Queen Victoria - Julia Baird - E-Book

Queen Victoria E-Book

Julia Baird

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Beschreibung

Queen Victoria gilt als prüde, ewig trauernde und zurückgezogene Matrone – war sie das wirklich? Mit nur 18 Jahren bestieg sie den Thron. Mit 20 heiratete sie Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, mit dem sie neun Kinder hatte. Sie liebte Sex. Und sie setzte ihre Macht bewusst ein. Sie überschritt konventionelle Grenzen, äußerte klar ihre Meinung – und begann nach dem Tod ihres geliebten Albert eine intime Beziehung mit ihrem Diener John Brown. Die Frau, die schon zu Lebzeiten einem ganzen Zeitalter ihren Namen gab, verkörperte selbst gerade nicht die bürgerlichen Traditionen und Konventionen, für die das viktorianische Zeitalter steht. Julia Baird schreibt mit großer erzählerischer Kraft die bewegende Geschichte einer Frau, die neben den wichtigen politischen Fragen ihrer Zeit mit vielen durchaus heutigen Probleme konfrontiert war: der Balance zwischen Arbeit und Familie, den Schwierigkeiten der Kindererziehung, Ehekrisen, Verlustängsten und Selbstzweifeln.

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Für Poppy und Sam,meine zauberhaften Kinder

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel „VICTORIA THE QUEEN.The Woman Who Shaped the Modern World“ bei Penguin Random House LLC, New York.Copyright © 2016 by Julia Baird; für Karten und Stammbaum © David Lindroth, Inc.;all rights reserved.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungin und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.© der deutschen Ausgabe 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Lektorat: Melanie Heusel, FreiburgGestaltung und Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. DonauEinbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.Einbandmotiv: Queen Victoria, Gemälde (1843) von Franz Xaver Winterhalter (1805–1873)/Royal Collection Trust © Her Majesty Queen Elizabeth II, 2018/Bridgeman Images

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.deISBN 978-3-8062-3784-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3870-9eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3871-6

 

 

Königin Victoria gehörte zu keiner benennbaren Kategorie von Monarchen oder Frauen, sie hatte nichts von einer aristokratischen englischen Dame, nichts von einer Engländerin aus der Mittelschicht und auch nichts von einer typischen Prinzessin an einem deutschen Fürstenhof … Sie regierte länger als die anderen drei Königinnen zusammen. Zeitlebens war sie unverwechselbar, und sie wird es immer sein. Mit Ausdrücken wie „Menschen wie Königin Victoria“ oder „diese Art von Frauen“ war sie nicht zu beschreiben … Mehr als sechzig Jahre lang war sie schlicht und ohne jeden Zusatz „die Königin“.

ARTHUR PONSONBY1

Wir halten stets Ausschau nach Anzeichen für eine Erkrankung der Königin; doch der eiserne Zug in ihrem höchst außergewöhnlichen Wesen ermöglicht es ihr, bis zum letzten Augenblick auszuharren, wie niemand sonst.

LADY LYTTELTON2

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhalt

Einleitung

TEIL 1

Das Leben als Prinzessin

  1 Die Geburt des „kleinen Herkules“

  2 Der Tod eines Vaters

  3 Die einsame, ungezogene Prinzessin

  4 Eine unglaubliche, absonderliche Verrücktheit

  5 „Furchtbare Szenen im Hause“

TEIL 2

Die junge Königin

  6 Auf dem Weg zur Königin

  7 Die Krönung: „Ein Traum aus Tausendundeiner Nacht“

  8 Regieren lernen

  9 Ein Skandal im Palast

TEIL 3

Albert – der heimliche König?

10 Virago verliebt sich

11 Der glücklichste Tag im Leben

12 Nur der Ehemann und nicht der Herr im Hause

13 Störenfriede im Palast

14 De facto ein König

15 Ein perfektes kleines Paradies

16 Annus mirabilis: Das Revolutionsjahr

17 Alberts Weltausstellung von 1851

18 „Dieser unerquickliche Krieg“ – Die Krim

19 Königliche Eltern und der „Drache der Verdrossenheit“

TEIL 4

Die Witwe von Windsor

20 „Jetzt nennt mich niemand mehr Victoria“

21 „Das ganze Haus kommt mir vor wie Pompeji“

22 Lebenszeichen der Witwe von Windsor

23 Der Liebhaber der Königin

24 Sendschreiben wie Schwärme von Fledermäusen

TEIL 5

Regina Imperatrix

25 Genug, um einen Mann ins Grab zu bringen

26 „Zwei Panzerschiffe auf Kollisionskurs“

27 Monarchin mit Spitzenhäubchen

28 Ärger mit dem Munshi

29 Das diamantene Empire

30 Das Ende des Viktorianischen Zeitalters

Anhang

Nachbemerkung

Dank

Anmerkungen

Bibliographie

Bildnachweis

Register

Einleitung

„Die Königin ist eine Frau, für die man leben und sterben möchte.“

EMILY TENNYSON, 18621

„Ein richtiger kleiner Drache.“

REVEREND ARCHER CLIVE2

Sie war bereit.

Als Victoria zum ersten Mal auf dem Thron Platz nahm, berührten ihre Füße nicht den Boden. Unter den weit nach oben strebenden Bögen von Westminster Abbey war sie nur ein kleiner Tupfen, fühlte sich unwohl unter den neugierigen Blicken der versammelten Menge und bemühte sich, ihre Beine still zu halten. Tausende Menschen waren schon am Morgen hinausgeströmt auf Londons Straßen in der Hoffnung, einen guten Platz zu ergattern, um einen Blick auf die neue Königin Großbritanniens zu erhaschen, die erst 18 Jahre alt und nur 1,52 Meter groß war. Die früheren Könige waren Wüstlinge oder Schwerenöter gewesen, opiumsüchtig oder geistig umnachtet, nun aber wurde das Land verzaubert von der „schönen weißen Rose vollendeter Weiblichkeit“,3 von seiner neuen Herrscherin, einem schmächtigen jungen Mädchen, das unbehaglich in dieser festlich dekorierten Abteikirche saß, wo der herausgeputzte Adel es anstarrte.

Victorias Kopf beugte sich unter der Last einer schweren Krone, und ihre Hand zitterte – der Krönungsring war an den falschen Finger gesteckt worden und musste später unter Zuhilfenahme von Eis schmerzhaft wieder abgezogen werden. Um sie herum standen ihre betagten männlichen Ratgeber, die allesamt mehr oder weniger angeschlagen wirkten. Ihr Premierminister war halb berauscht von Opium und Branntwein, den er vorgeblich zur Beruhigung seines Magens zu sich genommen hatte, und verfolgte die gesamte Zeremonie wie durch einen Nebel. Ihr Erzbischof war nicht textsicher und verhaspelte sich. Einer ihrer Lords stolperte, als er sich näherte, um ihr die Hand zu küssen. Victorias Haltung aber war tadellos. Ihre Stimme klang kühl, hell und ruhig. Früher hatte sie der Gedanke geschreckt, dass sie eines Tages Königin werden würde, doch im Heranwachsen sehnte sie sich mehr und mehr danach, arbeiten zu können, eigenständig zu sein und selbstbestimmt zu leben. Am meisten wünschte sie sich, allein zu schlafen, in ihrem eigenen Schlafzimmer, und der einengenden Fürsorge ihrer Mutter zu entfliehen. Nun endlich erhielt sie wie die meisten jungen Mädchen eine Mitgift. In ihrem Fall allerdings war es ein ganzes Königreich.

Kaum jemand hätte darauf gewettet, dass Victoria einmal Königin werden würde. Ihr Vater war nicht der erstgeborene Sohn eines Königs, sondern der vierte. Wie häufig in Erbmonarchien hatte eine Verkettung von Tragödien (der Tod von Familienmitgliedern, darunter Kinder, eine Gebärende und zwei fettleibige Onkel) und von glücklichen Fügungen (ihr Vater war meuternden Soldaten entkommen und hatte ihre Mutter davon überzeugt, ihn als nicht mehr jungen und praktisch bankrotten Fürsten zu heiraten) dazu geführt, dass am 20. Juni 1837 das Schicksal einer Nation auf die Schultern eines 18-jährigen Mädchens gelegt wurde. Eines Mädchens, das Charles Dickens las, sich um das Wohlergehen von „Zigeunern“ sorgte, Tiere liebte, gern Opernlieder sang, Löwenbändiger bewunderte und Insekten und Schildkrötensuppe hasste; eines Mädchens, das von den Menschen in seiner Umgebung so lange schikaniert worden war, bis es schließlich zu einer Persönlichkeit mit einem eigenen, unbeugsamen Willen heranreifte; eines Mädchens, das ebenso empfindsam wie gelassen war.

Ihr Leben war nicht leicht gewesen. So war Victoria noch kein Jahr alt gewesen, als sie ihren Vater verlor, und von ihrer Mutter hatte sie sich zunehmend entfremdet. Mehrmals drohte ihr die Krone zu entgleiten. So hatte sie den eisernen Zug in ihrem Wesen weiter ausbilden und eine eigensinnige Stärke entwickeln müssen. Doch das einstige Kleinkind, das mit dem Fuß aufstampfte, jenes Kind, das Klavierdeckel herunterkrachen ließ, das junge Mädchen, das seine Peiniger trotzig niederstarrte, war nun Königin. Als sie von der Krönungszeremonie nach Hause kam, bereitete Victoria als Erstes ihrem Hund ein Bad und lachte fröhlich, als ihr Seife ins Gesicht und auf das Kleid spritzte.

