REBUS - Ian Rankin - E-Book

REBUS E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Einen wie Rebus gibt es kein zweites Mal. Seit fast drei Jahrzehnten macht der ebenso geniale wie streitlustige Detective Inspector Edinburgh unsicher, nicht ohne dabei Freunden wie Vorgesetzen unendlich auf die Nerven zu gehen. Von seinen Feinden ganz zu schweigen. Die in diesem Band versammelten Geschichten beleuchten die Stationen seines Lebens, von seinem allerersten Fall bis hin zu seiner dramatischen (und zum Glück nur vorläufigen) Pensionierung. Einmal mehr beweist Ian Rankin hier, dass ein Krimiregal ohne den schottischen Kultkommissar theoretisch zwar möglich, aber sinnlos ist.

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Seitenzahl: 976

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Buch

»Auch Rebus setzt sich aus Wörtern zusammen – Millionen von Wörtern –, man sollte also meinen, dass ich inzwischen dahinter gekommen sein müsste, wie er tickt, aber er überrascht mich immer wieder, was durchaus zu seinem Mann passt, dessen Name ›Rätsel‹ bedeutet.« Ian Rankin

Einen wie Rebus gibt es kein zweites Mal. Seit fast drei Jahrzehnten macht der ebenso geniale wie streitlustige Detective Inspector Edinburgh unsicher, nicht ohne dabei Freunden wie Vorgesetzen unendlich auf die Nerven zu gehen. Von seinen Feinden ganz zu schweigen. Die in diesem Band versammelten Geschichten beleuchten die Stationen seines Lebens, von seinem allerersten Fall bis hin zu seiner dramatischen (und zum Glück nur vorläufigen) Pensionierung. Einmal mehr beweist Ian Rankin hier, dass ein Krimiregal ohne den schottischen Kultkommissar theoretisch zwar möglich, aber sinnlos ist.

Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Rebus

Alle Inspector-Rebus-Stories

Aus dem Englischenvon Giovanni und Ditte Bandiniund Conny Lösch

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Beat Goes On. The Complete Rebus Short Stories« bei Orion Books, London.

Einige der in diesem Band enthalten Stories waren bereits in den Bänden »Eindeutig Mord« und »Der Tod ist erst der Anfang« enthalten. Einzelnachweis am Ende des Buches.

Neuveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2014 by John Rebus Limited

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Hulton Archive / getty images

Th · Herstellung: mw

ISBN: 978-3-641-19669-1V003

www.goldmann-verlag.de

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Tot und begraben

»Kälter als ein Kuss von der Ex«, brummte Detective Inspector Stefan Gilmour, scharrte mit den Füßen und rieb sich die Hände.

»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte Rebus, die Hände seinerseits tief in den Manteltaschen vergraben. Es war drei Uhr an einem Winternachmittag, und im Gefängnishof waren bereits die Lichter angegangen. Manchmal tauchten Gesichter hinter den vergitterten Fenstern auf, begleitet von neugierigen Blicken und Gesten. Der Bagger kam nur langsam voran, Arbeiter standen mit Spitzhacken bereit.

»Ich vergesse immer wieder, dass du noch verheiratet bist«, erwiderte Gilmour. »Bestimmt nur der Tochter zuliebe, hm?«

Rebus schaute ihn finster an, aber Gilmour konzentrierte sich auf das nicht näher bezeichnete Grab. Sie befanden sich in einer kaum genutzten Ecke auf dem Gelände des HMP Saughton, nahe der hohen Außenmauern. Die Wärter, die sie an die Stelle geführt hatten, waren schleunigst wieder nach drinnen verschwunden. Statt eines Leichenwagens hatte der Bestattungsunternehmer einen mit zahlreichen Rostflecken übersäten, hellblauen Transporter bereitgestellt. Darin befand sich ein billiger, schlichter Sarg, da niemand davon ausging, dass von dem ursprünglichen noch viel übrig sein würde. Vor zwanzig Jahren war Joseph Blay keine fünfzig Meter von hier entfernt gehängt worden, einer der letzten in Schottland hingerichteten Straftäter. Rebus hatte bei einem seiner vorangegangenen Besuche des Gefängnisses auch das Exekutionsgebäude besichtigt. Es sei, wie man ihm versichert hatte, nach wie vor in voll funktionsfähigem Zustand, sollte die Todesstrafe wieder eingeführt werden.

Erneut schlug der Bagger in die Erde, und dieses Mal spritzten lange Holzsplitter herauf. Einer der Arbeiter bedeutete dem Baggerführer, den Greifarm abzudrehen, dann stieg er, begleitet von seinem – offensichtlich widerwilligen – jüngeren Kollegen, in die Grube. Während sie mit ihren Spitzhacken ans Werk gingen, kam immer mehr von dem Sarg zum Vorschein, an einigen Stellen war er durchaus noch intakt. Geruch gab es keinen, wobei Rebus davon ohnehin nichts gemerkt hätte. Das Erste, was er von Joseph Blay zu Gesicht bekam, war ein Haarbüschel mit einem Schädel unten dran. Inzwischen war der frische Sarg ausgeladen worden. Keiner hatte hier Zeit zu verlieren. Blay trug einen dunklen Anzug. Rebus hatte nicht gewusst, was ihn bei der Exhumierung erwarten würde: Würmer in Augenhöhlen vielleicht oder Verwesungsgestank. Den ganzen Vormittag über hatte er sich darauf gefasst gemacht, Frühstück und Mittagessen ausgelassen, um nichts im Magen zu haben, das hochkommen könnte. Und jetzt hatte er ein Skelett in einem billigen Anzug vor sich, das eher an eine Requisite erinnerte, mit der Medizinstudenten anderen Streiche spielten.

»Tag, Joe«, sagte Gilmour und deutete einen militärischen Gruß an.

Wenige Minuten später waren die Arbeiter so weit, die Leiche zu heben. Blays Hose und Anzugsjackett schienen unten am Boden zu haften, schließlich lösten sie sich aber doch. Seine Überreste wurden weder besonders ehrfürchtig noch respektlos behandelt. Der Verstorbene hier war ein Job, den es möglichst zügig zu erledigen galt, bevor einer der noch lebenden Beteiligten erfror.

»Was ist das?«, fragte Rebus und nickte Richtung Grube. Gilmour kniff die Augen zusammen, dann stieg er hinein, bückte sich, um eine Taschenuhr an einer Kette aufzuheben.

»War wahrscheinlich in seinem Jackett«, sagte er und streckte Rebus seine freie Hand hin, damit dieser ihm wieder hinaufhalf. Der Deckel war bereits auf den neuen Sarg gesetzt worden, und der Tote wurde in den Transporter verladen.

»Wo wird er hingebracht?«, fragte Rebus.

Gilmour zuckte mit den Schultern. »Nirgendwo, wo’s schlimmer wäre als hier«, behauptete er und erwiderte das finstere Starren eines älteren Sträflings an einem der Fenster im zweiten Stock.

»Dagegen kann man nichts sagen«, meinte Rebus. Wieder war der Motor des Baggers angesprungen. Die Grube musste zugeschüttet werden.

In einem Pub unweit des Bahnhofs Haymarket bestellte Gilmour zwei Irish Coffee. Es war löslicher Kaffee mit Kondensmilch, aber der extra große Schuss Grouse pro Becher würde seine Wirkung nicht verfehlen. Kaminfeuer gab es keins, aber die Heizungsrohre zischten unter den Sitzbänken, und so setzten sie sich nebeneinander und schlurften ihre Getränke. Rebus hatte eine Zigarette angezündet und spürte ein Kribbeln in seinem allmählich auftauenden Gesicht.

»Erklär mir das noch mal«, sagte er schließlich. »Was sollte das gerade eben?«

»So haben die das damals gemacht«, kam Gilmour der Aufforderung nach. »Hingerichtete wurden auf dem Gefängnisgelände begraben. Joseph Blay hatte einen Mann ermordet, der ihm Geld schuldete. Er ist zu ihm nach Hause und hat ihn erstochen, daraufhin wurde er schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.«

»Und das war 1963?«

Gilmour nickte. »Vor zwanzig Jahren. Charlie Cruikshank hat den Fall geleitet. Der ist auch schon tot – Herzinfarkt vor ein paar Jahren.«

»Davon hab ich gehört.«

»Er hat mir alles beigebracht, was ich weiß. Bei der Edinburgh Police war der Mann eine Legende.«

»Hat er der Hinrichtung beigewohnt?«

Gilmour nickte erneut. »Immer. Wenn du ihn darüber hast sprechen hören, hast du gemerkt, dass er’s für einen großen Fehler hielt, solche Typen aus der Welt zu schaffen. Er hat nicht an die abschreckende Wirkung geglaubt. Und ich bin auch wirklich noch nicht vielen Mördern begegnet, die sich vorher Gedanken über die Konsequenzen gemacht hätten.«

»Und als was hat er’s betrachtet? Als eine Art Rache?«

»Na ja, immerhin konnten sie auf die Art keinen Ärger mehr machen, oder? Und wir haben die Kosten für die Unterbringung im Knast gespart.«

»Kann schon sein.«

Gilmour trank seinen Becher aus und erklärte Rebus, die nächste Runde ginge auf ihn.

»Noch mal dasselbe?«

»Ja, aber ohne den Kaffee und die Milch«, erwiderte Gilmour augenzwinkernd.

Als Rebus mit den Whiskys vom Tresen zurückkehrte, sah er, dass Gilmour mit der gefundenen Taschenuhr spielte, sie zu öffnen versuchte.

»Ich dachte, du hast sie abgegeben«, sagte Rebus.

