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Von der Schönheit des nüchternen Lebens
Mia liebt den Rausch. Drama, Drinks und Exzess sind fester Bestandteil ihrer Identität. So schlimm wie bei ihrer Oma und ihrem Vater, die der Alkohol umgebracht hat, ist es bei ihr aber noch lange nicht, denkt sie. Doch als die Nächte ihren Glanz verlieren, die Kater schlimmer werden, und sich eine diffuse Hoffnungslosigkeit in ihr ausbreitet, ahnt Mia, dass sie ihr Leben ändern muss.
Mit sprachlicher Wucht seziert Mia Gatow, wie sich die Sucht in ihre Familie und dann in ihr eigenes Leben schlich. Sie erzählt von den romantischen Mythen, die wir einander erzählen, um den Drink nicht loslassen zu müssen – und von der ungeahnten Schönheit, die sich eröffnet, wenn wir es doch tun.
»Ich möchte dieses Buch allen Leuten schenken, die ich kenne. Man liest es förmlich mit angehaltenem Atem. Es ist wie eine grandiose Ballade – über Abhängigkeit, Sehnsucht und Liebe und über das Leben, das so viel echter sein kann als gedacht.« – Daniel Schreiber
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2024
Mia liebt den Rausch. Drama, Drinks und Exzess sind fester Bestandteil ihrer Identität. Sicher, ihre Oma und ihr Vater hat der Alkohol umgebracht, aber so schlimm ist es ja bei ihr noch lange nicht. Sie ist eben ein Partygirl, eine Künstlerseele. Doch als der Rausch matter wird, die Kater länger und sich die dunkle Wolke über ihr verdichtet, ahnt Mia, dass sie loslassen muss.
Mit sprachlicher Wucht seziert Mia Gatow, wie sich die Sucht in ihre Familie und dann in ihr eigenes Leben schlich. Sie erzählt von den romantischen Mythen, die wir einander erzählen, um den Drink nicht loslassen zu müssen – und von der ungeahnten Schönheit, die sich eröffnet, wenn wir es doch tun.
Mia Gatow lebt als freie Autorin und Designerin in Berlin. Sie schreibt für den Tagesspiegel, Cosmopolitan, Playboy, verschiedene Corporate Blogs und Werbeagenturen und illustriert für Mode- und Lifestylepublikationen. Zusammen mit Mika Döring moderiert sie wöchentlich den SodaKlub – Podcast für Unabhängigkeit. Sie ist seit sieben Jahren nüchtern.
MIA GATOW
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Originalausgabe September 2024
Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Doreen Fröhlich
Cover- und Umschlaggestaltung: Mia GatowUmschlagmotive: Glas: Harvatt House; Wasser: adobe Stock/wacomka, adobe Stock/cosma, adobe Stock/Vector Tradition, adobe Stock/vectorpocket, 405983583 – Anusorn
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
EB ∙ CF
ISBN 978-3-641-31566-5V002
www.goldmann-verlag.de
KLAR
DAS ENDE
DER ANFANG
VERZAUBERUNG
HONEYMOON
COOL GIRL
DIE REGELN
MEIN WILLE
BABY, SOBER
DER CLUB
DATES OHNE DRINKS
ALLES FÜHLEN
DANK
LITERATUR
QUELLEN
Du trinkst nicht mehr. Und siehst dir selbst fasziniert dabei zu. Du trinkst jetzt Wasser statt Wein. Und kannst nicht fassen, wie leicht das ist. Du kannst nicht fassen, dass das nicht alle machen. Du kannst nicht fassen, dass du so lange gebraucht hast, um das zu kapieren. Du willst es allen erzählen: Hier, Leute, hier ist sie, die Weltformel! Die Tür zu allem, was du jemals wolltest. Das magische Abrakadabra, das Allheilmittel. Die Medizin gegen Schlafprobleme, Rückenschmerzen, Fettpolster, Pickel, Müdigkeit, Pessimismus, Minderwertigkeitskomplexe, Höhenangst, Lampenfieber, Prokrastination, Winterblues, Liebeskummer, Geldmangel, Krankheit, Depression, Hass, Krieg und Tod.
Dieser erste klare, gestochen scharfe Sommer, den du nie vergessen wirst, dieser erste Sommer deines Lebens, als du wieder ein Teenager bist, ein Teenager mit einer tausend Jahre alten Seele, der nichts, nichts, nichts mehr braucht, um glücklich zu sein, als kaltes, klares Wasser und schwarzen Kaffee und dein weißes Bett und deine nackten Beine auf deinem Fahrrad, mit dem du wie ein Pilot über den nächtlich glühenden Asphalt fliegst, die mit Blumenduft und Nachtigallengesang und Benzin getränkte Luft unter deinem Rock und die Elektrizität unter deiner Haut, die unaufhörlich singt: Alles ist lebendig, alles ist lebendig, alles ist lebendig.
Die Transformation findet tief in deinem Inneren statt, so unsichtbar und geräuschlos für die anderen, so fundamental für dich. Jedes einzelne Ding in deinem Leben, groß und klein, ändert sich. Deine Haut, dein Schlaf, dein Atmen, deine Freundschaften, deine Liebschaften, dein Sex, deine Küsse, deine Arbeit, deine Freizeit. Was du isst, was du liest, mit wem du schläfst, wo du abhängst, was dich interessiert, wen du magst, was du tolerierst, wen du im Spiegel siehst.
In diesem ersten Sommer deiner Nüchternheit gehört die Stadt dir. Du hast gesiegt. Jeden Morgen, wenn du in deinem blütenweißen Bett aufwachst, fühlst du dich, als hättest du gerade sehr gute Nachrichten erhalten. Du hast einen brandneuen Körper. Du bist fasziniert, wie leicht und durchlässig und biegsam er ist, wie er sich anfühlt, beim Gehen und Aufstehen, beim Laufen und Sport-Machen und wenn dich ein Mann im Arm hält. Deine Muskeln und Sehnen und Knochen sind lebendig und mit Strom versorgt. Alles ist hell, alles ist elektrisch, alles ist Licht, Energie und Bedeutung. Banalitäten versetzen dich in Ekstase. Ein Kuss macht dich tagelang high. Reden ist ein Rausch. Atmen fühlt sich an wie Sex haben. Fahrradfahren fühlt sich an wie Freiheit. Du bist unbesiegbar. Du bist Superbrain. Deine Gedanken, glasklar und hell, jagen sich gegenseitig wie junge Schwalben. Deine Freunde sagen, du siehst toll aus, hast du irgendwas verändert? (Ja. Alles.) Deine Freunde sagen, du bist lustiger als früher. Du hast Small Talk abgeschafft. Du redest nur noch über die großen Themen, die Liebe, den Tod und den Sinn in alldem. Während du dich mit durchgedrücktem Rückgrat und zehn Zentimeter über dem Boden schwebend vorwärtsbewegst, brechen vermeintliche Sicherheiten links und rechts von deinen Füßen weg wie sich verschiebende Erdplatten, stürzen in den Abgrund und gehen spektakulär in Flammen auf. Du guckst zu und denkst lässig: Na ja, das war wahrscheinlich nötig.
Du verstehst alles. Du hast die Antwort auf alle Fragen. Nichts überrascht dich mehr, nichts schockiert dich. Wenn jemand kommt und einen Mord gesteht, weißt du, was zu tun ist. Alle sind sicher bei dir. Du kannst alles aufnehmen, transzendieren, vereinen, verstehen. Selbsthilfe-Meetings sind wie geheime Zusammenkünfte für Eingeweihte. Du hast das Licht gesehen. Du bist bereit. Du könntest ohne Weiteres eine neue Religion gründen. Du bist der fucking Dalai Lama.
