Rabenvieh - Marie Anhofer - E-Book

Rabenvieh E-Book

Marie Anhofer

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Beschreibung

In diesem tief bewegenden Buch wird die Geschichte eines Pflegekindes erzählt, das in seiner Ursprungsfamilie schwerer Verwahrlosung ausgesetzt war, und in der Ersatzfamilie erneut Gewalt erfährt. Zwischen überbordender Angst, Hoffnungslosigkeit, Trauer und Wut und dem verzweifelten Wunsch nach Gleichstellung und Liebe innerhalb der Ersatzfamilie, entfaltet sich ein Leben, das von Schmerz, aber auch von Überlebenswillen geprägt ist. Dieses Buch gibt jenen eine Stimme, die oft übersehen werden. Es wirft einen schonungslosen Blick auf das Versagen von Systemen, denen Kinder oftmals schutzlos ausgeliefert sind, und macht deutlich, wie tief die Wunden reichen, die in der Kindheit geschlagen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 242

Veröffentlichungsjahr: 2025

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MARIE ANHOFER

RABENVIEH unvergessen

© 2025 Marie Anhofer

Coverdesign von: Constanze Kramer

Satz & Layout von: Franziska Junghans

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“

Heinz-Beusen-Stieg 5

22926 Ahrensburg

Deutschland

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der:s Autor:in unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Als Erinnerung an die Vergangenheit, Mahnung für die Gegenwart, und Auftrag für die Zukunft.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

VORWORT

ABSCHIED UND ANKUNFT

TAGTRÄUME

TAGTRÄUME VERSUS REALITÄT

BUTLER-TAGTRÄUME

»WAS SIND PÜLCHER?«

ES WIRD MICH TÖTEN

WALDBESUCHE

WALDBESUCHE HEUTE

KLEIDERANPROBE

OMAS BESUCHE

HAARVERLUST

DIE ANDERE WELT

KLARA

INS HEIM FÜR SCHWER ERZIEHBARE KINDER

IST DA JEMAND?

IM FREIEN FALL

»ZWEI DINGE SOLLTEN KINDER VON IHREN ELTERN BEKOMMEN: WURZELN UND FLÜGEL«

(UN-)VERZEIHBAR

»ES IST EIN UNTERSCHIED, OB MAN VON KINDHEIT AN LERNT, DIE HÄNDE ZU FALTEN ODER SIE ZUR FAUST ZU BALLEN.«

PFLEGEKINDER BRAUCHEN KEIN MITLEID, ABER EIN HAPPY END!

STÄRKEN UND SCHWÄCHEN

(K)EIN WIEDERSEHEN?

ZURÜCK ZU MORGEN

Rabenvieh

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

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VORWORT

Das Leben bei meinen Pflegeeltern liegt mittlerweile sehr viele Jahre zurück, doch einiges, was sich bei ihnen zugetragen hat, ist heute noch so präsent, als hätte es sich erst unlängst zugetragen. Diese Erlebnisse haben sich regelrecht in mein Gedächtnis eingebrannt. Warum Ereignisse wie die hier beschriebenen für mich noch immer so lebendig sind, während hingegen andere Erinnerungen überhaupt nicht vorhanden sind, weiß ich nicht. Meine Erinnerungen an meine Kindheit sind daher sehr lückenhaft.

So oft habe ich in all den Jahren versucht, diese verlorenen Erinnerungen zurückzuholen. Irgendetwas zu finden, womit ich die Zeit »ohne Gedächtnis« endlich wieder füllen kann. Diese Zeit ohne Gedächtnis fühlt sich für mich bis heute so an, als hätte ich gar nicht gelebt. Doch trotz aller Bemühungen bleiben viele meiner Erinnerungen bis heute unauffindbar. Aber vielleicht ist es auch besser so.

Die Herausgabe meiner Jugendamt-Akte hatte ich mir damals hart erkämpfen müssen. Als ich sie nach Jahren endlich in den Händen hielt, war für mich klar, dass sie nicht vollständig ist, nicht vollständig sein konnte. Erst nach und nach gelangte ich durch Eigenrecherche an weitere relevante Informationen und auch Unterlagen.

