Quizknacker - Joachim Telgenbüscher - E-Book

Quizknacker E-Book

Joachim Telgenbüscher

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Beschreibung

Er hat es getan, immer wieder. Joachim Telgenbüscher hat sein Faible für unnützes Wissen mehrfach und erfolgreich als Quizkandidat auf die Probe gestellt und kennt sich aus im hart umkämpften Wissenswettkampf. Warum Fragen rund um die Dosenschildkröte beliebt sind, wie man ein Casting meistert und welche Klamotten sich für den Fernsehauftritt eignen, verrät er hier erstmals für alle, die es auch auf den Kandidatenstuhl von Wer wird Millionär schaffen wollen. Der Blick hinter die Kulissen ist äußerst spannend und informativ, witzig und voller skurriler Anekdoten über technische Pannen und ehrgeizige Gegner.

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Inhalt

CoverInhaltTitelImpressumWidmung1. Angefixt2. Sind wir zu doof?3. Noch einmal, bitte4. Einsam in Hürth5. Terminator6. Ein guter Rat vom Profi7. Die Seuche8. Mein Name ist Bond9. Terribly German, Darling10. Los, trau dich!11. Im Trainingswahn12. Warten auf Günther13. Auf dem heißen Stuhl14. Die Hölle, das sind die anderen (Kandidaten)15. Reine Routine16. Wir sind alle Kandidaten

JOACHIM TELGENBÜSCHER

QUIZKNACKER

Ein Gewinner zeigt wie’s geht

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2010 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Monika Hofko, Scripta Literatur-Studio,

München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-0301-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für meine Eltern Karl und Antje

1. Angefixt

Ich kam an einem späten Montagabend zur Welt, kurz nach Sendeschluss. Meine Eltern sorgten sich in dieser Nacht eher um die Nabelschnur, die mir die Luft abklemmte, als um das Fernsehprogramm. Doch selbst wenn sie die Glotze angeschaltet hätten, wäre da wenig gewesen. Außer einem tutenden Testbild lief in den Achtzigerjahren um diese Uhrzeit nichts.

Ich wurde in die Ära hineingeboren, als Dieter Bohlen noch Steve Benson hieß, als es das Privatfernsehen noch nicht gab und Deutschlands beliebteste Sendung ein Säugling war wie ich: »Wetten, dass …?« Und die Nachtprogramme, in denen Frauen vor Flipcharts strippten und es Quizshow nannten, waren damals auch noch nicht erfunden.

Später, als ich in den Kindergarten ging, wachten meine Eltern darüber, dass ich und meine drei Geschwister ja nicht zu viel fernsahen. Ein eigener Apparat im Kinderzimmer? Tabu. Schließlich behaupteten Medienkritiker damals, dass zu viel Fernsehen unsere kindliche Unschuld zerstöre. Die Familienglotze thronte deshalb im »Fernsehbunker«, einem separaten Raum, den mein Vater bei Bedarf abschließen konnte. Das tat er oft. Eigentlich immer.

Ich nehme ihm die Fernsehdiät nicht übel. Er ahnte damals ja nicht, dass ich später bei fünf verschiedenen Quizshows insgesamt 60 000 Euro, eine Fernreise, Dutzende DVDs und Lexika abräumen würde. Hätte er gewusst, dass in seinem Sohn ein zukünftiger Quizknacker steckte, der sich eines Tages mit Ratespielen sein Studium finanzieren würde, hätte er die Tür vermutlich offen gelassen – oder mir gleich einen Apparat ins Zimmer gestellt.

Doch ich hatte mein Talent ja selbst noch nicht entdeckt. Es hat Jahre gedauert, bis ich den Dreh raushatte, bis ich wusste, wie ich als TV-Kandidat viel Geld verdienen kann. Mein Weg zum professionellen Quizgewinner mag lang gewesen sein, aber er war auch lustig. Ich will Ihnen davon erzählen, und ich will eine Botschaft so lange wiederholen, bis Sie freiwillig die »Wer wird Millionär?«-Hotline anrufen: Jeder ist ein Quizknacker!

Alle Versuche meines Vaters, mich vor dem Fernsehen zu schützen, haben nichts genutzt. Ich habe mich trotzdem in einen TV-Junkie verwandelt, den auch noch die vierzigste Wiederholung einer N24-Fleischsalat-Doku begeistert. Sosehr sich meine Eltern sonst bemüht haben – in diesem Punkt haben sie versagt. Zum Glück.

Dank der kriminellen Energie meines älteren Bruders, der schon bald einen Ersatzschlüssel für den Fernsehbunker besorgte, liegen TV-Sendungen bei meinen frühesten Erinnerungen weit vorn. Ich glaube, da bin ich in meiner Generation nicht allein. Vielleicht werden sich die Teenager von morgen mit Tränen in den Augen erzählen, wie sie zum ersten Mal den niesenden Panda auf YouTube gesehen haben; durch meine Kindheit dröhnten noch der Gong der Tagesschau und die Lacher von »Verstehen Sie Spaß?«.

Meine Geschwister rissen sich genauso um den Fernseher wie ich, aber unsere Geschmäcker waren total verschieden. Mein großer Bruder schaute »Ein Colt für alle Fälle« oder »Captain Future«; ich hatte andere Favoriten – und hier fängt meine lange Ausbildung zum Quizprofi eigentlich schon an.

Ich konnte noch nicht laufen, da wollte ich vor allem den »Schanze« sehen. Ja, den Michael Schanze. Bevor er in der Sendung »Flitterabend« frisch getraute Ehepaare auf Hochzeitsreise schickte und Kinder deutsche Schlager singen ließ, moderierte Schanze die Ratesendung »1, 2 oder 3«.