In den Selbsthilfegruppen für Extrinkerinnen, so heißt es oft, ist immer irgendjemand, der einem aus der Seele spricht. Und das stimmt. Doch genau das ist auch das verdammte Problem und einer der Gründe, weshalb ich so lang einen Bogen um die Meetings machte. Wenn mir dort jemand aus der Seele spräche, bedeutete das logischerweise: Ich und diese Person, wir haben die gleiche Krankheit. Ich bin also richtig hier. Und das wiederum hieße: Ich muss mit dem Trinken aufhören. Und die eine verdammte Sache, die eine moderat alkoholabhängige Person am allerdringendsten vermeiden will, ist: mit dem Trinken aufhören.
Erzählt jemand im Meeting etwas, das dir bekannt vorkommt – zum Beispiel, dass er zu Trinkzeiten immer peinlich darauf achtete, seinen Wein in unterschiedlichen Supermärkten zu kaufen, damit keiner der Angestellten auf die Idee käme, er sei möglicherweise Alkoholiker –, dann wird dir klar: Du bist nicht allein. Aber es heißt auch: Deine Geschichte ist nichts Besonderes. Sie ist gewöhnlich, abgedroschen, ein Klischee. Es ist ein regelrechter Witz, dass du dir diese paar banalen Erkenntnisse so hart erarbeiten musstest, dass es dich so unglaublich viel gekostet hat, diese Lektion zu lernen, obwohl doch schon Millionen Leute vor dir genau das Gleiche durchgemacht haben. Das wurde alles schon unzählige Male erzählt. Hast du nicht zugehört?
Und das ist ja auch das grundlegende Missverständnis, mit dem man überhaupt anfängt zu trinken, zu rauchen, Drogen zu nehmen, mit dem Bad Boy mitzugehen, das ist ja genau das Versprechen: Du denkst, es macht dich zu jemand Besonderem. Schneller, wilder, verrückter, tiefsinniger, selbstbewusster, bedeutsamer. Du fühlst dich – und das ist das Unglaubliche daran – wie ein Rebell. Ein Regelbrecher, ein Outlaw, der grinsende Joker in einem Kartenspiel voller langweiliger Spießer.
Und irgendwann, lange nachdem es aufgehört hat, Spaß zu machen, und du aufgehört hast, dir irgendwas davon zu versprechen, erkennst du – Ironie! –: Die Haupteigenschaft der Droge ist es doch, dass sie uns allen einredet, etwas ganz Besonderes zu sein, wie ein erfolgreicher Heiratsschwindler, nur um irgendwann, unvermeidlich, uns alle auflaufen zu lassen, uns alle wie Idiotinnen dastehen zu lassen. Wie konntest du das nicht kommen sehen?
Ich wollte es einfach so gerne glauben.
Während ich noch trinke, nenne ich meine Abhängigkeit nie »Abhängigkeit«. Ich bevorzuge die vage Formulierung »die Sache mit dem Alkohol«. Das hilft mir, das Problem in der Unschärfe zu lassen, die Parallelen zu anderen Abhängigen zu ignorieren, mich selbst als Ausnahme von der Regel zu sehen. Ich muss schon in meinen Zwanzigern zugeben, dass »die Sache mit dem Alkohol« irgendwie optimierungsbedürftig ist. Aber mit einer »Abhängigkeit« hätte ich schnell die tausend Details gefunden, in denen meine Abhängigkeitsgeschichte allen anderen gleicht. Meine Geschichte vom Trinken ist nicht so besonders, wie ich damals denke, denn in Wirklichkeit haben die Geschichten vom Trinken furchtbar viele Gemeinsamkeiten.
Diese Geschichten gehen häufig ungefähr so: Das erste Mal, die Initiation, war wie Magie. Papa hat mich von seinem Bier kosten lassen und gesagt: Nun bist du ein Mann. Ich habe heimlich im Kleiderschrank die Reste vom Wein getrunken und mich an ihm und dem Duft von Mamas Kleidern berauscht. Ich war dreizehn, auf einer Party, und ich gehörte plötzlich dazu. Es war himmlisch. Endlich war ich selbstbewusst, sexy, witzig, entspannt und okay in meiner Haut. Ich konnte das Mädchen küssen, die coolen Kids beachteten mich. Es war alles, was ich je wollte. Und dann wollte ich natürlich mehr.
Lange ist das Trinken junge Liebe, romantischer Rausch. Es liegt noch kein Zwang darin, nur Wärme, Zauber, Möglichkeit. Betrunken als Studentin, mit einem Bier in der Hand auf dem Dach stehen, in der Stadt, von der du immer schon geträumt hast, den Sonnenaufgang betrachten und das unschlagbare Gefühl haben, dass die Zukunft komplett dir gehört, dass du nur die Hand auszustrecken und sie zu nehmen brauchst. Und vielleicht bekommst du sie auch, oder zumindest viel davon. Den Traumjob oder die Traumfrau oder Kinder oder aufregende Reisen. Aber langsam wird alles immer mehr Alltag, mehr Routine, auch die Träume, die sich erfüllen. Manche fahren ihr Trinken jetzt langsam runter, schleichen es aus, weil sie morgens früh rausmüssen. Andere müssen auch früh raus, trinken aber weiter. Sie nehmen mehr Mühe auf sich, um den Drink weiterhin in ihr Leben zu integrieren, obwohl es immer aufwendiger wird. Kater werden schlimmer mit über dreißig – versuche diese zehn Hangover-Hacks! Nun häufen sich für ein paar Jahre lang die Warnsignale. Tropfen von Tinte in einem Glas klaren Wassers, alles wird graduell immer schlimmer. Der Verlust der Unschuld, jeder kennt die Liste, die man checken muss, um sich das Trinken zu versauen: täglich trinken, allein trinken, morgens trinken, heimlich trinken. Und dann, ganz am Ende: es nicht mehr verheimlichen können. Hier wird es headlinewürdig, hier gibt es Dramaporn. Schließlich: der Tiefpunkt. Möglichst ein richtiger Schocker. Mann weg, Kinder weg, Haus weg, Job weg – und dann für die, die es schaffen aufzuhören: Läuterung, Umkehr, Erkenntnis, Beichte. Vorhang. Was danach kommt, weiß niemand so genau, aber es ist wahrscheinlich irgendwie traurig und anstrengend. Unsere Alkoholstorys sind wie Romcoms: vorbei, wenn die eigentliche Geschichte losgeht.
Wenn die Leute in den Meetings immer die gleichen stumpfen Abläufe ihrer persönlichen, dabei jedoch sehr vergleichbaren Suchtverläufe schildern würden – wir würden uns alle zu Tode langweilen. Dramaporn nutzt sich schnell ab. Schon bei der dritten wegen Alkohol erodierenden Ehe und dem vierten Klinikaufenthalt hörst du nicht mehr richtig zu. Erst wenn wir aufhören, wird’s interessant. Erst dann können wir wieder die einzigartigen Schneeflocken werden, als die wir auf diesen Planeten gekommen sind, erst nüchtern zeigen wir unsere wahren Farben. Das ist nicht immer angenehm. Obwohl das Ende meines Trinkens sich für mich lange Zeit wie ein Triumph anfühlte, der nicht übertroffen werden konnte oder musste, habe ich verstanden: Die Nüchternheit war nur der erste Schritt – die Eintrittskarte in mein Leben.