Meine Taufpatin beispielsweise, die ihr Nebengebäude an meine leiblichen Eltern vermietet hatte, meinte bei meinem Besuch damals, dass meine leiblichen Eltern eine Familienhelferin zur Seite gestellt bekommen hatten. Des Weiteren meinte sie, dass wir – sie sprach von fünf Kindern – vor der Übergabe an Pflegeeltern kurzfristig in einem Heim untergebracht gewesen seien. Da sich die Verhältnisse bei meinen Eltern aber wieder gebessert hätten, seien wir wieder zu unseren Eltern zurückgekommen. Im Nachhinein stellten sich diese Angaben allesamt als falsch heraus. Es gab weder eine Familienhelferin noch waren wir in einem Heim untergebracht gewesen, und fünf Kinder waren wir auch nicht.

Die Anzahl der Kinder variierte ohnehin von Auskunftsperson zu Auskunftsperson. Mal hieß es, dass ich drei Geschwister hätte, mal war von vier oder fünf die Rede, ein anderes Mal sollten es wieder nur zwei sein.

Licht ins Dunkel konnte nur eine Person bringen. Meine Mutter.

ABSCHIED UND ANKUNFT

Die Zustände in unserem Elternhaus besserten sich nicht, was für meine Geschwister und mich weitreichende Folgen hatte. Auf gerichtliche Anordnung hin wurden wir durch die Jugendwohlfahrtsbehörde aus der Familie genommen.

Wie sich der Abschied für mich als kleines Mädchen anfühlte, das weiß ich nicht. Mit meinen knapp zwei Jahren war ich zu klein, um mich heute daran erinnern zu können. Es war nicht nur der Abschied von der gewohnten Umgebung, sondern auch von meinen Geschwistern.

Wir vier fanden nördlich von Graz bei Pflegefamilien ein neues Zuhause. Da wir zu unterschiedlichen Pflegefamilien kamen, verlor ich gänzlich den Kontakt zu zwei meiner Geschwister. In meinem neuen Zuhause, bei meinen Pflegeeltern und ihren beiden leiblichen Töchtern, sollten Liebe und Fürsorge eine zentrale Rolle spielen, alles sollte sich von nun an zum Besseren wenden. Doch dem war nicht ganz so. Meine Pflegeeltern gaben mir zwar ein neues Zuhause, doch sie vergaßen nur allzu oft, dass sie ein traumatisiertes Kind bei sich aufgenommen hatten. Für mein neues Daheim und für die Mühen, die sie mit mir hatten, sollte ich stets Dankbarkeit zeigen. Und das war ich auch, ich war meinen Pflegeeltern dankbar. Ihrer Ansicht nach aber nicht genug, denn sie kamen immer wieder mit dem Vorwurf der Undankbarkeit. Als Kind hatte ich aber nun mal nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ihnen meinen Dank zu zeigen. Das, was in meinen kindlichen Möglichkeiten stand, habe ich getan. Aber meine Dankbarkeit endete vorzeitig. Sie endete, als ich langsam zu verstehen begann, dass vieles, was sich bei meinen Pflegeeltern zugetragen hatte, nicht normal war. Und sie endete auch, weil es mir irgendwann nur noch egal war, was mit mir passieren würde.

Nach außen hin war ich ein Mädchen, das sich im Beisein seiner Pflegefamilie mit aufrechter Körperhaltung und freundlicher Miene überall anzupassen und unterzuordnen versuchte. Ich war ein Mädchen, das im Beisein seiner Pflegeeltern sein Innenleben für Außenstehende gut abzuschirmen wusste und so tat, als wäre zuhause alles in Ordnung. Ich war ein Mädchen, das funktionierte, weil es sich so gehörte und weil es so verlangt wurde.