»Meinst du, er wird sie vermissen?«

»Trotzdem …«

»Zum Kuckuck, John, die ist nicht mal was wert. Das Gehäuse scheint aus Zinn zu sein. Hier, schau’s dir an.« Er gab Rebus die Uhr und ging zum Barmann, um nach einem Messer zu fragen. Die Uhr war sehr leicht und, soweit er sehen konnte, relativ unverschrammt. Ohne Erfolg machte er sich mit dem Daumennagel daran zu schaffen. In der Zwischenzeit hatte der Barmann einen kleinen Schraubenzieher aufgetrieben. Gilmour nahm die Uhr wieder an sich und bekam sie schließlich auch auf. Das Glas war milchig, das Ziffernblatt verfärbt und durch die eingedrungene Feuchtigkeit beschädigt. Die Zeiger waren auf Viertel nach sechs stehen geblieben.

»Nichts eingraviert«, sagte Gilmour.

»Sie muss mindestens emotionalen Wert besessen haben«, behauptete Rebus. »Sonst hätte er sich nicht damit begraben lassen. Vielleicht hat sie seinem Dad gehört oder sogar seinem Großvater.«

Gilmour fuhr mit dem Daumen über das Glas, drehte die Uhr in seiner Hand. Dann machte er sich erneut mit dem Schraubenzieher daran zu schaffen, bis er das Uhrwerk aus dem Gehäuse befreit hatte. Ein zweieinhalb Zentimeter langes Rechteck aus festem Papier steckte dort. Bei dem Versuch, es zu lösen, riss es auseinander, blieb auf der einen Seite am Uhrwerk und auf der anderen am Gehäuse hängen. Wenn jemals etwas darauf gestanden hatte, dann waren die Buchstaben längst verblasst.

»Was hältst du davon?«, fragte Gilmour.

»Hab ich was übersehen, Stefan?«, stellte Rebus die Gegenfrage.

»Du bist Detective, John.« Gilmour legte die Uhr auf den Tisch. »Sag du es mir.«

Den gesamten Rest der Woche lag die Uhr auf Gilmours Schreibtisch in Summerhall. Das alte Gebäude kam einem vor, als würde es den Frühling möglicherweise nicht mehr erleben. Zwei der Fenster in den Büroräumen des CID ließen sich nicht mehr richtig schließen, und jemand hatte Zeitungspapier in die Ritzen gestopft. Zwei Wochen zuvor war ein nicht isoliertes Wasserrohr auf dem Dach geplatzt und die Decke in einem Lagerraum daraufhin teilweise eingestürzt. Rebus war erst seit anderthalb Monaten dort stationiert, aber die in dem Gebäude herrschende Atmosphäre war ihm bereits in die Knochen gefahren. Er hatte das Gefühl, dass ihm seine neuen Kollegen immer noch auf den Zahn fühlen wollten und die Taschenuhr irgendwie dazugehörte. DS Dod Blantyre hatte angeboten, sie einem ihm bekannten Uhrmacher zu zeigen, aber Gilmour hatte den Kopf geschüttelt. Vor Kurzem war im Scotsman ein Foto erschienen, das die Bauarbeiten im HMP Saughton dokumentierte. Neue Werkstätten wurden errichtet – der Grund für die Exhumierung von Joseph Blay. Rebus war immer noch nicht klar, weshalb Gilmour ihn mitgenommen hatte – oder warum Gilmour überhaupt selbst glaubte, anwesend sein zu müssen. Er war erst seit 1965 bei der Polizei, hatte zwei Jahre nach Blays Hinrichtung angefangen. Als Rebus mit Dod Blantyre alleine im Büro war, fragte er diesen, ob er Charlie Cruikshank gekannt habe.

»Oh ja«, antwortete Blantyre schmunzelnd. »Das war vielleicht eine Nummer, dieser Charlie.«

»Er scheint Stefan unter seine Fittiche genommen zu haben.«

Blantyre nickte. »Die waren dicke miteinander«, pflichtete er ihm bei. »Andererseits war Charlie aber auch niemand, den man auf dem falschen Fuß erwischen wollte.«

»Hat er in Summerhall gearbeitet?«

Blantyre schüttelte den Kopf. »Leith – dort war Stefan zuerst stationiert. Die beiden sind zu den Spielen der Hearts gegangen. Und jetzt kommt der Clou: Stefan war vorher immer Hibs-Fan gewesen. Was er Charlie gegenüber aber niemals zugegeben hat. Jedes Mal wenn die Hearts ein Tor schossen, musste er die Zähne zusammenbeißen und jubeln.«

»Hätte es Streit gegeben, wenn Cruikshank das mitbekommen hätte?«

»Willst du Stefans Biografie schreiben, John? Wozu die ganzen Fragen?«

»Bin bloß neugierig.«

»Ich halte das ja für einen gefährlichen Charakterzug für einen beim CID. Vielleicht solltest du versuchen, das abzustellen.« In Blantyres Stimme klang eine gewisse Schärfe an. Den restlichen Nachmittag konnte Rebus seine Blicke auf sich spüren, und die Stimmung wurde erst um Viertel nach fünf wieder besser, als Stefan Gilmour behauptete, er könne die nächste Kneipe rufen hören. Als sie zusammen in der Gruppe Summerhall verließen, merkte Rebus allerdings, dass er seinen Totoschein im Büro vergessen hatte.

»Ich komme gleich nach«, sagte er.

Der Schein lag in seiner Schreibtischschublade, fertig ausgefüllt und bereit, im Pub abgegeben zu werden. Häufig schon hatte er sich gefragt, was er mit einem richtig großen Gewinn anfangen würde. Sich irgendwo in wärmeren Gefilden zur Ruhe setzen? Er bezweifelte, dass seine Frau ihren Job aufgeben wollte. Und er eigentlich genauso wenig. Kurz blieb er an Gilmours Schreibtisch stehen, nahm die Uhr und drehte sie in der Hand, die Kette baumelte herunter. Jetzt ließ sie sich leichter öffnen, das Uhrwerk glitt ihm in die Hand. Aber verraten wollte sie ihm immer noch nichts.

»Dreiundsechzig?«, fragte der Mitarbeiter. »Das gehört noch zur jüngeren Geschichte.«

Der Mann war kahl und wirkte ausgezehrt, seine Hornbrille war fettig verschmiert. Das Archiv in Granton war sein Reich, und offensichtlich kannte er hier jeden Zentimeter.

»Wie weit reichen die Aufzeichnungen zurück?«, erkundigte Rebus sich.

»Ich habe welche aus den vierziger Jahren – allerdings nicht vollständig.«

»Sie klingen enttäuscht.«

Der Mann betrachtete ihn, dann zeigte er auf einen Schreibtisch. »Sie können hier warten, ich hole, was Sie brauchen.«

»Danke.« Rebus setzte sich, und als er einen Aschenbecher entdeckte, zündete er sich eine Zigarette an. Es war neun Uhr morgens, und er hatte im Büro durchgegeben, dass er einen Zahnarzttermin habe. Als er sich mit der Zunge durch den Mund fuhr, wurde ihm bewusst, dass er wirklich mal einen vereinbaren sollte, zumal er den letzten abgesagt hatte. Fünf Minuten später kehrte der Mitarbeiter zurück. Er legte Rebus eine Mappe vor die Nase, dann zog er ein Notizbuch aus der Tasche.

»Das müssen Sie mir quittieren«, erklärte er. »Und den Dienstausweis brauche ich, bitte.«

Rebus übergab ihn und sah zu, wie der Mann die Angaben übertrug.

»Machen Sie das immer so?«, fragte Rebus.

»Buchführung ist wichtig.«

»Hat in letzter Zeit noch jemand dieselben Unterlagen verlangt?«

Der Mitarbeiter lächelte müde. »Hab mich gefragt, ob Sie wohl draufkommen.«

»Ich vermute, es war ein DI namens Gilmour.«

Der Angestellte nickte. »Gerade mal drei Wochen ist das her. Plötzlich ist der Gehängte ein gefragter Mann …«

Als Rebus wieder nach Summerhall kam, war Frazer Spence der Einzige im Büro.

»Muss eine ziemliche Tortur gewesen sein«, sagte er.

»Was meinst du?«

Spence klopfte sich mit einem Finger auf die Wange. »Beim Zahnarzt. Normalerweise bin ich nach einer halben Stunde wieder draußen.«

»Du putzt dir ja auch die Zähne.«

»Zweimal täglich«, bestätigte Spence.

»Wie geht’s eigentlich deinem Motorrad?« Spence hatte am vorangegangenen Wochenende einen Unfall gehabt.

»Die in der Werkstatt sagen, es wird ungefähr eine Woche dauern.«

»Du musst vorsichtiger fahren mit dem Ding.«

Spence zuckte mit den Schultern. »Bin auf einer Ölspur ausgerutscht. Hätte jedem passieren können.«

»Mit achtzig Stundenkilometern auf dem Hintern über die Straße – vielleicht hast du was daraus gelernt?«

»Die Lederklamotten haben das meiste abgefangen.«

»Trotzdem.« Rebus hielt inne und sah sich im Büro um. »Wo sind die anderen?«

»Treffen sich mit einem von Stefans Informanten. Möglicherweise hat er was über den Überfall bei dem Juwelier in der George Street.«

»Wäre schön, wenn wir da weiterkämen.«

»Auf jeden Fall.«

Rebus stand neben Gilmours Schreibtisch. Die Uhr war nicht mehr da, also zog er die Schublade auf. Sie lag oben auf einem Stapel mit Wettscheinen. Rebus nahm sie heraus und steckte sie in die Tasche. »Ich hau wieder ab«, erklärte er Spence.

»Was soll ich Stefan sagen, wenn er wiederkommt?«

»Sag ihm, er ist nicht der einzige Polizist in der Stadt, der sich seine Informanten geschmeidig hält.«

»Und in welchem Pub findet er dich, wenn er dich braucht?«

Rebus hielt sich einen Finger an die Lippen und zwinkerte Spence zu.