Ich erinnere mich noch an seine Turnschuhe, auf denen er ziemlich sportlich durch die Kulissen hüpfte. Den Titelsong, eine vertonte Fassung der Spielregeln, sang der Schanze selbst. »Eins, zwei oder drei … Du musst dich entscheiden, drei Felder sind frei.«

Jede Woche stellten sich drei Schulklassen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz den Wissensfragen des Moderators – wie habe ich sie beneidet! Für jede Antwortmöglichkeit gab es im Studio ein Feld auf dem Fußboden, und die Mitspieler stimmten mit den Füßen ab. Ich liebte es, wenn einige in letzter Sekunde noch ihre Meinung änderten und von einem Kästchen ins nächste hüpften. Meine Helden aber waren diejenigen, die sich der Mehrheit nicht beugten und allein auf ihrem Feld standen. Doch diese Freigeister gewannen nur selten. Meistens ist der Schwarm eben doch schlauer als der einsame Hering.

Wer richtig geraten hatte, bekam einen Ball in seine Sammelröhre und durfte diese Bälle am Ende gegen Geschenke eintauschen. Der Moment, wenn die Kinder auf die Modelleisenbahnen und Chemiebaukästen zu stürmten, erschien mir unwirklich, paradiesisch und dreimal besser als Weihnachten: Fernsehen eben.

Seit über dreißig Jahren läuft die Sendung nun schon im ZDF, und wenn ich eines bedauere im Leben, dann, dass ich es nicht zu »1, 2 oder 3« geschafft habe. Die Zeit dafür hätte ich ja eigentlich gehabt. Jetzt ist es wohl zu spät dafür.

Als ich alt genug war, schickten mich meine Eltern in den Ferien zu meinen Großeltern. Ich flüchtete vor meinen nervigen Geschwistern und entdeckte eine spannendere Welt: das Samstagabendprogramm. Bei Oma und Opa durfte ich all das schauen, was mir meine Eltern sonst verboten. Wie ein Kindkönig saß ich auf dem weißen Sessel im Wohnzimmer, ein großes Kissen unter dem Hintern, damit ich im Plüsch nicht versank. Wenn »1, 2, oder 3« meine Einstiegsdroge war, dann wurde ich hier endgültig ratesüchtig: Die Achtziger waren die große Zeit der Samstagabend-Quizshow; Sendungen, die nicht durch die Höhe des Preisgeldes beeindruckten, sondern durch den Charme ihrer Moderatoren. Wenn Wim Thoelke beim »Großen Preis« eine »Risiko-Runde« ankündigte, dann gruselte ich mich fast ein bisschen. Fast jeder zweite Deutsche saß wie ich vor dem Fernseher und schaute dem Quiz-Großmeister bei der Arbeit zu. Dabei bekamen seine Kandidaten für einen Joker gerade mal 100 Mark. Mir war das egal, ich liebte diese Sendungen, weil sie den Fakten in meinem Kopf einen Sinn verliehen.

Natürlich dachte ich damals nicht im Traum daran, mich irgendwann als Kandidat zu bewerben. Trotzdem habe ich schon als kleiner Junge mit der Vorbereitung auf meine Quizkarriere begonnen – ohne es zu merken. Nachdem meine ältere Schwester Anna mir das Lesen beigebracht hatte, stand dem Ausbau meiner Allgemeinbildung nichts mehr im Wege. Ich las und las und las. Meine Veranlagung spielte dabei wohl auch eine Rolle; mich interessierte einfach alles: Singvögel, Gladiatoren, Dinosaurier, Urwälder, Ritterburgen und das Universum. Ab sofort brauchte niemand mehr lange nach einem Geburtstagsgeschenk für mich zu suchen – ein »Was ist was?«-Buch genügte. Ich habe meine Sammlung lange nicht mehr gesehen, wahrscheinlich schlummert sie irgendwo im Keller meiner Eltern, aber ich schätze, ich habe die ersten 83 Bände gelesen und die Hälfte selbst besessen.

Als anständige Bildungsbürger freuten sich meine Eltern über meinen Wissensdurst und förderten ihn, wo sie nur konnten. Das hatte Folgen. Irgendwann weigerten sich meine Geschwister, mit mir das »Spiel des Wissens« zu spielen, weil ich alle Fragen auswendig gelernt hatte. Nicht um zu mogeln, nein, mir war einfach nur langweilig gewesen. Ein anderes Mal, zu Weihnachten, schenkten mir meine Eltern eine Ausgabe von »Trivial Pursuit« – in den Osterferien bekam ich eine fiebrige Bronchitis, und zwei Wochen Bettruhe später kannte ich auch hier die meisten Fragen. Klar, dass wir es danach nie wieder gespielt haben.

In der Schule hat mir mein Wissensschatz geholfen, aber darauf hatte ich es nie angelegt. Ich habe aus Spaß gelesen. Als ich älter wurde, veränderte sich auch mein Wissensdurst ein wenig. Je skurriler ein Detail, desto eher behielt ich es. In neun Jahren Biounterricht ist mir die Vankatze nie begegnet, doch ich kenne ihren Namen aus dem Brockhaus. Warum? Weil es die einzige Katzenart ist, die Wasser liebt. Das fand ich lustig genug, um es mir zu merken. Und bei Herbert Grönemeyer fallen mir natürlich »Bochum«, »Männer« und »Das Boot« ein, aber auch sein vierter Vorname: »Clamor«. Auf Lateinisch heißt das Geschrei. Fragen Sie mich nicht, was sich seine Eltern dabei gedacht haben, als sie ihm diesen Namen gegeben haben.

Ich sah also gern Quizshows und hatte eine Leidenschaft für nutzloses Wissen. Mehr nicht. Ich dachte nie im Leben daran, dass die beiden Dinge zueinanderfinden würden, geschweige denn, dass ich mir damit einmal mein Studium finanzieren würde. Ich hielt das Fernsehen für eine Scheinwelt, so real wie die Einbauküche in der Kulisse einer Soap Opera. Außerdem kannte ich niemanden, der in einer Quizshow jemals gewonnen hatte. Jahrelang schaute ich den »Großen Preis« oder »Jeopardy« und hielt die Kandidaten insgeheim für Zombies, die zu Staub zerfielen, sobald die Sendung im Kasten war.