Die Probleme, die ich in meine Ersatzfamilie mitgebracht hatte, werden keine kleinen gewesen sein, davon gehe ich zumindest aus, wenngleich meine Pflegeeltern anderes behaupteten. Alice Ebel spricht in ihrem Praxisbuch »Pflegekind« eine Problematik an, die ganz bestimmt auch auf mich zugetroffen hat:

»Die Kinder, die neu in Pflege-/Adoptivfamilien vermittelt werden, haben meist eine schwierige Vorgeschichte, die dazu führt, dass sie kein Vertrauen zu Erwachsenen haben – im Gegenteil, sie misstrauen allem und allen. Sie haben erfahren, dass die Welt nicht verlässlich ist, dass das Leben bedroht wird, dass Hilfe kaum zu erwarten ist, dass man auf sich allein gestellt ist. Es gilt eigentlich nur, das ‚hier und jetzt’ zuüberleben und zu bewerkstelligen. Das Leben ist ein Kampf. Dies ist die Sicht der Welt dieser Kinder.«1

Das Leben bei meinen leiblichen Eltern musste schon ein Kampf für mich gewesen sein, das Leben bei meinen Pflegeeltern war es aber genauso. Denn meine großen und kleinen Vergehen wurden von meinen Pflegeeltern sanktioniert und nicht selten ziemlich hart. Meine seelische Not wurde im Laufe der Jahre daher nicht weniger, sondern immer mehr. Wie ein Schneeball, der einen Berg hinunterrollt, mehr und mehr Schnee aufnimmt und immer größer wird.

TAGTRÄUME

Wir fahren einkaufen«, sagt meine Pflegemutter mürrisch.

Ich stehe schon eine Weile nahe der Haustüre, am Stiegenaufgang in Richtung Vorzimmer, und frage mich, ob ich mir meine Schuhe anziehen soll. Ihrem Gesichtsausdruck kann ich dieses Mal keine weiteren Anweisungen ablesen. Ich warte zu, denn was auch immer ich in den darauffolgenden Minuten tun werde, es wird ohnehin falsch sein. Ziehe ich mir die Schuhe an und warte, höre ich ein unfreundliches: »Du bleibst da!«

Ziehe ich mir meine Schuhe nicht an, folgt ein harsches: »Worauf wartest du?«

Als mir gesagt wird, dass ich heute zuhause bleibe, bin ich erleichtert. Ich hasse es, in der Öffentlichkeit gefügig neben meinen Pflegeeltern herzutrotten und so tun zu müssen, als wäre alles in bester Ordnung. Wenn ich zuhause bleiben darf, dann heißt dies aber auch, dass sie nicht lange wegbleiben werden.

Ich gehe raus und stelle mich unmittelbar neben das Garagentor. Meine Pflegemutter sieht mir nach, um sich zu vergewissern, dass ich sie nicht beobachte, wenn sie drinnen von Tür zu Tür geht, sie versperrt und wie immer die Schlüssel abzieht und anschließend versteckt. Ich tue so, als bekäme ich nichts davon mit. Die Toilette bleibt mir immer zugänglich, und manches Mal auch die Küche. Warum sie die Küche nicht immer absperrt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht möchte sie mich damit auf die Probe stellen. Mir ein Blatt Wurst aus dem Kühlschrank oder Mineralwasser aus der Vorratskammer zu nehmen, wäre ein Regelverstoß, den ich bei ihrer Rückkehr bereuen würde. Vielleicht hofft sie, dass ich eines Tages doch schwach werde und mir etwas nehme, das mir aus ihrer Sicht nicht zusteht. Ich weiß es nicht.

Heute hat sie auch die Küche abgesperrt, aber das macht mir nichts aus, denn ich gehe ohnehin »fort«.

Gespannt warte ich, bis mein Pflegevater das Fahrzeug rückwärts aus der Ausfahrt lenkt. Schnell schließe ich hinter ihm das Tor, schiele an den Thujen vorbei und warte darauf, dass meine Pflegeeltern mit dem Auto nach links in die Hauptstraße einbiegen und davonfahren.