Wir vergessen häufig, wie lange Victoria allein herrschte. Sie heiratete zwar Albert schon wenige Jahre nach ihrer Krönung, aber nach seinem Tod regierte sie noch weitere 39 Jahre – eine Phase, über die wir relativ wenig wissen. Das hat vor allem mit dem lange währenden und ergreifenden Spektakel ihres Verlustes zu tun. Die Straßen Londons zeugen noch heute von Victorias Trauer um ihren innig geliebten deutschen Ehemann. Noch zwei Jahrzehnte nach Alberts Tod ließ Victoria Denkmäler für ihn errichten – im Albert Memorial im Hyde Park, wo seine kräftige, vergoldete Gestalt hinaufragt in den Himmel; umgeben von Engeln und den himmlischen Tugenden, wirkt er wie ein Gott. Victoria hat sich von diesem Schicksalsschlag nie vollständig erholt, und als sie später in der Gesellschaft eines anderen Mannes Trost fand, wandte sie sich schuldbewusst an einen Priester.

Doch Victorias tiefe Trauer führte dazu, dass sehr schnell ein Mythos entstand, an den auch heute noch viele Menschen glauben: dass sie nach Alberts Tod aufgehört habe zu regieren und dass sie schon zu Lebzeiten ihres Ehemanns fast ihre gesamte Autorität und Macht an ihn abgetreten habe. Als Victoria den Thron bestieg, nahmen die Menschen erstaunt zur Kenntnis, dass sie deutlich und flüssig zu sprechen vermochte; und als sie starb, wurde sie auf die entrückte, in Trauer versunkene Witwe reduziert. All das ist falsch. Königin Victoria war eine entschlossene Herrscherin, die zwar über die Last ihrer Verantwortung klagte, ihre Premierminister aber andauernd herumkommandierte. „Die Königin allein genügt, um einen Mann ins Grab zu bringen“, bemerkte Premier Gladstone einmal. Und unsere Zeit versteht anscheinend ebenso wenig wie die viktorianische, wie eine solche Frau kompetent und genussvoll Macht und Autorität ausüben konnte. Dieses Unverständnis rührt zum Teil von der Schwierigkeit, die unzähligen Legenden und Übertreibungen beiseite zu schieben und heranzukommen an die ‚echte‘ Victoria.

Warum das so schwierig ist, offenbart ein Blick auf den 10. Mai 1943, als der Zweite Weltkrieg noch voll im Gange war. An diesem Tag verlängerte Adolf Hitler seine Diktatur auf unbestimmte Zeit, amerikanische Truppen schickten sich an, die Japaner von einigen Inseln in der Nähe Alaskas zu vertreiben, und Winston Churchill traf in Washington zu einer entscheidenden Unterredung mit Franklin D. Roosevelt ein, einen Tag, bevor die Achsenmächte in Nordafrika gegenüber den Alliierten kapitulierten. An diesem Tag also saß die 68 Jahre alte Beatrice, Victorias Tochter, aufgeregt in ihrem Haus im englischen Sussex. Ihr war die Aufgabe zugefallen, die umfangreichen Tagebücher der Königin herauszugeben. Damit befasste sie sich mehr als zehn Jahre lang, übertrug die Journale handschriftlich in blaue Schreibhefte und verbrannte anschließend die Originale, was sich zu einem riesenhaften Akt historischer Zensur auswuchs. Darüber war sie zur alten Frau geworden, die versuchte, sich mit der Arbeit an der Familienchronik von den Schrecken des Krieges abzulenken. Am 10. Mai nun legte Beatrice Schreibpapier zurecht, um ein – bisher unveröffentlichtes – Gesuch an ihren Großneffen König George VI. zu verfassen. Sie sprach ihn mit „Bertie“ an und schrieb:

Ich habe nunmehr vom Bibliothekar ein Buch mit kurzen Briefen meines Vaters an meine Mutter erhalten, die auf Englisch und auf Deutsch abgefasst sind, jedoch höchst intimer Natur sind und sich mit kleinen persönlichen Zwistigkeiten befassen, die ich sehr wahrscheinlich nicht verwenden kann. Zudem finden sich darin Bemerkungen über die zahlreichen Gebrechen meiner Mutter. Diese Dokumente sind von keinem historischen oder biographischen Wert, sie könnten nur missdeutet und dazu verwendet werden, ihrem Angedenken zu schaden. Du weißt vielleicht nicht, dass ich zur Bibliotheksverwalterin meiner Mutter bestellt wurde, und in dieser Funktion muss ich Dich ersuchen, mir die Erlaubnis zu erteilen, diese schmerzlichen Briefe zu vernichten. Ich bin ihr letztes noch lebendes Kind, und ich empfinde es als meine heilige Verpflichtung, ihr Andenken in Ehren zu halten. Weshalb diese Briefe überhaupt in den Archiven aufbewahrt wurden, kann ich nicht verstehen.4

Der Bibliothekar von Windsor Castle, Owen Morshead, entschuldigte sich gegenüber Sir Alan Lascelles, dem Verwalter der Royal Archives, dass er unabsichtlich „entflammbares Material“ gesandt habe. „Ich weiß, dass der Prinzgemahl und die Königin nicht immer einer Meinung waren“, schrieb er nüchtern, „ich habe jedoch nicht vermutet, dass diese vorliegenden Schreiben Enthüllungen beinhalten.“5 Das Buch mit den Briefen wurde Beatrice überlassen, die es umgehend verbrannte.

Im folgenden Jahr, 1944, starb Beatrice, ohne zu wissen, dass jemand Fotografien der fraglichen Dokumente angefertigt und diese im königlichen Archiv abgelegt hatte. Dort liegen sie bis heute, sorgfältig geordnet in einer kleinen, gut verschnürten Schachtel. Wie es dazu kam, bleibt unklar. War ein Bibliothekar dafür verantwortlich, der sich heimlich über Anweisungen hinwegsetzte, ohne geschnappt zu werden? Oder hatte der König angeordnet, die alte Dame bei Laune zu halten, aber dennoch die Belege über eheliche Konflikte seiner Urgroßmutter aufzubewahren?

Wir wissen, dass schon George V. und Königin Mary mit Unmut verfolgt hatten, wie Beatrice die privaten Dokumente ihrer Mutter vernichtete und die verbliebenen Aufzeichnungen säuberte. Da einige Spuren der ursprünglichen Tagebücher von Victoria in den Werken von Theodore Martin erhalten geblieben sind, den sie selbst beauftragt hatte, eine Biographie über Albert zu schreiben, ist klar, dass Beatrice ihre Mutter etwas zahmer, weniger emotional und vernünftiger erscheinen ließ, als sie war.6

Auch die Herausgeber von Victorias Briefen griffen in ähnlicher Weise ein. Arthur Benson und Lord Esher, jene beiden Männer, die mit der Aufgabe betraut wurden, Victorias Korrespondenz zusammenzustellen und zu publizieren, legten eine geschönte Darstellung der Königin vor. Es handelte sich nicht nur um offenkundige Glättungen – die Beseitigung einer freimütigen Kritik an den Franzosen und von Äußerungen über ihre Kinder oder die Bereinigung von Victorias Sprache –, sondern es wurden auch „bestimmte schroffe oder prägnante Meinungen, die von der Königin vertreten wurden, heruntergespielt, damit sie weiblich und ‚unschuldig‘ erschien. Ihr Briefwechsel mit Frauen wurde weggelassen, um nicht den Anschein von Trivialität zu erwecken. Ihre europäische Korrespondenz wurde nur in geringem Umfang wiedergegeben, um dem Eindruck entgegenzuwirken, sie sei vom Ausland beeinflusst worden.“7 Es wurden alle Ausdrücke gestrichen, die Victoria möglicherweise als „übertrieben willensstark, unweiblich oder taktlos“ oder als politisch voreingenommen hätten erscheinen lassen.8 Schlimmer noch, die meisten Briefe in den offiziellen Sammlungen wurden von Männern verfasst, nur vier von zehn stammen aus der Hand der Königin selbst.9 Benson und Esher ließen auch die meisten Briefe weg, die an andere Frauen gerichtet waren oder Bezüge auf ihre Kinder enthielten, sodass Victorias weibliche Freundschaften weitgehend unterschlagen wurden und ihre mütterliche Fürsorge unerwähnt blieb.

Die Fotografien jener Dokumente, die Beatrice während des Krieges vernichtete, sind deshalb seltene Kostbarkeiten. Sie bieten intimen Einblick in die Beziehung zwischen Victoria und Albert, der sie „Kind“ nannte und ihr erklärte, wie sie sich zu verhalten habe. Diese Korrespondenz zeigt jedoch auch, wie schwierig es ist, das Denken und Fühlen einer Herrscherin zu erfassen, deren Worte bearbeitet, umgeschrieben, gestrichen, verborgen und vernichtet wurden. Nach vorsichtigen Schätzungen schrieb Victoria während ihrer Regierungszeit durchschnittlich 2500 Wörter am Tag, was insgesamt rund sechs Millionen Wörter ergibt.10 Doch ein großer Teil dieses Materials wurde bearbeitet, aufpoliert oder ist verschwunden. Unzählige Papiere wurden von ihrer Familie verbrannt, vor allem Äußerungen über ihren schottischen Vertrauten John Brown, über ihren indischen Diener Abdul Karim und über die peinlichste Episode in ihrer Zeit als junge Königin – ihr rüdes Verhalten gegenüber Lady Flora Hastings.

Zudem liegt Königin Victoria begraben unter einem Berg aus Mythen, die von Beobachtern, Schmeichlern, Monarchisten, Republikanern, ja von ihr selbst erschaffen und von der königlichen Familie immer wieder genährt wurden. Etwa dass sie, als Albert starb, ebenfalls zu leben aufgehört habe. Dass sie ihre Kinder verabscheute. Dass sie eine konsequent verfassungstreue, untadelige Königin gewesen sei. Dass sie Macht hasste, keinen Ehrgeiz besaß und nur ihr Heimatland liebte. Dass sie schlicht ein Produkt von Männern gewesen sei, die sie gelenkt und geformt hätten wie eine wandelnde und sprechende Galateia. Und natürlich, dass ihr Diener John Brown lediglich ein guter Freund gewesen sei. Dann wären da noch jene Mythen, die sie selbst in die Welt gesetzt hat: Albert sei ohne Fehl und Tadel und ihre Ehe ohne jeden Makel gewesen. Er sei König gewesen und sie nur devot an seiner Seite. All dies ist Unsinn.

