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Als Domitila Barros zur Miss Germany 2022 gekürt wurde, ahnte niemand, was für ein schweres Leben bereits hinter dieser jungen Frau lag. Geboren wurde sie in einer Favela im Nordosten Brasiliens, wo es keine Schulen, Krankenhäuser, Polizeistationen und Spielplätze gab. Anfang der 80er Jahre gründeten Domitilas Eltern dort ein Straßenkinderprojekt, um Jugendlichen eine Perspektive und Bildung zu ermöglichen. Domitila Barros arbeitet heute als Unternehmerin, Greenfluencerin, Business-Coach und Model. In ihrem Buch erzählt sie, wie sie Armut und Gefahr in der Kindheit und Jugend nicht nur überstand, sondern dadurch lernte, mit großen Belastungen umzugehen und Krisen zu bewältigen. Seither sind Herausforderungen wie Nachhaltigkeit, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit für sie Werte, für die man leidenschaftlich kämpfen muss. Ein bewegendes Memoir einer beeindruckenden, jungen Frau, die sich trotz aller Widrigkeiten ihren Platz im Leben erkämpft hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Rebel Dreamer
Domitila Barros wurde 1984 in Recife, Brasilien geboren. Nach der Schule studierte sie dort Sozialpädagogik und absolvierte ihren Master in Sozial- und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Sie ist Unternehmerin und Greenfluencerin und arbeitet als Business-Coach, Schauspielerin und Model. Am 19. Februar 2022 wurde sie Miss Germany 2022, deren Kandidatinnen seit 2021 nicht mehr nur nach ihrem Aussehen, sondern vor allem nach ihrer »Mission« bewertet werden.
»Gestalte dein Leben so, wie du es leben willst.«
Als Domitila Barros 2022 zur Miss Germany gekürt wurde, ahnte niemand, was für ein bewegendes Leben bereits hinter dieser jungen Frau lag. Geboren wurde sie in einer Favela in Brasilien, wo es keine Schulen, Krankenhäuser und Spielplätze gab. Heute ist Domitila Barros als Unternehmerin, Greenfluencerin, Business-Coach und Model erfolgreich.In ihrem Buch erzählt sie, wie sie Armut und Gefahr in der Kindheit nicht nur überstand, sondern auch lernte, große Belastungen und Krisen zu bewältigen. Seither sind Nachhaltigkeit, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit für sie Werte, für die man leidenschaftlich kämpfen muss.
»Domitila Barros ist eine Naturgewalt: Schön, schlau, liebevoll, eigenwillig, verwundet, furchtlos und ein bisschen loca. Warum das so ist, erfahren wir in Rebel Dreamer.« ANNETTE FRIER
Domitila Barros
Wie mich die Favela auf das Leben vorbereitete, um das wahre Glück zu finden
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor. Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Arne TotzAutorenfoto: © Domitila Barros ContentE-Book-Konvertierung powered by PepyrusAlle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-8437-3106-5
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1 Wer in einer Favela aufwächst, feiert das Leben umso mehr
Kapitel 2 Menschen, die nichts zu verlieren haben, lehren uns die wichtigsten Dinge
Kapitel 3 Wir dürfen nie aufhören, groß zu träumen
Kapitel 4 Du selbst kannst die Veränderung sein, die du auf der Erde sehen willst
Kapitel 5 Wo Wut ist, sind auch Energie und Vitalität
Kapitel 6 Nur wenn du dich selbst wertschätzt, werden es auch andere tun
Kapitel 7 Wenn Muße die Schwester der Freiheit ist, dann ist Depression die des Leistungswahns
Kapitel 8 Dankbar zu sein heißt nicht, sich mit wenig zufriedenzugeben
Kapitel 9 Sich in seinen Gedanken nicht limitieren zu lassen, bedeutet die größte Freiheit
Epilog
Danke
Bildteil
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Mein Leben hat seinen Ursprung in einer brasilianischen Favela, aber ich beginne mit der Gedächtniskirche in Berlin. Denn sie steht in der Stadt, in der ich heute lebe.
Diese Kirche ist für mich ein Sinnbild dafür, wie mein Weg auch hätte sein können. Wie sie dasteht mit ihrer Spitze, die seit dem Bombenangriff von 1943 schwer beschädigt ist, erzählt sie stumm so viel. Über den Zweiten Weltkrieg. Aber auch darüber, wie wir Menschen mit Verwundungen umgehen. Mit dem, was wir gesehen und erlebt haben. Was wir seither in uns tragen. Sie zeigt, wie wir nach einer heftigen Erschütterung weitermachen können.