Sofort laufe ich in den Garten zum hoch aufgeschichteten Holzstapel. Wie immer gehe ich um ihn herum und schaue mir die Holzstämme an. Ich halte Ausschau nach Harz. Lange brauche ich nicht, bis ich so ein kleines, klebriges Teil gefunden habe. Vorsichtig entferne ich mit meiner Fingerkuppe eine Harzperle vom Holz. Das gelblich gefärbte Pech wird mir wie immer ein paar glückliche Augenblicke schenken. Um keine Grasflecken auf meiner Kleidung zu hinterlassen, nehme ich mir ein sauberes Stück Holz vom Stapel, setze mich darauf und lehne mich mit dem Rücken an den Holzstoß. In der Thujenhecke, die unmittelbar vor mir gepflanzt ist, ist Leben. Im Inneren der Hecke sitzen Spatzen auf den feinen Astgabeln. Sie verhalten sich ruhig, lediglich ihre Schnäbelchen öffnen und schließen sich ab und an. Wie immer, wenn ich dasitze und sie in der Hecke betrachte, frage ich mich, ob sie eine Familie sind. Ich beobachte sie und ich weise ihnen jedes Mal ihre Rollen zu. Einen Piepmatz erkläre ich zum Papa, einen zur Mama, andere zu Geschwistern, Onkeln und Tanten. Manchmal gebe ich ihnen sogar Namen. Im Geiste spiele ich mit ihnen Mama, Papa, Kind. Dabei geselle ich mich in meiner Fantasie als Spatzenjunges zu ihnen. Dort sitze ich dann mit meinen Spatzengeschwistern, rede und spiele mit ihnen und fühle mich in Anwesenheit meiner Spatzeneltern sicher. Und plötzlich werde ich traurig, denn ich bin wieder zurück in der Realität. Ich möchte so gerne eine von ihnen sein, möchte auch behütet in den Ästen sitzen, möchte meine Flügel ausbreiten und gemeinsam mit meiner Familie furchtlos die weite Welt erkunden können. Doch im Grunde gehöre ich auch ein klein wenig zu ihnen. So ruhig wie sie in der Hecke sitzen und sich so auch vor Feinden schützen, sitze auch ich zusammengekauert hinter dem hohen Stapel, ganz still und leise.

Das Harz haftet nach wie vor an meinem Finger. Ich beginne daran zu riechen, ziehe mir den intensiven Geruch immer wieder kräftig in die Nase. Meine Ängste, Sorgen und Nöte sind beinahe wie ausradiert, mein Körper fühlt sich leicht an, meine Seele ist frei von Schmerz. Es ist beinahe so, als würde ich damit fortfliegen können.

Denkt sie an mich, vermisst sie mich? Sie wird mich eines Tages abholen, mich in ihre Arme nehmen und mir sagen, dass sie mich all die Zeit über schrecklich vermisst hat. Bestimmt ist sie deshalb noch nicht gekommen, weil sie noch keine Zeit hatte. Ich schreibe ihr ein Gedicht, damit sie sieht, dass ich sie nicht vergessen habe, dass ich immer an sie denke.

Sie steht verlassen und mit suchendem Blick auf diesem asphaltierten Platz. Rund um diesen Platz gibt es keine Häuser, keine Blumen, keine Menschen. Heute sieht sie besonders nachdenklich aus. Hat sie Kummer? Ich könnte sie trösten, damit es ihr besser geht. Ich stehe auf einer schmalen Straße, einige Meter von ihr entfernt. Ringsherum sehe ich kein Leben. Ich winke ihr zu, lächle sie an, aber sie scheint mich nicht zu sehen. Noch einmal winke ich erwartungsfroh, tripple nervös auf der Stelle, ehe ich ihr entgegenlaufe. Wieder sieht sie nur ins Leere. Möchte sie mich etwa nicht sehen? Ich stupse sie an, zupfe an ihrem ausgefransten Rock, umarme ihren Oberschenkel. Sie ist so unbeschreiblich warm. Ihre Wärme gibt mir Halt und Mut. Eines Tages wird alles gut werden, das weiß ich. Ich schaue zu ihr hoch, lächle sie immer wieder an und warte sehnsüchtig darauf, dass sie endlich ihre Arme öffnet, mich hochnimmt und mir zeigt, wie glücklich sie ist, dass ich da bin. Doch ihre Augen wandern überallhin, nur nicht zu mir nach unten. Vielleicht wartet sie auf Menschen, die ihr dabei helfen werden, mich und meine Geschwister nach Hause zu holen. Darauf freue ich mich so sehr, dass ich es kaum noch erwarten kann.