Um den Quizknacker in mir zum Leben zu erwecken, musste ich erst einmal das Land verlassen …

Wenige Dinge sind so sinnlos wie die elfte Klasse in der Oberstufe des Gymnasiums. Die Kurse zählen nicht fürs Abi, und man kann sich die Entschuldigungen selber schreiben. Warum also bleiben? Viele meiner Mitschüler nutzten das Jahr, um in den USA ihren Führerschein zu machen; ich verbrachte die Zeit im nordenglischen Bolton. Einer alten Industriestadt, so trist wie eine Backsteinmauer und so feucht wie ein Hochmoor, aber dafür hatte hier der Tourismus die Einwohner noch nicht verdorben. Sie waren freundlich, offenherzig und trinkfest. Schnell war ich einer von ihnen. Uns trennten eigentlich nur zwei Dinge: Weltkriege und Weltmeisterschaften. Aber beides fand während meines Aufenthaltes nicht statt.

Ich wohnte bei einem älteren englischen Ehepaar, dessen Kinder schon ausgezogen waren und die mir unter anderem zeigten, dass weder Yorkshire noch Black Pudding etwas mit Nachtisch zu tun haben.

Die meiste Zeit verbrachte ich aber in der Bolton School, einer Privatschule. Dort hatte ich einen katastrophalen Start, aber als ich endlich gelernt hatte, wie man sich eine Krawatte bindet, lief es fantastisch. Die Schule war ein Paradies: kleine Klassen, kein Mathe und ein Gebäude wie aus einem Harry-Potter-Film. Einen Führerschein bekam ich hier nicht, dafür wurde mein Wissensdurst gestillt. Immerhin.

Meinen Eltern gefiel das so gut, dass sie jedes Trimester das Schulgeld bezahlten. Doch eines wussten sie nicht, nämlich dass in England das geschah, was sie immer verhindern wollten: Ich bekam meinen eigenen Fernseher. Von dem Moment an, als ich mein Zimmer betrat und meinen Rucksack in die Ecke geschleudert hatte, lief der Kasten beinahe nonstop – nur wenn ich am Wochenende mit dem Rennrad durch den Regen pflügte, blieb der Fernseher aus. Na gut, nachts habe ich ihm auch eine Pause gegönnt.

Ich hatte nur fünf Kanäle zur Verfügung, aber für einen TV-Junkie mit dem Spezialgebiet Quizshows bot das englische Fernsehen genug Futter. Egal ob »Catchphrase«, »Countdown« oder »Call my Bluff«, meine Ratesucht wurde in England bestens befriedigt. Meine Lieblingssendung lief am späten Nachmittag. Weil ich sie nicht verpassen wollte, beeilte ich mich nach der Schule und radelte meist im Anzug nach Hause.

Das Format trug den knappen Namen »100 %« und war auch sonst eine eher sparsame Sache. Es ist die einzige Quizsendung, die ich kenne, die ohne einen Moderator auskommt. Das Spielprinzip: Eine sonore Stimme aus dem Off liest nacheinander hundert Fragen vor. Wer von den drei Kandidaten davon die meisten richtig beantwortet, gewinnt und darf beim nächsten Mal wiederkommen. Während meiner ersten drei Monate in England regierte der immer gleiche Champion: Ian Lygo aus Hemel Hempstead. Fünfundsiebzigmal hintereinander erreichte der englische Beamte die höchste Punktzahl und schaffte es mit dieser noch nie dagewesenen Erfolgsserie sogar ins Guinnessbuch der Rekorde. Ich glaube, da steht er heute noch. Wenn jemand den Titel »Quizknacker« verdient hat, dann wohl er.

Wahrscheinlich hätte Lygo bis in alle Ewigkeit weitergewonnen, wenn nicht die Produktionsfirma plötzlich die Regeln geändert und ihn nach Hause geschickt hätte. Einige Zuschauer hatten sich beschwert, weil sie wollten, dass endlich mal jemand anderes gewinnt. In 75 Sendungen hat Lygo 7500 Fragen beantwortet und dafür am Ende gerade einmal 7500 Pfund bekommen – 90 Cent pro Frage. Ein gutes Geschäft für den Sender. Doch die Zeiten, in denen TV-Macher so billig davonkamen, sollten schon bald vorbei sein.

Wenn ich in England nicht gerade Quizshows guckte oder Schulaufsätze über Shakespeare schrieb, dann las ich die englischen Boulevardzeitungen – besonders die dicken Wochenendausgaben von »Sun« und »People«, mit denen ich es mir am Sonntag auf dem Sofa meiner Gasteltern gemütlich machte. Ich leide nämlich neben meiner Quizabhängigkeit noch an einer anderen Krankheit: Ich bin klatschsüchtig. Aber wie sich später noch zeigen sollte, passen diese zwei Eigenschaften hervorragend zusammen.

An einem Septembertag kurz nach meiner Ankunft in England fiel mir beim Durchblättern der »Sun« eine Fernsehzeitschrift vor die Füße. Vom Cover grinste mir ein rotblonder Mann mittleren Alters entgegen, um dessen Kopf ein Heiligenschein aus Pfundsymbolen leuchtete. Die Schlagzeile, die darunterstand, habe ich vergessen, aber sie war gut genug, um mein Interesse zu wecken, und ich begann die Titelgeschichte zu lesen. Kurz darauf wusste ich: Was ich hier in Händen hielt, war eine Kriegserklärung an all die verstaubten Fernsehquizshows meiner Kindheit, an die bescheidenen Preise und an die langsamen Moderatoren. Was hier zu mir sprach, war der blanke Größenwahn. Er kündigte eine Sendung an, die alles andere in den Schatten stellte. Es war die Ankündigung von »Who Wants to Be a Millionaire?« – dem Format, das RTL als »Wer wird Millionär?« nach Deutschland holen sollte.