Aber das ist nur eine Möglichkeit. Wir haben eine Wahl, wie wir unser Leben gestalten. Traumatische Erfahrungen können uns nachhaltig erschüttern, so wie dieses Mahnmal für immer beschädigt bleiben wird. Wir können aber auch die Vergangenheit hinter uns lassen. Denn nur so kann das Neue entstehen.
Im geschichtlichen Kontext finde ich den Anblick dieser »verwundeten« Kirche wichtig. Damit wir gezwungen sind hinzusehen, uns daran zu erinnern, wozu wir fähig sind. Was wir einander antun. Wir müssen auf diese Weise darauf gestoßen werden. Das ist richtig und wichtig. Aber für mein eigenes Leben darf ich mich entscheiden, anders damit umzugehen.
Ich bin in der Favela Linha do Tiro in Recife aufgewachsen, was übersetzt »Schusslinie« bedeutet. In extremer Armut, mitten in einem Straßenkinderprojekt, das meine Eltern 1983 gegründet haben. Dort habe ich viel Elend gesehen. Doch trotzdem wollte ich nie zulassen, dass Trauer und Schmerz mein Leben bestimmen.
Hunger, Gefahr und Gewalt waren in meiner Kindheit und Jugend allgegenwärtig. Ich hätte darüber verzweifeln oder depressiv werden können. Doch je bewusster mir wurde, wo ich zu Hause war, umso mehr wuchs in mir die Dankbarkeit, überhaupt auf der Erde sein zu dürfen. Ich begann, das Leben als Möglichkeit zu begreifen, die ich auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen wollte. Wer schon früh Menschen durch Gewalt verloren hat wie ich, der schiebt nichts auf, der redet nicht über die Dinge, die er verändern will, der nutzt seine Chance. Der macht einfach. Und wird jeden Tag darüber staunen, welche großartigen Sachen ihm passieren können.
Vor vielen Jahren war ich davon überzeugt, dass mich die Umstände, unter denen ich groß geworden bin, zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin. Ich hatte mich mit einer früheren Version meiner selbst identifiziert und konnte mich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass diese Version vielleicht gar nicht mehr existierte. Es war eine Zeit der Transformation, in der ich weder mein altes Ich vollständig hinter mir gelassen hatte, noch wusste, wohin mein neues Ich mich bringen würde. Damit möchte ich nicht sagen, dass die Erfahrungen, die ich gemacht habe, keine Rolle spielen und mich nicht geprägt hätten. Ganz im Gegenteil. Zunächst musste ich jedoch meine Vergangenheit vollständig akzeptieren, um bereit zu sein für mein wahres Selbst.
Ich hatte viel Pech, aber genauso viel Glück im Leben. Der Entschluss, meine Lebensgeschichte aufzuschreiben, kam mir in einer Zeit der Verzweiflung. Ich hatte das Gefühl, dass meine Fähigkeiten keinen Wert in unserer Gesellschaft hätten. Fühlte mich verloren und unverstanden. Mit den Werten meiner Generation konnte ich mich nicht identifizieren. Es fiel mir schwer, mich darin wiederzufinden, sie zu verstehen und vielleicht sogar wertzuschätzen. Damals hörte ich von jemandem, den ich sehr liebe: »Domitila, du sollst dich nicht ändern oder danach streben, was erfolgreich zu sein scheint. Nicht alle haben so eine Geschichte, so einen Glauben und Lebensweg wie du. Nur sehr wenige Menschen haben dieses Privileg, die Welt verändern zu können.«
Die Welt verändern? Das klang so groß, fast vermessen. Aber wenn ich ehrlich bin, dann war es genau das, wovon ich träumte. Meine Definition von Erfolg mag eine andere gewesen sein als die vieler Menschen, aber mein Ziel war es, Dinge zu bewegen, etwas zu hinterlassen, das bleibt. Und wenn ich tief in mich hineinhorche, dann wollte ich das schon immer.
»Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr, der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten«, lautet ein Satz, der dem Dalai Lama zugeschrieben wird. Deshalb nahm ich all meinen Mut zusammen, um zur Erzählerin zu werden.