Wie ein kleines Äffchen klammere ich mich an sie, schmiege meine Wangen an ihr Bein. Ich werde traurig, weil sie sich fortlaufend von mir wegdreht, mich nicht zu bemerken scheint. Ich weiß nicht, wonach sie sucht, worauf sie wartet. Ich bin neugierig und aufgeregt zugleich, denn ich möchte sehen, wen sie erwartet. Vielleicht kenne ich diesen Menschen und vielleicht nehmen sie mich dann beide mit. Ich warte mit ihr und ebenso warte ich darauf, dass sie endlich Notiz von mir nimmt. Doch heute wird es wieder umsonst sein. Wenn ich sie loslasse, könnte sie mich vergessen, davor habe ich Angst. Ich umschlinge noch einmal ganz fest ihre Beine, ich streichle sie, ehe ich sie wieder freigeben muss. Ich glaube, heute hat sie wieder keine Zeit für mich, aber ich bin ihr nicht böse. Bei unserer nächsten Begegnung wird alles anders sein, das weiß ich genau.

Es ist niemand gekommen und es macht den Anschein, dass sie gehen will. Sie verlässt den Platz, dreht sich dabei noch ein paar Mal um. Ich gehe rückwärts, ohne darauf zu achten, was hinter mir ist. Vielleicht sieht sie mich erst, wenn ich mich weiter von ihr entferne. Wenn ich rückwärts gehe, verpasse ich keine Gelegenheit, falls sie mich doch noch erkennen sollte. Sie wird wiederkommen, das weiß ich. Heute war es nur der falsche Zeitpunkt, sie war wieder zu beschäftigt, aber sie wird zurückkehren und mich zurückholen.

TAGTRÄUME VERSUS REALITÄT

Den Geruch von Harz liebe ich auch heute noch, wenngleich es diese berauschende Wirkung nicht mehr hat.

So viele Jahre hing ich meinen Tagträumen nach. Ich glaube, sie retteten mir in gewisser Weise das Leben. Ich rief meinen Butler, der mich geholt und mit seinem magischen Teppich hinauf zu den Wolken gebracht hatte. Ich setzte mich hinter den Holzstapel, schrieb Briefe und Gedichte an meine Mutter, holte sie mir vor mein geistiges Auge und träumte mir die Welt in ihren Armen schön. Und dann gab es noch meine Geschwister. Ich wusste zwar nicht, wie viele ich tatsächlich hatte, aber mit denen, von denen ich wusste, träumte ich mich immer wieder in eine friedliebende Welt. Mit Ausnahme von meiner Schwester Antonia, die unweit von mir untergebracht war, hatte ich keine Ahnung, wie meine Eltern und die übrigen Geschwister aussahen. Zu klein war ich damals gewesen, als dass ich mir ihre Gesichter hätte dauerhaft einprägen können. So malte ich mir meine ganz eigenen Familienmitglieder aus. In meinen Traumbildern erschienen meine Geschwister nicht nur als schützende und stützende Verbündete, sondern auch als lebhafte Spielgefährten. Wir begegneten uns und spielten immer an denselben Orten. In meiner Fantasiewelt spielten wir sehr oft auf einer riesengroßen Wiese Fangen. Dann wieder gingen wir alle zusammen Hand in Hand einen schmalen Weg entlang, und in weiterer Folge auf einen Hügel. Jeder von uns trug eine Tasche mit sich. Manche trugen sie auf dem Rücken, andere hatten sie in der Hand. Jedes Geschwisterchen hatte in seiner Tasche ein oder mehrere Lieblingsspielzeuge. Wir trotteten in Richtung Hügel und kaum waren wir dort angekommen, setzten wir uns im Kreis auf und holten unsere Spielsachen aus unseren Taschen. Ich war immer die Aufgeregteste und Neugierigste von allen. Ich konnte es kaum abwarten, bis die anderen ihre Schätze ausgepackt hatten. Da saßen wir dann auf der sattgrünen Wiese, tauschten untereinander unsere Stofftiere, Steine und kleinen Bälle und spielten damit lustige Spiele. Manchmal saßen wir in meinen Träumereien sogar nachts, als es bereits stockdunkel war, auf dieser Wiese und alberten in der Finsternis herum.