»Was geht dir durch den Kopf, John?«

Es war Abend. Eine Parkbank in der Nähe von Bruntsfield Links. Rebus hatte zwanzig Minuten auf Stefan Gilmour gewartet. Gilmour setzte sich, die Hände in den Manteltaschen, die Beine breit. Rebus hatte gerade eine Zigarette ausgetreten und widerstand jetzt dem Bedürfnis, sich sofort eine weitere anzuzünden.

»Ich bin noch nicht so lange in Summerhall wie ihr«, setzte Rebus an.

»Aber du bist einer von den Saints.«

»Trotzdem frage ich mich, ob meine Probezeit noch nicht abgelaufen ist.«

Rebus hielt Gilmour die Uhr hin.

»Ich wusste, dass du sie eingesteckt hast«, sagte sein Vorgesetzter lächelnd. »Also was hast du damit gemacht?«

»Sie ins kriminaltechnische Labor gebracht. Die haben eine Art Kamera, die mit einem Computer verbunden ist.«

Gilmour schüttelte langsam den Kopf. »Ist Technik nicht was Wunderbares?«

»Und sie wird immer besser«, pflichtete Rebus ihm bei. »Aber manchmal funktionieren auch die alten Methoden noch ganz gut. Dein Name steht auf der Liste im Archiv in Granton – vor drei Wochen hast du dir die Akte Joseph Blay geben lassen. Und zwar nachdem bekannt wurde, dass dessen Überreste verlegt werden sollen.«

»Stimmt.«

»Geht’s um deinen alten Mentor?«

Gilmour starrte über den Rasen. Die Straßenlaternen waren bereits an, und von der Küste her stieg Nebel auf.

»Charlie Cruikshank hatte mich gebeten, Blay im Auge zu behalten. Damals hatte ich keine Ahnung, was er meinte – Blay war lange tot.«

»Aber du hast Wort gehalten.«

»Ist so meine Art.«

»Hast du damit gerechnet, dass was bei der Exhumierung zum Vorschein kommt?«

Gilmour zuckte mit den Schultern. »Ich hatte keine Ahnung. Aus der Fallakte haben sich keine Hinweise ergeben.«

»Erst als der Tote schon ausgegraben war«, sagte Rebus.

Gilmour wandte sich halb zu ihm um. »Mach weiter, du Superbulle. Die Bühne gehört dir.«

»Die Beweislage gegen Blay war dünn. Jim Chivers hatte ihm tatsächlich noch Geld geschuldet, aber Chivers hatte eine Menge Feinde. Man hätte einen ganzen Gerichtssaal mit ihnen füllen können. Blays Fingerabdrücke wurden bei dem Opfer zu Hause gefunden, andererseits aber war er regelmäßig dort zu Gast gewesen, das war also kaum ein zwingender Beweis. Dazu kam, dass das Messer nie gefunden wurde, und anscheinend befanden sich auch keinerlei Blutspuren auf Blays Kleidung oder Schuhen. Er hatte behauptet, am Abend des Mordes in Morningside im Kino gewesen zu sein, angeblich hatte er sich Der Mann, der Liberty Valance erschoss angesehen. Das Problem war nur, dass niemand das bestätigen konnte. Die Mitarbeiter des Kinos kannten ihn als Stammgast, konnten aber nicht sagen, welche Vorstellungen er besucht hatte. Er hatte mit niemandem gesprochen – war direkt danach mit dem Bus nach Hause gefahren, und kein Fahrer konnte bestätigen, ihn gesehen zu haben. Allerdings ließ sich den Unterlagen entnehmen, dass es eine Vorgeschichte zwischen Blay und deinem alten Chef gab. Cruikshank hatte schon ein paar Mal versucht, Blay hinter Gitter zu bringen, es aber nie ganz geschafft.«

»Jeder gerät mal an einen von dieser Sorte.«

»Wenn wir uns lange genug in dem Job halten«, stimmte Rebus ihm bei.

»Hast du etwa Zweifel, John? Wäre schade. Scheint doch allmählich ein ganz guter Detective aus dir zu werden.«

»Womit du sagen willst?«

»Womit ich sagen will, dass du einer bist, der nicht nur Dienst nach Vorschrift macht. Du hast Pflichtbewusstsein.« Gilmour hielt inne. »Und eine klare Vorstellung von Gut und Böse.«

»Du hättest auch alleine nach Saughton fahren können. Damit wärst du auf Nummer sicher gegangen. Stattdessen aber hast du mich mitgenommen. Du wolltest wissen, was ich tun würde, wie ich reagiere.«

»Ich hatte keine Ahnung, ob sich überhaupt etwas ergeben würde, worauf sich reagieren lässt.«

»Aber da war etwas.« Rebus nickte in Richtung der Taschenuhr, die Gilmour noch in der Hand hielt.

»Ist nur ein Andenken, John.«

»Ein Andenken mit einem kleinen Stück Papier drin. Weißt du, was man mir im kriminaltechnischen Labor gesagt hat? Dass es eine Kinokarte sei, ein altmodischer Abriss. Einzelheiten sind nicht mehr erkennbar. Ich vermute, Datum und Uhrzeit wären vor einiger Zeit noch lesbar gewesen, vielleicht sogar der Titel des Films.«

»Du denkst an Liberty Valance?«

»Würde passen. Ein kleiner Beleg, der Joseph Blay hätte helfen können. Vermutlich hat er bei seiner Verhaftung die Taschen geleert, und Charlie Cruikshank hat die Karte eingesteckt. Wusste, dass sie nicht gefunden werden durfte. Also wurde Blay verurteilt, und Cruikshank war bei seiner Hinrichtung dabei. Immer noch hat er die Kinokarte in der Tasche, und dann versteckt er sie in der Uhr, einfach nur so, weil er’s kann. Deshalb wollte er, dass du Joseph Blay im Auge behältst – weil die Karte seine Unschuld bewiesen hätte. Dein Chef hatte nichts dagegen, einen Mann aufs Schafott zu bringen, egal, ob er das fragliche Verbrechen begangen hatte oder nicht.«

»Das können wir nicht wissen, John. Wer kann schon sagen, wie die Karte dorthin gekommen ist?«

»Du weißt, dass ich recht habe.«

»Viel Glück bei der Beweisführung.«

Rebus schüttelte den Kopf. »Wir wissen beide, dass ich das nicht hinbekommen würde.«

»Aber würdest du’s wollen? Verstehst du, bei der Polizei geht es nicht nur darum, die Wahrheit herauszufinden – man muss vor allem wissen, was man damit macht. Man muss nach eigenem Ermessen entscheiden, manchmal innerhalb von wenigen Sekunden.«

»Aber das hat Cruikshank nicht gemacht, oder?«

»Vielleicht doch. Er wusste, dass Blay schuldig war. Die Karte kann Gott weiß woher gekommen sein – Blay kann sie vom Gehweg oder in einem Bus vom Boden aufgehoben haben. Charlie hat sie sichergestellt, um die Geschworenen nicht zu verwirren.«

»Nein, ich glaube, er wollte einen Schuldspruch um jeden Preis.«

»Er wollte einen Schuldigen nicht davonkommen lassen, John. Das ist die Geschichte, die dahintersteckt.«

»Und würdest du dasselbe tun, Stefan? Ist es das, was dir dein alter Mentor beigebracht hat?«

»Er hat sein Leben seinem Job gewidmet, John, er war mit Herz und Seele bei der Sache.« Gilmour stand auf und stellte sich vor Rebus. Er hielt ihm die Taschenuhr hin. »Willst du sie?«, fragte er.

»Was soll ich damit?«

»Bring sie den Kollegen von der Inneren, schildere ihnen deine Version des Falls.«

»Und was habe ich davon?« Rebus starrte die Uhr an, wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. Gilmour wartete ein paar weitere Sekunden, dann steckte er die Uhr in die Manteltasche.

»Dann bleiben nur wir«, sagte er und streckte ihm die Hand entgegen. »Willkommen bei den Saints of the Shadow Bible, John.«

Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns stand Rebus ebenfalls auf und schlug ein.

Playback

Es war der perfekte Mord.

Perfekt jedenfalls aus der Warte der Polizei von Lothian and Borders. Der Mörder hatte angerufen und ein Geständnis abgelegt, war dann in Panik geraten und hatte versucht zu entkommen, nur um beim Verlassen des Tatorts gefasst zu werden. Ende der Geschichte.

Bloß, dass er jetzt seine Unschuld beteuerte. Sie beteuerte, in die Welt hinausschrie und -brüllte. Und das gab Detective Inspector John Rebus zu denken, gab ihm den ganzen Weg von seinem Büro bis zum vierstöckigen Mietshaus im trendigen Hafenbezirk von Leith über zu denken. Die Mietshäuser sahen hier praktisch genauso aus wie in jedem anderen Edinburgher Arbeiterviertel auch, außer dass sie mit knallbunten Rollläden oder chinesischen Bambusdingern an den Fenstern prahlten, ihre verrußten Steinfassaden mit dem Hochdruckreiniger abgespritzt worden waren und ihre Türen jetzt eindringlingsichere Gegensprechanlagen besaßen. Schon was anderes als die schmierigen Jalousien und eingetretenen Haustüren der Mietskasernen in der Easter Road oder in Gorgie oder sogar in den angrenzenden Vierteln von Leith selbst, die sich die Immobilienspekulanten noch nicht vorgenommen hatten.

Das Opfer, so viel wusste Rebus, hatte als Anwaltssekretärin gearbeitet. Sie war vierundzwanzig Jahre alt gewesen. Ihr Name war Moira Bitter. Darüber musste Rebus lächeln. Es war ein schuldbewusstes Lächeln, aber so früh am Morgen war jede Art von Lächeln bei ihm schon ein mittleres Wunder.