Meine eigene Geschichte erzählen zu dürfen erfüllt mich mit Dankbarkeit. Dafür, anderen etwas mitgeben zu können, das vielleicht einen positiven Einfluss auf ihr Leben haben wird. Sie zu motivieren, mutig zu sein und ihren Weg nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Denn mein Lebensweg mag vielleicht außergewöhnlich sein, aber im Grunde ist jedes Leben besonders. Alle tragen ihr Päckchen – egal, aus welchem Umfeld sie kommen. Es mag viel Ungleichheit auf der Welt geben, aber an dieser Stelle gibt es zwischen Arm und Reich keine Unterschiede. Niemand denkt an die Vergangenheit und sieht nur Momente der Freude. Auch mit einem Trauma kann man lernen, dem Leben positiv zu begegnen und Widerstände zu überwinden.
Wir sind alle gleich, aber manche sind gleicher als die anderen. Viele haben von Geburt an Privilegien, die ich nicht hatte. Trotzdem hatte ich immer dieses Bild von mir: Ich wollte weit kommen. Obwohl wir nichts hatten, sah ich mich auf einer großen Bühne. Das kommt vielleicht nicht zuletzt von meinen Eltern, die mir beigebracht haben, dass Träume nie zu groß sein können.
Ich empfinde inzwischen keine Schuldgefühle mehr, weil ich ein Leben führe, das für viele, die unter ähnlichen Bedingungen geboren wurden wie ich, unerreichbar scheint. Denn niemand hat mir etwas geschenkt. Durch Bildung und harte Arbeit habe ich selbst mein Leben verändert. Aber ich schulde es mir selbst, etwas Sinnvolles mit meiner Zeit anzufangen. Und da ich heute beides kenne, die Armut und den Wohlstand, kann ich die Dinge globaler betrachten. Sehen, wie alles zusammenhängt. Darum sind Nachhaltigkeit, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit die Themen, für die ich leidenschaftlich kämpfe. Als Aktivistin, Social Entrepreneurin, Greenfluencerin und Referentin genauso wie als Model, Schauspielerin und Miss Germany 2022. Den scheinbaren Widerspruch zwischen diesen großen Themen und der nach außen gerichteten Welt des Entertainments, den gibt es für mich nicht. Gerade jene, die sich sonst nicht mit Missständen befassen, sollen meine Stimme hören.
Ich bin mit den Konsequenzen nicht-nachhaltigen Verhaltens und sozialer Ungerechtigkeit aufgewachsen. Darum möchte ich andere dazu motivieren, sich mit dem Thema in einer Weise zu befassen, die auch tatsächlich nachhaltig ist. Was für mich bedeutet, bei den Menschen anzusetzen und für eine gerechtere Gesellschaft einzustehen – um sie überhaupt erst in die Lage zu versetzen, eine bessere Welt aktiv mitzugestalten. Was ich damit meine: Dass jetzt um uns herum viele vegan leben – wunderbar! Aber in der Wirklichkeit, aus der ich komme, können sich die Leute diesen Luxus gar nicht leisten. Sie denken nicht darüber nach, was sie essen möchten, sie versuchen nur, irgendwie satt zu werden. Oft mit dem, was andere weggeworfen haben. Das große Ziel sollte daher sein, faire Produkte für alle Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Solange es keine soziale Gerechtigkeit gibt, solange die Schere weiter auseinanderklafft, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, solange ein Großteil der Menschen nur damit beschäftigt ist zu überleben, werden wir das Klima nicht retten.
Wir Privilegierten, die gut informiert sind, müssen die anderen abholen, die nicht alle über die Ressourcen verfügen, um sich intensiv damit zu beschäftigen – oder schlicht keinen Zugang zu den Informationen haben. Keiner will, dass man ihm ein schlechtes Gewissen einredet. Insbesondere die junge Generation muss durch Spaß und durch das Schöne motiviert werden. Denn nur wenn wir gemeinsam anpacken und das Know-how von vielen Menschen zusammenbringen, wenn wir allen Sichtbarkeit geben, nicht nur denen aus Wissenschaft und Politik, können wir ein weltumfassendes Thema wie den Klimawandel gemeinsam bewältigen. Doch dafür müssen wir endlich anfangen, uns Menschen als Teil der Umwelt zu begreifen. Und genau das ist für mich der Punkt, an dem Veränderung beginnen muss.
Linha do Tiro, Recife, ein Sommer im Jahr 1997. Unsere Welt scheint an diesem Freitagnachmittag heil und friedlich. Die Hitze steht in den engen Gassen, Rhythmen verschiedener Musikstile schallen aus den geöffneten Fenstern, als wollten sie sich gegenseitig in der Lautstärke überbieten. Rock, Hip-Hop, Samba-Sounds mit Handtrommeln und Perkussionsinstrumenten, die Polka-ähnlichen Rhythmen des Forró. Das Wochenende beginnt. Lebensfreude liegt in der Luft.