Seit meine rosa Wolke vorbeigezogen ist, seit ich mich nicht mehr jeden Morgen erleuchtet fühle, tauchen sie auf, all die faulen Stellen meines Lebens, eine nach der anderen. All die Arten, auf die ich ausweiche. Meine brennende Wut. Meine ungeheilten Kindheitswunden. Mein irrationales Verhältnis zu Geld. Meine Zweifel über meine Arbeit. Mein verrücktes Beziehungsverhalten. Meine Selbstsabotage, mein Selbstmitleid, meine Ausreden, meine falsche Toleranz, mein Trostessen, mein Trostshoppen, meine verdrängten Träume, meine Romanzensucht, meine Angst vor dem Sterben. Meine vielen Strategien, Intimität und die Steuererklärung zu vermeiden. Wie in einem Videospiel begegnet mir jetzt auf jedem Level ein neuer Endgegner. Ich muss mich transformieren, wieder und wieder, eine Haut nach der anderen, immer neue Schichten aus Illusionen und Selbstbetrug und Verdrängungsmechanismen abstreifen. Nüchternheit ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist, und eine Geschichte über das Trinken und das Nüchternwerden handelt nie wirklich von Alkohol. Es geht immer um alles.
Am ersten Januar sitze ich mit Julian in der Oderquelle und trinke bemerkenswert langsam ein Glas Rotwein. Es ist eine wilde Woche gewesen. Ich bin immer noch mild verkatert – nicht von Silvester, sondern von der Nacht zuvor, als ich mit Ben im Bassy war.
Ben, den ich immer noch als meinen »Exfreund« bezeichne, obwohl unsere Romanze nur ein halbes Jahr gedauert hat und wir seit über zehn Jahren befreundet sind, ist aus Zürich gekommen, um Silvester in Berlin zu feiern. Ich habe ihn in seiner temporären Wohnung in einem dieser seelenlosen Reichenghettos auf der hübschen Seite von Prenzlauer Berg besucht, in dem alles aus Stahl, Beton und bodentiefen Fenstern besteht, und wir haben mit Gin Tonics in der Hand Zigaretten auf dem großen, leeren Balkon geraucht und uns auf den neuesten Stand unserer Leben gebracht. Ich habe kürzlich eine Geschichte mit einem sehr schönen, aber chronisch unzuverlässigen Brasilianer angefangen, den ich partout nicht dazu bringen kann, auch nur ein einziges Mal pünktlich zu einer Verabredung zu erscheinen. Ben ist gerade von einem Horrorurlaub mit einer verrückten Polin zurückgekehrt, die ihn während der Reise für einen vierundzwanzigjährigen Masseur hat sitzen lassen, den sie am Strand kennengelernt hat. Als wir mit dem sarkastischen Kommentieren unserer postmodernen Liebesleben fertig waren, schlug Ben vor, rüber ins Bassy zu gehen.
Ich zögerte, weil ich am nächsten Tag nicht grauenhaft verkatert sein wollte, und das war fast sicher, wenn ich irgendwo hinging, wo es Drinks gab. Das Zögern hielt mich allerdings nicht lange auf. »Ich darf maximal zwei Drinks, dann muss ich gehen«, beschloss ich optimistisch.
Doch wie das immer so ist, verdichteten sich bei unserer Ankunft im Bassy die Umstände derart, dass mein Plan mit den zwei Drinks ins Wanken geriet. Es stellte sich heraus, dass ich mit dem Türsteher schon mal zusammengearbeitet hatte, weswegen wir für lau reingewinkt wurden, und dass ich mit dem DJ mal geknutscht hatte, weswegen er alle Songs spielte, die ich mir wünschte. Ben hatte Hummeln im Hintern. Nach einem monatelangen Arbeitsmarathon wollte er auf die Kacke hauen, und er hatte dafür immer schon Talent gehabt. Wir rauchten Zigaretten und flirteten, der dritte Gin Tonic zog unkommentiert vorbei, wir tanzten und drehten die Kontraste hoch. Ich wünschte mir Vogue von Madonna und kriegte es. Eine junge, dralle Blondine mit pinkem Lippenstift hatte es auf Ben abgesehen, und sie ging offenbar davon aus, Ben und ich seien zusammen, denn sie schaltete sofort in die Profistrategie, die auch ich schon oft angewendet hatte: Anstatt sich an den Typen ranzuschmeißen, den man will, macht man erst mal dessen Freundin klar. Sie kam rüber, zog meine Hüften an sich, blickte mir kurz tief in die Augen und küsste mich dann sehr ernsthaft auf den Mund, ohne sich vorzustellen. Ben brachte uns begeistert Gin Tonic Nummer vier, und ich gab der Blondine großzügig die Erlaubnis, mit ihm zu verfahren, wie auch immer sie wollte. Dann verschmolz alles in einem Wirbel aus Kohlensäure, Zigarettenrauch, pinkem Lippenstift und Bass.
Am nächsten Morgen, dem Silvestertag, wachte ich episch verkatert und desorientiert in einem fremden, nach abgestandenem Sex riechenden Bett auf, als die Blondine mit Kaffee im Zimmer stand und sich als Tess vorstellte. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Lkw der Müllabfuhr. Der bekannte kalte Schweiß auf dem Rücken und der abgestandene Geschmack im Mund, den ich so gut kannte, deuteten auf einen Kater hin, mit dem ich jetzt bestimmt zwei Tage beschäftigt sein würde. Ich seufzte tief, nahm dankbar den Kaffee, den Tess mir gab, und schälte mich aus dem Bett. Dieser Tag würde Arbeit werden.
Ben war schon aufgestanden und begrüßte mich in der Küche mit einem selbstgefälligen Siegerlächeln, lässig wie immer, irgendwo hatte er ein Kaugummi aufgetrieben.
In der Silvesternacht standen wir dann Schulter an Schulter auf dem Dach, umringt von betrunkenen, feiernden Freunden, und wir sagten einander: Gott sei Dank ist dieses Drecksjahr vorbei.
»Auf Bowie«, sagte Ben und hob sein Glas zum bunt glitzernden Himmel. Wir ließen unsere Sektgläser aneinanderklirren. Ich hatte nur diesen einen Drink, so verkatert war ich. Der Brasilianer versetzte mich wie üblich, und ich lief allein nach Hause, durch die erschöpfte, verdreckte, weichgezeichnete Stadt, am Neujahrstag im Morgengrauen, eine ganz besondere Leere.
Jetzt sitze ich also erschöpft mit Julian in der Oderquelle, mein Kater ist anderthalb Tage alt, und ich kann wieder trinken. Draußen schneit es. Wir essen Hausmannskost, die in Berlin-Mitte immer ironisch wirkt, Rotkohl und Rouladen, passend zum niemals ironisch gemeinten Rotwein. Julian fragt mich nach meinen guten Vorsätzen fürs neue Jahr.
Ich bin müde, so müde. Zu müde zum Verhandeln, zu müde zum Relativieren, zu müde für Optimismus, zu müde für meinen eigenen Bullshit, den ich ja erstaunlicherweise immer noch zu glauben bereit bin, nach all den Jahren der gebrochenen Trinkregeln, mit all der Erfahrung, die ich habe, nach allen Verwandten, die der Drink ruiniert und umgebracht hat, mit all meinem Wissen und all meiner Schlauheit, nach all den gebrochenen Versprechen, wirkungslosen Strategien, nach den Tausenden von Gelegenheiten, bei denen ich irgendeine Variante des Satzes »Nur zwei Drinks, dann geh ich nach Hause« gesagt und dann wieder vergessen hatte. Nun also ein weiterer guter Vorsatz.
»Mein Vorsatz ist, keine Vorsätze mehr über Alkohol zu machen«, sage ich und hebe mein Glas, cheers, und Julian lächelt urteilslos. Ich gebe auf, denke ich, ich höre auf, über dieses Thema mit mir selbst zu reden. Offenbar funktioniert es nicht. Ich kann nicht trinken, und ich kann nicht nichttrinken, vielleicht sollte ich es einfach akzeptieren, denke ich, vielleicht muss ich aufhören, mich zu wehren, und mich in die weichen Arme dieser Abhängigkeit sinken lassen, sie umarmen, sie ownen, sie wie einen Signature Style tragen, sie als mein Schicksal annehmen, meine Kultur, meine Identität: Das ist es also, mein Leben. Ich bin eine Trinkerin.
