Rembrandt als Erzieher - Julius Langbehn - E-Book

Rembrandt als Erzieher E-Book

Julius Langbehn

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Beschreibung

1890 ließ Langbehn anonym ("Von einem Deutschen") in dem Leipziger Verlag C. L. Hirschfeld seine zweite Veröffentlichung Rembrandt als Erzieher erscheinen, das im Deutschen Reich innerhalb von zwei Jahren 39 Auflagen erlebte. In seinen kulturpessimistischen Betrachtungen begriff Langbehn Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Materialismus, Liberalismus, Kosmopolitismus und geistig-kulturellen Uniformismus als Degenerationserscheinungen, für die er Aufklärung und Urbanisierung verantwortlich machte. Als mystisch-romantischen Gegenpol zur verhassten Moderne setzte Langbehn den Typus des "Niederdeutschen" verkörpert durch den Maler Rembrandt. Aus seinem Geist solle eine völkische Wiedergeburt durch Kunst erfolgen.

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Rembrandt als Erzieher

Julius Langbehn

Inhalt:

Julius Langbehn – Biografie und Bibliografie

Rembrandt als Erzieher

Leitgedanken.

Zeichen des Niedergangs.

Wendung zur Kunst.

Individualismus der Deutschen.

Historische Ideale.

Das Vorbild für heute: Rembrandt.

Rembrandt als Erzieher  für

I. Deutsche Kunst.

Von Rembrandts Volks- und Kunstgeist

Zur heutigen Kunstentfaltung.

II. Deutsche Wissenschaft

Synthese des Geistes

Philosophische Betrachtungsart

Organische Werte, lebendige Werte

Tektonik der Natur

Künstlerische Weltordnung.

Zur Praktik der Wissenschaften.

Subjektive und künstlerische Forschung. (Goethes Farbenlehre.)

Wissenschaft und Menschentum.

III. Deutsche Politik.

Staaten- und Kunstentwickelung.

Kämpfen und Schaffen.

Monarchie, Republik und Volk.

Bauer, Künstler, König

Zu Preußens Germanisierung

Vom niederdeutschen Mutterboden

Konservativ und frei

Schwarz-Weiß-Rot – Schwarz-Rot-Gold

Zur Politik des Geisteslebens

IV. Deutsche Bildung

Gegen den Rationalismus

Universale Anschauung

Künstlerische Bildung

Falsche Historik

Körperpflege und Volksgesundheit

V. Deutsche Menschheit

Menschentum und Volkstum

Von edlen Seelenkräften

Abstufung der Geister

Scheidung der Geister

Christentum und Deutschtum

Katholisches, Reformatorisches

Rembrandt als Erzieher, Julius Langbehn

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849630195

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Julius Langbehn – Biografie und Bibliografie

Deutscher Schriftsteller, Kulturkritiker und Philosoph, geboren am 26. März 1851 in Hadersleben, verstorben am 30. April 1907 in Rosenheim. Nationalist und Mitbegründer eines kulturpessimistischen Antisemitismus. Julius Langbehn wuchs als drittes Kind eines Lehrers und einer Pastorentochter in Kiel auf. Sein Vater starb, als er 14 Jahre alt war. 1870 meldete Langbehn sich mit 19 Jahren als Freiwilliger zum Militär und wurde nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges als Leutnant der Reserve entlassen. Danach studierte er Kunstgeschichte und Archäologie. Später unternahm er Reisen nach Italien. Nachdem er 1875 aus seiner Kieler Burschenschaft dimittiert worden war, ging er nach München, wo er 1880 mit einer Arbeit über „Flügelgestalten der ältesten griechischen Kunst“ zum Dr. phil. promovierte. Nach dem Auslaufen eines Stipendiums 1882 führte er ein unstetes Leben mit wechselnden Arbeitsstellen und Wohnsitzen – u. a. wohnte er längere Zeit bei dem Maler Hans Thoma. 1889 nahm Langbehn Kontakt zur Mutter des geisteskranken Friedrich Nietzsche auf und wollte ihn durch eine Gesprächstherapie heilen. Auf einen früheren Huldigungsbrief hatte der noch gesunde Nietzsche nicht reagiert. Nach einem Anfall Nietzsches reiste Langbehn nach Dresden ab und forderte brieflich von Nietzsches Mutter, dass ihm die Vormundschaft über den Kranken übertragen werde. Dies wurde durch Eingreifen Franz Overbecks verhindert. 1891 wurde Langbehn wegen angeblicher Verbreitung pornographischer Inhalte in seinem Gedichtband „40 Lieder von einem Deutschen“ angeklagt. Daraufhin verließ er Dresden und zog nach Wien. 1900 konvertierte Langbehn zum Katholizismus. Maßgeblich beeinflusst war dieser Schritt durch den Bischof von Rottenburg Paul Wilhelm von Keppler und Langbehns Freund und späteren Biograph Benedikt Momme Nissen.

Wichtige Werke:

Rembrandt als Erzieher, 189040 Lieder von einem Deutschen, 1891Dürer als Führer, 1928Der Geist des Ganzen, 1930Briefe an Bischof Keppler, 1937

Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein. Im Gesamten ist dieser Text zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Julius_Langbehn.

Rembrandt als Erzieher

Leitgedanken.

Zeichen des Niedergangs.

Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimnis geworden, daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Spezialismus; auf dem Gebiet des Denkens wie der schönen Literatur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos. Die Architektur ist die Achse der bildenden Kunst, wie die Philosophie die Achse alles wissenschaftlichen Denkens ist; augenblicklich gibt es aber weder eine deutsche Architektur noch eine deutsche Philosophie. Die großen Koryphäen auf den verschiedenen Gebieten sterben aus; les rois s'en vont. Das heutige Kunstgewerbe hat, auf seiner stilistischen Hetzjagd, alle Zeiten und Völker durchprobiert und ist trotzdem oder gerade deshalb nicht zu einem eigenen Stil gelangt. Ohne Frage spricht sich in allem diesem der demokratisierende nivellierende atomisierende Geist des Jahrhunderts aus. Zudem ist die Bildung der Gegenwart vorwiegend eine historische alexandrinische rückwärts gewandte; sie richtet ihr Absehen weniger darauf, Werte zu schaffen, als Werte zu registrieren. Und damit ist überhaupt die schwache Seite unserer modernen Zeitbildung getroffen; sie ist wissenschaftlich und will wissenschaftlich sein; aber je wissenschaftlicher sie wird, desto unschöpferischer wird sie. "Die Teile haben sie in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band." Goethe, der von den jetzigen Deutschen mehr theoretisch als praktisch verehrt wird, konnte Leute mit Brillen nicht leiden; Deutschland ist aber jetzt voll von wirklichen und geistigen Brillenträgern; wann wird es hierin zu Goethes Standpunkt zurückkehren? Den Bewohnern eines Reiches, wie das deutsche, steht es sicherlich nicht an, sich achselzuckend als Epigonen zu bekennen und auf einen Fortschritt in den eigentlich entscheidenden Fragen des geistigen Lebens zu verzichten. Kein Irrtum ist verhängnisvoller als der, wenn man glaubt, in den Hauptstücken der Bildung fertig zu sein; wenn man meint, sie nur im einzelnen noch nachflicken zu können: solange ein Volk lebendig ist, kann es sich der Notwendigkeit großer geistiger Achsenverschiebungen, in seinem Innern, nicht entziehen. Man macht heutzutage Entdeckungen in Ostafrika, aber es gibt in Deutschland selbst weit wichtigere Entdeckungen zu machen; es genügt nicht, daß die Deutschen sich als Staatsbürger entdeckt haben; sie sollten sich auch als Menschen entdecken!

Wendung zur Kunst.

In der Tat macht sich bereits ein Zug nach dieser Richtung hin bemerkbar; die Besseren unter den Gebildeten Deutschlands blicken nach neuen Zielen auf geistigem Gebiet aus. Bismarck hat allerdings geäußert "die Volksmeinung ist schwer zu erkennen"; und wirklich ist diese oft etwas ganz anderes, als die sogenannte öffentliche Meinung; aber selbst eine verborgene Strömung verrät sich durch ein dunkles Rauschen. So auch hier. Das Interesse an der Wissenschaft und insbesondere an der früher so populären Naturwissenschaft vermindert sich neuerdings in weiten Kreisen der deutschen Welt; es vollzieht sich ein merklicher Umschwung in der betreffenden allgemeinen Stimmung; die Zeiten, in welchen ein angesehenes Mitglied der Naturforscherversammlung zu Kassel diese allen Ernstes für das "Gehirn Deutschlands" erklären konnte, sind vorüber. Man glaubt nicht mehr so recht an diese Art von Evangelium. Man ist einigermaßen übersättigt von Induktion; man durstet nach Synthese. Wir stehen jetzt an der Wendung einer neuen Epoche. Die Herrschaft zwar nicht der Wissenschaft überhaupt, aber doch der gegenwärtigen und sich zeitweilig allmächtig dünkenden Wissenschaft neigt sich zu Ende. Die jetzige vorwiegend gelehrte Bildung der Deutschen bedeutet nur eine Durchgangsstufe innerhalb ihrer geistigen Gesamtentwickelung. Sie sind ein Kunstvolk und sollen sich daher innerlich wie äußerlich als ein solches bewähren; "zu allen Künsten Sachen Handtirungen so ein listig geschwind Volk, daß sie Niemanden nachstehen wollen" nennt sie bereits der alte Sebastian Frank in seiner Weltchronik. Schon in Goethe, ja wenn man will, schon in dem musikliebenden Luther findet sich das unbestimmte Vorgefühl einer solchen Entwickelung; ersterer hatte bekanntlich bis zu seinem 40. Lebensjahr die ernstliche Absicht, sich der bildenden Kunst zu widmen; und die Haupttat des letzteren, die Bibelübersetzung, ist wesentlich eine künstlerische Tat. Besonders die Persönlichkeit Goethes ist in diesem Fall vorbildlich für das heutige deutsche Volk. Die geistige Signatur des letzteren ist zwar zurzeit noch eine wissenschaftliche; doch sie ist es nicht für immer; es scheint vielmehr, daß ihm jetzt zunächst ein Kunstzeitalter bevorsteht. Kleine und trotzdem deutliche Anzeichen bestätigen dies. Wie man an der Haltung eines Grashalms schon die herrschende Windrichtung erkennt, so zeigt sich die geistige Witterungsänderung, welche im heutigen Deutschland stattfindet, unter anderem auch darin, daß der Typus des "Professors" von der deutschen Alltagsbühne sowie aus dem deutschen Alltagsroman verschwindet, um demjenigen des "Künstlers" Platz zu machen. Auch die Trivialität hat ihre Gesetze; und sie gehen, harmonisch genug, denen der Genialität parallel. In diesem Fall verkünden sie beide nur Gutes; sie versprechen eine Erlösung von dem papiernen Zeitalter; sie verkünden eine Rückkehr zur Farbe und Lebensfreudigkeit, zur Einheit und Feinheit, zur Innigkeit und Innerlichkeit.

Wenn das deutsche Volk sich wieder im rechten Sinne zum Bilde und zum Bilden kehrt, so wird es eine Bildung haben; so kann es genesen. "Darum bilde der Mensch sich in allem schön; jede Handlung sei ihm eine Kunstaufgabe", hat Schinkel gesagt. Gerade die so hoch gestiegene Verwirrung und Verirrung in den durchgängig gangbaren Bildungsbegriffen der Deutschen spricht dafür, daß in ihnen bald eine radikale Änderung eintreten wird. "Ist das Chaos da, ist die Schöpfung nah," singt ein neuerer Dichter. Der neubildende Geist kann in diesem Fall nur derjenige sein, welcher in den deutschen Künstlern, dies Wort im weitesten und besten Sinne genommen, lebt; sie sind die Vertreter einer Herzensbildung, während der Gelehrte als solcher grundsätzlich und sogar häufig ausschließlich einer Verstandesbildung huldigt.