Für Oscar Wilde waren Napoleon Bonaparte, Victor Hugo und Königin Victoria die drei bedeutendsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Er bezeichnete Victoria als einen „in Schwarzen Bernstein eingefassten Rubin“ – ein majestätisches Bild, nicht nur eine schmeichelhafte Bemerkung. Victoria war tatsächlich eine große Persönlichkeit – aber sie war auch bissig und selbstsüchtig, häufig abweisend, neigte zu Selbstmitleid und Starrsinn. Während ihrer Regierungszeit starben Millionen Menschen durch Hunger und Krankheit, doch sie schien diesem Leid gegenüber blind zu sein. Sie war fordernd und ausfallend gegenüber Menschen, die sie nicht mochte. Sie verachtete die gesellschaftlichen Eliten, tadelte Mitglieder des Oberhauses offen dafür, dass sie tagein, tagaus jagten, zechten und feierten; sie schaute herab auf Mitglieder der Gesellschaft, die faul waren und ihren Lüsten frönten; sie widersetzte sich wichtigen Reformen, nur weil sie persönlich deren Initiatoren nicht mochte, und entzog sich häufig öffentlichen Verpflichtungen, um in Schottland Ruhe und Stille zu suchen.

Doch Victoria war sich ihrer eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten wohl bewusst. Sie kleidete sich eher ungeschickt, war die meiste Zeit beleibter, als ihr lieb war, und umgab sich mit Preziosen, um ihren eigenen Mangel an Schönheit wettzumachen. Aber sie war zu leidenschaftlicher Liebe fähig, war freundlich und aufrichtig, hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, verachtete rassische oder religiöse Vorurteile, scharte ihre zahlreichen Nachkommen um sich und knüpfte Bindungen zu ihren Bediensteten, die oft so stark waren, dass sie anderen eigenartig oder bisweilen gar verdächtig erschienen. Sie überlebte acht Attentatsversuche, und am Ende ihrer Regierungszeit genoss sie ein überragendes Ansehen: So erklärten die Amerikaner sie zur klügsten Frau der Welt; alte Frauen glaubten, ihre Berührung wirke heilend; alte Männer berichteten, sie sähen wieder besser, nachdem sie ihnen einen Besuch abgestattet hatte, und eine 76 Jahre alte Afro-Amerikanerin sparte fünfzig Jahre lang, bis sie schließlich aus den USA anreisen konnte, um ein paar Minuten mit Victoria zu sprechen.

Die Königin wurde in einer Zeit großer Umwälzungen geboren – das verschlafene Dorf, das Kensington Palace umgab, sollte bis zum Ende ihres Lebens zu einer pulsierenden Metropole heranwachsen mit Fabrikschloten, deren Rauchwolken die Sonne verdunkelten, Häusern, in denen sich fünf Familien einen Raum teilten, verschmutzten Flüssen und Häfen, von denen aus Schiffe stolz über die Weltmeere segelten, um fernen Kontinenten die britische Flagge aufzupflanzen. Aufstände sollten die Kirche erschüttern, die Aristokratie und sogar das Parlament. Unter Victorias Herrschaft sollte Großbritannien eine bislang ungekannte Größe erlangen. Die Königin sollte ein Viertel der Weltbevölkerung regieren und anders sein als jeder andere Herrscher vor ihr; eine ganze Epoche sollte nach ihr benannt werden, und ihr ernstes Gesicht sollte für immer verbunden bleiben mit einer ambivalenten, aber auch paradoxen Zeit des Wachstums, einer Zeit von Macht und Ausbeutung, Armut und Demokratie.

Victoria war die mächtigste Königin und die berühmteste berufstätige Mutter ihrer Zeit. Wenn wir ihr erlauben, sich weiterhin in ihrer schwarzen Trauerkleidung zu verstecken, dann vergessen wir, dass Victoria schon seit jungen Jahren um ihre Unabhängigkeit rang, um ihr Ansehen und um die Ehre der Krone, und dass sie dies erfolgreich und weitgehend allein bewerkstelligte. Wir vergessen auch, dass sie für ein Weltreich und für Werte kämpfte, an die sie glaubte, und dass sie arbeitete, bis ihr Augenlicht schwand; dass sie nacheinander zehn Premierministern zusetzte, dass ihre Nachkommen die europäischen Königshäuser bevölkerten und dass sie die britische Monarchie aus den politischen Unruhen heraushielt, die Europa im 19. Jahrhundert erschütterten. Wir vergessen, wie sie eine neue Liebe fand, über ihre Enkelkinder kicherte, dazu beitrug, einen Krieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu vermeiden, und wie sie nach Gutdünken Premierminister entließ oder neu ernannte. Wir vergessen, dass die Ausweitung des Wahlrechts und die Stärkung der Bewegungen gegen Armut und Sklaverei bis in die Zeit ihre Herrschaft zurückreichen, ebenso wie ein grundlegendes Umdenken im Hinblick auf das Familienleben und die Rolle der Religion. Als sie 1901 starb, hatte sie länger regiert als jedes andere königliche Oberhaupt in der englischen Geschichte – erst 2015 brach ihre Ururenkelin Elisabeth diesen Rekord.

Victoria hinterließ ein gewaltiges Erbe: ein Jahrhundert, ein Imperium, neun Kinder, 42 Enkelkinder. Vor Windsor Castle, wo heute Touristen an Eiscreme-Ständen und Souvenirländen vorüberspazieren, steht in der Mitte der Straße die Statue einer korpulenten Frau, den ernsten Blick auf den Horizont gerichtet. Das Schloss ließ Wilhelm der Eroberer im 11. Jahrhundert erbauen, und es wurde von nachfolgenden Königen, wie Charles II. und George VI., mehrmals umgebaut. Victoria hielt es für zu groß, es erschien ihr düster und „wie ein Gefängnis“,11 und doch steht ihr Denkmal heute schützend davor. Sie behütet heute das Schloss, und sie führte damals das britische Volk an, als es in einem aufgewühlten Jahrhundert erste Schritte in Richtung Demokratie unternahm. Sie, die ihren Ehemann im Streit von einem Raum in den anderen verfolgte und in deren Innerem Entschlossenheit und Selbstzweifel miteinander rangen – eine gewöhnliche Frau in einer außergewöhnlichen Rolle.

Victoria hatte mit vielen Problemen zu kämpfen, mit denen wir es auch heute zu tun haben – wir müssen uns in ungleichen Beziehungen zurechtfinden, verärgerte Ehegatten besänftigen und uns bemühen, unsere Kinder zu guten Menschen zu erziehen. Wir müssen mit Anfällen von Unsicherheit und mit Depressionen zurechtkommen und uns nach einer Geburt erholen. Wir sehnen uns nach verlorenen Lieben, müssen uns der Stärke eines anderen anvertrauen, wenn wir uns am liebsten vor der Welt verkriechen würden. Wir sehnen uns danach, eigenständige Entscheidungen über unser Leben zu treffen und die Welt, in der wir leben, selbst zu gestalten. Victoria aber drängte nach und kämpfte um Macht zu einer Zeit, als Frauen noch grundsätzlich machtlos waren. Ihre Geschichte ist eine von beispiellosem Ruhm und enormen Privilegien, eine Geschichte von Herausforderung und Verfall, von Einmischung und Mut, von Hingabe und überwältigender Trauer, aber auch die Geschichte einer beeindruckenden Resilienz, die diese kleine Frau im Herzen einer Weltmacht prägte. Vor allem aber ist es eine Geschichte von Macht und Größe.

Julia Baird

Shelley Beach, Oktober 2015

TEIL 1

Das Leben als Prinzessin

KAPITEL 1

Die Geburt des „kleinen Herkules“

„Meine Brüder sind weniger gesund als ich, ich habe regelmäßig gelebt, ich überlebe sie alle; der Thron wird auf mich und meine Kinder kommen.“

EDWARD, HERZOG VON KENT, VATER VON KÖNIGIN VICTORIA1

Königin Victoria wurde am 24. Mai 1819 geboren, nachts um 4.15 Uhr, in der Stunde vor Sonnenaufgang. In diesen wenigen Sekunden war sie wie jedes andere Neugeborene: nackt, verletzlich, verwundert, zappelnd in den Armen ihrer Mutter. Doch diese unschuldige Gewöhnlichkeit währte nur kurz. Wenige Augenblicke später schon eilten die wichtigsten Männer des Landes – Geistliche, Kanzler, Feldherrn und Politiker – in den Raum, rieben sich ihre verschlafenen Augen und beugten sich über das Baby, das noch keinen Namen hatte.

All diese Männer, die bei ihrer Geburt anwesend waren, vermochten sich vermutlich nicht vorzustellen, dass sie sich auch zwei Jahrzehnte später noch vor Victoria verbeugen sollten, stand diese doch in der Thronfolge nur auf dem fünften Platz. Dennoch sollte sie später Heere befehligen, Erzbischöfe auswählen und Premierminister ernennen – und nie mehr allein sein; eine Erwachsene, die auf Schritt und Tritt begleitet wurde, deren Mahlzeiten vorgekostet wurden und deren Gespräche immer irgendjemand mithörte.