Kein Wunder, dass ich ein paar Tage später mit meinem Gastvater auf dem Sofa saß und mir die allererste Sendung anschaute. Dabei war ich genauso gespannt wie pessimistisch. Alles, was ich über das Konzept gelesen hatte, klang völlig verrückt, und ich hätte Geld gewettet, dass es nicht funktionieren würde: 15 Fragen für ein Preisgeld von mehr als drei Millionen DM? Wahnsinn. Multiple Choice in einer Quizshow? Mogelei. Ein Anruf bei Freunden als Joker? Betrug. Doch als die Titelmelodie zum ersten Mal durch das Studio gerollt war und die Scheinwerfer ihre Saltos geschlagen hatten, war es schnell vorbei mit meiner Skepsis: Die Sendung war ein Geniestreich – die Spannung und der Speed, mit denen sich die Kandidaten von Frage zu Frage kämpften, ließen mir den Atem stocken. Alles, was früheren Quizshows das Tempo genommen hatte, das Geplauder und das Brimborium, fehlten hier völlig. Diese Sendung schoss an den Idolen meiner Kindheit – den Kulenkampffs und Thoelkes – vorbei wie ein Formel-1-Wagen. Die waren dagegen so lahm wie ein Opel Kapitän mit miserablen Zündkerzen. Ihr Schicksal war der Standstreifen; die Überholspur gehörte ab sofort dieser Millionenshow.

Meine Begeisterung war entflammt, und auch der Moderator konnte sie nicht mehr austreten. Chris Tarrant, der rotblonde Typ vom Zeitschriftencover, war der einzige Haken an der Sendung. Er war der Anti-Jauch. Ein überdrehter Exradiomoderator, zu dessen größten Erfolgen die englische Version der Macho-Show »Mann-O-Mann« zählte. Später kamen noch zwei vorläufige Festnahmen sowie Platz 99 in der Liste der »nervigsten Engländer des Jahres 2007« dazu, aber ich glaube, die Sendung wäre auch ein Erfolg geworden, wenn ein taubstummes Gnu die Moderation übernommen hätte. Das Spielprinzip war einfach zu gut.

Der Queen gefiel Tarrant offenbar viel besser als mir: Sie ernannte ihn 2004 zum »Officer of the British Empire«. Angeblich als Anerkennung für seine Wohltätigkeitsprojekte, aber ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht hat sie ihm den Orden auch für seinen Beitrag zur englischen Sprache verliehen. Der Slogan, mit dem Chris Tarrant seinen Kandidaten auf den Zahn fühlt, ist in England zum Sprichwort geworden – »Is that your final answer?« (Ist das Ihre endgültige Antwort?). Aber längst nicht alle, die den Spruch heute benutzen, können dabei so fies lächeln wie der englische Quizmoderator.

Meine Antwort stand am Ende der ersten Sendung von »Who Wants to Be a Millionaire?« auf jeden Fall fest: Da wollte ich auch hin, komme, was da wolle. Noch ein knappes Jahr, und ich war endlich erwachsen und damit alt genug, um an einer echten Quizshow teilzunehmen. Und »Who Wants to Be a Millionaire« war das attraktivste Ziel aller Rateprogramme. Die Sendung hatte nichts von dem sperrigen, unwirklichen Look der alten Quizshows. Die Kandidaten sahen aus, als hätte man sie gerade fünf Minuten zuvor auf der Straße angesprochen und sie zum Mitmachen überredet. Ich war überzeugt: Das musst du auch probieren!

Es gab nur ein Problem. Einen Auftritt in der englischen Sendung traute ich mir nicht zu. Ich glaube, das würde auch heute noch in einer totalen Katastrophe enden. Komischerweise bereiten mir dort die schwierigen Fragen aus Geschichte oder Kunst keine Probleme, dafür hakt es bei den untersten fünf Fragen. Ich bin Deutscher. Ich bin genetisch gar nicht in der Lage, die Kricketregeln zu verstehen – und danach wird dort gern gefragt. Für 500 Pfund zum Beispiel: Wie nennt man einen Batsman, der ohne einen Punkt zu machen vom Platz fliegt? Ente, Hase, Fuchs oder Taube? Keine Ahnung. Ich weiß ja noch nicht einmal, was ein Batsman tun muss, um einen Punkt zu machen.

Es blieb mir also nichts anderes übrig, als darauf zu warten, bis die Sendung auch in Deutschland laufen würde. Dass sie laufen würde, davon war ich schon damals überzeugt. Mittlerweile läuft »WWM?« übrigens in über hundert Ländern, und auch Angolaner oder Afghanen müssen nicht darauf verzichten.

Ein knappes Jahr später neigte sich meine Zeit in England dem Ende zu, und ich merkte: Ich gefiel der Schule so gut wie sie mir. Einige Wochen vor meiner Abreise rief mich mein Klassenlehrer, den ich sehr mochte, zu sich. Er war schon Anfang sechzig und trug meist Tweedjacketts, an deren Aufschlägen manchmal noch Reste vom Mittagessen hingen.

Mr Hobbson wischte sich eine lange graue Strähne aus der Stirn, als ich sein Büro betrat.

Dann fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, ganz an der Schule zu bleiben und statt dem Abitur meine »A-Levels« in England zu machen. Meine Noten seien gut, und er würde mir gerne helfen, nach dem Abschluss in Cambridge zu studieren. Ich war geschockt. Erstens, weil ich schon die Tage zählte, bis ich endlich wieder deutsches Brot essen durfte, und zweitens, weil ich nie gedacht hätte, dass ich Chancen hätte, es auf eine der beiden englischen Elite-Unis zu schaffen.