Gegenüber dem Niedergang der heute herrschenden wissenschaftlichen Bildung einerseits und dem Aufgang einer kommenden künstlerischen Bildung andererseits liegt es nun nahe, nach den Mittel zu fragen, um beide Vorgänge möglichst zu fördern, zu regeln, klar abzuwickeln. Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Überreife nur eine Unreife; denn der Bildung gegenüber ist die Barbarei stets unreif; und in Deutschland ist die systematische, die wissenschaftliche, die gebildete Barbarei von jeher zu Hause gewesen. "Du kennst unser Deutschland; es hat noch nicht aufgehört, ungebildet zu sein," schrieb einst Reuchlin an Manutius und könnte auch heute noch ein ehrlicher Deutscher dem andern schreiben. Überkultur ist tatsächlich noch roher, als Unkultur. Hier haben also etwaige neue erzieherische Faktoren einzusetzen; und zwar werden sie gerade entgegengesetzt wirken müssen, wie die bisherige oder gewöhnliche Erziehung; das Volk muß nicht von der Natur weg-, sondern zu ihr zurückerzogen werden. Durch wen? Durch sich selbst. Und wie? Indem es auf seine eigenen Urkräfte zurückgreift. Das Volk schafft sich selbst die Medizin, die es braucht; oder es tastet doch nach ihr.

Individualismus der Deutschen.

Das letzte Ziel nationaler Kunst wie Bildung bleibt zwar stets: Monumentalität, Stil, Gebundenheit; aber zunächst muß das deutsche Leben sich lösen, ehe es sich binden kann; die Schleife muß gelockert werden, ehe sie sich wieder schürzen läßt. Drei Aufgaben sind es, welche jetzt der Deutschen harren; nämlich ihren Geist erstens: zu individualisieren und zweitens: zu konsolidieren und drittens: zu monumentalisieren. Jede folgende Stufe der Entwickelung ist ohne die vorhergehende undenkbar.

Individualismus ist das herrschende Prinzip der Welt, soweit diese von menschlichem Standpunkt aus beurteilt werden kann; zugleich aber ist er das herrschende Prinzip des Deutschtums. Durch einen derartigen direkten Bezug zum innersten Kern des Weltlebens wird Deutschland, wie es dies geographisch schon ist, so auch geistig und künstlerisch zu einem Reich der Mitte gestempelt; aber zu einem solchen, welches dem asiatischen Reich der Mitte gerade entgegengesetzt ist; denn nicht Zopf und Buchstabe, sondern Gesetz und Geist sollen in ihm regieren. Nur so kann seine sinkende Bildung wieder zu einer steigenden werden; und sich auch anderen Völkern gegenüber als eine solche bewähren.

"Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend," sagt Fichte. Zu dieser ihm angebornen, jedoch im Laufe der Zeit vielfach verlorengegangenen Eigenschaft muß der Deutsche zurückerzogen werden. Eben in dem zerklüfteten Wesen, in jenem zentrifugalen Bestreben, welches dem Deutschen von jeher eigentümlich war, liegt seine Fähigkeit einer unendlich reichen und mannigfachen Ausstrahlung auf das Welt- und Menschheitsganze beschlossen. Je mehr es ihm gelingt, in dieser Hinsicht aus der Not eine Tugend zu machen, desto vollkommener wird er sein Dasein gestalten. Seine Neigung, individuell zu sein, dem eigenen Kopfe zu folgen, kurz die sprichwörtliche und politisch so oft nachteilig gewesene deutsche Uneinigkeit befähigt ihn ganz besonders, es auf künstlerisch-geistigem Gebiet weiter zu bringen als andere Völker. Individualismus ist die Wurzel aller Kunst; und da die Deutschen unzweifelhaft das eigenartigste und eigenwilligste aller Völker sind: so sind sie auch – falls es ihnen gelingt, die Welt klar widerzuspiegeln – das künstlerisch bedeutendste aller Völker. Bei keinem Volke der Welt findet man so viel lebende Karikaturen, wie bei den Deutschen; diese üble Eigenschaft hat aber auch ihre gute Kehrseite; sie zeigt, daß sie sehr bildungsfähig sind. Je ungeschliffener jemand ist, desto mehr ist an ihm zu schleifen; und desto höheren Glanz kann er erhalten. Die große Zukunft der Deutschen beruht auf ihrem exzentrischen Charakter. Aus dem gleichen Grunde kann ihre höchste Bildungsstufe nur eine kunsterfüllte sein; denn die höchste Bildungsstufe eines Volkes muß der tiefsten Seite seines Wesens entsprechen; und gesunder Individualismus ist, wie gesagt, die tiefste Seite des deutschen Wesens. Der Instinkt treibt sonach die gegenwärtigen Deutschen ganz richtig, wenn sie anfangen, mehr auf künstlerische Gestaltung als auf wissenschaftliche Forschung auszuschauen; aber eben dieser Instinkt sollte sich jetzt zum vollen Bewußtsein erhöhen und zur lebendigen Tat verwirklichen. Deutschland, das auf dem Gebiet der militärischen und sozialen Reform allen anderen europäischen wie außereuropäischen Staaten voranging, sollte dies nun auch auf dem Gebiet der künstlerischen wie geistigen Reform tun; und es kann dies tun, wenn es sich in rechter Art zu dem bekennt, was der Inhalt seines Seins, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Welt ist: Individualismus.

Die Erziehung zu einem und in einem maßvollen Individualismus erweist sich mithin als die nächste Aufgabe des deutschen Volkes auf geistigem Gebiet. Diese neue und doch so alte Geistesrichtung steht dem heute herrschenden wissenschaftlichen Spezialismus ebenso fern, wie dem vor hundert Jahren herrschenden abstrakten Idealismus. Lessing und Schiller schrieben über die Erziehung des Menschengeschlechts; Goethe lebte selbst als Mensch schlechthin; aber nicht diesen letzteren, sondern den deutschen Menschen gilt es heutzutage zu erziehen und zu erzielen. Bei manchem Verlust ist es doch als ein bleibender Gewinn der jetzigen wissenschaftlichen wie politischen deutschen Geistesentwickelung zu bezeichnen, daß sie sich mehr und mehr von leeren Abstraktionen entfernt hat; damit ist zwar noch nicht das Rechte, aber doch der Weg zum Rechten gewonnen: "Humanität, Nationalität, Stammeseigentümlichkeit, Familiencharakter, Individualität sind eine Pyramide, deren Spitze näher an den Himmel reicht, als ihre Basis," sagt Paul de Lagarde. Dieser große und weittragende, dieser echt- und urdeutsche Grundsatz ist nach seinem vollen Werte kaum zu würdigen. Nachdem das Pendel der nationalen Bildung vom Idealismus zunächst zum Spezialismus übergeschlagen ist, muß es nunmehr zwischen diesen beiden Extremen, bei einem gesunden Individualismus, stehenbleiben. Goethe hat bereits diese dreifache deutsche Bildungsskala nach ihrem richtigen Werte unterschieden und aufs bestimmteste formuliert: "Wir wollen indes hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhundert mit uns Deutschen aussieht, und ob wir es sodann dahin werden gebracht haben, nicht mehr abstrakte Gelehrte und Philosophen, sondern Menschen zu sein." Dem Menschen ist der Barbar entgegengesetzt, und das Wesen des Barbaren ist Maßlosigkeit, nach der einen oder nach der andern Seite. Das transzendente Denken der Deutschen von einst teilt daher gewisse Fehler mit dem materiellen Denken der Deutschen von heute; jenes hält sich ebenso weit über, wie dieses unter der Natur; es gibt also einen Punkt, wo sich Kant und Büchner treffen.