Er parkte vor dem Mietshaus, von einem Uniformierten eingewiesen, der die übel verbeulte Stoßstange von Rebus’ Wagen erkannt hatte. Es ging das Gerücht, die Beule rühre daher, dass er zu viele alte Damen über den Haufen gefahren habe, und warum hätte Rebus das bestreiten sollen? Das war der Stoff, aus dem Mythen entstanden, und solche Mythen erhöhten sein Ansehen bei den eingeschüchterten jungen Rekruten.

An einem der Erdgeschossfenster bewegte sich eine Gardine, und Rebus sah für einen Augenblick eine ältere Dame. Jedes Mietshaus, ob aufgemotzt oder nicht, verfügte offenbar über eine hauseigene ältere Dame. Alleinstehend, mit einem Hund oder vier Katzen als Gesellschaft, war sie Auge und Ohr des Gebäudes. Als Rebus den Hausflur betrat, öffnete sich eine Tür, und die alte Dame streckte den Kopf heraus.

»Er wollte weglaufen«, flüsterte sie. »Aber der Bobby hat ihn geschnappt. Ich hab’s gesehen. Ist das Mädel tot? Geht’s darum?« Ihre Lippen waren in sensationsgierigem Grauen geschürzt. Rebus lächelte, sagte aber nichts. Sie würde es schon noch früh genug erfahren. Sie schien schon jetzt so viel wie er selbst zu wissen. Das war das Problem, wenn man in einer Stadt von der Größe einer Kleinstadt wohnte, einer Kleinstadt mit einer Dorfmentalität.

Während er langsam die vier Treppen hinaufstieg, hörte er sich den Bericht des Constable an, der ihn unerbittlich dahin führte, wo die Leiche der Moira Bitter lag. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme – Treppenhauswände hatten Ohren.

»Der Anruf kam um fünf Uhr, Sir«, erklärte PC MacManus. »Der Anrufer gab seinen Namen mit John MacFarlane an und sagte, er habe gerade seine Freundin ermordet. Er soll sehr verwirrt geklungen haben, und ich erhielt per Funk den Auftrag, der Sache nachzugehen. Als ich eintraf, kam ein Mann gerade die Treppe heruntergerannt. Er schien unter Schock zu stehen.«

»Schock?«

»Irgendwie durcheinander, Sir.«

»Hat er etwas gesagt?«, fragte Rebus.

»Ja, Sir, er sagte: ›Gott sei Dank, dass Sie da sind. Moira ist tot.‹ Dann habe ich ihn gebeten, mich zur fraglichen Wohnung hinaufzubegleiten, habe Unterstützung angefordert, und der Gentleman wurde festgenommen.«

Rebus nickte. MacManus war ein Muster an Effizienz, nie ein falsches Wort, immer genau der richtige Ton. Alles streng nach Lehrbuch und durch nicht allzu viel eigenes Nachdenken beeinträchtigt. Er würde es als Uniformierter weit bringen, aber Rebus bezweifelte, dass der junge Mann es je zum CID schaffte. Als sie den vierten Stock erreichten, verschnaufte Rebus kurz und betrat dann die Wohnung.

Die Pastelltöne der Diele setzten sich im Wohn- und Schlafzimmer fort. Gedämpfte Farben, zugleich warm und dezent. Das Blut hatte allerdings nichts Dezentes an sich. Blut gab es reichlich. Moira Bitter lag quer hingestreckt auf ihrem Bett, ihre Brust eine einzige Farborgie. Sie trug einen apfelgrünen Pyjama, und ihr Haar war seidig blond. Der Polizeipathologe untersuchte gerade ihren Kopf.

»Sie ist seit ungefähr drei Stunden tot«, teilte er Rebus mit. »Drei oder vier Einstiche mit einem kleinen scharfen Gegenstand, den ich der Einfachheit halber als Messer bezeichnen werde. Nach der Obduktion kann ich Genaueres sagen.«

Rebus nickte und wandte sich MacManus zu, dessen Gesicht eine ungesunde graue Färbung angenommen hatte.

»Ihr erstes Mal?«, fragte Rebus. Der Constable nickte bedächtig. »Machen Sie sich nichts draus«, fuhr Rebus fort. »Man gewöhnt sich sowieso nie daran. Kommen Sie.«

Er führte den Constable aus dem Zimmer und zurück in die kleine Diele. »Dieser Mann, den wir festgenommen haben, wie war noch mal sein Name?«

»John MacFarlane, Sir«, antwortete der Constable, tief durchatmend. »Er ist offenbar der Freund der Verstorbenen.«

»Sie sagten, er schien unter Schock zu stehen. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«

Der Constable runzelte konzentriert die Stirn. »Zum Beispiel, Sir?«, fragte er endlich.

»Blut«, sagte Rebus kühl. »Man kann nicht im Affekt auf jemanden einstechen, ohne Blutspritzer abzubekommen.«

MacManus schwieg. Eindeutig kein CID-Material, und möglicherweise zum allerersten Mal mit dieser Erkenntnis konfrontiert. Rebus ließ ihn stehen und betrat das Wohnzimmer. Es wirkte fast zwanghaft ordentlich. Illustrierte und Zeitungen in ihrem Ständer neben dem Sofa. Ein Couchtisch aus Chrom und Glas, darauf nichts anderes als ein sauberer Aschenbecher und ein Liebesromänchen. Das Ganze hätte geradewegs aus einer Schöner-Wohnen-Ausstellung stammen können. Keine Familienfotos, keinerlei Krimskrams. Das war die Behausung einer Individualistin. Keinerlei Bindungen an die Vergangenheit, und eine Gegenwart, die en bloc im Einrichtungsdiscounter erworben worden war. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Nichts deutete überhaupt auf irgendeine Form von Begegnung hin: keine Gläser oder Kaffeetassen. Der Mörder hatte sich nicht unnötig lang in der Wohnung aufgehalten, oder falls doch, hatte er dabei sehr darauf geachtet, keine Unordnung zu hinterlassen.

Rebus ging in die Küche. Auch sie war tadellos aufgeräumt. Tassen und Teller, neben der leeren Spüle zum Trocknen gestapelt. Im Abtropfgestell Messer, Gabeln, Teelöffel. Keine Mordwaffe. In und neben der Spüle gab es Wasserspritzer, aber Geschirr und Besteck sahen trocken aus. Hinter der Tür hing ein Geschirrtuch, und Rebus tastete es ab. Es war feucht. Er nahm es sich gründlicher vor und entdeckte einen kleinen Fleck. Vielleicht Soße oder Schokolade. Oder Blut. Jemand hatte vor Kurzem etwas damit abgetrocknet – aber was?

Er ging zur Besteckschublade und zog sie auf. Unter verschiedenen anderen Dingen lag darin ein Gemüsemesser mit kurzer Klinge und einem schweren schwarzen Griff. Ein Qualitätsmesser, scharf und blank. Alle übrigen Besteckstücke in der Schublade waren knochentrocken, aber der Holzgriff dieses Gemüsemessers fühlte sich feucht an. Rebus war sich sicher: Er hatte die Mordwaffe gefunden.

Aber clever von MacFarlane, das Messer gereinigt und wieder weggeräumt zu haben. Gelassen und ruhig gehandelt. Moira Bitter war seit drei Stunden tot. Der Anruf war vor einer Stunde bei der Polizeiwache eingegangen. Was hatte MacFarlane während der verbliebenen zwei Stunden gemacht? Die Wohnung geputzt? Das Geschirr gespült und abgetrocknet? Rebus warf einen Blick in den Abfalleimer, fand aber keine weiteren Spuren, keine zerbrochenen Nippes, nichts, was auf einen Kampf hingedeutet hätte. Und wenn es keinen Kampf gegeben hatte, wenn der Mörder in das Haus und in Moira Bitters Wohnung gelangt war, ohne Gewalt anwenden zu müssen – wenn all das zutraf, dann hatte Moira ihren Mörder gekannt.

Rebus ging den Rest der Wohnung ab, fand aber keine weiteren Spuren. Neben dem Telefon, in der Diele, befand sich ein Anrufbeantworter. Er spielte das Band ab und hörte Moira Bitters Stimme.

»Hallo, hier ist Moira. Ich bin nicht da, im Bad oder anderweitig beschäftigt.« (Ein Kichern.) »Hinterlassen Sie eine Nachricht, und ich rufe Sie zurück, sofern Sie nicht wie ein Langweiler klingen.«

Es gab nur eine Nachricht. Rebus hörte sie ab, spulte dann das Band zurück und hörte sie sich noch einmal an.

»Hallo, Moira, John hier. Ich hab deine Nachricht erhalten. Ich komm vorbei. Ich hoffe, du bist nicht ›anderweitig beschäftigt‹. Ich liebe dich.«

John MacFarlane: Rebus zweifelte nicht an der Identität des Anrufers. Moira klang auf ihrer Ansage frech und unbekümmert. Aber deutete MacFarlanes Reaktion auf Eifersucht hin? Vielleicht war sie ja anderweitig beschäftigt gewesen, als er auftauchte. Er hatte die Beherrschung verloren, blinde Wut, ein griffbereit liegendes Messer. Rebus hatte das alles schon erlebt. Die meisten Opfer kannten ihre Mörder. Wäre das nicht der Fall, würde die Polizei nicht so viele Verbrechen aufklären. Das war eine schlichte und einfache Tatsache. Man verrammelte seine Tür vor dem Psychopathen mit der Kettensäge, nur um vom Liebhaber, Ehemann, Sohn oder Nachbarn ein Messer in den Rücken zu kriegen.

John MacFarlane war also schuldig, da biss die Maus keinen Faden ab. Man würde Blut an seiner Kleidung finden, auch wenn er versucht hatte, es zu entfernen. Er hatte seine Freundin erstochen, sich dann beruhigt und die Polizei angerufen, um die Tat anzuzeigen, es dann aber mit der Angst zu tun bekommen und versucht zu fliehen.