Als nun der Morgen dämmerte, legte sich ihre Mutter, die Herzogin von Kent, zurück auf die Kissen im Himmelbett, schloss erschöpft die Augen und atmete Blumenduft aus dem Garten unter dem Fenster ein. An diesem bewölkten Frühlingsmorgen fiel ein leichter Regen, der willkommene Abkühlung brachte nach einer wochenlangen Hitzeperiode. Der Raum im Kensington Palace, wo das Baby zur Welt kam, war vollkommen weiß und roch nach einem frischen Wandteppich. Unter den Fenstern weideten Schafe, Häher riefen in den Buchen.

Wie in einem königlichen Haushalt üblich, waren die Mitglieder des Kronrats am Abend zuvor von Tischgesellschaften oder Theatervorstellungen herbeigerufen oder aus dem Bett geholt worden. Während sich die Herzogin in Wehen wand, warteten die Minister Seiner Majestät in einem angrenzenden Raum und kämpften gegen den Schlaf an. Der Herzog hatte ihnen vorsorglich angekündigt, dass er ihnen nicht Gesellschaft leisten werde, weil er sich an der Seite seiner Gemahlin aufzuhalten und ihr beizustehen gedenke. Wie es die Tradition verlangte, lauschten die ranghohen Herren während der Wehen, die sich über sechs Stunden erstreckten, auf die Geräusche, gähnten, schauten immer wieder auf ihre Taschenuhren und begaben sich schließlich in den Raum, als das Baby geboren war, um zu bezeugen, dass es sich tatsächlich um das Kind der Königin handelte.2 (Als Mary von Modena, die katholische Ehefrau von James II., im Jahr 1688 einen gesunden Jungen zur Welt gebracht hatte, hatte die Mehrheit der Bevölkerung, aufgestachelt durch Protestanten, die unglücklich über einen männlichen Thronfolger waren, geglaubt, sie habe in Wirklichkeit eine Fehlgeburt erlitten und man habe in einem Bettwärmer ein anderes Neugeborenes in ihren Raum geschmuggelt. Das hatte zwar nicht gestimmt, aber unter anderem zur Revolution geführt, die James II. vom Thron gefegt hatte.)3 Zu den Würdenträgern, die bei Victorias Geburt anwesend waren, gehörten der Herzog von Wellington, der vier Jahre vorher Napoleon in der Schlacht bei Waterloo besiegt hatte, der Erzbischof von Canterbury und ein Mann, den Victoria schon in jungen Jahren zu verabscheuen begann: Captain John Conroy, der irische Stallmeister ihres Vaters und Vertraute ihrer Mutter.

Die Herzogin erduldete die Anwesenheit der Männer, die die Geburtsurkunde unterzeichneten und bestätigten, dass das Baby „einen vollkommen gesunden Eindruck“ machte. Sie murmelten Glückwünsche, dann schlurften sie müde hinaus in die Stadt, wo ein neuer Tag anbrach.

Stallburschen schleppten Wasser in die Ställe, und der Duft von Bienenwachs wehte von der nahegelegenen Kerzenfabrik herüber. Imbissverkäufer richteten ihre Stände an der Great Western Road her, einer alten Römerstraße, die entlang des Hyde Parks verlief und die Hauptzufahrtsstraße nach London vom Südwesten her bildete. Arbeiter eilten im Nebel zwischen Postkutschen und Marktkarren in ihre Fabriken, und Tausende Rinder waren auf dem Weg zum Schlachter – ein Auftrieb, der jeden Sonntag in der Nacht stattfand und London am frühen Morgen ins Chaos stürzte.

Im Kensington Palace fand der Herzog von Kent derweil vor Stolz und Aufregung keine Ruhe. In Briefen an seine Freunde schwärmte er von der „Geduld und der Anmut“ seiner Gemahlin während der Wehen und lobte die Hebamme, Frau Siebold, für „ihre Rührigkeit, ihren Eifer und ihr Wissen“.4 Ein eigenartiger Zufall, der zeigt, wie eng der britische und der deutschen Hochadel damals verbunden waren, hatte es gewollt, dass Frau Siebold ein Vierteljahr vorher die Geburt von Victorias späterem Ehemann, Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, begleitet hatte. Der kleine Albert, so schwärmte seine Mutter sei „superbe – d’une beauté extraordinaire“ gewesen.5 Von Geburt an wurde Albert wegen seiner hübschen Erscheinung gepriesen, Victoria wegen ihrer Kraft.

Zwar stand Victoria bei ihrer Geburt in der Thronfolge nur an fünfter Stelle, doch ihr Vater Edward, der Herzog von Kent und vierte Sohn von König George III., hatte sein Leben bereits in den Jahren zuvor umgekrempelt, als ihm klar geworden war, dass seine Geschwister keine Nachkommen haben würden und der Thron eines Tages an ihn oder seine Nachkommen fallen könnte. Lange Zeit war er mit einer Französin namens Julie de Saint-Laurent liiert gewesen. Edward hatte sie 1790 während seines ersten Aufenthalts in Gibraltar vorgeblich als Sängerin für eine Feier seiner Kompanie engagiert, in Wirklichkeit aber war sie in sein Haus gebracht worden, um mit ihm das Bett zu teilen. Trotz dieses unromantischen Anfangs der illegitimen Verbindung und der Tatsache, dass eine mögliche Ehe der beiden niemals anerkannt worden wäre, waren sie ein bemerkenswert erfolgreiches Gespann gewesen, das auch Versetzungen nach Kanada und Gibraltar sowie eine Meuterei von Edwards Kompanie überstanden hatte.6

Doch nachdem er drei Jahrzehnte mit der ihm treu ergebenen Julie de Saint-Laurent verbracht hatte, war Edward zu dem Schluss gekommen, dass er eine legitime Ehefrau brauchte, eine Frau, die es ihm ermöglichen würde, seine beträchtlichen Schulden zurückzuzahlen – Prinzen erhielten zusätzliche Zuwendungen, wenn sie heirateten. Der Tod seiner Nichte Charlotte hatte diesen Wunsch noch verstärkt, denn nun könnte eine jüngere Frau ihm ein Kind gebären, das eines Tages vielleicht über England herrschen würde.

Als der Herzog von Kent dann in einer großen Reisekutsche im April 1819 von Deutschland aus nach Westen unterwegs war, drängte er zur Eile. Er lieferte sich ein Wettrennen mit dem unberechenbarsten aller Gegner: der Biologie. Er musste seine hochschwangere deutsche Ehefrau rechtzeitig nach Großbritannien schaffen, wo sie hoffentlich jenes Kind zur Welt bringen sollte, das eines Tages das Land regieren würde. Der Herzog war überzeugt, das Volk würde den künftigen Monarchen mehr lieben, wenn er oder sie auf englischem Boden den ersten Schrei tat. Er schaute hinab auf das bleiche Antlitz seiner Gemahlin, das von der Frühlingssonne beschienen wurde, und lächelte. Er war 51 Jahre alt und praktisch mittellos: Es grenzte an ein Wunder, dass er eine solch junge, liebreizende und umgängliche Frau gefunden hatte. Die 32-jährige Fürstin Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld, einem kleinen Fürstentum, das in Folge von Napoleons Eroberungszügen in Deutschland stark dezimiert worden war, hatte ein heiteres Wesen, war von kleiner, gedrungener Gestalt, hatte braune Locken und rote Wangen. Sie kleidete sich farbenfroh in Seide, Satin und Samt, und ihre großen Hüte zierten Straußenfedern. Die seit Kurzem verwitwete Victoire hatte bereits zwei Kinder, und es hatte einiger Überredungskünste bedurft, sie zur Heirat mit dem Herzog von Kent zu bewegen. Doch dann hatten die beiden sehr schnell zu einer liebevollen Partnerschaft gefunden, und Victoire war abermals schwanger geworden.

Auf dem Weg nach London kehrten die Gedanken des Herzogs von Kent mehrmals schuldbewusst zu Julie de Saint-Laurent zurück, die es sehr mitgenommen hatte, als er sie verlassen hatte, und die seither zurückgezogen in einem Pariser Konvent lebte. Doch jetzt, da er die lange Reise von Amorbach nach England antrat, war nicht nur Großbritannien, sondern auch der Thron erklärtes Ziel des Herzogs. Noch ein Jahr vor Victorias Geburt hätte niemand geglaubt, der Herzog von Kent würde imstande sein, einen Thronerben hervorzubringen. Er stand damals in der Thronfolge an fünfter Stelle, nach seinem älteren Bruder George, dem Prinzregenten, gefolgt von Georges einzigem und vielgeliebtem Kind Charlotte und seinen übrigen älteren Brüdern, Frederick und William. König George III., der allmählich dem Wahnsinn verfiel, hatte fünfzehn Kinder mit seiner Ehefrau, Königin Charlotte, wovon nur noch zwölf am Leben waren. Die sieben noch lebenden Söhne besaßen Vorrang vor ihren fünf Schwestern – und sollten sie Kinder haben, fiele die Krone ihren Nachkommen zu, nicht ihren Geschwistern.7

Charlotte, die einzige Tochter des ältesten Sohns von König George III., des Prinzregenten und späteren George IV., würde den Thron nach ihrem Vater besteigen. Charlotte war eine fröhliche, attraktive junge Frau, die sich heftig in den Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld verliebte und ihn 1816 heiratete. England jubelte, als sie kurze Zeit später schwanger wurde. Doch Charlotte fühlte sich unwohl wegen ihrer Leibesfülle – sie ertrug es nicht, immer wieder daran erinnert zu werden – und verfiel in Depressionen. Ihre Ärzte setzten sie in den letzten Monaten der Schwangerschaft auf strenge Diät und führten Aderlässe durch. Viele Kranke starben zu dieser Zeit an der umstrittenen Praxis, der bevorzugten Behandlungsmethode bei „schlechten Körpersäften“, insbesondere Patienten in schlechtem Ernährungszustand oder mit Vorerkrankungen.