Meist versteht man erst im Rückblick, wo etwas begann oder zu Ende ging. Das Ende meines Trinkens und der Anfang meiner Nüchternheit liegen in diesem unscheinbaren Neujahrsabend. In diesem fatalistischen Vorsatz, meinen eigenen Bullshit nicht mehr zu glauben. Und darin, dass ich das einem anderen Menschen erzähle, was ich sonst nie mache. Ich verheimliche zwar keinen meiner Filmrisse und verstecke das Trinken nie. Aber ich verschweige immer konsequent die Sorgen, die ich mir über mein Trinken mache. Die Sorgen sind das eigentliche Problem, denn sie beweisen, dass mir mein Trinken nicht egal ist.
Es vergehen noch genau achteinhalb Monate, bis ich nüchtern werde. In diesen achteinhalb Monaten lege ich wie schlafwandelnd die Waffen eine nach der anderen nieder. Meine Kapitulation ist unspektakulär. Es gibt keinen plakativen Absturz, keinen nach außen sichtbaren Tiefpunkt. Es ist keine plötzliche Erkenntnis, keine dramatische Explosion, kein Aufwachen im Gefängnis, kein schockierendes Entgleisen meines Lebens. Es ist eine ruhige, langsame Wiederholung des immer gleichen, alten Themas, ein langweiliger, einschläfernder Walzer, der sich immer nur um sich selbst dreht.
Ich kann die Frage nach meinem Tiefpunkt, die in allen Gesprächen über das Aufhören unweigerlich auftaucht, nie befriedigend beantworten. Der Tiefpunkt ist ein beliebtes Thema im Zusammenhang mit Alkoholabhängigkeit, weil er eine Manifestation der magischen Grenze ist, nach der alle Trinkenden jahrelang, manchmal jahrzehntelang, suchen, und die sich dabei immer weiter in die Ferne verschiebt, wie eine Fata Morgana. Der Mythos vom Tiefpunkt gehört zu unserer Erzählung vom Trinken dazu. Er geht Hand in Hand mit dem Bild des Alkoholikers. Der Tiefpunkt ist extrem, damit alle anderen Trinkenden möglichst lange weitertrinken können. Denn es muss schon richtig schlimm werden, bevor ein Einzelner aus der Gruppe sich das Recht herausnehmen kann, allen anderen den Spaß zu versauen. Unser kollektives Trinken ist auf einem so hohen Niveau, dass die Bilder, die wir brauchen, um uns noch abschrecken zu können, extrem sind.
Auch die besorgniserregenden Folgeerscheinungen eines Rausches erscheinen uns ja bemerkenswert hinnehmbar. Blackouts etwa – dieses gruselige Phänomen, wenn man ganze Stunden partieller Amnesie erlebt, in denen man wie ein Zombie herumgelaufen ist, sich unterhalten und am Leben teilgenommen hat, ohne selbst dabei gewesen zu sein. Je länger man darüber nachdenkt, desto erschreckender wird die Idee einer solchen Form von Bewusstlosigkeit. Doch in unserer Welt sind sie sozial akzeptierter als öffentliches Stillen. Stoff für Komödien.
Nicht alle Menschen, die ich kenne, hatten Blackouts. Aber die, die es gab, waren auch nicht so ungewöhnlich, dass man deswegen einen Krisenstab einberufen hätte, nicht einmal bei einem Teenager. Blackouts zählten in meiner Welt nicht als ernst zu nehmende Tiefpunkte – also als Anlässe, das Trinken infrage zu stellen. Ernst zu nehmende Tiefpunkte wären beispielsweise: einen Unfall verursachen (bei dem möglichst nicht nur Sachschäden entstehen), einen Job verlieren (der einem wichtig war), eine Beziehung gegen die Wand fahren (die ernst war), in eine Schlägerei geraten oder, besser noch, im Knast landen. Je dramatischer der Tiefpunkt, desto befriedigter die Normalos. Hören sie von einem Tiefpunkt, der ihre eigenen Eskapaden in den Schatten stellt, können sie beruhigt sein. Denn: Würde es so schlimm kommen, ja, dann würde sicherlich jede aufhören! Aber so schlimm ist es ja glücklicherweise bei mir noch lange nicht!
Bei mir war es auch noch nicht so schlimm. Die wichtigsten Punkte der Katastrophencheckliste waren bei mir noch offen. Nicht täglich getrunken. Nicht morgens getrunken. Keine zitternden Hände. Ich war das, was man nach unserer neoliberalen Verwertungslogik »funktional« nennt. Ich hatte einen Hochschulabschluss, einen Job, einen Boyfriend, eine ebenmäßige Haut und Kleidergröße 36, und niemand, der mich kannte, dachte, dass ich besonders auffällig trank. Ich war eben ein Partygirl. Ein Freigeist. Eine Künstlerin. Ich arbeitete in der Kreativindustrie, in der es üblich ist, dass in Agenturen donnerstags um vier das erste Astra aufgemacht wird. Ich lebte in einer Stadt, in der man sich ganz selbstverständlich auf ein »Spazierbier« verabredete. Und außerdem wurde mir immer gesagt, ich sähe aus wie eine Französin, und die werden ja sowieso mit einem Glas Rotwein in der Hand geboren, wie man aus Modezeitschriften weiß. Mein Trinken passte in mein Branding. Das Leben sah ganz gut aus. Ich hätte noch lange, lange so weitermachen können.
Andererseits hatte ich schon ein paar Dinge erlebt, die vielleicht für eine andere Person, in einer anderen Welt, ausreichend dramatisch gewesen wären, um als Tiefpunkt zu gelten. Die Nacht, als ich in Handschellen in einer Gefängniszelle landete. Oder die Nacht, in der ich mir einen Zahn ausschlug. Oder die Nacht, in der ich mit dem Freund einer guten Freundin rummachte. Oder die Nacht, in der ich in einem Blackout einen Typen mit nach Hause nahm, an den ich am nächsten Morgen nicht die geringste Erinnerung hatte. Ich verkaufte mir diese Storys als reißerische Heldinnengeschichten. Als Zeichen für eine wilde Jugend. Als Ausdruck für meinen Nonkonformismus. Als Berlins Schuld. Was man als schlimm genug qualifiziert, ist immer eine Frage des Kontextes. Wenn man mehr trinken will, umgibt man sich eben mit Leuten, unter denen man die Bravste ist. Und das kann, mit ein bisschen Mühe, fast jede Trinkerin schaffen.
Nach den filmreifen Exzessen meiner Zwanziger hatte sich mein Leben zu Beginn meiner Dreißiger zunehmend normalisiert, und auch meine Abhängigkeit hatte an Dramatik verloren. Ich wachte nun nicht mehr mit wildfremden Lederjackentypen auf, sondern nur noch mit Kater. Ich trank nicht mehr Wodkashots in der 8 MM Bar und endete knutschend unter dem Tisch, sondern ich trank stattdessen gesittet eine Flasche Wein zum Essen mit einer Freundin, ging dann brav um halb elf nach Hause (und trank dort drei Viertel einer zweiten. Aber das bekam niemand mit).
In der englischsprachigen Sobriety-Szene gibt es den Begriff High Bottom Alcoholic – Alkoholiker mit einem hohen Tiefpunkt. Diese Gruppe von Nüchternen hat mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen. Ihre Suchtgeschichten eignen sich nicht gut für dramatische Verfilmungen. Sie unterscheiden sich so sehr von dem Boulevardpressen-Headline-Katastrophen-Elend unserer Alkoholismusidee, dass man sich nicht ohne Weiteres von ihnen abgrenzen kann. Bei den Meetings der Anonymen Alkoholiker fühlte ich mich lange wie ein Mauerblümchen und fragte mich manchmal, was ich da eigentlich zu suchen hatte, mit meinem (halbwegs) geregelten Leben und meiner fehlenden Entgiftungsstationserfahrung.