Das waren sie gewesen, meine Träumereien. Die Realität sah freilich anders aus. Auch außerhalb dieser Fantasiegebilde war meine Sehnsucht nach meinen Geschwistern nicht weniger groß. Die ganzen Jahre über fragte ich mich, was mit ihnen geschehen war, wohin sie gekommen waren und wie es ihnen wohl ging. Ebenso fragte ich mich ständig, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Meine Pflegeeltern hatten sich von Anfang an in Stillschweigen gehüllt. Mit den wenigen Wortfetzen, die mir meine Pflegeeltern ab und an hingeworfen hatten oder ich aufgeschnappt hatte, wenn sie sich mit anderen über meine Herkunftsfamilie unterhalten hatten, konnte ich kaum etwas anfangen. Meine Fragen waren unerwünscht und wurden, wenn überhaupt, mit abfälligen Worten kommentiert. Antonia, meine Schwester, die unweit von mir bei einer Pflegemutter untergekommen war, sei ein dickes Trumm, mein Bruder und meine andere Schwester seien verhaltensgestört, schwer erziehbare Fratzen, so meine Pflegeeltern, primär meine Pflegemutter. Dass meine beiden Geschwister irgendwann von der Pflegefamilie wieder abgegeben worden waren, wurde erwähnt, wenn ich etwas angestellt hatte. Wohin sie gekommen waren, darüber gab es unterschiedliche Aussagen. Einmal hieß es, dass sie in eine andere Pflegefamilie gekommen seien, ein anderes Mal meinten sie, dass sie nun im Heim leben müssten. Für meine Pflegeeltern war es das ideale Druckmittel. Parierte ich nicht, würde sich für mich die Tür in ein Heim für schwer erziehbare Kinder öffnen. Dieselbe Drohung hatte ich schon in Zusammenhang mit Katharina die ganzen Jahre zu hören bekommen. Katharina war vor mir bei meinen Pflegeeltern untergebracht gewesen und hatte dieses Zuhause verlassen müssen, da sie laut meinen Pflegeltern gefladert habe und darüber hinaus ebenfalls schwer erziehbar gewesen sei. Nun sei sie eben in einem Heim für schwer erziehbare Kinder gelandet. Bei einem Vergehen dort würde man sie umgehend vor die Türe setzen.

Ich hatte Angst vor meinen Pflegeltern, insbesondere vor meiner Pflegemutter, und ich hatte schreckliche Angst nachts allein in meinem Kellerzimmer, Angst davor, bei jedem Vergehen abgeholt zu werden und lähmende Angst, so zu enden wie Katharina. Angst vor dem Spott und Hohn einiger MitschülerInnen und Angst nach der Schule nachhause zu gehen und nicht zu wissen, wie der Rest des Tages verlaufen würde. Panik vor der täglichen Schultaschenkontrolle, vor dem Baden und dem Haarewaschen, vor den anstehenden Hausaufgaben, der täglichen Unterhosenkontrolle, vor den Launen meiner Pflegemutter und quälende Angst vor dem täglichen Zubettgehen und einem neuerlichen Missgeschick während der Nacht.

Ich hatte niemanden, mit dem ich sprechen konnte. Meine Pflegeeltern hatten kein Verständnis für meine Ängste. Ganz im Gegenteil. Ich solle nicht so dumm tun und mit diesen Einbildungen aufhören, meinten sie. Noch weitaus schlimmer war es aber, wenn sie gelegentlich darüber scherzten. Mir war jedes Mal zum Weinen zumute.