Nach fünfzigstündigen Wehen kam Charlottes Sohn tot auf die Welt. Charlotte war erschöpft und hatte viel Blut verloren. Die Ärzte gaben ihr Wein und Branntwein und versorgten sie reichlich mit Wärmflaschen, konnten sie aber nicht retten; sie starb am 6. November 1817.8 Ihr Geburtshelfer, Richard Croft, nahm sich dies so sehr zu Herzen, dass er sich drei Monate später während einer anderen komplizierten Geburt mit einem Gewehr in den Kopf schoss. Die Trauer um Charlotte hing wochenlang drückend über den Straßen von London. Bald wurden schwarze Stoffe landesweit knapp.

Plötzlich und unerwartet hatte sich eine neue Situation im Hinblick auf die Thronfolge ergeben; die Krone würde nun einem der alternden Brüder zufallen und nicht einer jungen Frau, die noch kaum über zwanzig war. Wer, so fragte sich das Volk, würde der nächste König werden?

König George III. und Königin Charlotte führten ein ruhiges und unbescholtenes Leben, jenem der englischen Mittelschicht nicht unähnlich. Doch ihre ausschweifenden Söhne waren unbeliebt, fettleibig und faul. Eigenartigerweise schienen die Eltern jedoch ausgerechnet ihren einzigen Sohn, der diszipliniert, rechtschaffen und ehrlich war, am wenigsten zu lieben: Edward, den Herzog von Kent.

König George III. war bis 1818 ertaubt und erblindet, zudem war er geistig verwirrt und litt unter einer Krankheit, die von einigen als die Stoffwechselstörung Porphyrie bezeichnet wurde, während andere glaubten, es handele sich um Demenz oder manisch-depressive Verstimmungen. Die Bewohner des Schlosses hörten häufig ein „unangenehmes Lachen“ aus jenem Teil des Gebäudes, in dem der König umherwanderte, und oft war er zu sehen, wie er, angetan mit einem purpurfarbenen Gewand, ein Cembalo zupfte.9 Er wurde von apokalyptischen Visionen heimgesucht, träumte vom Ertrinken in einem reißenden Fluss, redete ständig mit unsichtbaren Freunden und umarmte Bäume, die er für ausländische Würdenträger hielt. Im Jahr 1811 wurde er im Alter von 73 Jahren offiziell für geisteskrank erklärt.

Der Prinzregent und spätere George IV. war ein freundlicher Mensch und auch durchaus intelligent, doch schon mit Mitte 50 war er gesundheitlich stark angeschlagen. Er litt unter Gicht und nahm Opium in hoher Dosierung, um die Schmerzen in seinen Beinen zu lindern. Die Beziehung zu seiner Ehefrau, Prinzessin Caroline, war zerrüttet. So verwehrte der Prinzregent ihr 1821 sogar die Teilnahme an seiner Krönungszeremonie (als sie festlich aufgeputzt vor Westminster Abbey erschien, wurde ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen), und drei Wochen später starb Königin Caroline. Die Todesursache ist unbekannt, es ging jedoch das Gerücht, der König habe sie vergiftet.

Als die Tochter des Prinzregenten 1817 starb, waren die sieben Söhne von George III. schon mittleren Alters; der jüngste war 34 Jahre alt. Wer von ihnen würde einen Thronerben zustande bringen? Zumal nur Ernest, Herzog von Cumberland, eine sowohl legitime als auch intakte Ehe führte.

Schon als sie alle noch sehr jung gewesen waren, hatte König George III. verfügt, dass seine Nachkommen nur mit Zustimmung des Königs und mit Billigung des Parlaments würden heiraten dürfen. Der daraus folgende Royal Marriages Act von 1772 verschaffte den Prinzen einen bequemen Vorwand, sich gegenüber ihren Geliebten vor allen Verpflichtungen zu drücken. Sie verhielten sich, wie Lord Melbourne später gegenüber Königin Victoria erklärte, „wie wilde Tiere“.10 Dieses Verhalten führte zu einer großen Zahl illegitimer Kinder – insgesamt waren es 56, von denen keines jemals eine Chance auf den Thron hatte. Charlotte war das einzige Kind gewesen, das aus einer offiziell anerkannten Verbindung hervorgegangen war. Es stand also nicht nur diese Generation auf dem Spiel, sondern auch die Kontrolle über die folgende. (Zu weit hinten in der Erbfolge rangierten die fünf Töchter von König George III., die alle schon älter als vierzig Jahre und kinderlos waren.11)

Wie konnte eine solch weitverzweigte Familie aussterben? Es mag grotesk erscheinen, dass die 1714 durch König George I. begründete Hannoversche Dynastie mit den Söhnen von König George III. ihr Ende hätte finden können. In Anbetracht des Verhaltens seiner Nachkommen wäre dies jedoch durchaus möglich gewesen. Als Charlotte starb, wurde daher ausgiebig über die Zukunft des Thrones diskutiert, und das Parlament verlangte, die vier ledigen Söhne sollten sich verheiraten.

Die Brüder puderten sich daraufhin unverzüglich die Haare und nahmen die europäischen Königshäuser ins Visier. Frankreich kam nicht in Frage wegen der jahrzehntelangen Auseinandersetzungen mit Napoleon. Vielmehr wurde Deutschland in der Überzeugung bevorzugt, eine lutheranische Erziehung bringe züchtige und gehorsame Ehefrauen hervor. Drei der vier waren bald erfolgreich und bereits Mitte des Jahres 1818 verheiratet.

Adolphus, Herzog von Cambridge, der jüngste der königlichen Prinzen, machte Auguste, der Fürstin von Hessen-Kassel, einen Heiratsantrag, den diese auch annahm.12 Victorias Vater Edward, der Herzog von Kent, stand in der Thronfolge nun an vierter Stelle und war als Einziger rechtschaffen wie seine Eltern. Er war 1,83 Meter groß, ein stolzer und kräftiger Mann, und bezeichnete sich selbst als den „Stärksten der Starken“. Wenngleich er privat einräumte, dass dies vermessen sei, war er überzeugt, er werde seine Brüder überleben: „Meine Brüder“, sagte er oft, „sind weniger gesund als ich, ich habe regelmäßig gelebt, ich überlebe sie alle; der Thron wird auf mich und meine Kinder kommen.“13 Dabei vereinigte Edward Gegensätzliches in sich, wie seine Tochter später berichtete: Er war liebenswürdig und streng, mitfühlend und hilfsbedürftig, grimmig, wenn ihm etwas in die Quere kam, und empfindsam, wenn er geliebt wurde.

Im Unterschied zu seinen Brüdern war Edward klug, beredt und ein gewissenhafter Briefeschreiber. Er war fortschrittlich eingestellt und unterstützte die Volksbildung, die Gleichstellung der Katholiken und die Abschaffung der Sklaverei. Trotz seines Rufes als Tyrann beim Militär hatte er ein weiches Herz, war aber auch etwas überspannt: Zu seinen Marotten gehörten eine Bibliothek mit 5000 Büchern, die er sich überallhin nachschicken ließ, in Schränke eingebaute Springbrunnen, samtverkleidete Bettleitern und bunte Lichter, die er an Zufahrten aufstellen ließ. Auch beschäftigte er einen eigenen Friseur nur für sich und seine Bediensteten.

Als der Herzog um Victoires Hand anhielt, war es keineswegs sicher, dass sie einwilligen würde. Ihre zwei Kinder, Karl und Feodora, waren dreizehn und zehn Jahre alt, und das unabhängige Leben einer Witwe besaß damals vielerlei Vorzüge gegenüber jenem einer Ehefrau. Doch wenige Tage, nachdem Charlotte gestorben war, drängte der frisch verwitwete Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld seine Schwester Victoire in einem Brief, Edwards Heiratsantrag zu überdenken. Denn mit einem Schlag hatte sich dessen Situation geändert: Edward war nun wesentlich näher an den Thron herangerückt. Endlich willigte Victoire ein, und Edward gelobte, seine junge Braut glücklich zu machen.

Victoire, Victorias deutsche Mutter, blieb immer eine Außenseiterin in England, sehnte sich aber stets nach mehr Macht und Einfluss.

Edward und Victoire hatten Glück: Sie verliebten sich ineinander und fanden zu häuslicher Routine. Am 31. Dezember 1818 schrieb Edward einen kleinen Liebesbrief an seine neue Frau: „Gott schütze Dich. Liebe mich, wie ich Dich liebe.“

Als das neue Jahr anbrach, waren drei Frischvermählte schwanger, womit das Wettrennen begann. Am 26. März 1819 brachte Auguste, die Gemahlin von Adolphus, dem jüngeren Bruder des Herzogs von Kent, einen gesunden Jungen zur Welt. Am 27. März entband Williams Frau Adelaide ein Frühchen, das nur wenige Stunden am Leben blieb. Und am 28. März brach Edward, Herzog von Kent, in Amorbach in Deutschland zu seiner Reise nach London auf. Victoire, die im achten Monat schwanger war, musste die 427 Meilen lange Reise über holprige Straßen und stürmische Wasser überstehen. Der Herzog fürchtete, die Strapazen der Reise könnten zu einer Frühgeburt führen. Doch Victoire war voll „guter Hoffnungen“ auf das Leben, das sie in England erwartete. Als sie in der Kutsche neben ihrem Gatten saß, wanderte ihre Hand immer wieder zu ihrem Bauch und erspürte, was sich darunter regte.