Zwischen den Trinkerinnen, die zweimal in der Woche verkatert sind, und denen, die delirierend auf einer Parkbank liegen, erstreckt sich ein riesiger Graubereich, der in der öffentlichen Debatte kaum vorkommt. In diese Grauzone fallen alle, die gerade eine zarte Abhängigkeit entwickeln; alle, die sogenanntes Risikotrinken betreiben (wie so gut wie alle Leute, mit denen ich in meinen Zwanzigern rumhing); und alle, die als »hochfunktional« durchgehen – die also die äußeren Rahmenbedingungen ihres Lebens (Job, Haus, Familie) zufriedenstellend aufrechterhalten können und deswegen von der Gesellschaft die Erlaubnis bekommen, süchtig zu sein.
Wenn die sichtbaren Katastrophen fehlen, ist Alkoholabhängigkeit schwer greifbar, sind die Konsequenzen lange Zeit vage und uneindeutig. Doch je mehr Suchtgeschichten man hört, desto mehr versteht man Sucht als ein Kontinuum. An welchem Punkt dieser Entwicklung du stehst, ist unwichtig. Wir trinken alle die gleiche Substanz, spielen alle dasselbe Spiel, niemand ist besonders, niemand ist eine Ausnahme von der Regel, denn Drogen sind große Gleichmacher. Sie unterwerfen uns, früher oder später, ihren Regeln. Du kannst nicht gewinnen. Das Spiel hat einen enervierend vorhersehbaren Ausgang: Entweder du hörst irgendwann auf, es zu spielen. Oder es bringt dich um. Und bevor es dich umbringt, nimmt es dir Stück für Stück immer mehr weg.
Der letzten Phase meines Trinkens fehlt jede Aufregung und jeglicher Glamour. Sie ist langweilig und deprimierend wie ein Regentag im Februar. Obwohl ich nicht jeden Tag trinke, bin ich eigentlich immer latent mit dem Trinken beschäftigt. Ich kümmere mich permanent nebenbei um irgendwelche Kater in unterschiedlichen Schweregraden, mache mir darüber Gedanken, der wievielte Kater es in diesem Monat ist, wie ich die Zahl der Kater eindämmen könnte, welche Trinkregeln ich noch nicht ausprobiert habe. Ich denke regelmäßig ängstlich über das totale Aufhören nach, das mir blühte, wenn es wirklich schlimm werden würde. Darüber, wie schwer es wäre, für immer zu verzichten. Ich denke darüber nach, was passieren müsste, um ein Aufhören unvermeidlich zu machen. Darüber, welche Ereignisse einen Regelbruch rechtfertigen.
Dass der Alkohol rechts und links Leute umbrachte, wusste ich nicht nur aus dem Drogenbericht der WHO. Es passierte seit Generationen in meiner eigenen Familie. Dort konnte ich auch besichtigen, was ein richtiger Tiefpunkt war. Leberzirrhose zum Beispiel, wie bei meiner Oma. Oder Bauchspeicheldrüsenentzündung, eine der vielen Krankheiten, die mein Vater gegen Ende seines Lebens gehabt hatte.
Aber so weit war ich noch lange nicht. Ich hätte zu keinem Zeitpunkt auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen, dass mich das Trinken umbringen könnte. Sorgen machten mir schlimmer werdende Kater und eine schlechter werdende Haut.
Als meine Eltern sich in den späten Siebzigern in einem westdeutschen Dorf verliebten, war die Mutter meines Vaters gerade in einer Entzugsklinik. Damals sagte man, Mathilde sei »auf Kur«. Als ich klein war, waren viele Frauen in regelmäßigen Abständen »auf Kur«. Ich stellte mir vor, dass die Frauen auf Kur waren, um für ihre harte Arbeit belohnt zu werden, und dass sie dort permanent Schaumbäder nahmen, in malerischen Parks lustwandelten und in weißen Leinenkleidern auf sonnenbeschienenen Terrassen in der frischen Brise saßen wie Damen auf Renoir-Gemälden. Heute frage ich mich, wie viele der Mütter in Wirklichkeit in Kliniken waren, um Abhängigkeit, Depressionen oder Burn-out behandeln zu lassen – alles Leiden, die man höchstens inoffiziell hatte.
Mathilde war eine rheinische Frohnatur. Wenn ich das Wort »Hausfrau« höre, erscheint sie vor mir. Mit türkisfarbenen Plastikperlen, geblümter Kittelschürze und dem Kopf voller Lockenwickler. Sie hatte eine laute, heisere Stimme, klimpernde goldene Armreifen, lachte dröhnend und hatte jede Menge Meinungen. Sie sammelte allen möglichen Nippes, Porzellanvögelchen und Glastierchen, sie strickte, stickte und häkelte wie eine Maschine, produzierte riesige, hochkomplexe Tischdecken und Taschentücher und Gardinen aus weißem Garn, spielte Keyboard und sang dazu, arbeitete Teilzeit im Presswerk, in der Bäckerei und nachts in der Autobahnraststätte, kochte täglich mehrere Mahlzeiten für sechs Personen und rauchte wie ein Schlot. Sie war nie ohne eine Zigarette zwischen den Fingern zu sehen. Wenn sie in der Dreizimmerwohnung, die sie zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern bewohnte, putzend und Staub wischend umherging, lag in jedem Zimmer eine brennende Kippe, die sie im Vorübergehen alle synchron rauchte. Die Tapeten der kleinen Wohnung waren dunkelgelb vom Nikotin. Meine erste Zigarette, eine HB, die ich mit zehn heimlich spätabends in einem Baum rauchte, hatte ich von ihr geklaut.
Mathilde war die erste Trinkerin, die ich kannte. Lange bevor ich geboren wurde, hatte sie die Krankheit schon an meinen Vater weitergegeben. Und als ich lernte, was Alkoholismus ist, lebte sie schon lange nicht mehr.
Mathildes Mutter Käthe war noch keine richtige Trinkerin, sie hatte bloß ein hartes Leben, wie alle Frauen damals. Käthe war allein mit fünf Kindern. Ihr Mann hatte sich kurz vor Kriegsende in der Ruhr ertränkt – offiziell, weil er den Krieg nicht verkraftet hatte, inoffiziell, weil er ein glühender Nazi gewesen war. Aachen war kaputt, und es gab nichts zu essen. Zu dieser Zeit schickte es sich für Frauen noch nicht zu trinken, wie die Männer tranken. Käthe bekam ihren Stoff noch aus der Apotheke. Sie war immer müde, und sie bewegte sich schnaufend und seufzend vorwärts, in der Sommerhitze hielt sie häufig inne, um Päuschen zu machen. Dann tröpfelte sie ein bisschen Klosterfrau Melissengeist auf ein Zuckerstückchen und ließ es sich auf der Zunge zergehen, für neuen Schwung. Käthe hatte außerdem zu allen Zeiten ein mit Kölnisch Wasser getränktes Taschentuch im Dekolleté, mit dem sie sich gelegentlich über die verschwitzte Stirn wischte. Hier und da genehmigte sie sich auch zu Hause ein Schlückchen. Im späten 19. Jahrhundert grassierte unter Frauen der sogenannte Kölnisch-Wasser-Alkoholismus: Sie tranken Duftwasser, Parfum oder hochprozentige Tinkturen aus der Apotheke, um sich den harten Alltag zu erleichtern.