Wer ein rechter Deutscher ist, der ist auch ein rechter Mensch; keineswegs umgekehrt; eben hierauf beruht der Vorzug des Deutschtums, welches durch das letzte Jahrhundert, vor dem Menschentum, welches durch das vorletzte Jahrhundert angestrebt wurde. Das Geheimnis besteht darin, sich an seine Individualität zu binden, aber sich nicht von ihr binden zu lassen. Der Deutsche wird sich gewissermaßen selbst widersprechen müssen, um seinem höheren Beruf gerecht zu werden; er wird seine Individualität – das anscheinend Freie und Gesetzlose – zum Gesetz erheben müssen; er wird sich selbst zu konstruieren haben. Denn das Individuelle wirkt erst dann nützlich, wenn es der rein persönlichen Willkür entrückt ist; wenn es sich dem großen Bau eines Volks- und Weltlebens einfügt; wenn es dient. Der Deutsche soll dem Deutschtum dienen.

*

Organisation vermehrt, Desorganisation verzehrt. Es wäre daher zu wünschen, daß die Herrschaft der Mittelmäßigkeiten in Deutschland aufhöre; und daß diese sich dem wahrhaft Großen wieder unterordnen mögen, daß sie bescheiden werden; daß sie sich erziehen lassen. Der erste Schritt hierzu ist Selbsterkenntnis; wer wenig Persönlichkeit besitzt, ist nur der Bruchteil eines Menschen, nicht ein Mensch; wer keine Persönlichkeit besitzt oder bewährt, ist eine Null! Und "alle Nullen der Welt sind, was ihren Gehalt und Wert anlangt, gleich einer einzigen Null", hat Leonardo erklärt; dies gilt selbstverständlich auch von den vielen Nullen im heutigen Deutschland. Würde ihnen der große Einer des echten Individualismus vorgesetzt, so würde sich das geistige Nationalvermögen der Deutschen ganz überraschend vermehren. Er kann ihnen nur vorgesetzt werden dadurch, daß einzelne geistige Individualitäten – sei es aus der Vergangenheit oder Gegenwart – wieder führend an ihre Spitze treten.

Historische Ideale.

Jede Individualität fügt sich aus einer Anzahl von Eigenschaften zusammen; die Art dieser Eigenschaften und ihre, unter irgendeinem Neigungswinkel erfolgte Gruppierung zueinander bilden eben die Individualität. Wenn man eine vergleichende Übersicht sämtlicher unveränderlicher Eigenschaften eines Volkes als einen Querdurchschnitt seines Charakters bezeichnen kann, so darf der zusammenfassende Überblick über die Schar der Männer, welche diese genannten Eigenschaften im Laufe der Geschichte hervorragend entwickelt und veranschaulicht haben, als ein Längsdurchschnitt eben dieser Volksindividualität angesehen werden. Jener Querschnitt ist von abstrakter, dieser Längsschnitt von praktischer Art; er stellt, bildlich gesprochen, den Ahnensaal des betreffenden Volksgeistes dar; jede Eigenschaft des letzteren findet hier einen Hauptvertreter oder deren mehrere; die Tugenden wie Fehler eines Volks werden im Laufe der Geschichte zu Menschen. So auch bei den Deutschen. "Die Deutschen sind ehrliche Leute," sagte schon Shakespeare: Luthers wie Bismarcks Vorzüge beruhen darauf; die Deutschen gelten von alters her für tapfer: Winkelried und Friedrich der Große beweisen es; ebenso ist ihr Denken in Leibniz und Kant, ihr Dichten in Walther von der Vogelweide und Goethe, ihr Singen in Bach und Mozart verkörpert. Andere Züge des Volkscharakters haben sich in andere Männer konzentriert; alle zusammen endlich ergeben die geistige Volksphysiognomie; und diese muß man befragen, wenn man über die Aufgaben und vorher bestimmten Schicksale eines Volks Auskunft haben will. Selbstverständlich wird die Antwort je nach den Zeiten und Umständen, unter denen sie erfolgt, eine verschiedene sein; selbstverständlich wird bald die eine bald die andere Eigenschaft als die führende zu gelten haben; aber immer wird es der Blick in die Vergangenheit, in die von handelnden Männern erfüllte Vergangenheit sein, welcher als Norm für die Zukunft dienen kann. Ein Volk wird für eine gesunde Zukunft erzogen durch seine beste Vergangenheit; und die Gegenwart soll das richtige Verhältnis zwischen beiden er- und vermitteln. Auf dieser Wage wägt man ein Volk.