Die einzige Frage, die Rebus noch beschäftigte, war das Warum. Das Warum und diese zwei fehlenden Stunden.

Edinburgh bei Nacht. Ein gelegentliches Taxi, das über Kopfsteinpflaster holperte, und einsame dunkle Gestalten, die mit Händen in den Taschen und hochgezogenen Schultern nach Hause schlurften. Während der Nachtstunden starben die Kranken und Alten friedlich, sei es zu Hause oder in irgendeinem Krankenhauszimmer. Zwei bis vier Uhr früh: die toten Stunden. Und dann starben einige qualvoll, das nackte Grauen in den Augen. Die Taxis rumpelten weiter vorüber, die Nachtmenschen gingen weiter ihrer Wege. Rebus hockte in seinem Auto, wartete vor Ampeln, verpasste das Grün, kam erst wieder zu sich, wenn Gelb erneut auf Rot schaltete. Die Glasgow Rangers kamen am Samstag in die Stadt. Es würde gewalttätige Ausschreitungen geben. Der Gedanke beunruhigte Rebus nicht weiter. Selbst der übelste Hooligan hätte wahrscheinlich nicht mit einer solchen Blutrünstigkeit wie Moira Bitters Mörder zustechen können. Rebus senkte den Blick. Er steigerte sich bewusst in Wut hinein, Lust auf Konfrontation. Auf Konfrontation mit dem Mörder.

John MacFarlane weinte, als man ihn in den Vernehmungsraum führte, wo Rebus es sich, Zigarette in der einen, Kaffee in der anderen Hand, demonstrativ bequem gemacht hatte. Rebus hatte alles Mögliche erwartet, aber keine Tränen.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er. MacFarlane schüttelte den Kopf. Er war auf seinem Stuhl auf der anderen Seite des Tisches in sich zusammengesackt, mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf, und kämpfte weiterhin mit den Tränen. Er murmelte etwas.

»Das habe ich nicht verstanden«, sagte Rebus.

»Ich hab gesagt, dass ich es nicht war«, antwortete MacFarlane leise. »Wie hätte ich es tun können? Ich liebe Moira.«

Rebus nahm das Präsens zur Kenntnis. Er deutete auf das Bandgerät auf dem Tisch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?« Wieder schüttelte MacFarlane den Kopf. Rebus schaltete das Gerät ein. Er schnippte Zigarettenasche auf den Fußboden, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und wartete. Schließlich sah MacFarlane auf. Seine Augen waren rot. Rebus starrte scharf in diese Augen, sagte aber immer noch nichts. MacFarlane schien sich allmählich zu beruhigen und auch zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Er bat um eine Zigarette, bekam eine und begann zu reden.

»Ich war im Wagen unterwegs gewesen. Bin einfach so rumgefahren und hab nachgedacht.«

Rebus unterbrach ihn. »Um wie viel Uhr war das?«

»Na ja«, antwortete MacFarlane, »seit ich von der Arbeit weg bin, würde ich sagen. Ich bin Architekt. Zurzeit läuft die Ausschreibung für den Entwurf eines neuen Kunstgalerie- und Museumskomplexes in Stirling. Unsere Firma will sich bewerben. Wir hatten fast den ganzen Tag über Ideen diskutiert, Sie wissen schon, ein Brainstorming veranstaltet.« Rebus nickte. Brainstorming: interessantes Wort.

»Und nach der Arbeit«, fuhr MacFarlane fort, »war ich so aufgedreht, dass ich einfach nur herumfahren wollte. Mir die verschiedenen Optionen und Pläne durch den Kopf gehen lassen. Mir überlegen, welcher davon der überzeugendste war …«

Er unterbrach sich, vielleicht weil ihm bewusst wurde, dass er zu hastig redete, ohne nachzudenken oder sich vorzusehen. Er schluckte und zog an seiner Zigarette. Rebus musterte währenddessen MacFarlanes Kleidung. Teure Budapester, braune Kordhose, ein weißes Hemd aus schwerer Baumwolle, wie es Kricketspieler trugen, am Hals offen, ein maßgeschneidertes Tweedjackett. MacFarlanes 3er BMW stand in der Polizeiwerkstatt, wo er momentan unter die Lupe genommen wurde. Man hatte seine Taschen geleert, seine gemusterte Liberty-Krawatte konfisziert, für den Fall, dass er auf die Idee kommen sollte, sich aufzuhängen. Die Schnürsenkel seiner Schuhe hatte man ihm bei der Gelegenheit ebenfalls abgenommen. Rebus hatte sich angesehen, was man bei ihm gefunden hatte: eine Brieftasche, die nicht gerade von Geldscheinen überquoll, aber eine ordentliche Auswahl an Kreditkarten enthielt. Weitere Karten steckten in seinem Terminplaner. Rebus blätterte die Tageskalenderseiten durch, schaute sich dann den Notizen- und Adressenteil an. MacFarlane schien ein reges, aber durchaus normales Privatleben zu führen.

Jetzt musterte Rebus ihn selbst über den alten Tisch hinweg. MacFarlane war gut gebaut, auch gut aussehend, wenn man auf den Typ stand. Er wirkte kräftig, aber nicht brutal. Wahrscheinlich würde er als der »Yuppie-Killer« in die lokalen Schlagzeilen kommen. Rebus drückte seine Zigarette aus.

»Wir wissen, dass Sie es getan haben, John. Das steht gar nicht zur Debatte. Wir wollen lediglich wissen, warum.«

MacFarlanes Stimme zitterte. »Ich schwöre, ich war’s nicht, ich schwöre es.«

»Sie werden sich schon ein bisschen mehr einfallen lassen müssen.« Rebus schwieg ein Weilchen. Tränen fielen auf MacFarlanes Kordhose. »Erzählen Sie weiter«, sagte er.

MacFarlane zuckte die Schultern. »Das war’s in etwa«, erklärte er und wischte sich die Nase mit dem Hemdsärmel ab.

Rebus half ihm auf die Sprünge. »Sie haben nirgendwo angehalten, um zu tanken, etwas zu essen oder sonst was in der Art?« Er klang skeptisch. MacFarlane schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin einfach nur gefahren, bis ich wieder einen klaren Kopf hatte. Ich bin bis ganz rauf zur Forth Road Bridge. Bin abgebogen und rein nach Queensferry. Bin ausgestiegen, um einen Blick aufs Wasser zu werfen. Hab ein paar Steine reingeworfen, weil’s Glück bringt.« Er lächelte bitter. »Dann bin ich die Küstenstraße entlang und zurück nach Edinburgh.«

»Und niemand hat Sie gesehen? Sie haben mit niemandem gesprochen?«

»Nicht soweit ich mich erinnern kann.«

»Und Sie sind nicht irgendwann hungrig geworden?« Rebus klang absolut nicht überzeugt.

»Wir hatten ein Geschäftsessen mit einem Kunden gehabt. Wir waren im Eyrie. Nach einem Lunch dort habe ich selten vor dem nächsten Morgen wieder Hunger.«

Der Eyrie war Edinburghs teuerstes Restaurant. Man ging da nicht hin, um zu essen, man ging dahin, um Geld auszugeben. Rebus hätte jetzt durchaus was zwischen die Zähne gebrauchen können. Die Bacon-Sandwiches, die es in der Kantine gab, waren gar nicht so übel.

»Wann haben Sie Miss Bitter zuletzt lebend gesehen?«

Beim Wort »lebend« schauderte MacFarlane. Seine Antwort ließ lange auf sich warten. Rebus sah den Tonbandspulen dabei zu, wie sie sich drehten. »Gestern Morgen«, sagte MacFarlane endlich. »Sie war über Nacht bei mir geblieben.«

»Wie lange kannten Sie sie?«

»Seit ungefähr einem Jahr. Aber ich hatte erst vor ein paar Monaten angefangen, mit ihr auszugehen.«

»Ach ja? Und wie war Ihr Verhältnis bis dahin?«

MacFarlane schwieg kurz. »Sie war Kenneths Freundin«, sagte er endlich.

»Und Kenneth ist …«

Bevor MacFarlane sprach, röteten sich seine Wangen. »Mein bester Freund«, erwiderte er. »Kenneth war mein bester Freund. Man könnte sagen, ich habe sie ihm ausgespannt. So was kommt vor, oder?«

Rebus hob eine Augenbraue. »Tut es das?«, erkundigte er sich. MacFarlane senkte erneut den Kopf.

»Könnte ich einen Kaffee haben?«, fragte er leise. Rebus nickte und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Während MacFarlane seinen Kaffee trank, hielt er die Tasse mit beiden Händen umklammert, wie der Überlebende eines Schiffbruchs. Rebus rieb sich die Nase und streckte sich, müde. Er sah auf seine Uhr. Acht Uhr morgens. Was für ein Leben. Er hatte zwei Bacon-Brötchen verspeist, und ein dünner Streifen Schwarte ringelte sich vor ihm auf dem Teller. MacFarlane hatte nichts essen wollen, aber seine erste Tasse Kaffee in zwei großen Schlucken geleert und dankbar eine zweite angenommen.

»Also«, sagte Rebus, »Sie sind in die Stadt zurückgefahren.«

»Ja.« MacFarlane nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Ich weiß nicht, warum, aber mir kam dann der Gedanke, dass ich meinen Anrufbeantworter abhören könnte.«

»Sie meinen, als Sie wieder zu Haus waren?«

MacFarlane schüttelte den Kopf. »Nein, vom Wagen aus. Ich habe vom Autotelefon aus bei mir zu Hause angerufen und den Anrufbeantworter per Fernabfrage aktiviert.«

Rebus war beeindruckt. »Raffiniert«, sagte er.