Am 18. April erreichte die Reisegesellschaft inklusive der Kinder aus erster Ehe, Hebammen, Ärzte, Bediensteten, Schoßhündchen und Papageien die französische Hafenstadt Calais, an der schmalsten Stelle des Ärmelkanals. Der Prinzregent hatte sich widerstrebend bereit erklärt, der Gruppe die königliche Jacht für die Passage zur Verfügung zu stellen. Eine Woche später erfolgte die Überquerung des Kanals. Es blies ein stürmischer Wind, Victoires Gesicht war blassgrün, und sie übergab sich mehrmals während der dreistündigen Überfahrt. Nachdem sie in Dover angekommen waren, fuhren sie sofort weiter nach Kensington. Der Ort war damals noch ein kleines ländliches Dorf, und der große Palast, umgeben von üppigem Grün, wirkte etwas heruntergekommen. Die Mauern waren feucht, und es roch nach Schimmel. Der Herzog, der großen Wert auf eine aufwändige Innendekoration legte, kaufte umgehend Vorhänge, Stoffe und Möbel: weiße für das Schlafgemach, rote für das Esszimmer. (Zudem schickte er besorgte Briefe an Freunde und erkundigte sich nach dem Befinden seiner früheren Gefährtin Julie.) Davon, wie er sich mit Victoire auf die Geburt ihrer Tochter vorbereitete, die den größten Teil des Jahrhunderts über das britische Empire herrschen sollte, nahm kaum jemand Notiz. Edward erschien einfach nur wie einer jener großspurigen, korpulenten Prinzen mit einer schwangeren deutschen Frau. Die Einzigen, die die Dinge aufmerksam verfolgten, waren jene, die durch Victorias Geburt am meisten zu verlieren hatten: die königliche Familie. Kaum hatte das Neugeborene seine ersten Atemzüge getan, kamen schon Gerüchte auf, seine niederträchtigen Onkel wollten das Kind ermorden.

KAPITEL 2

Der Tod eines Vaters

„Vergiss mich nicht.“

DER HERZOG VON KENT, 1820

Die Herzogin von Kent war sofort gänzlich eingenommen von ihrem Kind. Sie bestand darauf, das Mädchen ein halbes Jahr zu stillen,1 obwohl die meisten adeligen Mütter damals Ammen beschäftigten, häufig auch, weil ihre eng geschnürten Korsette den Milchfluss hemmten. Während andere Damen ihres Standes die Stirn runzelten, war die breite Öffentlichkeit, vor allem bürgerliche Frauen, angetan von der Bereitschaft der Herzogin, ihr Kind selbst zu versorgen.

Auch die Enttäuschung des Herzogs, dass er keinen Sohn bekommen hatte, währte nur kurz. Gemäß dem Settlement Act von 1701 würde seine Tochter berechtigt sein, den Thron zu besteigen, sofern sie keine Brüder hatte. Obwohl er wusste, dass ihre Chancen nur gering waren, ermahnte er seine Frau: „Gibt acht auf sie, denn sie wird Königin von England.“2

Victorias Vater sollte sein kräftig gebautes, hübsches Kind stets als eine Art Wunder betrachten, wofür er im 19. Jahrhundert allen Grund hatte. Von tausend Neugeborenen starben 150 bei oder unmittelbar nach der Geburt. Aufgrund des häufigen Auftretens von Masern, Keuchhusten, Scharlach und Cholera betrug die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kleinkind älter als fünf Jahre wurde, nur gut 70 Prozent. Kinder aus armen, städtischen Familien, die nicht gestillt oder zu früh entwöhnt wurden, hatten noch geringere Chancen.

Darüber hinaus war es üblich, Kleinkindern Opium zu verabreichen, damit sie zu schreien aufhörten, was zur Folge hatte, dass viele Babys den Appetit verloren und verhungerten.3 Erwartungsgemäß wurden dann die Mütter als Schuldige ausgemacht, die den ganzen Tag in der Fabrik arbeiteten und ihr Kind in fremde Obhut gaben. In einem Artikel, der 1850 in der von Charles Dickens herausgegeben Wochenzeitschrift Household Words erschien, wurden diese Vorkommnisse „unwissenden Tagelöhner-Ammen“ angelastet, die acht oder neun Babys gleichzeitig betreuten und mittels dieser Droge ruhigstellten.4 In Anzeigen wurde für Zubereitungen wie „Soothing Syrup“, „Mother’s Quietness“ und für einen aus Laudanum hergestellten Trank namens „Godfrey’s Cordial“ geworben, was zur Folge hatte, dass „es in den Häusern der Armen nach Rauschmitteln roch“. Karl Marx schrieb 1867 in seinem Werk Das Kapital von „verstecktem Kindermord und Behandlung der Kinder mit Opiaten“ und erwähnte, dass auch die Eltern der Kinder häufig abhängig waren.5 Die Kindersterblichkeit war so weit verbreitet, dass viele Eltern ihre Neugeborenen versicherten und üblicherweise 5 Pfund ausgezahlt bekamen, wenn das Baby starb, eine Praxis, die vielfach zu Kindstötungen verleitete, wie häufig kritisiert wurde. Um 1900 wurden rund 80 Prozent der Neugeborenen auf diese Weise versichert.

Edward, der Herzog von Kent, war ein stolzer, soldatischer Mann. Er schwärmte für seine kleine Tochter und war überzeugt, dass sie, allen Widrigkeiten zum Trotz, eines Tages Königin werden würde.

Die kleine Victoria wurde mit einem König im Röckchen verglichen; die junge Prinzessin hatte eine Schwäche für Puppen und neigte zu Wutanfällen.

Doch Victoria strotzte derart vor Gesundheit, dass der Herzog prahlte, sie sei „eher ein kleiner Herkules als eine kleine Venus“.6 Victoria war ein robustes Kind, „ein Muster an Kraft und Schönheit, die sich miteinander verbanden“, wie ihr Vater erklärte,7 der sich persönlich um den Betreuungsplan und die praktischen Abläufe kümmerte. Sie war auch ein bisschen pummelig und hatte ziemlich dicke Beine: Der Anwalt des Herzogs, Baron Stockmar, nannte sie „eine hübsche Prinzessin, rund wie ein gefülltes Täubchen“.8 Victorias Onkel waren dagegen weniger erfreut. Der Prinzregent, der kurze Zeit später König George IV. werden sollte, hasste den Herzog von Kent aus tiefster Seele.9

Victoria wurde in einer ruhmreichen Zeit des britischen Empire geboren. Vier Jahre vorher, 1815, war Napoleon in der Schlacht bei Waterloo endgültig besiegt worden, womit ein 17 Jahre dauernder Krieg gegen Frankreich sein Ende gefunden hatte. Großbritannien hatte die Niederwerfung des mächtigsten Mannes und des stärksten Reiches in Europa gefeiert. Nun saß Napoleon wohl verwahrt auf St. Helena, einer abgeschiedenen Insel im Südatlantik, und vertrieb sich zur Freude der Engländer die Zeit mit Gartenarbeit. Die Schlacht von Waterloo markierte den Beginn der Pax Britannica – einer 99-jährigen Friedenszeit, die bis zum Ersten Weltkrieg dauern sollte. Das britische Imperium dehnte sich stetig aus, sodass immer größere Landkartenflächen in Asien, Afrika, Australien sowie Nord- und Südamerika in britisch-imperialem Rot gefärbt wurden. Dieses Wachstum wurde begleitet durch einen enormen Aufschwung des Manufakturwesens, der Kohleförderung und der Eisenerzeugung, wenngleich damit auch ein bislang ungekanntes Ausmaß an Armut, Kinderarbeit und Ausbeutung der Arbeiter einherging.

Im Jahr 1821 war die Hälfte der Arbeiter Großbritanniens jünger als zwanzig Jahre. Im Geburtsjahr von Königin Victoria, 1819, wurde die tägliche Arbeitszeit von Kindern in Fabriken und Baumwollspinnereien per Gesetz auf zwölf Stunden begrenzt, was aber nur selten eingehalten oder durchgesetzt wurde. In Textilfabriken, Eisenbergwerken und Kohlenminen mussten Kinder, die erst fünf Jahre alt waren, von morgens bis abends arbeiten, und auch in Streichholz- und Nagelfabriken, Gaswerken, Schiffswerften und im Bauwesen waren ähnliche Arbeitszeiten üblich. Im Jahr 1833 wurde durch den Factory Act die Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren verboten, wenngleich dieses Gesetz nur für Textilfabriken galt. Im Jahr 1834 wurde es untersagt, Jungen unter zwölf Jahren als Schornsteinfeger einzusetzen oder Arbeiter „schlecht zu behandeln“ – aber auch dieses Gesetz war relativ unwirksam und wurde nicht durchgesetzt. Das Schornsteinfegen entwickelte sich zu einem Symbol für Kindesmisshandlung, und vielfach wurde darüber berichtet, wie hinter den Kindern Feuer entfacht wurde, um sie zu schnellerem Arbeiten anzutreiben oder wie Kinder in den engen, dunklen Kaminen steckenblieben und ums Leben kamen. Um 1840 besuchten nur 20 Prozent der Kinder in London eine Schule.

Die Industrielle Revolution beschleunigte sich, und immer mehr Menschen zogen vom Land in die Städte. Lebten zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur 20 Prozent der britischen Bevölkerung in Städten, so waren es am Ende des Jahrhunderts bereits 75 Prozent. In London wuchsen die Elendsquartiere und in einstmals herrschaftlichen Häusern lebten nun dreißig oder mehr Menschen in einem einzigen Raum.10 Die meisten Bewohner dieser Elendsviertel mussten sich das Wasser zum Waschen mit einem Kübel aus einer offenen Wasserstelle schöpfen. Als Victoria auf die Welt kam, wurde Essen noch über offenem Feuer gekocht, Pferde transportierten Nachrichten, die Hälfte der Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben, und nur eine kleine Schicht von Grundeigentümern verfügte über politische Macht. Jedoch am Ende ihres Lebens, 1901, fuhren die Menschen mit der Untergrundbahn, Telegraphen übermittelten Nachrichten über die Weltmeere, es herrschte Schulpflicht, und Frauen besaßen immerhin Grundrechte.