Es ist sicher: Deutschland kann seine Ideale nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Die historisierende und naturwissenschaftliche Richtung unserer gegenwärtigen Zeit steht dem an sich keineswegs entgegen; denn es hieße sehr oberflächlich urteilen, wenn man annehmen wollte, daß eine auf Wirklichkeit gegründete Weltanschauung des tieferen idealen Gehalts entbehren könne oder müsse. Die Bildung selbst schreitet niemals rückwärts; sie setzt wie der Baum stets neue Ringe an, welche die alten in sich einschließen: das nennt man Wachstum. Demgemäß haben die heutigen Deutschen, deren Großväter eine ideale und deren Väter eine historische Bildung besaßen, aus den Bildungsergebnissen der beiden vorhergehenden Generationen die Summe zu ziehen, indem sie sich – historische Ideale erwählen. Es sind dies Heroen des Geistes, Ahnen des Volks, Vertreter derjenigen seiner Charaktereigenschaften, welche in der gegenwärtigen und zunächst kommenden Zeit bestimmt sind, an die Oberfläche der Geschichte zu treten. "Es gibt nur ein Glück und das ist, sich selbst zu reformieren und klug genug zu sein, um völlig edel zu sein," sagt der vielfach unterschätzte Grabbe; und zu solchem Glück können jene Geister dem Deutschen verhelfen. Sie sind Spiegelbilder seines eigenen schönsten Daseins; an ihnen vermag das Volk seine Leistungen und seine Kräfte und seine Ziele zu messen; in ihnen ehrt es sich selbst. Sie dienen als Kristallisationspunkte für die jeweilige Geistesentwickelung des Volks; sie bilden die hohe Schule, auf welcher es sich für seine künftigen Geschicke vorzubereiten hat; kurz, sie sind die Erzieher ihres Volkes.

Nur Geist kann den Geist beschwören; Faust stieg zu den Müttern hinab; der jetzige Deutsche muß zu seinen Vätern hinaufsteigen – um den Schlüssel zur Zukunft zu finden. Eine volle lebendige Gestalt, welche das Volk vor Augen hat, bedeutet hundertmal mehr als ein Schlagwort oder eine Theorie; das men, not measures gilt auch hier. Goethe hat auf diesen Weg gewiesen in den Worten: "Was an uns Original ist, wird am besten erhalten und belebt, wenn wir unsere Altvorderen nicht aus den Augen verlieren." Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt werden; ein Volk versteht sich in seinen eigenen Volksgenossen; das ist der Vorzug der historischen vor den sonstigen Idealen. Jene haben vor diesen die innere Kontinuität des Lebens voraus. Neues Feuer zündet sich an altem an.

Das Institut der "Eideshelfer" stellt sich als eine uralte deutsche und griechische Rechtsgewohnheit dar; recht verstandener Heroenkultus aber ist eine Art von sittlicher Eideshelferschaft, welche das Volk für seine letzten und tüchtigsten Eigenschaften in Anspruch nimmt. Das individualistische Prinzip, welches den Deutschen überwiegend beherrscht, gab seinem Wesen öfters etwas Unstetes, Zerfahrenes, Zerfließendes; nicht nur in politischen, sondern auch in geistigen Dingen hat sich dies bisher betätigt; gerade demgegenüber bieten jene historischen Ideale einen festigenden Halt. Sie haben als Gesamtpersönlichkeiten zu wirken; sie können und sollen leuchtende Paniere sein, um welche sich die Schar der Kämpfenden, Strebenden, ernst Wollenden in der Gegenwart sammelt. Sie sollen Muster sein; aber nicht für Kenner, sondern für Könner; nicht als eine Kost für Feinschmecker, sondern als eine solche für den Kern des Volks. Es ist praktisch von wenig Wert, das Genie auf Flaschen zu ziehen, wie es heutzutage in Shakespeare- und Goethegesellschaften geschieht; Genie will vielmehr an der Quelle genossen sein; nur so vermag es stärkend und befruchtend zu wirken. Besondere Zeiten erfordern es natürlich, zu einem besonderen Heldenbild aufzublicken; für die Auswahl des letzteren ist das Zeitbedürfnis und die geistige Zeitströmung richtungweisend. Umgekehrt wird sein Einfluß auf die verschiedenen Lebensgebiete eines Zeitalters von denjenigen Bewegungen und Problemen abhängen, welche dieses gerade erfüllen. In politischen Zeiten wird man auf politische Helden, in künstlerischen Zeiten auf künstlerische Helden hinsehen müssen; immer aber wird es darauf ankommen, in diesen Männern nicht das Vorübergehende, ihre spezielle Leistung, sondern das Bleibende, ihre innere Gesinnung nachzuahmen. Nicht das Zufällige, sondern das Notwendige, nicht den einzelnen Mann, sondern das Weben der Volksseele in ihm hat man in jedem Fall zu beachten und zu befolgen. Dann wird man von jener Geistesgemeinschaft, jenem Heroenkultus, jener Selbsterkenntnis des Volksgeistes auch die entsprechenden Früchte ernten. Einem Volk, das diese Methode der Erziehung auf sich anwendet, wird es so wenig an Kräften fehlen wie dem Antäus, solange er die mütterliche Erde berührte. Denn es ist sich selbst treu geblieben.

Den großen konservativen Zug, welcher einem nationalen Geistesleben allein Stetigkeit und infolgedessen das verleiht, was es zu seinem gesunden Bestande unumgänglich braucht und was man etwa: Stil des nationalen Daseins nennen kann, findet ein jedes und auch das deutsche Volk nur im Anschluß an die großen und wahrhaft schöpferischen Geisteskräfte seiner eigenen Vergangenheit: an seine historischen Ideale. Von ihnen ist derselbe beschränkende, regelnde, normierende Einfluß innerlich zu erwarten, welchen die politische Neugestaltung Deutschlands äußerlich auf dieses teilweise ausgeübt hat und künftig noch ausüben wird; sie stehen zwischen Kunst und Politik in der Mitte; sie führen aus dieser zu jener hinüber.