Doch Mr Hobbson war vorbereitet. Ein Griff in seine Schublade förderte einen Haufen Prospekte zutage, auf denen glückliche junge Menschen durch gotische Gemäuer liefen und über Wimbledon-Rasen flanierten.

»Der Unterricht ist wie hier, nur besser«, sagte Mr Hobbson und lächelte mich an. »Ich weiß, wovon ich rede. Ich war selber dort und habe sogar Kricket gespielt für mein College. Na gut, ich hab’s versucht.«

Ich kam ins Grübeln. Niemals in meiner ganzen Schulzeit hatte ich mich so wohlgefühlt wie auf der Bolton School. Wenn die Lehrer, von denen ich so viel gelernt hatte, mir nun diese Uni empfahlen, musste da doch etwas dran sein. War Cambridge nicht der zwingende nächste Schritt in meinem Leben? Trotzdem hatte ich meine Zweifel: Die Aussicht auf ein tolles Studium reizte mich zwar, aber der Gedanke, dafür noch ein weiteres Jahr im nordenglischen Regenwetter zu verbringen, ließ sich nicht so leicht beiseiteschieben.

»Na, du kannst es dir ja erst mal anschauen, bevor du dich entscheidest. Nächste Woche ist in meinem alten College ein Tag der offenen Tür. Ich habe dich schon angemeldet. Fahr vorbei, und dann sehen wir weiter.«

Mein Besuch in Cambridge zerstreute alle meine Zweifel. Die Stadt war wirklich voller glücklicher junger Leute, die Gebäude waren wirklich so imposant wie im Prospekt und die Dozenten ebenso fähig wie freundlich. Mir war klar: Da wollte ich hin. Auf der Bolton School bin ich dann aber doch nicht geblieben – nicht nur, weil meine Sehnsucht nach Schwarzbrot mich nach Hause trieb, sondern auch, weil ich Heimweh hatte. Und schließlich kann man sich in Cambridge auch mit dem Abitur bewerben.

Als ich wieder in Deutschland war, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und blätterte in den Prospekten, die Mr Hobbson mir mitgegeben hatte. Ganz hinten, auf einer der letzten Seiten, fiel mein Blick auf ein wichtiges Detail: »Tuition Fees« stand da. Studiengebühren. Ich rechnete aus, dass mich drei Jahre Studium in Cambridge fast 10 000 DM kosten würden, und da waren die horrenden Lebenshaltungskosten auf der Insel noch nicht inbegriffen.

Ich brauchte nicht länger darüber nachzudenken, was ich mit einem Quizgewinn anstellen würde. Gute Noten waren ja ganz nett, aber ohne Geld würde ich ewig in Deutschland bleiben. Höchste Zeit also, es beim Fernsehen zu versuchen.

2. Sind wir zu doof?

Ich weiß nicht, was Günther Jauch tun musste, um den Job als Moderator von »Wer wird Millionär?« zu bekommen. Vielleicht hat er den RTL-Chefs ja seinen Auftritt bei »Dalli Dalli« gezeigt – wo dem 26-Jährigen im Sommer 1983 sensationelle 28 Antworten zum Thema »Vorzüge der Ehe« einfielen und er den legendären Hans Rosenthal damit zu dem klassischen Jubelsprung »Das war Spitze!« zwang. Küssen, kochen, Liebe machen – es war eigentlich alles dabei.

An Quizerfahrung hat es Günther Jauch also nicht gemangelt, als er im September 1999 die allererste Folge von »Wer wird Millionär?« im deutschen Fernsehen moderierte. Ich war erst kurz zuvor aus England zurückgekommen, saß vor der Glotze und musste mich umgewöhnen. Chris hieß jetzt Günther und statt obskuren britischen Sportarten wurden nun einfache deutsche Sprichwörter abgefragt, die trotzdem so manchen Kandidaten überforderten – zur großen Schadenfreude der Nation.

Die neue Sendung löste einen Boom aus, wie Deutschland ihn lange nicht erlebt hatte. Fast aus dem Stand erreichte »WWM?« Einschaltquoten im zweistelligen Millionenbereich, und Jauch hatte plötzlich exzellente Chancen, zum nächsten Bundespräsidenten gewählt zu werden. Thomas Gottschalks jahrzehntelange Alleinherrschaft über das Fernsehprogramm war gebrochen – und einer seiner Freunde hatte ihn entthront! Beim Publikum (und vermutlich auch bei RTL) wuchs die Quizbegeisterung von Woche zu Woche. Die erste Staffel von »WWM?« war wie eine Welle, die über Deutschland hinwegrollte. Ein Wunder: Rateshows waren wieder in.

Und trotz allem habe ich mich damals nicht beworben bei »WWM?«. Warum? Weil ich Angst hatte. Angst, mich zu blamieren. Angst, auf dem heißen Stuhl zu landen und plötzlich nicht mehr zu wissen, ob mein Schwein pfeift, mein Igel trötet oder meine Taube klingelt. Jetzt, wo ganz Deutschland über die Sendung sprach, regte sich die Feigheit in mir, und ich begann Ausreden zu erfinden: War es nicht viel vernünftiger, erst mal klein anzufangen? Skispringer fliegen ja auch nicht gleich von der Großschanze, dachte ich, sondern fangen auf einem kleinen Idiotenhügel an. Ich brauchte auch einen Idiotenhügel. Ich brauchte »Jeopardy«!