Und unser mobiler Beauty-Salon hat geöffnet. Er besteht aus einer Art Werkzeugkasten aus Plastik, mit kleinen Fächern, in denen ein paar Fläschchen mit bunten Farben herumkullern, Nagellackentferner, Watte, Feilen. Ich presse die Lippen fest aufeinander, um nicht danebenzumalen. Konzentriert streiche ich mit dem Pinsel türkisfarbenen Lack auf die Fingernägel eines Mädchens aus der Nachbarschaft, lege den Kopf schräg und betrachte mein Werk immer wieder mit etwas Abstand. Meine beste Freundin und ich sitzen barfuß auf einem windschiefen Mauervorsprung, zwei Teenager aus dem Viertel uns gegenüber auf Plastikhockern, die irgendwann mal farbig waren. Ihre Hände liegen mit gespreizten Fingern auf den verwaschenen Handtüchern, die wir über unsere Knie gebreitet haben, so wie wir es uns von den Profis abgeschaut hatten.
Wir sind zwölf Jahre alt. Und stellen uns vor, wir hätten später mal einen echten Schönheitssalon. Dann könnten wir uns Zuckerwatte leisten. Eis. Vielleicht eines Tages sogar ein paar coole Sneaker.
Schon meine Mutter Roberta hat als kleines Mädchen die Fingernägel ihrer Lehrerinnen gemacht, um ihre Eltern dabei zu unterstützen, das Schulgeld zusammenzubekommen. Wir verdienen bisher nichts damit, machen uns nur gegenseitig die Nägel, um uns aufs Wochenende vorzubereiten.
In Brasilien hat Körperpflege einen enormen Stellenwert. Auch wenn wir nicht wissen, was wir abends essen sollen, sind die Fingernägel gemacht, die Körperhaare entfernt. Viele Bewohner der Favela richten sich in ihrem Wohnzimmer eine improvisierte Waxing-Station ein oder stellen einfach einen Stuhl auf die Straße und legen los. Ganz ohne Anmeldung oder Bürokratie, man kommt einfach vorbei. So fängt für viele von uns an, was man in Europa »Unternehmertum« nennt. Gerade weil wir in einem Armenviertel leben, lieben wir es, uns hübsch zu machen. Dort, wo der beißend-süßliche Gestank von verbranntem Plastik durch das Labyrinth aus dicht aneinandergebauten Hütten und Häusern zieht. Wenn der Müll angezündet wird, den keiner abholt, ist der Wunsch umso stärker, sich in seiner Haut wohlzufühlen. »Fang mit dem an, was du hast.« Mit diesem Grundsatz bin ich aufgewachsen. Wir haben nicht viel, aber die Möglichkeit, uns zu pflegen, die schon. Auch wenn wir kein fließendes Wasser haben und keine Sanitäranlagen, sind wir kreativ. Wir besitzen keine teuren Beauty-Produkte, darum kreieren wir sie uns selbst aus den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen: eine Haarkur aus Aloe vera und Öl, eine Paste aus Zucker fürs Waxing, ein Peeling aus dem Kaffeesatz vom Vortag. »Ich bin arm, aber das muss nicht bedeuten, dass ich dreckig bin«, so sagt man dort, wo meine Wurzeln sind. Sich für den Tag vorzubereiten ist sogar wie eine Zeremonie: Jeden Morgen die kalte Dusche aus dem großen blauen Wasserspeicher auf dem Dach unseres Hauses, wo der Regen gesammelt wird – um Wäsche damit zu waschen oder uns selbst.
Uns schön zu machen gibt uns Selbstbewusstsein. Auch um dem Rassismus, dem Mobbing, der Unfreundlichkeit etwas entgegenzusetzen, dem, was uns auf dem »Asphalt« entgegenschlägt, wie wir die wohlhabendere Gegend nennen, in die wir täglich zum Arbeiten gehen. Es fällt uns leichter, mit diesem Minimum an Selbstwertgefühl. Niemand muss uns unsere Herkunft ansehen, denn wir definieren uns nicht darüber, was wir nicht haben. Die Armut diktiert uns nicht, wer wir sind, wer wir sein sollen. Es ist wie eine kleine Rebellion mit dem Lippenstift. Wir wehren uns dagegen, uns durch äußere Umstände die Lebensfreude nehmen zu lassen.