Es ist ein feiner und ganz individueller, aber auch tief bedeutsamer Zug der deutschen Volksseele, daß innerhalb des alten deutschen Rechts – gerade bei dem schon erwähnten Institut der Eideshelfer – die rein persönliche Überzeugung als ein juristischer Beweisgrund angesehen wurde; daß also Persönlichkeit und Subjektivität hier gleichsam objektiven Wert gewinnen. Gerade weil dieser Gebrauch so sehr alt ist und gerade weil er den heute vorherrschenden römischen Rechtsanschauungen schnurstracks zuwiderläuft, beweist er, wie hoch dem Deutschen die Persönlichkeit als solche steht und wie fremd die auf Objektivität abzielende, aber häufig nur geistige Farb- und Charakterlosigkeit erzielende heutige Wissenschaft seinem Herzen im Grunde ist. "Wer sich selbst fehlt, kann nur dadurch geheilt werden, daß man ihn sich selbst verschreibt," äußert der tief denkende und tief fühlende Novalis; in modernes Deutsch übertragen, würde das lauten: "wer an Objektivität leidet, kann nur dadurch geheilt werden, daß man ihm Subjektivität verschreibt". Soweit es sich nun aber um eine für Deutschland heraufdämmernde Kunstperiode handelt, so werden die leitenden Geister – die historischen Ideale, welche für eine solche maßgebend sind – unter den künstlerischen Heroen des Volkes zu suchen sein. Der Gang und die Richtung der deutschen Bildung werden für künftig offenbar durch diejenigen Männer vorgezeichnet, welche in dem Gesamtverlauf der bisherigen deutschen Geschichte als die tatsächlich höchsten Bildungsträger erscheinen. In ihnen sind gewissermaßen die festen mathematischen Punkte gegeben, welche eine Projizierung der kommenden deutschen Bildung in allgemeinen Umrissen ermöglichen; verbindet man diese Punkte zu einer Linie und verlängert dieselbe, so trifft man auf das rechte Ziel. Nun ist es aber bemerkenswert, daß bisher nicht Gelehrte, sondern Künstler die am weitesten vorragenden Höhepunkte der deutschen Bildung darstellen. Walther von der Vogelweide und Dürer, Shakespeare und Rembrandt, Goethe und Beethoven – nicht Renaissancephilologen oder Naturwissenschaftler von heute müssen als solche Höhepunkte gelten.

Das Vorbild für heute: Rembrandt.

Jede rechte Bildung ist bildend, formend, schöpferisch und also künstlerisch; insofern muß man es freudig begrüßen, daß sich unser Volk jetzt allmählich einer einseitig vorherrschenden Wissenschaft ab- und der Kunst zuwendet. Dies ist die geistige Achsenverschiebung, um welche es sich zunächst im deutschen Leben handelt; und es fragt sich nur, in welcher Art und unter welchem Zeichen sie sich nun vollziehen soll.

Wenn die Deutschen das vorzugsweise individuelle Volk sind, so kann auf künstlerischem Gebiet ihnen auch nur der individuellste ihrer Künstler als geistiger Wegführer dienen; denn ein solcher wird sie am ehesten auf sich selbst zurückweisen. Unter allen deutschen Künstlern aber ist der individuellste – Rembrandt. Der Deutsche will seinem eigenen Kopfe folgen, und niemand tut es mehr als Rembrandt. In diesem Sinne muß er geradezu der deutscheste aller deutschen Maler und sogar der deutscheste aller deutschen Künstler genannt werden. Freilich entspricht seine äußere Geltung einem so hohen und einzigen inneren Werte bis jetzt noch nicht; er wird geschätzt, aber nicht genug. Rembrandt ist das Prototyp des deutschen Künstlers; er entspricht deshalb vollkommen als Vorbild vielen Wünschen und Bedürfnissen, welche dem deutschen Volke von heute auf geistigem Gebiet vorschweben – sei es auch teilweise unbewußt. Unter anderen Verhältnissen als den gegenwärtigen würde irgend ein anderer großer Deutscher diese Rolle übernehmen können und müssen; jetzt, da die Deutschen in ihrer Bildung an dem Spezialisten- und Schablonentum kranken, kann der ausgesprochenste Universalist und Individualist: Rembrandt ihnen helfen. Er kann sie zu sich selbst zurückführen. Er ist das betreffende historische Ideal für die nächste Zeit; er ist der feste Punkt, an den neue zukunftsreiche Bildungsformen sich anschließen können. Rembrandt aber war von Geburt ein Holländer. Es ist bezeichnend und eine äußere Bestätigung für den exzentrischen Charakter der Deutschen, daß ihr nationalster Künstler ihnen nur innerlich, nicht auch politisch angehört; der deutsche Volksgeist hatte sozusagen den deutschen Volkskörper aus den Fugen getrieben. Das muß jetzt anders werden; Geist und Körper, im Volk wie im einzelnen, sollen sich wieder zusammenfinden. Der Riß, welcher durch die moderne Kultur geht, muß sich wieder schließen. Und nur eine lebendige Menschengestalt, gleich Curtius in den Abgrund gestürzt, kann ihn schließen; Rembrandt ist ein solcher Mensch. Seine Persönlichkeit, in ihrer völligen Ungezwungenheit und Überindividualität, erscheint als ein wirksames Gegengift gegen das deutsche Schulmeistertum, welches schon so viel Unheil anrichtete. Dieser Mann paßt in keine Schablone; er spottet aller Versuche, ihn auf irgendein gelehrtes Prokrustesbett zu legen. Akademische Programme und Schulformeln lassen sich nicht auf ihn münzen, wie auf Rafael und andere; er bleibt, der er ist: Rembrandt.

Vielleicht neigt der Deutsche nur deshalb so sehr zur Regel, weil sein Charakter von Haus aus ein regelloser ist; er strebt nach Korrektur, nach Ergänzung; aber er sollte eine solche Ergänzung mehr in sich als außer sich suchen; er sollte sich von den Fehlern seines Individualismus reinigen, indem er einen gesunden Individualismus zum Prinzip erhebt. Dadurch wird er seine Natur festigen und einschränken, ohne sie zu mindern oder zu schädigen. Er braucht Bildungstypen, aber nicht Bildungsschablone; denn ein Typus formt sich von innen nach außen, eine Schablone aber von außen nach innen; das ist ein grundlegender Unterschied. "Eines schickt sich nicht für alle." Wie die griechischen Künstler in dem Kanon des Polyklet eine aus dem Volke selbst geschöpfte Normalfigur hatten, deren Maßen sie durchweg ihre Bildwerte anpaßten und denselben dadurch jenen Charakter des Ruhigen und Gleichmäßigen und Harmonischen gaben, welcher einen Hauptvorzug der griechischen Kunst bildet; so hat umgekehrt der deutsche Künstler und der deutsche Mann in einer Gestalt wie Rembrandt ein Muster des Bewegten und Ungleichartigen, des individuell Veranlagten vor sich, welches den Grundzug des deutschen Charakters und damit auch der deutschen Kunst bildet. Beide verhalten sich zueinander, wie der homophone zum polyphonen Gesang. Denn die Aufgaben der Völker sind verschieden; Konkordanz ist der Beruf der einen, Diskordanz der Beruf der anderen; jenes Los ist den Griechen, dieses den Deutschen gefallen; jene sind konzentrisch, diese exzentrisch angelegt. Und niemals ist wohl schöner der rastlose deutsche Geist dem ruhigen antiken Geist entgegengesetzt worden, als in dem tiefdeutschen Spruch Hölderlins: "Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles". Wenn man ihn mit dem aus der tiefsten Tiefe des griechischen Geistes geschöpften Begriff der olympischen Ruhe und Selbstgenügsamkeit vergleicht, so macht sich dieser Gegensatz noch deutlicher fühlbar; "wir suchen nichts; was wir sind, ist alles" hätten die Griechen sagen können.