Klosterfrau Melissengeist tat den Konsumentinnen immerhin den Gefallen, offiziell zum Verzehr vorgesehen zu sein. Die Marke, die es seit zweihundert Jahren gibt, bewirbt ihr bekanntestes Produkt auch heute noch als ein natürliches, auf Heilpflanzen basierendes Arzneimittel gegen eine Liste von über zwanzig Leiden, von Erkältung über Muskelkater und Verspannungen, Schlaflosigkeit und Stress bis hin zu Verdauungsproblemen und Blutergüssen oder einfach »zur Besserung des Allgemeinbefindens«. Die klare Flüssigkeit, die laut Webseite »von Jung bis Alt geschätzt« wird, enthält fast achtzig Prozent Alkohol, doppelt so viel wie handelsüblicher Wodka und ungefähr so viel wie Stroh-Rum, der stärkste Schnaps, den man diesseits der Sowjetunion so auftreiben kann.
Schnaps als Medizin zu verwenden war vielleicht nie so naheliegend wie im Nachkriegsdeutschland der Fünfzigerjahre. Eine ganze Generation, traumatisiert von Erlebnissen, die für uns, ihre Enkel, unvorstellbar sind. Erst als ihre Kinder und Enkelkinder schon längst erwachsen waren, erzählten sie, manchmal ganz nebenbei, was sie selbst in ihrer Kindheit erlebt hatten. Von Leichenbergen, die sich auf den Straßen gestapelt hatten, von jüngeren Geschwistern, die von Schokolade halluzinierend verhungert waren, von Müttern und älteren Schwestern, die von Horden einfallender Soldaten vergewaltigt worden waren, von den Bomben, die bei der Flucht aus Königsberg auf sie hinabgeregnet waren. Nach dem Krieg, kaum volljährig, stürzten sie sich in den Wiederaufbau, therapiert wurde niemand. Eine ganze Generation mit posttraumatischer Belastungsstörung, prädestiniert für Substanzmissbrauch.
Käthes jüngste Tochter Mathilde, meine Oma, war schon als Jugendliche eine Draufgängerin gewesen. Sie war die Einzige der fünf Geschwister, die regelmäßig zu Fuß über die holländische Grenze lief, um Kaffee, Zucker und Butter zu schmuggeln, die von ihren Tanten auf der anderen Seite der Grenze in zentimeterdicken Schichten zwischen zwei Brotscheiben geschmiert wurde.
Als sie achtzehn war, lernte sie auf einer Tanzveranstaltung einen gut aussehenden, wortkargen Ostpreußen kennen – schnittig, Anfang zwanzig –, der mit seinen beiden Brüdern ins Ruhrgebiet gekommen war, um im Bergbau Arbeit zu finden. Er war bereits verlobt, aber Mathilde wurde schwanger. Er löste seine Verlobung – sehr zum Kummer seiner Mutter – und heiratete Mathilde. Die beiden zogen in ein Wohngebiet in der Nähe der Zeche. 1955, Mathilde war neunzehn, wurde die erste Tochter geboren.
Mathilde gehörte der Generation Frauengoldan. Nachdem die Nazis alle Keime des Fortschritts und damit auch die hoffnungsvolle Emanzipationsbewegung der Zwanzigerjahre, zunichtegemacht hatten, ging alles zurück auf null. Für die Frauen hieß das: zurück an den Herd, ins Haus, in die Bedeutungslosigkeit. Je nach Einkommensklasse des Ehemannes waren sie privilegierte Hausfrauen, die nicht auf Lohnarbeit angewiesen waren, oder sie waren Hausfrauen am Tag und Lohnarbeiterinnen in der Nacht, wie Mathilde.
Um ihnen in diese deprimierende alte Rolle hineinzuhelfen, hatte der in Westdeutschland aufkeimende Konsumismus Frauengold erfunden, ein »belebendes Herz-Kreislauf-Tonikum«, das 1953 auf den Markt geworfen wurde und sich sofort sensationell verkaufte. Frauengold versprach eine beruhigende, stimmungsaufhellende Wirkung, erholsamen Schlaf, »seelische Entspannung« und »jugendliches Aussehen«, sollte bei Menstruationsbeschwerden, Traurigkeit, Erschöpfung und weiblicher Lustlosigkeit helfen und war im Grunde nichts anderes als mit Kräutern aufgepeppter und in Arzneimittelflaschen abgefüllter Likörwein.
Mathilde trank meines Wissens kein Frauengold, denn erstens lebte sie in einem Milieu, in dem es schlicht als irrsinnig betrachtet worden wäre, den doppelten Preis für Sprit zu bezahlen, nur weil er in Medizinflaschen verkauft wurde. Und zweitens, weil sie ja schon damals mindestens so hart schuftete wie ein Mann und folglich auch trinken durfte wie einer. Ihre Familie war kinderreich und gesellig. Immer war gerade jemand zu Besuch; Brüder, Schwestern, Schwager, Schwägerinnen, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel. Und wenn Besuch da war, wurde gefeiert, gekocht, gestritten, musiziert und getrunken, als gäbe es kein Morgen. Meine Familie in den Sechzigerjahren war wahrscheinlich ziemlich genau der hedonistische Haufen, nach dem jeder Berlintourist in den Clubs der Stadt auf der Suche ist.
Mathildes älterer Bruder Kurt betrieb in Übach-Palenberg ein Hotel mit Bar, in der es hoch herging. Ihr jüngerer Bruder Helmut war ein bekannter Sozialist, der mit steigendem Alkoholpegel immer politischer wurde. Der Jüngste, Willi, war Musiker, der durch die Clubs und Bars tingelte. Sie waren alle wild entschlossen, sich zu amüsieren. Trinken gehörte dazu, war Freiheit und Luxus. Sowohl Tabak als auch Hochprozentiges wurden im Nachkriegsdeutschland der Sechziger mit einer Sorglosigkeit konsumiert, die heute sprachlos macht. Es gibt ein Foto, auf dem Mathilde ihren Sohn mit einer Kippe im Mundwinkel neben einem Tisch voller leerer Weinflaschen wickelt.
Mit dreißig hatte Mathilde vier Kinder. Mit vierzig kam sie mit Leberzirrhose ins Krankenhaus. In der Klinik sagte man ihr, dass sie sterben würde, falls sie nicht sofort aufhörte zu trinken. Nach ein paar Tagen Krankenhaus ging es für acht Wochen zur Entwöhnung in die Reha Bad Kissingen.
Sobald Mathilde weg war, brach daheim das Chaos aus. Ihr Mann arbeitete inzwischen Vollzeit im Katasteramt der Stadt und hatte weder die Zeit noch die Fähigkeiten, den Haushalt zu schmeißen und sich um die Kinder zu kümmern. Mathildes Schwester kam zu Hilfe. Und meine Mutter, noch ein Teenager, frisch verliebt in meinen Vater, Mathildes ältesten Sohn. Sie kam jeden Tag zu ihm nach Hause und kochte anstelle von Mathilde das Abendessen. Nach zwei Monaten kehrte Mathilde zurück, nüchtern.
Ich wüsste gern, was man meiner Oma Ende der Siebzigerjahre in der Reha über das Trinken und die Sucht erzählt hat. Ich wüsste gern, ob sie mal bei einem AA-Meeting gewesen ist, und falls ja, was sie wohl darüber gedacht hat. Ich vermute, dass sie das alles für abgehobenen Spiri-Quatsch gehalten hätte. Alles, was ich weiß: Ihr war klar, dass sie nie wieder trinken durfte, weil es sie sonst umbringen würde, und sie hielt sich eine ganze Weile auch daran. Pragmatisch, ohne fremde Hilfe. Sie hatte zu tun. Man musste keine Kosten kalkulieren, um zu wissen, dass sich die Familie ihren Tod nicht würde leisten können.