Zur Zeit von Victorias Geburt war der genusssüchtige Prinzregent weit weg von den Kämpfen und Nöten seiner in Armut lebenden Untertanen. Durch die Corn Laws von 1815 versuchte die Regierung die heimische Landwirtschaft durch hohe Einfuhrzölle auf Getreide zu schützen. Dies führte jedoch zu einem Anstieg der Nahrungsmittelpreise, was in der wachsenden Arbeiterschaft Unmut hervorrief. Gemeindeland, auf dem Arbeiter gemeinschaftlich Tiere weiden konnten, wurde zu Parzellen zusammengefasst, für die höhere Pachtzahlungen verlangt werden konnten, was große soziale Nöte nach sich zog. Weltweit ging die Nachfrage nach britischen Exportgütern ebenso zurück wie Löhne und Beschäftigung. In den Tagen vor Victorias Geburt war es zu Unruhen wegen der Brotpreise gekommen, und selbst in besseren Wohnvierteln wie der Gegend um den Kensington Palace gab es sichtbare Zeichen von Armut.

Obwohl Victoria in England geboren wurde, war sie von Deutschen umgeben. Sogar ihre Schreianfälle wurden mit deutschen Schlafliedern besänftigt (doch erst mit sieben Jahren begann sie die deutsche Sprache formell zu erlernen). In ihren Adern floss nahezu ausschließlich deutsches Blut. Ihre Mutter, ihre Halbschwester Feodora, ihr Onkel Leopold und ihre Gouvernante waren allesamt Deutsche. Alle vier Großeltern waren deutsch und ihre jüngste englische Vorfahrin stammte aus dem 17. Jahrhundert.11 Zwischen 1714 und 1901 ehelichten alle Hannoveraner, die über England herrschten, Deutsche – Victoria folgte dieser Tradition, ebenso wie sechs ihrer neun Kinder.

Deutschland war zu dieser Zeit eine Ansammlung von Staaten, die sich 1815 nach dem Sieg über Napoleon im Deutschen Bund zusammengeschlossen hatten. (Erst 1871 entstand der deutsche Nationalstaat.) Einige dieser Staaten hatten in den Napoleonischen Kriegen Frankreich unterstützt, doch der größte und mächtigste deutsche Staat – Preußen – war mit England verbündet. Das kleine Kurfürstentum beziehungsweise Königreich Hannover wurde eigenartigerweise von London aus von englischen Königen verwaltet und regiert, die aufgrund der Thronfolgeregelung Hannoveraner waren. Diese mehr als ein Jahrhundert währende Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover, die 1714 vom englischen König George I. begründet worden war – der als Kurfürst Georg Ludwig das Kurfürstentum Hannover regiert hatte und nächster Verwandter der englischen Königin war –, endete schließlich mit der Thronbesteigung Victorias 1837, weil in Hannover nur männliche Nachkommen den Thron erben konnten.

Am 24. Juni 1819 hatte sich in einem Raum mit hoher Decke im obersten Stock des Kensington Palace eine kleine Gruppe von Menschen versammelt, die das Baby Victoria und seine nervösen Eltern betrachteten. Sie standen um ein silbernes Taufbecken herum, das für diesen Tag vom Londoner Tower herbeigeschafft worden war. Der große Raum war mit karminrotem Samt ausgeschlagen, der eine Reihe von Büsten verbarg, die oben an der Wand aufgereiht waren und die Gesichter großer Kaiser und Pharaonen zeigten: Nero, Caligula, Kleopatra. (Das Protokoll verlangte, dass ihre Gesichter verhüllt wurden, um auf die Empfindlichkeiten des Erzbischofs von Canterbury Rücksicht zu nehmen.)

Der Prinzregent hatte, verärgert darüber, dass der verachtete Bruder einen Erben zustande gebracht hatte, darauf bestanden, dass die Taufe in kleinem, privatem Rahmen und am Nachmittag stattfinden solle. Es sollte keine große Zeremonie sein, um nicht das Signal auszusenden, hier würde eine künftige Herrscherin getauft. Den Gästen war es untersagt worden, sich festlich zu kleiden oder Uniformen oder goldene Tressen zu tragen. Darüber hinaus erlaubte es der Prinzregent dem Herzog und der Herzogin von Kent nicht, die Namen ihrer Tochter selbst zu bestimmen. Die Eltern hatten sie Victoire Georgiana Alexandrina Charlotte Augusta nennen wollen, doch der Prinzregent ließ sie im Vorfeld wissen, er werde nicht zulassen, dass das Mädchen den Namen Georgiana erhielt. Es sei inakzeptabel, eine Ableitung seines eigenen Namens in einem Atemzug mit Alexandrina zu nennen, einer Ehrung des russischen Zaren. Zar Alexander hatte dem Herzog für seine Heirat Geld geliehen und war nun Taufpate des Babys. Der Prinzregent erklärte, er werde während der Taufzeremonie mitteilen, welche Namen stattdessen zur Wahl stünden.

Bei der Taufe hielt der Erzbischof von Canterbury das Baby in seinen dicken Händen und fragte den Prinzregenten: „Welchen Namen beliebt Eure Hoheit diesem Kind zu geben?“ Der Prinzregent antwortete mit fester Stimme „Alexandrina“ und schwieg dann kurz. Der Herzog von Kent schlug Charlotte als zweiten Namen vor, und dann Augusta, doch der Prinzregent schüttelte den Kopf. Er lehnte auch den Namen Elisabeth ab. Er wollte nicht, dass dieses Baby, eine Thronrivalin, historische Namen der britischen Königsfamilie erhielt. Nachdem die Herzogin in Tränen ausgebrochen war, erklärte der Prinzregent schließlich: „Dann gebt ihr auch den Namen ihrer Mutter, aber dieser darf dem Kaiser nicht voranstehen.“ Alexandrina Victoria war eine unpopuläre Wahl, denn es waren beides ausländische Namen; das Mädchen wurde bis zum Alter von vierzehn Jahren Drina gerufen, erst danach war sie Victoria. Als das Parlament 1831 den Versuch unternahm, sie in Charlotte oder Elisabeth umzutaufen, beharrte Victoria jedoch darauf, dass ihr Name unverändert blieb.

Der Prinzregent verließ die Taufe, ohne mit seinem Bruder gesprochen zu haben, und auch als der Herzog von Kent die drei Monate alte Drina zu einer Militärparade in Hunslow Heath mitnahm, rief der Prinzregent wütend: „Was hat das Kind hier zu suchen?“12 Die königlichen Onkel des Kindes hegten auch eine Abneigung gegen dessen Mutter. Die Herzogin von Kent hatte einen starken deutschen Akzent und bemühte sich auch nicht besonders, Englisch zu lernen – wenngleich Lord Melbourne später meinte, sie habe die Sprache gut beherrscht, es aber für zweckmäßig erachtet, das Gegenteil vorzutäuschen. Ihre Reden wurden ihr in Lautschrift aufgeschrieben. „Ei hoeve to regret, biing aes yiett so little cônversent in thie Inglish.“13 Die königliche Familie hatte gehofft, dass, statt des verhassten Edwards, dessen älterer Bruder, der Herzog von Clarence, einen Thronerben hervorbringen würde. Die kleine Victoria aber war ihnen ein „Dorn im Auge“.14

Der unbeliebte Prinzregent war ein unglücklicher Mensch. Er hatte seine Tochter Charlotte und seinen einzigen Enkel am selben Tag verloren, und er hasste seine Frau.15 Er war ziemlich korpulent und brauchte Laudanum, um die Schmerzen in seinen geschwollenen Beinen zu lindern. Laudanum – auch als Opium-Tinktur bekannt – war in der viktorianischen Zeit legal. Aspirin wurde erst 1899 als Medikament patentiert, und es gab nur wenige alternative Schmerzmittel. Laudanum war eine Zubereitung aus Kräutern, Opium, destilliertem Wasser und Alkohol, die allgemein eingesetzt wurde als Schlafmittel, zur Schmerzlinderung, zur Behandlung von Durchfall, zur Eindämmung krampfartiger Menstruationsbeschwerden und Flatulenz, zur Betäubung von Geburtswehen sowie zur Linderung von Ohren-, Zahn- und Halsschmerzen. Das Mittel wurde auch zur Behandlung von Hysterie und geistiger Verwirrung sowie als Unterstützung bei „Erschöpfung und Depression“ verwendet,16 ein Zustand, der damals in der Arbeiterschaft weit verbreitet war. Laudanum stellte einen wichtigen Bestandteil in den meisten patentierten Medikamenten dar, es war hochwirksam und machte süchtig.17 Auch bekannte Persönlichkeiten wie Mary Todd Lincoln, Samuel Taylor Coleridge, Charles Dickens und Elizabeth Barrett Browning waren abhängig von der schlaffördernden Wirkung von Laudanum. Florence Nightingale nahm Opium nach ihrer Rückkehr aus dem Krimkrieg und erklärte, das Mittel lindere ihre Rückenschmerzen. Im Jahr 1866 schrieb sie: „Nichts hat mir geholfen, nur ein kleiner Eingriff, bei dem etwas Opium unter die Haut eingebracht wird, das die Schmerzen für Stunden lindert – nicht aber die Lebendigkeit und die Klarheit des Geistes verbessert.“18 Die Ehefrau von Dante Gabriel Rossetti starb an einer Überdosis Laudanum. Viele Mitglieder der königlichen Familie nutzten das Mittel, vor allem jene, die unter chronischen Beschwerden wie Gicht litten.