Während meiner Schulzeit war diese Sendung ein fester Teil meines Tagesablaufs. Ich glaube, sie lief unter der Woche gegen 17.00 Uhr, also pünktlich zu meinem Spätnachmittags-Snack. Es gibt eigentlich nur zwei Gründe, warum es sich lohnt, an »Jeopardy« zu erinnern – und nein, Frank Elstners Moderation gehört nicht dazu. Zwei Dinge waren bemerkenswert: die herrlich beruhigende Wartemelodie in der Finalrunde und das bekloppte Spielprinzip. Wäre die Welt der Quizshows ein Schulhof, dann wäre »Jeopardy« das Kind, das seine Mütze falsch herum trägt und mit offenen Schnürsenkeln herumschlurft. »Jeopardy« war krampfhaft bemüht, anders zu sein. Hier las der Moderator keine Fragen vor, sondern Antworten, und die Kandidaten gaben keine Antworten, sondern formulierten Fragen. Ich habe nie begriffen, warum das so war. Vielleicht war es ein sadistischer Trick, um die Kandidaten zu quälen. Denn jeder, der bei »Jeopardy« mitspielte, musste sich auf die Zunge beißen und den ureigenen Instinkt aller Quizkandidaten unterdrücken, nämlich auf den Buzzer zu hauen und eine Antwort herauszubrüllen.

Ich wollte also zu »Jeopardy«, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Die Sendung hatte keine Hotline, bei der man anrufen konnte, und eine Initiativbewerbung per Post schien mir wenig aussichtsreich. Doch dann machte einer meiner Schulfreunde die entscheidende Entdeckung – durch Zufall.

Quizshows sind ein bisschen wie Fußballvereine: Sie spielen alle in unterschiedlichen Ligen, und dementsprechend wählen sie auch ihre Kandidaten aus. Da gibt es die Champions League, zu der auch »WWM?« gehört. Diese Sendungen sind so beliebt, dass sie mit der Kandidatensuche auch noch Geld verdienen können – über eine (nicht ganz billige) Hotline. Es gibt aber auch Sendungen, die gehören allenfalls zur zweiten Bundesliga – meist sind es die klassischen Nachmittagsquizshows, von denen viele Berufstätige gar nichts wissen. Diese Sendungen müssen sich mehr anstrengen, um interessante Kandidaten zu finden. Sie müssen aktiv suchen. Meistens tun sie das nicht selbst, sondern beauftragen eine Castingagentur, wie z.B. »Mediabolo«, die sich um alles kümmert und die den Produktionsfirmen ein fertiges Kandidatenteam liefert. Über so eine Agentur war mein Kumpel Stefan gestolpert. Er hatte im Internet eine Terminvorschau gefunden: Schon am kommenden Wochenende würde »Jeopardy« wieder nach Kandidaten suchen.

»Hat irgendeiner Bock drauf?«, fragte er, als wir wieder mal eine Freistunde auf dem Schulflur vertrödelten. »Ich habe bei denen angerufen. Wir brauchen uns noch nicht mal anzumelden.«

»Wo soll das denn sein?«, wollte ich von ihm wissen.

»In einem Kaff irgendwo in der Nähe von Hannover.«

»Lust hätte ich schon, aber wie kommen wir dahin?«

»Ich könnte meinen Vater fragen – vielleicht leiht er uns ja sein Auto«, bot Stefan an.

»Das wäre fantastisch!«, antwortete ich und zählte insgeheim schon die Stunden bis zum Casting. Jetzt musste Stefans Vater nur noch den Autoschlüssel rausrücken, und ich war schon fast im Fernsehen.

Ich war so naiv wie ein Elefantenbaby. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie dieser Trip ausgehen würde, wäre ich wohl zu Hause geblieben und hätte mich um meine Biohausaufgaben gekümmert. Das hätte wenigstens etwas gebracht.

Ein paar Tage später saßen wir tatsächlich in einem blauen Ford Kombi und schlichen über die A 2 nach Norden. Stefans Vater hatte in unseren Plan eingewilligt, aber nicht ohne seinem Sohn vorher eine Lehrstunde zum Thema angemessene Geschwindigkeit zu geben – und der hielt sich daran. Leider. Wir fuhren konsequent rechts und nie schneller als 120. Aber wenn das der Preis war, um ins Fernsehen zu kommen, dann war ich bereit, ihn zu zahlen.

Wir waren zu viert: Außer Stefan und mir wollten auch noch zwei weitere Freunde ihr Glück bei »Jeopardy« versuchen. Wenn ich ehrlich bin, war unsere Truppe eine Ansammlung von Strebern – allesamt nicht besonders cool, aber gut trainiert in der hohen Kunst der Klugscheißerei. Und dies sollte der Tag sein, an dem wir beginnen würden, unser Wissen zu Geld zu machen.

Je näher wir Hannover kamen, desto aufgeregter wurden wir. Wir stellten uns das Casting als ein exklusives Treffen vor – inklusive Häppchen und einer gut sortierten Getränkeauswahl. Schließlich ging es ums Fernsehen, um Glamour und um die große Bühne. Der Ort der Veranstaltung war ein Hotel am Rande des Hannoveraner Messegeländes. Das reichte schon als Information, um meine Fantasie zum Sprudeln zu bringen: Fernsehen! Messe! Ein schickes Hotel! Während Stefan den Passat vorsichtig über die Autobahn steuerte, träumte ich schon von hübschen Hostessen, die mich in der Lobby begrüßten und mit einem Lächeln einen Haken auf ihr Clipboard malten: »Ah, Herr Telgenbüscher. Schön, Sie zu sehen. Wir haben Sie schon erwartet.«

Die Wirklichkeit sah anders aus. Als wir nach über vier Stunden endlich die Autobahn verließen, fanden wir uns in einem trostlosen Industriegebiet wieder. Keine Spur von Luxushotels. Hier ragten nur die halb fertigen Pavillons der Expo 2000 wie graue Stümpfe in den verregneten Himmel. Wir irrten noch eine Viertelstunde durch diese Einöde, bevor wir den Veranstaltungsort erreichten: ein billiges Tagungshotel mit abgetretener Auslegeware in der Lobby. Hostessen gab es natürlich keine – aber dafür jede Menge Rentner.