Denn viele Leute denken: Wenn du aus einer Favela kommst, musst du allem entsagen, was Spaß macht. Musst du ohne all das leben, was man vielleicht als Luxus bezeichnen würde. Darfst du dir nie etwas Schönes gönnen. Doch wer täglich ums Überleben kämpft, wer in dem Gefühl ständiger Bedrohung lebt, der feiert das Leben umso mehr. Wer Gewalt erfährt, wer erlebt, wie Menschen jung sterben, der ist dankbar für jeden neuen Tag. Und für jede gute Party.
Ich habe es geliebt und tue es bis heute, wenn alle zusammenkommen: Die Musik wird dann übertrieben laut aufgedreht, ein ganzes Schwein gegrillt und mit allen geteilt. Jeder bringt mit, was er hat. Und wenn er nichts hat, dann ist er trotzdem willkommen. Es gibt Bohnen, Reis und Obstsalat. Und es wird viel getrunken, Bier und Cachaça, der Zuckerrohrschnaps, der als brasilianisches Nationalgetränk gilt und die Hauptzutat für Caipirinha ist. Kleine Kinder laufen zwischen den Älteren umher, die Tanzfläche ist immer voll. Babys sind dabei, alte Leute und alles dazwischen. Es gibt immer einen Anlass, ausgelassen zu sein. Und wenn es keinen gibt, dann erfinden wir einen. Feiern ist notwendig, um zu überleben.
Wer am Wochenende in eine Favela geht, wird viele wunderschöne Frauen sehen, die sich von anderen zurechtmachen lassen, um abends feiern zu gehen. Und weil an den freien Tagen besonders viel los ist, wittern meine Freundin und ich unsere Chance, um an unseren Fähigkeiten zu feilen: Samstags und sonntags sind die Profis, die normalerweise den Frauen die Fingernägel gegen Geld machen, oft ausgebucht. Also setzen wir uns freitagnachmittags, wenn die anderen noch arbeiten müssen und wir schon Schulschluss haben, auf die Straße und bieten den Mädels aus der Nachbarschaft unsere Dienste an. Wie auch an diesem Tag.
Wie aus dem Nichts sind sie plötzlich da, nutzen das Überraschungsmoment. Weiter oben am Hang, dort auf der einzigen asphaltierten Straße sind mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei zum Stehen gekommen. Das, was sich gerade noch wie ein friedlicher Abend anfühlte, ist nun zu Ende.
Die Polizeiautos erinnern uns an das, was wir jeden Tag zu vergessen versuchen: dass wir in Wahrheit im Krieg leben. Ja, das tun wir wirklich. Die rivalisierenden Seiten sind die Marginalisierten und die Polizei. Dabei geht es um die Beherrschung von Territorien. Spezialeinheiten gehen in die Favelas, um ein Problem zu lösen, entweder einen Drogenhändler zu stellen oder einen »Boca de Fumo« zu stürmen – so werden Orte genannt, an denen illegale Drogen verkauft werden. Sie »bekämpfen die Dealer«, so heißt es. Meistens müssen sie dazu schießen. Und manchmal ist dann »zufällig« jemand im Weg. Und dieser Jemand stirbt. »Ein Kollateralschaden.« So das offizielle Narrativ. Es sieht wie ein Bürgerkrieg aus, weil Polizei wie Drogenhändler schwer bewaffnet sind. Wenn sie aufeinandertreffen, endet es oft mit Toten und Verletzten. Aber was ich mich schon als kleines Mädchen gefragt habe: Wie kann es sein, dass jemand, der in einer Favela lebt, in der es nicht mal fließendes Wasser oder eine Müllabfuhr gibt, sich Waffen leisten kann? Die Menschen, die das Geld haben, in den Drogenhandel zu investieren, die sind nicht sichtbar, deren Leichen liegen nicht am Straßenrand wie die so vieler junger Menschen aus der Favela.