Ich kann nicht sagen, wie alt ich war, vielleicht war ich neun oder zehn Jahre alt, als wir in einem Freibad unweit von Graz waren. Da ich noch nicht so gut schwimmen konnte, hatte ich große Angst vor dem tiefen Wasser und deshalb hielt ich mich mit Vorliebe im Kleinkindbecken auf. Dort saß ich wie immer alleine, planschte ein bisschen herum und beobachtete die Eltern mit ihren Kleinkindern. Meine Neugier und Langeweile trieben mich dazwischen immer wieder mal zum Schwimmerbereich. Dort setzte ich mich für gewöhnlich auf eine der Bänke, die ziemlich nahe am Beckenrand bei der tiefsten Stelle des Beckens aufgestellt waren. Unmittelbar vor mir waren drei Startblöcke, auf die die jungen Leute gestiegen waren und Kopfsprünge ins Wasser machten. Kaum waren sie aus dem Wasser aufgetaucht, befanden sie sich schon wieder an der Leiter und an den Startblöcken. Ich sah ihnen zu, studierte die Technik dieser Köpfler und schon im nächsten Augenblick prasselte wieder eine neue Ladung Wassertropfen auf mich ein. Aber ich beobachtete nicht nur sie, sondern auch Eltern mit ihren Kindern und die eine oder andere Schar spielender Kinder. Ganz wehmütig wurde mir ums Herz und beinahe fing ich wieder an zu weinen. Irgendwann erhob ich mich und ging mit vorsichtigen Schritten nahe am Beckenrand auf und ab. Ich erinnere mich, dass ich während des Auf- und Abgehens am Beckenrand überlegt hatte, mich an der tiefsten Stelle des Beckens hinzusetzen, meine Beine im kühlen Nass einzutauchen und darin baumeln zu lassen. Für mich und meine Angst vor dem tiefen Wasser nicht nur ein großer Schritt, sondern ein Meilenstein. Ich ging gerade wieder an der tiefsten Stelle vorbei, als ich urplötzlich einen heftigen Stoß bekam und ins Wasser fiel. Unter Wasser verlor ich sofort die Orientierung, ich wusste nicht, in welche Richtung es nach oben ging. Ich hatte nur noch Panik. Als ich dann irgendwann aus dem Wasser auftauchte, schnappte ich wie wild nach Luft. Ich ruderte mit meinen Händen so stark und paddelte mit meinen Füßen so kräftig ich nur konnte. Dabei schluckte ich recht viel Wasser, was zu wiederholten Hustenanfällen führte, wodurch ich das Paddeln und Strampeln vernachlässigte und wieder kurz unter der Wasseroberfläche verschwand. Als ich wieder auftauchte, vernahm ich einen Wimpernschlang lang unweit vor mir die Schwimmbeckenleiter. Ich kann nicht genau sagen, wie lange es dauerte, bis ich die Leiter erreicht hatte. Was ich dafür aber umso besser weiß, ist, dass ich die Aluminiumstange der Leiter völlig panisch umklammerte und dabei befürchtete, dass sie aus ihrer Verankerung brechen könnte. Da sah ich plötzlich meinen Pflegevater. Er stand vom Schwimmbecken nur wenige Meter entfernt und dürfte mich wohl beobachtet haben. Einen kurzen Augenblick lang kam der Gedanke in mir auf, dass er mich ins Wasser gestoßen haben könnte. Aus Angst, beim Ausstieg auf einer der Stufen auszurutschen und dann womöglich ein weiteres Mal ins Wasser zu fallen, umklammerte ich die Schwimmbadleiter so fest ich nur konnte.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war mir, als hätte ich soeben einen zentnerschweren Rucksack abgestellt. Erleichterung machte sich breit, doch sofort wurde sie von bleierner Müdigkeit und starker Erschöpfung abgelöst. Ich setzte mich auf die Wiese und erst da bemerkte ich, dass mein Pflegevater unmittelbar vor mir stand, gestikulierte und zu mir sprach. Nicht ein einziges Wort konnte ich aufnehmen. Seine Worte gingen durch mich hindurch, als bestünde mein Fleisch aus einer durchsichtigen Hülle. Er redete weiter, bis er mir schließlich irgendwann den Rücken zudrehte und sich in Richtung unseres Liegeplatzes davonmachte. Ich erinnere mich, dass ich ihm noch einen Augenblick lang nachsah, mich danach auf den Weg in den Kleinkindbereich machte und mich dort für die nächste Zeit zurückzog. Ich saß am rechten Stufenrand des Kinderbeckens und versuchte das Geschehene zu verarbeiten.