MacFarlane lächelte schwach, aber das Lächeln verblasste rasch. »Eine der Nachrichten war von Moira«, sagte er. »Sie wollte mich sehen.«

»Um die Uhrzeit?« MacFarlane zuckte die Schultern. »Sagte sie, warum sie Sie sehen wollte?«

»Nein. Sie klang … seltsam.«

»Seltsam?«

»Leicht … ich weiß nicht, reserviert vielleicht.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass sie allein war, als sie anrief?«

»Ich hab keine Ahnung.«

»Haben Sie sie zurückgerufen?«

»Ja. Ihr Anrufbeantworter war dran. Ich habe eine Nachricht hinterlassen.«

»Würden Sie sich als einen eifersüchtigen Menschen bezeichnen, Mr MacFarlane?«

»Was?« MacFarlane klang so, als überraschte ihn die Frage. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. »Nicht eifersüchtiger als jeder andere auch«, sagte er endlich.

»Warum hätte jemand Moira töten wollen?«

MacFarlane starrte auf den Tisch und schüttelte langsam den Kopf.

»Weiter«, sagte Rebus mit einem Seufzer, allmählich am Ende seiner Geduld. »Sie hatten gerade erzählt, wie Sie Moiras Nachricht gehört haben.«

»Na ja, ich bin geradewegs zu ihr gefahren. Es war spät, aber ich wusste, ich konnte jederzeit zu ihr, auch wenn sie schlafen sollte.«

»Ach?« Rebus horchte auf. »Und zwar wie?«

»Ich hatte einen Schlüssel zu ihrer Wohnung«, erklärte MacFarlane.

Rebus stand auf und ging, tief in Gedanken, quer durchs Zimmer und wieder zurück.

»Sie wissen nicht zufällig«, sagte er, »wann Moira Sie angerufen hat?«

MacFarlane schüttelte den Kopf. »Aber der AB dürfte die Uhrzeit aufgezeichnet haben«, antwortete er. Rebus kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Technik war eine wunderbare Sache. Aber auch über MacFarlane musste er staunen. Wenn der Mann ein Mörder war, dann ein sehr guter, denn er hatte Rebus dazu gebracht, ihn für unschuldig zu halten. Es war verrückt. Rein gar nichts deutete darauf hin, dass er nicht der Täter gewesen wäre. Aber trotzdem, ein Gefühl war ein Gefühl, und Rebus hatte ganz eindeutig so ein Gefühl.

»Ich will dieses Gerät sehen«, sagte er. »Und ich will die Nachricht darauf hören. Ich will Moiras letzte Worte hören.«

Es war interessant festzustellen, wie kompliziert selbst die simpelsten Fälle werden konnten. In Rebus’ Umgebung hegte nach wie vor niemand – weder seine Vorgesetzten noch seine Untergebenen – einen Zweifel daran, dass John MacFarlane des Mordes schuldig war. Sie hatten sämtliche Beweise, die sie brauchten – von A bis Z Indizienbeweise.

MacFarlanes Wagen war sauber: keine blutbefleckten Kleidungsstücke im Kofferraum. Auf dem Gemüsemesser gab es keine Fingerabdrücke, während man überall sonst in der Wohnung MacFarlanes Abdrücke fand – was nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass er sich in der fraglichen Nacht sowie in etlichen Nächten davor dort aufgehalten hatte. Ebenso wenig Abdrücke an der Küchenspüle oder den Wasserhähnen, obwohl der Mörder ein blutiges Messer abgespült hatte. Rebus fand das merkwürdig. Und was das Motiv anbelangte: Eifersucht, ein Streit, die Entdeckung eines früheren Seitensprungs. Das CID hatte das alles schon erlebt.

Tod durch Erstechen wurde bestätigt und der Todeszeitpunkt auf drei Uhr früh plus minus fünfzehn Minuten eingegrenzt. MacFarlane behauptete, sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg nach Edinburgh befunden zu haben, konnte aber keine Zeugen zur Bestätigung dieser Behauptung nennen. An MacFarlanes Kleidung hatte man kein Blut gefunden, aber wie Rebus wusste, bedeutete das noch lange nicht, dass er kein Mörder war.

Interessanter war allerdings die Tatsache, dass MacFarlane bestritt, die Polizei angerufen zu haben. Aber irgendjemand – und zwar der Mörder Moira Bitters – hatte sie angerufen. Und als sogar noch interessanter entpuppte sich der Anrufbeantworter.

Rebus fuhr nach Liberton, um sich MacFarlanes Wohnung anzusehen. Stadteinwärts herrschte reger Verkehr, stadtauswärts war jedoch wenig los. Liberton war eines von Edinburghs zahlreichen anonymen gutbürgerlichen Vierteln, solide Häuser, kleine Läden, eine belebte Durchfahrtsstraße. Es sah um Mitternacht harmlos aus, und bei Tag war es noch ungefährlicher.

Was MacFarlane als »Wohnung« bezeichnet hatte, nahm tatsächlich zwei ganze Etagen eines riesigen frei stehenden Hauses ein. Rebus durchstreifte das Gebäude, ohne recht zu wissen, ob er überhaupt nach etwas Bestimmtem suchte. Er fand wenig. MacFarlane führte ein geregeltes, ja geradezu reglementiertes Leben und besaß das zu einem solchen Lebensstil erforderliche Haus. Ein Zimmer war zu einem improvisierten Fitnessraum umfunktioniert worden, mit Hanteln und ähnlichen Trainingsgeräten. Es gab ein geschäftlich genutztes Büro und ein privat genutztes Arbeitszimmer. Sein Schlafzimmer war eindeutig nach männlichem Geschmack eingerichtet, wenngleich ein gerahmter weiblicher Akt in Öl von einer Wand abgehängt und hinter einem Sessel verstaut worden war. Rebus vermutete hier Moira Bitters Einfluss.

Im Kleiderschrank fand er einige Sachen und ein Paar Schuhe von ihr. Ein gerahmter Schnappschuss von ihr stand auf MacFarlanes Nachttisch. Rebus betrachtete das Foto lange, seufzte dann, verließ das Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Wann würde John MacFarlane sein Zuhause wohl wiedersehen?

Der Anrufbeantworter stand im Wohnzimmer. Rebus spielte die Kassette mit den Anrufen der vergangenen Nacht ab. Moira Bitters Stimme klang abgehackt und selbstsicher, ihre Mitteilung war kurz und bündig: »Hallo.« Dann eine Pause. »Ich muss dich sehen. Komm vorbei, sobald du diese Nachricht abgehört hast. Ich liebe dich.«

MacFarlane hatte Rebus erklärt, dass das Display des Geräts die Anrufzeit anzeigte. Moiras Anruf war um 3.50 Uhr aufgezeichnet worden, knapp fünfundvierzig Minuten nach ihrem Tod. Nun war bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts eine gewisse Toleranzbreite immer gegeben, aber mit Sicherheit keine von einer Dreiviertelstunde. Rebus kratzte sich am Kinn und dachte nach. Er spielte das Band noch einmal ab. »Hallo.« Dann die Pause. »Ich muss dich sehen.« Er hielt das Band an und spielte es wieder ab, diesmal in voller Lautstärke, und hielt das Ohr ganz nah ans Gerät. Diese Pause war merkwürdig, und die Klangqualität der Aufzeichnung schlecht. Er spulte zurück und hörte sich einen anderen Anruf vom selben Abend an. Jetzt war die Qualität besser, die Stimme viel klarer. Dann hörte er sich noch einmal Moira an. Waren diese Aufnahmegeräte unfehlbar? Natürlich nicht. Die Zeitanzeige konnte manipuliert worden sein. Die ganze Aufnahme konnte eine Fälschung sein. Wer sagte ihm schließlich, dass das wirklich Moira Bitters Stimme war? Nur John MacFarlane. Aber John MacFarlane war beim Verlassen des Tatorts erwischt worden. Und jetzt fand Rebus so etwas wie ein Alibi für den Mann. Ja, das Band konnte ohne Weiteres eine Fälschung sein, die MacFarlane zur Untermauerung seiner Geschichte aufgenommen, aber dämlicherweise erst nach dem Eintritt des Todes abgespielt hatte. Trotzdem, nach der Bandansage zu urteilen, die Rebus auf Moiras eigenem Anrufbeantworter gehört hatte, konnte das durchaus ihre Stimme sein. Die Jungs im Labor würden das mit ihren Hightech-Apparaten bestimmt rauskriegen. Ein Techniker insbesondere war ihm einen ziemlich großen Gefallen schuldig.

Rebus schüttelte den Kopf. Das ergab immer noch nicht allzu viel Sinn. Er spielte das Band wieder und wieder ab.

»Hallo.« Pause. »Ich muss dich sehen.«

»Hallo.« Pause. »Ich muss dich sehen.«

»Hallo.« Pause. »Ich muss …«

Und plötzlich lichtete sich der Nebel in seinem Kopf ein wenig. Er holte die Kassette aus dem Gerät und steckte sie ein. Dann nahm er den Telefonhörer ab und rief die Wache an. Er verlangte nach Detective Constable Brian Holmes. Als er seine Stimme hörte, klang sie müde, aber amüsiert.