In meinen Augen hat diese Geschichte noch immer mit der Kolonialzeit zu tun. Es ist eine Geschichte der Korruption durch den Staat. Und es ist ein Machtspiel, das in unserer Gesellschaft stattfindet. Wer die Macht hat, der hat auch das Recht, es so zu machen, wie er will. Der darf Menschen auf der Straße hinrichten. Ohne einen Prozess fürchten zu müssen, einfach so. Und die anderen sollen gefälligst selbst aufpassen, dass sie nicht versehentlich im Weg stehen. Ein sehr eigenwilliges Verständnis von einem Rechtsstaat. Jeder, der in einem Armenviertel in und um Brasiliens Metropolen lebt, weiß, wie es funktioniert, und lernt schon als kleines Kind eine wichtige Lektion: »Wenn die Polizei da ist, dann rennst du oder gehst in Deckung.«
Über diese Realität der Gewalt, in der ich aufgewachsen bin, wird nicht viel berichtet in der Welt. Doch der Regisseur José Padilha erzählt in seinem 2007 erschienenen Film Tropa de Elite davon. Polizeihauptmann Capitão Nascimento kämpft sich darin mit der Spezialeinheit für Bandenbekämpfung, Batalhão de Operações Policiais Especiais (BOPE), durch die Elendsviertel Rios, die von der Polizei aufgegeben worden sind und nur noch zum Einsammeln von Bestechungsgeldern betreten werden. Diese Militärpolizisten – nach realem Vorbild – tragen einen Totenkopf vor gekreuzten Pistolen auf ihren schwarzen Uniformen. Wenn sie in die Favelas fahren, dann in einem Panzerfahrzeug mit Schießscharten, aus denen sie das Feuer eröffnen. Der Film stellt dar, wie jeder dieser Polizisten mit seinem Antritt eine Entscheidung treffen muss: für Korruption oder Krieg. Die echte BOPE versuchte damals, den Kinostart zu verhindern, denn so wollte wohl niemand offiziell dargestellt werden. Dennoch haben über fünfzehn Millionen Brasilianer den Film gesehen. Die eine Seite feierte die Hauptfigur als unkorrumpierbaren Helden, die andere sah in ihm einen faschistischen Folterknecht. Und auch wenn er das Publikum spaltet, so macht der Film jedenfalls sichtbar, wie ein Land Krieg gegen sich selbst führt.
Auch an dem Ort, an dem ich groß geworden bin, sind Angst und Gewalt alltäglich. Linha do Tiro, »Schusslinie«, heißt unsere Favela, in der schätzungsweise 25.000 Menschen leben. Sie liegt in Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco im Nordosten Brasiliens. Eine Hafenstadt am Atlantischen Ozean mit über 1,6 Millionen Einwohnern. Der Name, eine Anspielung auf die Felsenriffe, die die Strände der Stadt schützen. Im südlichen Stadtteil Boa Viagem reihen sich moderne Hochhäuser an der Atlantikküste aneinander, deren verspiegelte Fassaden die Sonne reflektieren. »Copacabana des Nordostens« oder »Miami von Brasilien« nennen manche diesen Ort mit seinen teuren Hotels, schicken Restaurants, Bars und Klubs. Der Kaufpreis pro Quadratmeter ist einer der höchsten in ganz Brasilien. Viele hier wissen nichts von der Realität, in der die Menschen in ihrer Nachbarschaft leben – oder besser: Sie wollen nichts darüber wissen.
In Linha do Tiro dagegen gibt es keine Polizeistation, kein Krankenhaus, keinen Kindergarten. Viele Menschen haben keine Adresse, keine Geburtsurkunde und keinen Ausweis. Für den Staat existieren sie nicht – wenn sie sterben, kann niemand belegen, dass sie überhaupt gelebt haben. Es gibt kaum Bildungschancen, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Armut groß. Es sind überwiegend gewöhnliche Leute, die hier leben, die als Busfahrer arbeiten oder bei reichen Leuten putzen. Doch die Perspektivlosigkeit zwingt auch leider viele in die Illegalität. Drogenhandel ist ein großes Thema. Viele Teenager und junge Erwachsene sind darin verwickelt, schon kleine Kinder werden als Kuriere rekrutiert, besonders jene, die auf der Straße leben. Drogenverkäufe in aller Öffentlichkeit gehören zum Alltag. Die Favelas sind das Zentrum eines blühenden Drogenverkehrs, aber weder Quelle noch Mündung. Er wird dort finanziert, wo die Reichen leben – und fließt auch zum großen Teil in die wohlhabenden Stadtviertel zurück.