Um den Weg zur Wahrheit zurückzufinden; sie brauchen die Deutschen nur auf sich selbst zu besinnen: "das nenne ich ein deutsches Aussehen, stark, wohlerzogen und fein", hat Rahel gesagt. Götter und Menschen, Dichter und Propheten, Mann und Weib rufen dem Deutschen zu: sei deutsch! Die Deutschen, als Volk genommen, sind nunmehr stark; aber "wohlerzogen" nur teilweise und "fein" noch weniger. Denn ihre Bildung ist unecht, und das Unechte ist nie fein. Wer das unschätzbare Gut seiner Individualität für den Glitter einer falschen Bildung hingibt, ist nicht klüger als der Neger, welcher sein Land und seine Freiheit für eine Flasche gefälschten Rums und einige Glasperlen verkauft. Stark, wohlerzogen und fein – ist der Charakter der Bachschen Musik; an ihr und zu ihr sollen sich die Deutschen hinaufbilden; stark wohlerzogen und fein – ist der Gehalt der Rembrandtschen Malerei; in sie sollen die Deutschen sich versenken. Das "wohltemperierte Klavier", welches der eine und die sorgsam entwickelte Skala des "Helldunkels", welche der andere hinterließ, sind höchste Bildungsmittel; sie sind es im eigentlichen wie im uneigentlichen, im fachkünstlerischen wie im menschlichen Sinne; sie sind es im deutschen Sinne. Originalität ist nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung alles Künstlertums; sie ist in Rembrandt als einem Musterbeispiel gegeben; durch sie muß der Deutsche hindurchpassieren, wenn er geistig etwas werden will. Das ist die erzieherische Bedeutung dieses großen Künstlers. Wie von Cäsarismus, so könnte man auch von Rembrandtismus reden; nur daß dieser gerade das Gegenteil von jenem ist; denn jener zentralisiert ein Volk äußerlich, dieser individualisiert es innerlich. Das Neue muß an das Alte anknüpfen; aber nur an dem Punkte, wo es am freiesten ist; und am freiesten ist die bisherige deutsche Kultur in Rembrandt. Vieles nimmt man heutzutage unters Mikroskop; es dürfte gut sein, auch einmal einiges unters Makroskop zu nehmen; audiatur et altera pars. In diesem Sinne ward hier der Versuch gemacht, nicht einen Mann an der Zeit, sondern die Zeit – die heutige Gegenwart – an einem Manne zu messen. Es macht den modernen Nichtmenschen in der Regel wenig Eindruck, wenn man ihnen sagt: werdet Menschen; vielleicht macht es ihnen mehr Eindruck, wenn man sie auf einen ganz bestimmten Menschen verweist und ihnen zuruft: werdet Menschen wie Rembrandt. Selbstverständlich bezieht sich das nicht auf den Grad, sondern auf die Qualität seiner Befähigung. Diese Art von Menschlichkeit braucht nicht mit dem Verstande begriffen, nicht aus Büchern geschöpft zu werden; sie läßt sich mit Augen sehen und mit Herzen fühlen; sie ist kein Auszug in eine ideale und unbekannte Fremde: sie ist eine Rückkehr ins Vaterhaus.

Rembrandt als Erzieher für

I. Deutsche Kunst.

Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend.Robert Schumann

Rembrandt ist ein bildender Künstler; auf die bildende Kunst wird er daher besonders stark einwirken müssen. Doch ist hierbei, wie schon hervorgehoben, immer im Auge zu behalten, daß es sich nicht um spezielle Nachahmung seiner Kunstübung, sondern um prinzipielle Nachahmung seiner Kunstgesinnung handelt. Nichts wäre falscher, als jetzt zu rembrandtisieren, wie man früher antikisiert hat; nichts ist notwendiger, als die rechte Nachahmung von der falschen Nachahmung zu scheiden. Kunstgesetze gibt es, Kunstrezepte nicht. Eine Kopie ist niemals Kunstwerk und eine Manier ist niemals Stil; einen Künstler oder eine Kunstrichtung kann man so wenig nachmachen, wie man einen Apfel oder eine Birne chemisch erzeugen kann; beide Kategorien von Dingen wachsen nur von innen heraus. Auf dies so sehr und so lange vernachlässigte Wachstum von innen heraus müssen die Deutschen wieder aufmerksam gemacht werden; und dazu kann ihnen, nach verschiedener Richtung hin, Rembrandt verhelfen.

Der deutsche Charakter.

