf.
Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war meine Hosenscheißerwelt ein Knaller. Nur ein paar Hundert Meter musste ich geradeaus laufen, dann stand ich mitten im Wald. Hohe Tannen stellten im Sommer ein dichtes Dach bereit, ruhig und still, und mein Wald war voller Abenteuer und Geheimnisse. Ich spielte zwischen riesigen Farnbüscheln mit meinen Freunden Verstecken, staute zum Unwillen der Bauern den Bach unten im Dorf, baute eine Hütte aus Baumstämmen.
Im Winter konnte ich prima Schlitten fahren, denn wie es sich für ein Schweizer Dorf gehört, haben wir natürlich rund um Kölliken ordentliche Hügel und Berge. Die sind zwar nicht so hoch wie die Alpen, aber zum Rodeln reichte es, zum Beispiel die Schorüti, da war sogar mal ein Skilift. Skifahren lernte ich natürlich auch sehr früh. Eigentlich sollten wir immer brav im Schneepflug fahren, allenfalls Schwüngli rechts, Schwüngli links, ich liebte es jedoch, im Schuss den Berg hinunterzudonnern. Ein Glück: Verletzt hab ich mich nie ernsthaft.
Die Erwachsenen trugen in den Siebzigerjahren sehr große Brillen, die das halbe Gesicht verdeckten, die Männer dazu gern Koteletten und die Damen eine Ponyfrisur, die »Bob« hieß, so wie Bob Dylan, der berühmte Protestsänger, komisch, eine Frisur wie ein Musiker. Hosen waren am Bund extrem schmal, sodass man kaum sitzen konnte, und unten so weit ausgestellt, dass die Schuhspitze darunter verschwand. Es gab schreiende grafische Muster in grellen Farben (dass unser aller Augen das überlebten …). Selbst wir im kleinen Schweizer Dorf hatten diese Muster an der Kleidung oder auf der Tapete. Im Radio lief ABBAs »Waterloo«. Mit dem Lied, das die Liebe mit Napoleons Niederlage vergleicht, hatte die Popband den Eurovision Song Contest gewonnen. Alle tanzten außerdem zur Musik von The Sweet, Carl Douglas’ »Kung Fu Fighting« oder Lobos Hit »Baby, I’d Love You To Want Me«.
Leider kamen Schatten angekrochen und legten sich bleiern über mein kleines Idyll – meine Oma starb und nicht so viel später auch mein Opa. Das war sehr, sehr traurig.
Mama kam damit der sichere Hafen abhanden. Sie stand alleine da. Vor der Herausforderung, sich selber und mich ernähren zu müssen, ohne weiterhin eine Betreuung für das kleine Peterli (also mich) zu haben.
Sie musste mehr arbeiten, Geld verdienen und sich zeitgleich um mich kümmern – das war anstrengend und zermürbend. Noch dazu in einer Zeit, in der es kaum unterstützende Angebote für Alleinerziehende gab, und in einem recht konservativen Land, das erst 1971 (!) das allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt hat.
Meine Mama und ich saßen abends oft am Küchentisch. Ich aß ein Chäsebrötli, und Mama saß mir gegenüber, stumm, manchmal flossen Tränen ihre Wangen hinunter.
»Mama, was ist denn, hab ich dich geärgert?«, fragte ich dann unsicher und ängstlich. »Nein, Peterli, es ist doch alles gut«, antwortete sie mit fester Stimme. Aber ihr Körper zitterte.
Sie wollte mir keine Sorgen bereiten, mir die Last von den schmalen Schultern nehmen. Ich hörte beruhigende Worte, die leider nicht zu den Tränen passten, und wusste: Nein, hier war nicht alles gut, Mama war traurig und verzweifelt, das sah ich genau.
So konnte es nicht weitergehen, das wusste ich. Nur war das, was dann kam, weitaus schlimmer als Mamas Tränen: Das Schicksal schickte uns einen Mann. (Hey, Schicksal, es hätte gern ein anderer sein dürfen!) Der Mann hieß Peter, war Witwer und heiratete meine Mama. Und er hatte bereits zwei Kinder, die jetzt mein Bruder und meine Schwester wurden, Regula und Peter.
Jetzt hatten wir ein bisschen viele Peters auf einmal im Kölliker Holzhaus. Den Ehemann-Peter, seinen Sohn und mich. So wurde ich umgetauft – ab jetzt rief mich keiner mehr Peterli, sondern René, nach meinem Zweitnamen.
Die beiden Geschwister waren das einzig Positive an der neuen Familienkonstellation, denn: Dieser Mann, der mein Stiefvater wurde, trank oft nicht nur ein Gläschen.
Dann stand er vor Mama und schrie sie an. Sie verharrte stumm und unbeweglich, weinte. Vielleicht hatte sie Angst, er könne davongehen, wenn sie sich wehrte, möglicherweise hatten Frauen in dieser Zeit auch nicht den Mut, um aufzubegehren.
Wenn Mama schwieg und alles erduldete, wurde es aber schlimmer. Er schrie weiter und wurde immer wütender. Das war furchtbar, es tat mir im Herzen unglaublich weh.
Eines muss ich zu seiner Ehrenrettung sagen: An uns Kindern hat er seine Wut nie ausgelassen. Aber auch so standen die Dinge schlimm genug. Idyllisch war mein Leben nicht mehr, sondern voller Spannungen, schlimmer Gefühle und der Angst vor dem Abend, wenn der Alkohol wieder zuschlug.
Vielleicht trinke ich deshalb heute keinen Alkohol, und zwar wirklich gar keinen. Wenn man mir ein bisschen Hustensaft mit Alkohol gibt oder im Käsefondue den Weißwein nicht einkochen lässt, sing ich »Everybody« auf Spanisch, und das ganz ohne Playback.
Im Wald regierte der böse Mann nicht, mein Dorf und der Fußballverein waren meine Zuflucht. Beim Fußball bolzte ich über den Platz, so oft ich konnte, und wurde ein wieselflinker, ehrgeiziger Spieler. Ich rannte, was die Lunge hergab, kletterte, fuhr Rad, balgte mich mit meinen Freunden.
Wenn ein Junge Letzteres heute tut, kommen alle schnell mit ADHS und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Meiner Ansicht nach ist das Quatsch. Keine meiner Hosen war ohne Lederflicken an den Knien, und Bücher ohne Bilder fand ich sehr schwierig. Ich durfte ein wilder Schweizer Junge sein, ohne Ritalin, dafür mit sehr viel Frischluft in einem tollen Dorf.
Mein erster Berufswunsch war: Lokführer. Durch die Tunnels hinein, aus den Tunnels wieder hinaus, aufs Bergli hinauf, ins Täli hinab. Alle Kinder kannten damals Lukas den Lokomotivführer aus dem Buch von Michael Ende. Der war stark, wusste für alle Probleme eine Lösung und erlebte die tollsten Abenteuer. So wollte ich auch sein.
Mein erster Job war: Moos sammeln. Ohne Moos nix los, weiß ja jedes Kind. Ich war ja sowieso den ganzen Tag im Wald, das ließ sich doch vielleicht zu Geld machen, überlegte ich. Meine Mama, die Floristin, kam auf die Idee. »René, such doch Moos, der Gärtner kauft’s dir ab.«
So war’s. Ich wurde Moosspezialist. Wir legten es auf dem geräumigen, luftigen Heuboden zum Trocknen aus, Platz hatten wir ja genug. Pro Kiste Grünzeug zahlte mir der Gärtner sieben Franken, kein schlechter Tarif, wenn man acht Jahre alt ist. Manchmal schaffte ich sechs, sieben Kisten pro Monat.