Alkoholismus ist eine Familienkrankheit. Hat man Verwandte ersten Grades, die alkoholabhängig sind, vervierfacht sich das Risiko, selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. Deswegen wird schon lange unermüdlich nach dem »Alkohol-Gen« gesucht. Gefunden hat man viele unterschiedliche. Bislang gibt es Erkenntnisse über neunundzwanzig unterschiedliche Gene, die mit einem problematischen Alkoholkonsum verknüpft zu sein scheinen. Einige Faktoren, die mit der Wirkweise von Alkohol in Zusammenhang stehen, könnten also genetisch sein. Manche Gene verstärken die stressmindernde oder die euphorisierende Wirkung des Alkohols, manche bewirken, dass mehr Dopamin ausgeschüttet wird – der Stoff, der uns dazu motiviert, Verhaltensweisen zu wiederholen, und damit die Grundlage jeder Sucht ist. Der wichtigste genetische Faktor scheint jedoch die Toleranz zu sein: Man kann Trinkfestigkeit erben. Aber das eine Alkohol-Gen, das man zu finden hofft, gibt es nicht.
Stattdessen sind sich die meisten Forschenden einig darüber, dass das soziale Umfeld den bei Weitem stärksten Einfluss auf unser späteres Trinkverhalten hat. Wir lernen, wie andere Säugetiere auch, durch Nachahmen. Je mehr trinkende Rollenmodelle wir sehen, desto besser können wir lernen, zu welchen Gelegenheiten getrunken wird und was das Trinken bedeutet. Können wir beobachten, dass Alkohol von unseren Bezugspersonen zur Stimmungsregulierung benutzt wird, machen wir das vermutlich später auch. Je jünger wir sind, wenn wir das erste Mal trinken, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer späteren Abhängigkeit. Je leichter der Alkohol zu haben ist, desto eher greifen wir danach.
In Deutschland dürfen Kinder ab vierzehn in Anwesenheit einer Aufsichtsperson trinken – eine in Europa einzigartige Regelung. Die CDU/CSU-Fraktion hält am sogenannten »betreuten Trinken« fest, da es sich bewährt habe, dass Kinder »im geschützten Umfeld ihrer Eltern über Alkohol aufgeklärt« würden. Wie auch immer diese Aufklärung aussehen mag, statistisch ist klar: Kinder von trinkenden Erwachsenen trinken später mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst.
Hört man sich die Geschichten der Leute in Selbsthilfemeetings an, wird schnell deutlich, dass Sucht ein Familiending ist. Wie könnte es auch anders sein: In unseren Familien lernen wir zu leben. Wir lernen alles von ihnen. Die Art, wie wir sprechen und gestikulieren, wie wir Eier braten und Zwiebeln schneiden, welche Parteien wir wählen, welche Berufe wir in Betracht ziehen, wie wir unsere eigenen Fähigkeiten einschätzen, wie wir lieben und Konflikte lösen und wie wir mit unserem unvermeidlichen Schmerz umgehen. Wenn der Vater abends nach einem langen Tag nach Hause kommt, sich in seinen Sessel fallen lässt und mit einem langen, befriedigten Seufzer den ersten Schluck eines in der Abendsonne schimmernden Biers trinkt, dann brennt sich das in den Kopf einer Achtjährigen ein – wird zu einem ersten, archetypischen Bild von Entspannung, Freizeit, Männlichkeit, Zuhause.
Ich bin acht oder neun, und Mathilde steckt mir zehn Mark zu und schickt mich die Straße hoch zu Dimi’s, eine Pommesbude, wo es einen Kühlschrank mit Bier und einen Zigarettenautomaten gibt. Der Deal ist sensationell: Ich kaufe für Mathilde ein, und den Rest des Geldes darf ich behalten. Ich renne barfuß aus dem Haus, der Asphalt ist warm, fast heiß, sodass ich die fünfzig Meter bis zur nächsten Straßenecke zu rennen versuche, ohne den Boden zu berühren. Die kühlen Kacheln in der Pommesbude sind wie die Belohnung für meinen Sprint. Dimi, der Inhaber, ein gut aussehender Grieche mit Haar, so schwarz glänzend, dass es nass wirkt, nickt mir kollegial zu, als ich die Münze in den Automaten werfe und unter großem Metallgerassel eine Packung HB ziehe. Mit einem Bier und den Zigaretten mache ich einen kurzen Stopp gegenüber im Zeitungsladen und kaufe zwanzig rote Gummischnüre und zehn Gummierdbeeren in einer weißen Papiertüte. Mein Honorar.
Ich passiere das quietschende Gartentor, die Wiese voller Schaumkraut und komme zurück in den Garten, wo Mathilde gerade mit den Nachbarn von gegenüber einen Snack einnimmt. Sie schneidet Fleischwurst in zentimeterdicke Scheiben, sagt »Kind, hier haste ’n Bütterken!« und stopft zwei Scheiben Butterbrot in mich hinein, bevor sie mir erlaubt, mich meinen Gummischnüren zu widmen. Opa steht in Arbeitsstiefeln und Jeansoverall am anderen Ende des Gartens und schneidet die Johannisbeerhecke zurück, Zigarrenstummel im Mundwinkel. Die Nachbarn sitzen mit Bier in der Hand auf der Gartenbank, die Hecke hinter ihnen ist schwer von duftendem Flieder. Ich verziehe mich an den Gartenteich, hänge meine nackten, schwarz verdreckten, gar gebrutzelten Füße ins kühle Wasser, hake meine Zehen in die schwankenden Stiele der Seerosen, schaue in die Wolken, verfolge die um mich herumschwirrenden Libellen, metallisch schillernd wie Raumschiffe, groß wie Männerhände, und senke die Gummischnüre Zentimeter für Zentimeter in meinem Mund.
Als Kind habe ich den Alkohol nie bewusst wahrgenommen. Wenn ich alte Fotos anschaue, ist er überall: Immer steht Bier und Wein auf dem Tisch, manchmal auch Schnaps. Aber während ich schon recht frühe Erinnerungen daran habe, Zigaretten als gefährlich dumme, schlechte Angewohnheit zu erkennen, kommt der Alkohol überhaupt nicht vor. Alkohol war einfach immer da, selbstverständlich und unsichtbar, wie die Tapete an der Wand.
Ich war nicht das einzige Kind, das von den Erwachsenen geschickt wurde, um Kippen und Bier zu besorgen. Wir machten das alle. Wir waren kleine, emsig umherflitzende Kuriere, dankbar für das leicht verdiente Taschengeld, das wir in Glitzersticker und Schnuckeltüten umsetzten, die Typen an der Tankstelle und die Kassiererinnen im Supermarkt kannten uns.
Ich wusste immer schon: Trinken gehört zum Erwachsensein wie Autofahren, ins Büro gehen, Heiraten und Kinderkriegen. Erwachsene, die nicht tranken, kannte ich nicht. Immer, wenn es schön und besonders war, gab es Alkohol. Auf Familienfeiern und wenn man im Garten saß. Immer, wenn Leute zusammenkamen und irgendwo verweilten, wenn Freunde zu Besuch waren, wenn Karten gespielt wurde, wenn es ein gutes Essen gab, wenn man sich Zeit nahm, wenn man Spaß hatte. Wir Kinder profitierten davon, wenn unsere Eltern sich amüsierten, denn dann waren wir frei. Wir durften aufbleiben, so lange wir wollten, bis spät in die Nacht draußen im Garten sein, Feuer machen, Leuchtkäfer beobachten, man ließ uns in Ruhe, vergaß, dass wir eigentlich schon hätten im Bett sein müssen. Wenn wir uns leise verhielten, erhaschten wir vielleicht sogar das ein oder andere achtlos ausgeplauderte, erwachsene Geheimnis.