Nach Ansicht des Herzogs von Kent war das Meer ein wesentlich besseres Heilmittel als Opium. Während die anderen meist im Sommer ans Meer reisten, fuhr er im bitterkalten Winter 1819 an die Küste, um Victoire, die unter Rheumatismus litt, etwas Erleichterung zu verschaffen. Ärzte hatten erst vor Kurzem die Thalassotherapie entdeckt – sie sollte bei der Behandlung schwacher Bronchien, von Schlaganfall und bei postnataler Depression oder Erschöpfung hilfreich sein, wie dieses Krankheitsbild damals genannt wurde. Stillenden Müttern wurden insbesondere Salzwasserbäder empfohlen. Daher reiste der Herzog von Kent an die Küste von Devonshire, um sich dort nach einer Unterkunft für die Familie umzusehen. Dabei besuchte er auch eine Wahrsagerin. Diese erzählte ihm, dass in den nächsten Jahren zwei Mitglieder der Königsfamilie sterben würden. „Seltsam“, überlegte er, „ich möchte gern wissen, welche dies sein werden.“19 Einer der beiden war sein dem Wahnsinn verfallener Vater König George III.; wer der Zweite sein würde, darauf wäre er wohl nie gekommen.

Einige Wochen später brachte er seine Familie zu einem Cottage, das in einem kleinen Tal nicht weit entfernt vom Strand lag. (Unterwegs legten sie einen Zwischenaufenthalt bei Bischof Fisher ein, dem alten Hauslehrer des Herzogs. Die kleine Victoria, die den Bischof nie besonders gemocht hatte, riss ihm dabei einmal die Perücke vom Kopf – ein früher Hinweis auf die Respektlosigkeit gegenüber bischöflicher Autorität, die sie ihr gesamtes Leben begleiten sollte.) Am Weihnachtstag, während eines Schneesturms, bezogen sie das Haus. Es war ein strenger Winter, das Haus wurde von heftigen Stürmen geschüttelt, doch der Herzog war zufrieden und gut gelaunt. In einem Brief berichtete er einem Freund, wie stark seine kleine Tochter sei: „Sie ist viel zu gesund, fürchte ich, jedenfalls für den Geschmack einiger Mitglieder meiner Familie, die sie als Eindringling betrachten.“20 Victoria war erst acht Monate alt, hatte aber schon die Größe einer Einjährigen – und ihr Vater war überzeugt, dass sie seine zähe Willenskraft geerbt habe. Ihre ersten zwei Zähne waren „ohne die geringste Unannehmlichkeit“ durch ihr Zahnfleisch gedrungen; sie hatte keine Miene verzogen. Als sie im Ferienhaus in ihrem Kinderbett schlief, schoss einmal ein Junge aus dem Dorf, der auf Vogeljagd war, versehentlich eine Schrotkugel durch ihr Fenster. Der Herzog erzählte, Victoria habe dem Beschuss standgehalten wie eine Soldatentochter.21

Am 7. Januar unternahm der Herzog von Kent während eines Sturms zusammen mit seinem Stallmeister John Conroy einen ausgedehnten Spaziergang auf den Klippen. Als er zurückkehrte, klagte er über Gliederschmerzen wegen der Kälte. Nachdem er Fieber bekommen hatte, wurde er in einen wärmeren Raum umquartiert und zweimal zur Ader gelassen, doch sein Zustand besserte sich nicht. Der einzige Arzt, der kurzfristig erreichbar war, William Maton, sprach kein Deutsch. Dr. Maton führte einen weiteren Aderlass durch, dann schröpfte er den Herzog und setzte Blutegel an. Schröpfen war zur damaligen Zeit eine weit verbreitete Behandlungsmethode; dabei wurde ein bestimmter Hautbereich angeritzt, dann setzte man ein erhitztes Schröpfglas auf die Stelle. Wenn sich das Glas abkühlte, floss Blut in das Vakuum, das im Schröpfkopf durch das Erhitzen der Luft erzeugt worden war. Am Ende dieser Behandlung hatte der Herzog ungefähr drei Liter Blut verloren. Die Herzogin war tief besorgt und wütend, konnte jedoch die Kompetenz des Arztes nicht in Frage stellen. Sie schrieb, dass es „kaum noch eine Stelle auf seinem Körper gab, die nicht durch Schröpfspuren, Blasen oder Blutungen verunstaltet war … Sie haben ihm nahezu alle Kräfte geraubt … diese grausamen Ärzte.“22 Als dem Herzog am Abend mitgeteilt wurde, dass der Arzt ihn erneut bluten lassen wolle, schluchzte er.

Die Herzogin lief unruhig hin und her, während sich ihr Gemahl in Schmerzen wand, hustete und aufstieß. Sie wollte sich nicht niederlegen. Bald erschienen einige Freunde am Ferienhaus, auch der Bruder der Herzogin, Prinz Leopold, der mit seinem Vertrauten, dem Arzt und Anwalt Christian Stockmar, kam. Während die Herzogin wartete, maß Stockmar, der in späteren Jahren eine solch entscheidende Rolle bei Hofe spielen sollte, den Puls des Herzogs. Dann drehte er sich um und sagte ruhig: „Menschliche Hilfe kann hier nichts mehr ausrichten.“23 Die Herzogin starrte ihn an, dann trat sie an die Seite ihres Mannes und nahm seine Hand. Sie hatte seit Tagen weder ihre Kleider gewechselt noch geschlafen. Während die kleine Victoria – die sie „Vickelchen“ nannte – schlafend in ihrem Bettchen lag, kniete Feodora, ihre ältere Tochter, auf dem Boden und betete. Als der Morgen dämmerte, hatte der Herzog noch immer Fieber und war unruhig. Er drückte die Hand seiner Frau, zog sie zu sich herab und flüsterte: „Vergiss mich nicht.“24

Der Herzog von Kent starb gegen zehn Uhr vormittags am Sonntag, dem 23. Januar 1820. Sein Tod war für die Familie ein schwerer Schock in Anbetracht seiner zuvor stets robusten Gesundheit.25 „Der Herkules von einem Mann lebt nicht mehr“, schrieb Fürstin Lieven, die Gattin des russischen Gesandten in London.26 Victoire war zum zweiten Mal Witwe geworden. Sie war weithin unbeliebt, nahezu mittellos und hatte nur wenige Verbündete. In der königlichen Familie fand sie zunächst ein gewisses Mitgefühl, vor allem bei den Frauen,27 doch das machte sie bald selbst zunichte durch Taktlosigkeit wie auch durch ihr Konkurrenzverhalten gegenüber jenen Frauen, die in der Lage waren, eine Rivalin für Victoria hervorzubringen.

Noch im Tod war der Herzog von Kent ein eindrucksvoller Mann. Sein Sarg war ein Schwergewicht und 2,15 Meter lang – die Sargträger hatten Mühe, ihn durch die Türen zu bugsieren. Er wurde am Abend des 12. Februar in der Familiengruft des Hauses Windsor beigesetzt, während seine Gemahlin weinend zu Hause saß (Frauen durften nicht an Beisetzungen teilnehmen, vorgeblich, weil man fürchtete, sie würden die Fassung verlieren). Die beiden hatten eine glückliche Ehe geführt.28 Jetzt war sie allein und sollte es sich fortan zur Lebensaufgabe machen, Victoria zu beschützen, zu unterweisen und zu überwachen. Zunächst aber galt es, zu überleben.

Und leicht war das nicht. Der Herzog hatte das Kind testamentarisch in die Obhut seiner Gemahlin gegeben. Er hatte alles Victoire vermacht, obwohl Männer in dieser Zeit gewöhnlich ihren männlichen Angehörigen den Besitz hinterließen (Frauen erhielten üblicherweise nur die Zinsen aus Geldvermögen des Nachlasses). Doch aufgrund seiner beträchtlichen Schulden war seine Witwe auf die finanzielle Unterstützung durch ihren Bruder Leopold und die Gastfreundschaft ihres Schwagers angewiesen. Der Prinzregent erklärte sich bereit, sie im Kensington Palace wohnen zu lassen. Im kalten Londoner Winter reiste die kleine, bedrückte Gruppe zurück zum Palast, wobei die acht Monate alte Victoria in der schaukelnden Kutsche kräftig durchgeschüttelt wurde. Sie stand schreiend auf ihren stämmigen Beinen, setzte sich auf die Knie ihrer Mutter und schlug mit den Fäusten gegen die geschlossenen Fenster der Kutsche, die schwarz ausgeschlagen war. Mit dem Tod des Vaters nahmen zwei Konstanten im Leben dieses Mädchens ihren Anfang: Verlust und Durchhaltewillen.

Sechs Tage nach Edwards Tod starb sein Vater George III. auf Windsor Castle, und der Prinzregent wurde als George IV. neuer König. Damit rückte Victoria am 29. Januar 1820 in der Thronfolge auf den dritten Platz vor. Und je mehr sich ihre Chancen verbesserten, desto ehrgeiziger und machtbewusster wurde ihre einst zärtliche und liebevolle Mutter.29 Victoria würde lernen müssen, sich zu widersetzen, und entsprechend berichtete ihre Mutter, Victoria habe bereits als Kind „Anzeichen gezeigt, immer ihren Willen durchsetzen zu wollen“.30 Diese Sturheit sollte sie, während sie aufwuchs, noch häufiger benötigen. Denn indem sie jener Frau trotzte, die sie auf die Welt gebracht hatte, lernte Victoria, Königin zu sein.

KAPITEL 3

Die einsame, ungezogene Prinzessin

„[Victoria] steht unter so strenger Beobachtung, dass nicht einmal eine emsige Magd ihr zuflüstern könnte: ‚Sie sind die englische Thronerbin.‘ Ich vermute, wenn wir ihr kleines Herz sezierten, fänden wir eine Taube oder einen anderen Vogel der Lüfte, der hier Gestalt angenommen hat.“

SIR WALTER SCOTT, 18281