Im Eingangsbereich stauten sich die Leute und reckten den Kopf, um zu schauen, ob sie drinnen nicht gerade etwas verpassten. Einen Moment lang glaubte ich, ich sei in eine Verkaufsveranstaltung für Heizdecken geraten – wir vier waren mit Abstand die Jüngsten vor Ort, und ich fühlte mich plötzlich fehl am Platz. Aber ich war selber schuld: Ich hätte mir ja denken können, dass Rentner die Einzigen sind, die ihren Samstagnachmittag freiwillig in einem tristen Vororthotel verbringen. Na gut, faule Abiturienten wie wir vielleicht auch.

Die Hostessen, von denen ich geträumt hatte, entpuppten sich als ein glatzköpfiger Kameramann und zwei angestrengt dreinblickende Redaktionsassistentinnen. Letztere hatten zwar ein Clipboard in der Hand, aber ein Lächeln hatten sie nicht übrig für mich, als ich an ihnen vorbei in den Tagungssaal schlurfte. So trist und trostlos war also Fernsehen – ich konnte fast zuhören dabei, wie meine Träume zerplatzten.

Das Castingteam hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen glamourösen Raum auszusuchen. Wir kamen in einen langen, rechteckigen Konferenzsaal – abgeteilt durch mobile Trennwände, vollgestellt mit etwa 100 in Sitzreihen angeordneten Stühlen. Etwa 80 waren schon besetzt, für uns vier blieben nur die hinteren Plätze. Das Publikum vor uns tuschelte aufgeregt, als der Glatzkopf die Tür schloss. Wenn die beiden Assistentinnen in diesem Moment begonnen hätten, eine Anti-Strahlen-Decke oder fränkische Klangsteine anzupreisen, ich wäre nicht überrascht gewesen. Wo war ich da nur hingeraten?

Und dann, als die etwas größere und ältere der beiden Frauen zu sprechen begann, verwandelte sich die Stimmung im Saal mit einem Schlag: eben noch Butterfahrt, jetzt auf einmal Klassenzimmer.

»Ich begrüße Sie ganz herzlich im Namen von ›Jeopardy‹. Schön, dass Sie es nach Laatzen geschafft haben«, sagte die Dame mit einer hohen Lehrerinnenstimme. »Unser heutiges Casting gliedert sich in zwei Teile: in einen Test zum Allgemeinwissen und in kurze Probeaufnahmen.« Beim letzten Wort hob der Glatzkopf seine Hand und winkte in Richtung Publikum. Dann widmete er sich wieder dem Stativ, an dem er schon eine Weile lang herumhantierte.

»Wir haben für den Test eine gewisse Mindestpunktzahl festgelegt. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass nur diejenigen in die zweite Runde kommen, die diese Schwelle erreichen«, fuhr die Frau mit der Lehrerinnenstimme fort.

Weit vor mir, in einer der ersten Reihen, wollte ein Rentner wissen, wie hoch denn diese Mindestpunktzahl sei. »Das kann ich Ihnen leider nicht verraten. Der Test besteht aus 30, äh, Antworten, weil er sich natürlich am Spielprinzip von ›Jeopardy‹ orientiert. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.« Mit diesem Statement war jegliche Kritik abgebügelt. Dann griff sie hinter sich, zog ein DIN-A4-Blatt aus einer Aktenmappe und schaute uns an. »Sind Sie bereit? Wer noch Papier und Bleistift braucht: Sabrina hat genügend davon.« Diesmal winkte Sabrina, die etwas kleinere der beiden Redaktionsassistentinnen.

Stefan beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Ich sag nur: Hefte raus, Klassenarbeit!« Ich lachte, aber ich hatte ja auch die Fragen noch nicht gehört.

Als endlich alle etwas zu schreiben hatten, räusperte sich unsere Lehrerin und sprach eine letzte Warnung aus: »Denken Sie daran, bei ›Jeopardy‹ suchen wir Fragen und keine Antworten. Hier kommt die erste Antwort …«

Ich habe selten Albträume. Doch wenn mich mal einer heimsucht, dann ist es dieser: Ich muss eine Mathearbeit schreiben, der Lehrer teilt die Aufgabenblätter aus, ich drehe meins um und verstehe kein Wort. Gar nichts. Ich weiß noch nicht einmal, was ich nicht weiß – so orientierungslos bin ich. Und dieses »Jeopardy«-Casting hielt sich an meinen Albtraum wie ein Schauspieler an sein Drehbuch. Die »Antworten« rauschten an mir vorüber wie ein Güterzug in voller Fahrt. Ich konnte zu kaum einer Handvoll davon die richtigen Fragen finden. Kein Wunder, dass ich die meisten vergessen habe. Die einzige Antwort, an die ich mich heute noch erinnere, lautete: »Er ist der zweite Torwart von Bayern München.« Brauchten die Bayern damals überhaupt einen Ersatzkeeper? Die hatten doch Olli Kahn. Heute weiß ich, dass der Gesuchte Sven Scheuer hieß und während seiner elf Jahre in München gerade mal 20 Spiele absolviert hat. Das war also nicht gerade eine leichte Frage.

Als der Test endlich vorbei war, ging ein Stöhnen durch den Saal. So schwer hatte sich das niemand vorgestellt. »Jeopardy« war doch eine Unterhaltungssendung und kein Staatsexamen. Man konnte den Frust beinahe riechen. Auch in den Gesichtern meiner Freunde entdeckte ich nur Ratlosigkeit. Dann meldete sich unsere Prüferin zurück: »Bitte geben Sie Ihre Blätter nach rechts durch, Sabrina und ich sammeln sie dann ein.« Das war ja wirklich wie in der Schule, dachte ich. Alles, was uns jetzt noch blieb, war, auf die Korrekturen zu warten. Sabrina und ihre Chefin zogen sich mit unseren Antwortzetteln in einen Nebenraum zurück, und wir stellten uns in die Schlange vor der Kaffeemaschine.