In kaum einem anderen Land klafft die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander wie in Brasilien. Es ist kein armes Land, aber ein extrem ungerechtes. In meiner Heimat im Nordosten ist die ungleiche Verteilung besonders extrem: In Recife beanspruchen 20 Prozent der Reichsten 85 Prozent des Volkseinkommens, während 40 Prozent der Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns zurechtkommen müssen. Die aktuelle Statistik zeigt, dass ein Prozent der Menschen mehr als ein Viertel aller nationalen Einkünfte erwirtschaftet und über knapp 49 Prozent des brasilianischen Vermögens verfügt.1 Im Jahr 2021 lebten nach den von der Weltbank vorgeschlagenen Armutsgrenzen 62,5 Millionen Menschen in Brasilien, also fast ein Drittel der Bevölkerung, in Armut, darunter knapp 18 Millionen in extremer Armut.2 Noch immer verdienen People of Color halb so viel wie Menschen heller Hautfarbe.3
Es gibt schätzungsweise 700 bis 900 Favelas in Brasilien, in denen 17,9 Millionen Menschen leben.4 Die ersten dieser Armenviertel entstanden vor über hundert Jahren. Sie waren Wohnort der früheren Sklaven, die kein Eigentum besaßen und keine Aussicht auf Arbeit hatten. Es gibt verschiedene Erklärungen, warum sich viele von ihnen auf Hügeln angesiedelt haben, aber von meinen Vorfahren habe ich mitbekommen, dass die Menschen nicht wirklich an ihre Befreiung geglaubt haben. Aus Angst, dass sie wieder zu Leibeigenen gemacht werden, wählten sie einen Platz, von dem aus sie gut in die Ferne sehen konnten – um im Zweifel rechtzeitig vor den Kolonialherren und ihren Gefolgsleuten fliehen zu können. Aus allem, was sie fanden, bauten sie provisorische Unterkünfte. Solche Elendsgürtel umzingeln überall in Lateinamerika die Großstädte. Sie dehnten sich besonders während der Achtzigerjahre durch gigantische Zuwanderungswellen der Landbevölkerung aus.
In der Vergangenheit gab es viele Versuche, diese selbst gebauten Vorstädte, in denen die Armen wohnen, wo sich aber mancherorts auch allmählich eine Mittelschicht etabliert, zu zerstören. Doch ohne Erfolg – die ohne staatliche Erlaubnis errichteten Viertel haben sich im letzten Jahrhundert unaufhaltsam vervielfacht. Lange wollte man ihre Existenz lieber verleugnen, weshalb sie gar nicht erst auf den Stadtplänen eingezeichnet wurden. Besonders im Zuge der Fußball-WM 2014 sollte unbedingt der Eindruck eines sicheren Landes vermittelt werden. Armee und Militärpolizei marschierten in die Elendssiedlungen Rios ein, um diese zu »befrieden« – mit Panzern und Helikoptern. Der Großteil der versprochenen Sozialprogramme kam hingegen nie dort an.
Favelas befinden sich häufig dort, wo sonst keiner leben will, an schwer zugänglichen Plätzen, direkt an der Autobahn oder dort, wo es keinen sicheren Baugrund gibt. Auch in Linha do Tiro sind viele der improvisierten Häuser und Hütten an steilen Hängen gebaut. Doch in der Regenzeit, wenn es zu enormen Niederschlägen kommt und das Wasser in Sturzbächen zwischen den Häusern hindurchfließt, beginnt der sandige Untergrund zu rutschen. Jedes Jahr sterben Familien, wenn ihr Haus in den Abgrund gerissen wird und sie unter den Trümmern begraben werden. Wer von dem höchsten Punkt auf unser Viertel blickt, sieht Häuser, die nur noch ein paar Handbreit vom Abhang trennen. Mit gigantischen grauen Plastikplanen versuchen die Bewohner verzweifelt, die Erde zu bedecken, um die Feuchtigkeit fernzuhalten. An einem anderen Platz ein neues Haus zu bauen – wer könnte sich das hier leisten?
Oft sind diese Behausungen über Jahre und Jahrzehnte entstanden. Die Eltern bauen das Erdgeschoss aus all dem, was sie finden können: Brettern, Betonsteinen, Wellblech, Ziegeln. Nach und nach wird es verstärkt. Irgendwann baut die nächste Generation ein Stockwerk obendrauf. Manche der Bewohner sind beruflich in den reichen Vierteln auf Baustellen tätig, sie kennen sich daher aus und setzen ihr Wissen hier um, mit allem, was ihnen zur Verfügung steht. Doch der Gewalt der Natur halten die einfachen Hütten und Häuser nicht immer stand. Vor allem an den Stellen, an denen die Ärmsten der Armen leben. Auch in den Favelas ist das soziale Gefälle sichtbar: je abgelegener, desto dunkler die Gassen, desto feuchter die Wände, desto grauer die Fassaden. Dort, wo die etwas besser Gestellten leben, zeigen sie ein helleres Gesicht. Die Wände sind bunter, in ausrangierten Autoreifen wachsen Farne und Blumen, in kleinen Gärten werden Obst und Kräuter angebaut.