»Sagen Sie nichts«, begann Holmes, »lassen Sie mich raten. Ich soll alles stehen und liegen lassen und eine wichtige Sache für Sie erledigen.«

»Sie müssen hellseherisch begabt sein, Brian. Nur – es sind zwei Sachen. Erstens, die Anrufe von letzter Nacht. Besorgen Sie sich von der Telefonzentrale die Bandaufzeichnung, und suchen Sie den Anruf von John MacFarlane heraus, in dem er behauptet, er hätte gerade seine Freundin getötet. Machen Sie davon eine Kopie, und warten Sie auf mich. Ich habe noch eine andere Aufnahme für Sie, und ich möchte, dass beide ins Labor gehen. Warnen Sie die Jungs vor, dass Sie kommen und …«

»›… und sagen Sie ihnen, dass es oberste Priorität hat‹, ich weiß. Es hat immer oberste Priorität. Sie werden dasselbe sagen wie immer: Geben Sie uns vier Tage Zeit.«

»Nicht diesmal«, erwiderte Rebus. »Lassen Sie sich mit Bill Costain verbinden, und sagen Sie ihm, Rebus fordert seinen Gefallen ein. Was immer er gerade tut, er soll es zurückstellen. Ich will heute ein Resultat, nicht erst nächste Woche.«

»Wodurch haben Sie sich diesen Gefallen verdient?«

»Ich hab ihn letzten Monat auf dem Laborklo beim Kiffen erwischt.«

Holmes lachte. »Na, irgendwie muss man ja zu Potte kommen«, sagte er. Rebus stöhnte über den Kalauer und legte auf. Er musste sich noch einmal mit John MacFarlane unterhalten. Nicht über Freundinnen diesmal, sondern über Freunde.

Rebus drückte ein drittes Mal auf die Klingel und hörte endlich von drinnen eine Stimme.

»Herrgott, Moment! Ich komm ja schon.«

Der Mann, der die Tür öffnete, war groß, mager und trug eine Nickelbrille weit vorn auf der Nase. Er starrte Rebus kurzsichtig an und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.

»Mr Thomson?«, fragte Rebus. »Kenneth Thomson?«

»Ja«, antwortete der Mann, »der bin ich.«

Rebus klappte seinen Ausweis auf. »Detective Inspector John Rebus«, stellte er sich vor. »Darf ich reinkommen?«

Kenneth Thomson hielt ihm die Tür auf. »Bitte«, sagte er. »Nehmen Sie auch einen Scheck?«

»Einen Scheck?«

»Ich nehme an, Sie sind wegen der Knöllchen hier«, sagte Thomson. »Ich hätte sie früher oder später schon bezahlt, glauben Sie mir. Mir wächst bloß seit einiger Zeit alles über den Kopf, und ständig kommt mir irgendwas dazwischen und …«

»Nein, Sir«, entgegnete Rebus, und sein Lächeln war so kalt wie eine Kirchenbank, »es hat nichts mit Strafzetteln zu tun.«

»Ach nein?« Thomson schob die Brille hoch und sah Rebus an. »Wo liegt dann das Problem?«

»Es geht um Miss Moira Bitter«, sagte Rebus.

»Moira? Was ist mit ihr?«

»Sie ist tot, Sir.«

Rebus war Thomson in ein überfülltes Zimmer gefolgt, in dem überall Bündel und Stapel von Illustrierten und Zeitungen herumlagen. In einer Ecke stand eine Hi-Fi-Anlage und daneben eine ganze Regalwand voller Kassetten. Letztere machten einen geordneten, geradezu katalogisierten Eindruck: Jede Kassette trug auf dem Rücken eine Nummer.

Thomson, der gerade dabei gewesen war, Rebus einen Sessel frei zu räumen, erstarrte bei den Worten des Detectives.

»Tot?«, sagte er atemlos. »Wie das?«

»Sie wurde ermordet, Sir. Wir glauben, dass John MacFarlane es getan hat.«

»John?« Thomsons Gesicht zeigte einen verwirrten, dann skeptischen, dann resignierten Ausdruck. »Aber warum?«

»Das wissen wir noch nicht, Sir. Ich dachte, Sie könnten uns möglicherweise helfen.«

»Natürlich helfe ich, wenn ich kann. Setzen Sie sich, bitte.«

Rebus hockte sich vorn auf die Kante des Sessels, während Thomson ein paar Zeitungen beiseiteschob und es sich auf dem Sofa bequem machte.

»Sie schreiben, soweit ich weiß«, sagte Rebus.

Thomson nickte zerstreut. »Ja«, sagte er. »Als freier Journalist – Essen und Trinken, Reisen, so die Richtung. Dazu ab und an ein Auftragsbuch. Daran sitze ich übrigens gerade. An einem Buch.«

»Aha? Ich mag Bücher. Wovon handelt es?«

»Lachen Sie nicht«, sagte Thomson, »aber es ist eine Geschichte des Haggis.«

»Des Haggis?« Rebus konnte sich den Anflug eines Lächelns nicht verkneifen; seine Stimme klang jetzt wärmer: Die Kirchenbank hatte ein Kissen bekommen. Er räusperte sich und sah sich dabei im Zimmer um, registrierte die gefährlich an die Wände gelehnten Stapel von Büchern, die Heftmappen, Ordner und Zeitungsausschnitte. »Sie recherchieren offenbar viel«, meinte er anerkennend.

»Manchmal«, sagte Thomson. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Das mit Moira, meine ich. Mit John.«

Rebus zückte sein Notizbuch – mehr um des Eindrucks willen als aus sonst einem Grund. »Sie waren eine Zeit lang mit Miss Bitter intim befreundet«, stellte er fest.

»Das stimmt, Inspector.«

»Aber dann hat sie Sie wegen Mr MacFarlane verlassen.«

»Stimmt ebenfalls.« In Thomsons Stimme hatte sich ein Anflug von Bitterkeit eingeschlichen. »Ich war damals sehr wütend, aber inzwischen bin ich darüber weg.«

»Haben Sie Miss Bitter danach weiterhin gesehen?«

»Nein.«

»Und Mr MacFarlane?«

»Noch mal nein. Wir haben ein paarmal miteinander telefoniert. Es schien immer auf gegenseitiges Anbrüllen hinauszulaufen. Wir waren früher wie, na ja, das klingt vermutlich abgedroschen, aber wir waren früher wie Brüder.«

»Ja«, sagte Rebus, »das hat Mr MacFarlane auch gesagt.«

»Ach ja?« Thomson klang interessiert. »Was hat er denn sonst noch gesagt?«

»Eigentlich nicht viel.« Rebus stand von seiner Sesselkante auf und ging ans Fenster, zog die Gardine beiseite und sah hinunter auf die Straße. »Er sagte, Sie würden sich seit Jahren kennen.«

»Seit der Schulzeit«, präzisierte Thomson.

Rebus nickte. »Und er sagte, dass Sie einen schwarzen Ford Escort fahren. Das dürfte der da drüben sein oder der, der auf der anderen Straßenseite parkt?«

Thomson kam ans Fenster. »Ja«, sagte er unsicher, »das ist er. Aber ich verstehe nicht, was …«

»Er ist mir aufgefallen, als ich selbst geparkt habe«, fuhr Rebus fort, ohne auf Thomsons Unterbrechung einzugehen. Er ließ die Gardine los und wandte sich wieder dem Zimmer zu. »Mir ist aufgefallen, dass Sie eine Alarmanlage im Auto haben. Ich nehme an, hier wird viel eingebrochen.«

»Es ist nicht gerade die beste Wohngegend in der Stadt«, erklärte Thomson. »Nicht jeder, der schreibt, bringt es so weit wie Jeffrey Archer.«

»Hatte Geld etwas damit zu tun?«, fragte Rebus. Thomson reagierte erst nach einer kurzen Pause.

»Womit, Inspector?«

»Damit, dass Miss Bitter Sie wegen Mr MacFarlane verließ. Er nagt nicht gerade am Hungertuch, oder?«

Thomsons Stimme wurde deutlich lauter. »Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, was das mit …«

»Ihr Wagen wurde doch vor ein paar Monaten aufgebrochen, stimmt’s?« Rebus begann jetzt, einen Stoß Zeitschriften durchzublättern, die auf dem Fußboden lagen. »Ich habe den Bericht gelesen. Man hat Ihnen Radio und Autotelefon gestohlen.«

»Stimmt.«

»Wie ich gesehen habe, haben Sie das Autotelefon ersetzt.« Er sah zu Thomson auf, lächelte und blätterte weiter.

»Natürlich«, sagte Thomson. Jetzt war er sichtlich verwirrt, unfähig abzuschätzen, wohin das Gespräch eigentlich führen sollte.

»Ein Journalist braucht einfach ein Autotelefon, stimmt’s?«, bemerkte Rebus. »Damit man ihn jederzeit erreichen kann. Sehe ich das richtig?«

»Vollkommen richtig, Inspector.«

Rebus warf die Zeitschrift auf den Stapel zurück und nickte langsam. »Tolle Sache, so ein Autotelefon.« Er ging hinüber zu Thomsons Schreibtisch. Es war eine kleine Wohnung. Der Raum, in dem sie sich aufhielten, fungierte offenbar gleichzeitig als Arbeits- und Wohnzimmer. Nicht dass Thomson allzu oft Besuch gehabt hätte. Vielen Leuten war er zu aggressiv, anderen zu verschlossen, hatte John MacFarlane gesagt.

Auf dem Schreibtisch lag allerlei weiterer Krimskrams herum, wenngleich mit einem gewissen Anschein von Ordnung. Außerdem stand da ein schicker Computer und daneben ein Telefon. Und neben dem Telefon ein Anrufbeantworter.

»Ja«, wiederholte Rebus. »Sie müssen jederzeit erreichbar sein und ihrerseits andere erreichen können.« Rebus lächelte Thomson zu. »Kommunikation, das ist das Geheimnis. Und ich werde Ihnen noch etwas über Journalisten verraten.«

»Was?« Unfähig zu begreifen, worauf Rebus hinauswollte, klang Thomson mittlerweile so, als würde ihn das Gespräch langsam langweilen. Er steckte die Hände tief in die Taschen.

»Journalisten sind richtige Sammler.« Rebus sagte das in einem Ton, als wäre das eine besonders tiefschürfende Erkenntnis. Seine Augen wanderten wieder durch den Raum. »Ich meine, fast pathologische Sammler. Sie können es nicht ertragen, irgendetwas wegzuwerfen, weil sie nicht wissen, ob es ihnen nicht irgendwann einmal von Nutzen sein könnte. Habe ich recht?«

Thomson zuckte die Achseln.