Da standen wir nun: vier angehende Abiturienten in einem Meer von Pensionären, die an lauwarmem Filterkaffee nippten. Trotzdem kam Schluck für Schluck mein Optimismus zurück. Wenn hier jemand die Mindestpunktzahl erreicht hatte, dann waren wir das. Immerhin näherten wir uns dem Abitur – besser würde unsere Allgemeinbildung wohl nicht mehr werden. Wahrscheinlich, dachte ich, machen sie die Fragen nur deswegen so schwer, um uns ein bisschen Respekt vorm Fernsehen einzubläuen. Damit später niemand sagt, »Jeopardy« sei was für intellektuelle Leichtgewichte.

Nach einer Viertelstunde, die wir so auf dem Flur gewartet hatten, rief Sabrina uns zur Urteilsverkündung in den Tagungssaal. Ihre Stimme klang seltsam abwesend. Es schien fast so, als fahre sie in Gedanken schon nach Hause. Drinnen wartete ihre ältere Kollegin auf uns – und auch sie wirkte nicht fröhlicher.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen«, begann sie, als endlich alle Kandidaten wieder einen Sitzplatz gefunden hatten, »aber keiner hat bei ›Jeopardy‹ heute die erforderliche Punktzahl erreicht. Es werden deswegen auch keine Castinginterviews mehr stattfinden.«

»Heißt das, wir sind ganz umsonst hierher gefahren?«, rief ein älterer Herr in den Raum.

»Ja, leider. Wie gesagt, ich bedauere das sehr. Das ist bis jetzt auch noch nie vorgekommen. Vielen Dank, dass Sie den langen Weg auf sich genommen haben, aber an der Punktegrenze kann und darf ich nicht rütteln. Auf Wiedersehen!«

Toll, dachte ich, damit gehörten wir offiziell zu den dümmsten Kandidaten, die »Jeopardy« je hatte. Zu dumm, um es in die Sendung zu schaffen. Ganz großes Kino.

Nachdem man uns die schlechte Nachricht mitgeteilt hatte, beeilte sich das Castingteam den Raum zu verlassen – der Glatzkopf schnappte sich Kamera und Stativ, die Mädels griffen nach Clipboard und Aktenmappe. Das Spiel war aus. Nichts ging mehr.

Nach und nach leerte sich der Konferenzsaal. Fluchend suchten die Kandidaten ihre Sachen zusammen. Wir blieben noch ein wenig sitzen, zu müde und zu frustriert, um sofort heimwärtszuschleichen.

»Und für diesen Scheiß habe ich meinen Samstag geopfert«, sagte Stefan.

»Immerhin durftest du mal mit Papas Ford durch die Gegend fahren«, antwortete mein Freund Thomas. »Apropos ›fahren‹: Versprich mir, dass du gleich ein bisschen Gas gibst. Du bist doch kein Rentner!«

»Ach, scheiß drauf, Jungs. Probieren wir es eben noch mal woanders«, versuchte ich die Stimmung zu heben. Doch mein Team war fürs Erste fertig mit der Welt der Quizshows.

»Sag mir lieber, ob es hier irgendwo einen McDrive gibt«, schnauzte Stefan zurück.

Es war wohl besser zu schweigen – außerdem hatte ich auch Lust auf einen Burger. Und so endete der Tag, an dem ich mein Wissen zu Geld machen wollte, auf einem Rastplatz irgendwo zwischen Hannover und Paderborn mit Pommes und BigMac.

Selten habe ich uns so niedergeschlagen erlebt wie an diesem Samstagabend – aber wir haben unsere Rache bekommen: Kurz nach unserem verunglückten Castingausflug wurde »Jeopardy« abgesetzt. Seitdem wird kein Quizkandidat im deutschen Fernsehen mehr dazu gezwungen, seine Antworten als Fragen zu tarnen. Ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost.

3. Noch einmal, bitte

So schlimm meine Enttäuschung war, so schnell hatte sie sich auch wieder verflüchtigt. Mit der Zeit begann ich das Positive an unserem »Jeopardy«-Trip zu entdecken: Wenigstens wusste ich jetzt, wie ein Casting ablief und wo ich im Internet nach neuen Terminen suchen musste – und Termine gab es reichlich.

Denn schon nach der ersten Staffel von »WWM?« war klar, dass Günther Jauch und RTL der Quizshow zu neuem Leben verholfen hatten. Sie war das Format der Stunde; mit Ratespielen konnten Sender ohne große Mühe gigantische Quoten erzielen – ganz ohne Sex, Crime oder Promis. Es gab nur ein Problem: Die meisten Kanäle hatten ihre Quizshows schon vor Jahren aus dem Programm genommen. Der Erfolg von »WWM?« erwischte sie also völlig unvorbereitet. Wenn sie von der neuen Mode profitieren wollten, mussten sie sich möglichst schnell ihre eigenen Versionen ausdenken. Das Ergebnis war eine ganze Welle von unausgegorenen »Millionenshows«, von denen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Weil Sat.1 oder das ZDF natürlich nicht einfach das »WWM?«-Konzept klauen durften, veränderten sie das Grundprinzip und erschufen Sendungen, die so seltsame Regeln hatten, dass selbst der Moderator sie nicht verstand. Sat.1 schickte die ehemalige »Punkt 12«-Lady Milena Preradovic mit einem »Millionenquiz« ins Rennen, bei dem die Spieler nach dem Prinzip der »Reise nach Jerusalem« um einen Platz in der nächsten Runde kämpften. RTL