Als ich irgendwann später zu unserem Liegeplatz ging, saßen auf der einen Badedecke meine Pflegeeltern, Sybille, die jüngere der beiden Pflegeschwestern, und unmittelbar daneben auf einem separaten Strandtuch der Bruder meiner Pflegemutter und dessen Frau. Mein Pflegevater war gerade dabei, sich etwas aus der mitgebrachten Kühlbox zu nehmen, als er mich erblickte. Er tadelte mich, dass wir nicht zum Herumstehen, sondern zum Baden hier seien. Ich solle doch nicht immer so dumm tun und öfters ins Wasser gehen. Ich bemerkte noch einen finsteren Blick von meiner Pflegemutter und setzte mich wortlos abseits auf mein Handtuch. Ich verdächtigte meinen Pflegevater nun noch mehr, dass er mich ins Wasser gestoßen hatte. Den Rest des Tages ging ich, zum Missfallen meiner Pflegeeltern, nicht mehr ins Wasser.

Als Kind und Jugendliche quälten mich Ängste, deren Intensität ich nicht annähernd zu beschreiben vermag. Irgendwann habe ich aufgehört, meinen Pflegeeltern von meinen Angstzuständen zu berichten, denn für sie waren das nur Spinnereien und Einbildungen. Daher hatte ich für meine Probleme weder Zuhörer noch Beschützer. Daher holte ich mir als Kind meine ganz eigenen Helfer zur Seite. Das waren nun mal mein Butler, meine Geschwister und meine Eltern, insbesondere meine Mutter.

Meine Pflegeeltern ließen selbstverständlich auch an meinen leiblichen Eltern kein gutes Haar. Ihrer Ansicht nach waren sie nichts anderes als Verbrecher, was mich als Kind in eine immer wiederkehrende innere Zerrissenheit versetzte. Schließlich liebte ich meine Mama und dann waren es meine Pflegeeltern, die sich so abfällig über sie äußerten. Ich wollte und konnte nicht glauben, was sie über sie sagten, und vieles verstand ich auch gar nicht, weil ich einfach noch nicht reif genug dazu war. Als Kind war ich damit heillos überfordert.

So sehr ich mich auch bemühe, zu viele Ereignisse von früher wollen einfach nicht aus meinem Gedächtnis verschwinden. Diese Erinnerungen sind ganz plötzlich da, von einem Moment zum anderen, so erbarmungslos, verletzend und dominant, wie es oft meine Pflegemutter mir gegenüber war. Ich wünschte, es gäbe einen Hard-Reset-Knopf, um all das unwiderruflich von meiner Festplatte löschen zu können.

BUTLER-TAGTRÄUME

Wann immer ich meinen Butler brauchte, war er sofort zur Stelle. Mein Butler war ein älterer, korpulenter Herr. Seine Garderobe war in all den Jahren immer dieselbe: schwarzes Hemd, schwarzer Anzug, schwarze Schuhe. Allerdings kam er manchmal nur in Hemd und Anzug angeflogen, ohne Schuhe und ohne Socken. War das der Fall, verunsicherte es mich immer und ich hatte Angst, dass er mir sagen könnte, er habe keine Lust mehr, mich abzuholen. Warum er manches Mal barfuß angeflogen kam, weiß ich nicht.

Mein Butler holte mich mit seinem magischen Teppich ab und brachte mich hinauf zu den Wolken. Oben angekommen, sprang ich sofort auf eine der flauschigen Wolken, legte mich wie immer auf den Bauch, hielt mich mit beiden Händen an der Wolke fest und sah meinen Butler nach, wie er mit seinem Teppich wieder zurück zur Erde flog. Von oben war die Welt nicht nur schön, sie hatte für mich auch etwas Heilsames. Ich fühlte weder Angst noch Schmerz. Ich war in Sicherheit, niemand konnte mir etwas anhaben und dort oben war das Warten auf meine Mama nicht annähernd so quälend wie auf der Erde.

Wollte ich wieder abgeholt werden, weil es mir zu langweilig wurde oder ich mit meinem Butler reden wollte,