»Ja«, sagte Rebus, »ich könnte wetten, ich habe recht. Schauen Sie sich zum Beispiel diese Kassetten an.« Er ging zum Regal mit den Reihen über Reihen penibel geordneter Bänder. »Was ist da drauf? Interviews, so was?«

»Größtenteils, ja«, bestätigte Thomson.

»Und Sie bewahren sie weiterhin auf, obwohl sie schon Jahre alt sind?«

Thomson zuckte wieder die Achseln. »Na schön, dann bin ich eben ein Sammler.«

Aber Rebus hatte etwas auf dem obersten Regalbord bemerkt, ein paar kleinere braune Pappkartons. Er streckte die Hand aus und holte einen herunter. Darin befanden sich weitere, mit Monat und Jahr beschriftete Kassetten. Aber diese Kassetten waren kleiner als die anderen. Rebus hielt Thomson die Schachtel hin, einen fragenden Ausdruck im Blick.

Thomson lächelte verlegen. »AB-Nachrichten«, sagte er.

»Die bewahren Sie auch auf?« Fragte Rebus in einem verblüfften Ton.

»Na ja«, sagte Thomson, »jemand erklärt sich telefonisch mit irgendetwas einverstanden, einem Interview oder sonst was, und streitet es dann später ab. Ich brauche die als Belege für erhaltene Zusagen.«

Rebus nickte: Jetzt hatte er es verstanden. Er stellte die braune Schachtel ins Regal zurück und kehrte Thomson immer noch den Rücken zu, als ein schrilles elektronisches Trillern ertönte.

»Verzeihung«, sagte Thomson und ging ans Telefon.

»Keine Ursache.«

Thomson nahm den Hörer ab. »Hallo?« Er hörte zu, runzelte dann die Stirn. »Natürlich«, sagte er endlich und hielt Rebus den Hörer hin. »Für Sie, Inspector.«

Rebus hob überrascht eine Augenbraue und nahm den Hörer entgegen. Es war, wie er bereits wusste, Detective Constable Holmes.

»Okay«, sagte Holmes. »Costain schuldet Ihnen jetzt keinen Gefallen mehr. Er hat sich beide Bänder angehört, aber noch nicht alle erforderlichen Tests durchgeführt, aber er ist sich seiner Sache ziemlich sicher.«

»Weiter.« Rebus sah dabei zu Thomson, der, die Hände um die Knie verschränkt, auf der Armlehne des Sessels saß.

»Der Anruf, den wir letzte Nacht reinbekommen haben«, erklärte Holmes, »der von John MacFarlane, in dem er den Mord an Moira Bitter gesteht, kam von einem Funktelefon.«

»Interessant«, sagte Rebus, ohne den Blick von Thomson zu wenden. »Und was ist mit dem anderen?«

»Tja, die Aufzeichnung, die Sie mir gegeben haben, scheint um zwei Ecken zu gehen.«

»Was heißt das?«

»Das heißt«, sagte Holmes, »dass es laut Costain nicht lediglich eine Aufnahme ist, sondern die Aufnahme einer Aufnahme.« Rebus nickte zufrieden.

»Okay, danke, Brian.« Er legte auf.

»Gute oder schlechte Neuigkeiten?«, fragte Thomson.

»Ein bisschen von beidem«, antwortete Rebus nachdenklich. Thomson war aufgestanden.

»Mir wäre nach einem Drink, Inspector. Kann ich Ihnen auch was anbieten?«

»Für mich ist es, fürchte ich, noch ein bisschen zu früh«, erwiderte Rebus und warf einen Blick auf seine Uhr. Es war elf: Pub-Öffnungszeit. »Na gut«, sagte er, »aber nur einen Kleinen.«

»Der Whisky ist in der Küche«, erklärte Thomson. »Ich bin gleich wieder da.«

»In Ordnung, Sir, in Ordnung.«

Rebus hörte, wie Thomson den Raum verließ und sich in Richtung Küche entfernte. Er wartete neben dem Schreibtisch und ließ sich alles durch den Kopf gehen, was er inzwischen wusste. Als er dann Thomson von der Küche zurückkommen, die Dielen unter seinem Gewicht knarren hörte, nahm er den unter dem Schreibtisch stehenden Papierkorb, und kippte, sowie Thomson ins Zimmer trat, dessen Inhalt auf das Sofa.

Thomson blieb, in jeder Hand ein Glas Whisky, sprachlos in der Tür stehen. »Was in aller Welt treiben Sie da?«, stieß er endlich hervor. Doch ohne sich um ihn zu kümmern, begann Rebus, den verstreuten Inhalt des Papierkorbs zu inspizieren, und redete währenddessen.

»Um ein Haar wäre es wirklich idiotensicher gewesen, Mr Thomson. Ich werd’s Ihnen erklären. Der Mörder fuhr zu Moira Bitter und überredete sie dazu, ihm trotz der späten Stunde die Tür zu öffnen. Er tötete sie eiskalt, daran besteht überhaupt kein Zweifel. So viel Vorsatz und Vorbedacht habe ich bei keinem anderen Fall erlebt. Er spülte das Messer ab und legte es wieder in die Schublade zurück. Er trug natürlich Handschuhe, da er wusste, dass sich überall in der Wohnung John MacFarlanes Fingerabdrücke finden lassen würden, und er spülte das Messer ab, eben um die Tatsache zu vertuschen, dass er Handschuhe anhatte. Im Gegensatz nämlich zu MacFarlane.«

Thomson nahm einen großen Schluck aus einem der Gläser, stand ansonsten aber wie angewurzelt da. Seine Augen starrten ins Leere, so als malte er sich Rebus’ Geschichte im Geiste aus.

»MacFarlane«, fuhr Rebus fort, weiterhin in zerknülltem Papier kramend, »wurde zu Moiras Wohnung gerufen. Die aufgezeichnete Nachricht stammte tatsächlich von ihr. Er kannte ihre Stimme gut genug, um sich nicht von einer anderen Stimme täuschen zu lassen. Der Mörder saß draußen vor Moiras Haus und wartete auf MacFarlanes Ankunft. Dann erledigte er noch einen letzten Anruf, diesmal bei der Polizei, und gab sich dabei für einen hysterischen MacFarlane aus. Wir wissen, dass dieser letzte Anruf von einem Autotelefon kam. Was solche Dinge angeht, haben die Jungs vom Labor einiges drauf. Wissen Sie, Mr Thomson, Polizisten sind auch die reinsten Sammler. Wir zeichnen jeden bei uns eingehenden Notruf auf. Es wird nicht schwierig sein, von dem fraglichen Anruf einen Stimmabdruck zu machen und ihn mit John MacFarlanes Stimme zu vergleichen. Aber es wird sich keine Übereinstimmung feststellen lassen, nicht wahr?« Rebus legte eine Kunstpause ein. »Denn es ist Ihre Stimme.«

Thomson produzierte ein dünnes Lächeln, aber er hatte seine Hände nicht mehr so im Griff, und über den Rand eines der Gläser schwappte jetzt ein wenig Whisky.

»Aha!« Rebus hatte gefunden, wonach er suchte. Mit einem extrabreiten Grinsen im unrasierten, übermüdeten Gesicht kniff er Daumen und Zeigefinger zusammen und hob, auch für Thomson gut sichtbar, etwas in die Höhe. Es war ein kurzes Stückchen braunes Magnetband.

»Es ist ja so«, fuhr er fort, »dass der Mörder MacFarlane an den Tatort locken musste. Nachdem er Moira getötet hatte, ging er, wie schon gesagt, zu seinem Auto. Dort befand sich sein tragbares Telefon und ein Kassettenrekorder. Er war ein Sammler. Er hatte alle seine Kassetten aus dem Anrufbeantworter aufbewahrt – darunter auch Nachrichten, die ihm Moira in der besten Zeit ihrer Affäre hinterlassen hatte. Er fand die Nachricht, die er brauchte, und schnitt sie sich zurecht. Dann spielte er diese Nachricht John MacFarlanes Anrufbeantworter vor. Anschließend brauchte er nur noch zu warten. Die Nachricht, die MacFarlane erhielt, lautete: ›Hallo. Ich muss dich sehen.‹ Nach dem ›Hallo‹ kam eine kurze Pause. Und die Pause war die Stelle, an der das Band geklebt worden war, nachdem der Mörder das hier herausgeschnitten hatte.« Rebus betrachtete das Stückchen Band. »Das eine Wort ›Kenneth‹. ›Hallo, Kenneth, ich muss dich sehen.‹ Das war Moira Bitter, die zu Ihnen sprach, Mr Thomson, vor langer Zeit zu Ihnen sprach.«

Thomson schleuderte beide Gläser in Richtung Rebus, der sich aber rechtzeitig duckte. Die Gläser stießen über seinem Kopf aneinander und ließen Scherben auf ihn niederregnen. Thomson war schon an der Wohnungstür, hatte sie sogar schon aufgerissen, ehe Rebus ihn erreichte, sich auf ihn stürzte, den jüngeren Mann durch die offene Tür und weiter auf den Treppenabsatz stieß. Thomsons Schädel knallte mit einem dumpfen Ton gegen das Metallgeländer. Er stöhnte einmal auf, bevor er zusammenbrach. Rebus schüttelte die Scherben ab und spürte, wie ein, zwei Glassplitter ihn ritzten, als er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. Er hielt sich die Hand an die Nase und atmete tief ein. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, von Whisky würde er Haare auf der Brust bekommen. Rebus fragte sich, ob sich diese magische Wirkung auch an seinen Schläfen und auf seinem Kopf zeigen würde …

Es war der perfekte Mord gewesen.