Doch Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung gibt es auch hier nirgendwo, es geht einzig darum, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Steile Treppen verbinden das Gewirr von kleinen Gassen, in dem sich nur zurechtfindet, wer hier groß geworden ist. Touristen kommen niemals her, es wäre zu gefährlich. Hier herumzulaufen wäre nur möglich, wenn man in Begleitung einer Person kommt, die Schutz gewährleistet. Leitungen und Abwasserrohre führen außen an den Hauswänden entlang, ein wirres Geflecht aus Kabeln für den Strom, der illegal angezapft wird, zieht sich über die Gassen. Bunte Wäsche flattert vor unverputzten Fassaden. In den Straßen liegen Schrott und Müll. Das Abwasser fließt in schmalen, stinkenden Rinnsalen an den Wegen entlang.
Zwischen fünf und fünfzehn Familienmitglieder wohnen in »Schusslinie« gemeinsam in einer Wohnung. Oft übernachten alle Bewohner in dem einzigen Zimmer, in dem es einen Ventilator gibt. Auch mein drei Jahre jüngerer Bruder Carlos und ich haben mit unseren Eltern in einem Zimmer geschlafen. Überall gibt es wenig Platz, aber viele Menschen. Gestört hat mich das nie, es war nichts, über das ich mir je Gedanken gemacht hätte. Es war die Normalität, das, was man kennt. Alle meine Freunde haben so gelebt, manche sogar noch viel beengter als wir.
Die Enge machte mir aber nichts aus. Im Gegenteil. Ich mochte die Nähe, die dadurch entstand, das Zusammensein, die Liebe, das Kuscheln. Weil wir uns den begrenzten Platz teilen mussten, waren die zwischenmenschlichen Beziehungen sehr intensiv, und ich genoss das.
Als ich mit Mitte zwanzig mit einem Mann zusammen war, der in Berlin geboren und aufgewachsen war, stritten wir immer wieder über dieselben Themen. Irgendwann sagte er mir zum Beispiel, dass er mich für verwöhnt hielt. Eigentlich unvorstellbar, dass jemand, der aus einer Favela stammt, als verwöhnt wahrgenommen werden kann, aber in mancherlei Hinsicht bin ich es wirklich. Ich wuchs als Teil einer großen Familie heran, ich kannte es nicht anders, als dass immer jemand für mich da war. Hatten Mama und Papa keine Zeit, dann kümmerten sich meine Großeltern um mich, meine Tanten oder die Freundinnen und Freunde meiner Eltern. Wenn ich nach Hause kam, hatte schon jemand gekocht: Ich setzte mich nur noch hin, und wir aßen. Ich musste mich nie selbst darum kümmern. Oder wenn es ein Problem gab, ganz egal, ob emotionaler oder praktischer Art, waren genügend Menschen da, um mich zu unterstützen. Mein damaliger Partner musste sich schon viel früher selbst organisieren, allein zur Schule gehen, selbst das Essen zubereiten, daran denken, die Hausaufgaben zu machen. Eine andere Art von Selbstständigkeit.
Was mein Leben aber extrem eingeschränkt hat, war das Gefühl, ständig in Gefahr zu leben. Ich träumte nicht von einer großen Wohnung mit Badewanne, sondern davon, mich sicher zu fühlen. Seit ich denken kann, war mir bewusst, wie gefährlich das Leben in der Favela ist. Man hörte Geschichten von Nachbarinnen, die vergewaltigt, von Vätern guter Freunde oder Freundinnen, die ermordet wurden. Von Drogentoten. Oder von tiroteios, von Schießereien – schon kleine Kinder konnten die unterschiedlichen Waffentypen benennen.
In der Dunkelheit durfte ich niemals allein unterwegs sein. Wenn ich zu einer Party ging, dann nur in Begleitung meines Bruders oder meiner Cousins. Als Frau musste ich auch darauf achten, dass ich nicht zu wenig anhatte, sonst hieß es, man macht die Männer an und würde ihnen das Recht dazu geben, dich in eine unangenehme Situation zu bringen.
Die Gefahr war permanent spürbar. Zweimal am Tag lief im TV eine regionale Nachrichtensendung, genau zu der Zeit, wenn ich aus der Schule kam. Dann wurde darüber berichtet, wer ermordet, wer vergewaltigt worden war, mehrmals am Tag. Weil es Teil des Alltags ist, schalten die Erwachsenen den Fernseher nicht aus oder wechseln das Programm, wenn Kinder anwesend sind. Die Gewalt ist so omnipräsent, dass niemand überhaupt nur versucht, die Augen davor zu verschließen.