Die Eltern meiner Mutter hatten sich ebenfalls beim Tanzen kennengelernt. Sie hatten beide kurz vor dem Mauerbau von Leipzig und Cottbus aus in den Westen rübergemacht. Didi war ausgebildeter Maurer mit einer Menge Unternehmergeist. In den frühen Sechzigerjahren hatte er eine Gruppe handwerklich begabter Freunde um sich geschart, die sich gegenseitig halfen, ihre Häuser zu bauen. Später gründete er ein Glasbausteingeschäft, das in den Siebzigern boomte. Materiell ging es der Familie gut. Didi hatte eine Leidenschaft für schicke Autos. Es gab ein Haus in Spanien und eine kleine Segelyacht. Seine Frau Ursula musste nie einer Lohnarbeit nachgehen. Stattdessen kümmerte sie sich erst um die beiden Töchter und später um Mode und Style. Sie trug immer Chanel N°5 und immer roten Lippenstift. Als Kinder spielten meine Freundinnen und ich stundenlang Verkleiden in ihren zahlreichen begehbaren Kleiderschränken, die bis zum Rand vollgestopft waren mit Cocktailkleidern, Pelzmänteln, Lederkoffern randvoll mit Modeschmuck und aufregenden Accessoires wie Schlangenledertaschen, Turbanen und Seidenschals.
Leider hatten Ursula und Didi nach einer kurzen Honeymoonphase festgestellt, dass sie einander nicht besonders gut leiden konnten, und waren trotzdem noch weitere dreißig Jahre verheiratet geblieben. Mein Großvater hätte gern Söhne gehabt, aber musste sich stattdessen mit zwei Töchtern zufriedengeben, was vielleicht ein Grund dafür war, dass er seine Kinder und seine Frau triezte und schikanierte, wann immer er übellaunig war – was oft vorkam. Es gab viele strenge Regeln und jede Menge Verbote. So hatte Didi meiner Mutter, seiner Tochter, auch (vorübergehend, erfolglos) den Umgang mit meinem Vater verboten, der alles war, was sich ein Mädchen mit einer Schwäche für Bad Boys nur wünschen konnte. Er fuhr Motorrad, trug Schlaghosen und die Haare lang bis zu den Schulterblättern. Er war für meinen Großvater so was wie der Antichrist. Auf einem orange getönten Foto aus den späten Siebzigern sitzt er cool mit übereinandergeschlagenen Beinen, Kippe im Mundwinkel und offenen Haaren auf der Motorhaube seines mintgrünen Mercedes und sieht aus wie das gemeinsame Kind von Patti Smith und Mick Jagger. Es überrascht kein bisschen, dass es nicht in Didis Macht stand, seine Tochter von ihm fernzuhalten. Sobald sie achtzehn war, kehrte sie ihrem verhassten Elternhaus den Rücken und zog mit ihm zusammen.
Die Kriegsgeneration hatte sich kollektiv darauf geeinigt, die Vergangenheit totzuschweigen und sich stattdessen mit Verve in das aufblühende Wirtschaftswunder zu stürzen. Der von den Amerikanern angebotene Konsumismus wurde dankbar angenommen und zelebriert. Der kapitalistische Glanz legte sich wie dünner Firnis über die Schuld und die Scham der Vergangenheit. Ehemalige Parteimitglieder waren mehrheitlich zurück in die Gesellschaft integriert worden und hatten ihre alten Posten zurück. Die Väter schwiegen sich darüber aus, was sie an der Front anderen angetan hatten und was ihnen angetan wurde. Die Kinder dieser Generation wuchsen unter schweigenden Schatten und mit namenlosen Erinnerungen ihrer Eltern auf. Viele erfuhren psychische und physische Gewalt. Mathilde prügelte. Didi strafte mit Kälte. Alle tranken.
Meine Eltern wollten alles anders machen. Sie wählten andere Parteien, hörten andere Musik, kleideten sich anders und erzogen ihre Kinder anders. Meine Eltern zogen mit ihren Freunden in eine WG (was damals in dem westdeutschen Dorf skandalös war), traten den Grünen bei (die ebenfalls skandalös waren), besetzten Häuser, rauchten Gras, sympathisierten testweise mit der RAF, erzogen ihre Kinder gemeinschaftlich und antiautoritär, hörten Pink Floyd, fuhren mit dem Wohnwagen nach Griechenland, wo sie drei Wochen wie Hippies lebten. Mein Vater eröffnete den ersten Bioladen des Dorfes, in dem es immer nach Bananenchips roch und in dem er mit befreundeten Sozialarbeiterinnen mit bunten Röcken und unrasierten Beinen schäkerte, die allesamt in ihn verknallt waren, mir Bio-Lakritzschnecken schenkten und mir erzählten, ich sei hochbegabt.
Kurz gesagt, meine Eltern waren jung, wild, schön und gegen alles, was ihre eigenen Eltern verkörperten. Dieser Generationenkonflikt ging selbst an mir nicht vorbei. Mein Klassenlehrer in der Grundschule achtete sorgfältig darauf, welche Kinder die Brut der Hippies waren, und ließ uns das dann gern auf seine Art spüren. Einmal zerrte er mich aus einer Schulhofprügelei heraus, starrte mich mit kleinen, kalten Greifvogelaugen an und zischte: »Ich weiß genau, wer dein Vater ist.« In dieser Hinsicht hatte er mir einiges voraus.
Das Trinken einte die Generationen. Alle tranken, viele tranken zu viel. Der Alkohol ist ein Gestaltwandler – er macht immer das, was er machen soll. Aber er tut nicht für alle das Gleiche. Er holt die Schüchternen aus sich heraus und gibt den Nervösen Ruhe. Er macht die Ängstlichen mutig und die Wütenden versöhnlich. Er ermöglicht es den Verschlossenen, ihre Gefühle auszudrücken, und den Sensiblen, ihre Gefühle zu betäuben. Er macht die Angepassten zu Rebellen und die Außenseiter zu Mitläufern. Wir können ihn benutzen, um uns aufzuputschen oder runterzubringen.
In der Werbung steht der Drink für die unterschiedlichsten Ideale, einige davon sind Widersprüche: Romantik und Abenteuer, Rebellion und Tradition, Aufbruch und Zugehörigkeit, Klassik und Rock’n’Roll, Eleganz und Punk.
Wonach auch immer wir uns sehnen, es gibt garantiert den passenden Drink dafür. Was das Trinken für alle Trinkenden bereithält: Es betäubt das, was wir vergessen wollen, es macht uns unempfindlich gegen den unumgänglichen Schmerz des Lebendigseins. Jeder Mensch findet Gründe zu trinken.
Für meine Großeltern lag das Kriegsende erst zehn Jahre zurück, als sie Familien gründeten – halb so lange, wie für uns 09/11 zurückliegt. Für sie war Alkohol Treibstoff. Ohne die Vergangenheit zu vergessen, wäre es den Männern nicht möglich gewesen, wie Maschinen zu funktionieren und, wie Didi, die wirtschaftliche Existenz ihrer Familien aus dem Nichts aus dem Boden zu stampfen. Die Frauen tranken sich passend, um sich in die enge und intellektuell wenig anregende Rolle der Hausfrau und Mutter zu pressen, die in erster Linie erforderte, dass alle eigenen Bedürfnisse verschwinden mussten.
Die Sechzigerjahre waren die goldene Ära der Werbung. Westdeutschland übernahm die Zeichen der US-amerikanischen Identität; die eigene war für Generationen zerstört. Alkohol wurde das, was er auch in den Staaten war: schick, mondän, luxuriös, weltbürgerlich. Das Tätervolk brauchte neuen Stolz und fand ihn im Materiellen. Der Vergangenheit vollständig den Rücken zu kehren, war nicht nur Sehnsucht. Es war Überlebensstrategie.