Musik und Ehrlichkeit, Barbarei und Frömmigkeit, Kindersinn und Selbständigkeit sind hervorragendste Züge des deutschen Charakters; indem Rembrandt ihnen auf künstlerischem Gebiet gerecht wird, zeigt er sich vorzugsweise als einen echten Deutschen. Treue gegen sich selbst, Treue gegen das angeborene enge Stück deutscher Erde, Treue gegen den weiten lebendigen deutschen Volksgeist – kurz die Bewährung der schönsten deutschen Tugend, der Treue überhaupt ist es, welche Rembrandt uns lehren kann und soll. Individualität heißt wörtlich Unteilbarkeit; aber eben diese bedingt zugleich: Einteilbarkeit, innere Abstufung, durchgängige Organisation. Einzelseele, Stammesseele, Volksseele treffen sich und steigern sich gegenseitig in diesem Manne; Seelendreieinigkeit ist es, welche ihn so stark macht. Er ist Rembrandt, er ist Holländer, er ist Deutscher. In dem Begriff des Volkstümlichen und Volksmäßigen aber gipfelt diese künstlerische Skala; darum kann und wird es niemals eine allgemein verbindliche oder allgemeingültige, sondern immer und überall nur eine besonders gestaltete oder relativ gültige Kunstweise geben; eine Menschheitskunst, von der man wohl gesprochen hat, ist unmöglich. Denn das Unendliche kann uns nur in endlicher Form sichtbar werden; sowie man es ohne Umhüllung sinnlich darstellen will, zerfließt es in nichts; das Lebendige wird dann Schablone. Wie es nur Eichen, Tannen, Palmen usw., aber niemals einen Baum an sich gibt, so gibt es auch nur griechische deutsche, französische Kunst usw., aber niemals eine Kunst an sich. Aufgabe der Kunstgeschichte ist es, das Verhältnis jener sich in- und über- und nebeneinander gliedernden Individualitäten, soweit es sich auf künstlerischem Gebiet betätigt, klarzumachen; in der Praxis aber und in dem einzelnen Fall kann man sagen: die deutsche Kunst wird desto besser sein, je deutscher sie ist. Theorie oder gar fremde Theorie entscheidet hier nichts. Hier entscheiden vor allem jene praktischen und angeborenen Eigenschaften, wie sie z. B. Rembrandt im höchsten Maße besitzt. Solche Eigenschaften geben dem niederländischen Malerfürsten das Recht, als ein Hauptvertreter des deutschen Geistes und ein Haupterzieher des deutschen Volkes zu gelten; sie geben ihm die Fähigkeit, die heutige deutsche Volksseele, die ihrer selbst in so mancher Hinsicht vergessen hat, zu diesem ihrem Selbst zurückzuführen; und zwar zunächst auf dem Gebiete der Kunst. Aber ein Einfluß Rembrandtscher Gesinnung auf die Kunst des deutschen Volkes ist ohne einen gleichlaufenden Einfluß der gleichen Gesinnung auf das sittliche und das geistige Leben unseres Volles nicht denkbar. Die bildende Kunst des künftigen deutschen Volkslebens wird ihre Einwirkungen weit über ihre eigenen Grenzen hinaus erstrecken; und ebenso wird Rembrandt noch in anderer Hinsicht, als gerade in bezug auf seine Künstlerschaft, dem deutschen Geiste und dem Deutschen Reiche Anregung wie Anleitung von mancherlei Art bieten können. Ein rechter Mensch ist unerschöpflich; dies gilt auch von einem der echtesten Deutschen, dem Menschen Rembrandt. Die Individualisierung der Kunst, im Rembrandtschen Sinn, wird eine nähere Berührung der Kunst mit dem Leben schon ohne weiteres zur Folge haben. Erinnert sich die Kunst wieder der Volksseele, so wird sich auch die Volksseele wieder der Kunst erinnern; daß letzteres jetzt noch nicht der Fall ist, daß die deutsche Kunst sich heutzutage nur an den vagen Begriff des "Gebildeten" wendet, liegt auf der Hand. Ein wirklich bildender Einfluß der Kunst auf das Volk kann sich nur seitens einer wahrhaft volkstümlichen Kunst entwickeln. Auch hier kann Rembrandt wieder als Leit- und Augenpunkt dienen. Was den heutigen deutschen Künstlern und den heutigen deutschen Gebildeten mit am meisten fehlt: der tiefe innere Ernst der Gesinnung und des Lebens, das Absehen von allen Äußerlichkeiten: von Markt, Mode, Gesellschaft, Bildungstrivialität und Charakterromantik, findet sich nirgend so sehr wie bei Rembrandt! Keines Malers, ja keines Künstlers uns erhaltene Werke sind von einem so tiefen, weltvergessenen Ernst erfüllt, wie die seinigen. Die Gestalten, welche er schuf, blicken uns aus dem Grund ihrer Seele an; man möchte sagen, daß man nicht nur die Tätigkeit des Künstlers, sondern die Erscheinung des Kunstwerks selbst über dessen Seele vergißt. Dergleichen gelingt nur dem Größten. Rembrandts Kunst ist ganz Charakter; und sticht seltsam ab gegen die Frivolität, welche in dem Leben und den Leistungen der heutigen Künstlerwelt so oft vorherrscht. Nichts aber ist schlimmer als Charakterlosigkeit; sie ist das Verbrechen aller Verbrechen.

Daß die Kunst auch eine sittliche Seite habe, daran denkt man heutzutage allzu selten; man fordert m dieser Hinsicht nicht viel vom Künstler; und bekommt deshalb auch in dieser Hinsicht nicht viel von ihm.

Auch der niederländische Meister stand in der letzten Zeit seines Lebens allein gegenüber künstlerischen Tagesmoden, die damals in sein Vaterland eindrangen; aber er blieb, der er war. Der tiefe unbefangene, unerschütterliche Glaube an das Echte verließ ihn nicht; ihn sollten sich die Deutschen, so manchem unechten Bildungs- und Charakterschimmer von heute gegenüber, vorzüglich aneignen. Dann werden sie nicht nur den Künstler, sondern auch den Menschen Rembrandt ehren; und der Segen seiner großen und gesunden Erscheinung wird auf sie zurückfließen. Bismarck hat es als eines seiner politischen Geheimnisse verraten oder vielmehr als einen seiner politischen Grundsätze mit der gewohnten Offenheit ausgesprochen: "wenn ich den Wert eines Menschen kennen lernen will, so subtrahiere ich seine Eitelkeit von seinen Fähigkeiten; mit dem, was übrigbleibt, rechne ich dann erst". Möchten die Deutschen dies Subtraktionsexempel nicht zu scheuen haben. Und "ernst hab' ich es stets gemeint", sagte Goethe in seinem Alter. Möchten auch die jetzigen Deutschen dies von sich sagen können; dann wird es gut um sie stehen.

Seele und Persönlichkeit.

"Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust," klagt der moderne Gelehrte mit Goethes Faust; und "immer strebe zum Ganzen", antwortet es ihm aus Schillers Spruchweisheit. Zwei Seelen – in einer Brust – sind keine Seele; es ist das eigentlichste Wesen der Seele, daß sie nur eine ist; daher denn auch die Seelenlosigkeit der modernen Bildung. Jener Schritt von zwei zu eins ist es, welcher der Mittelmäßigkeit so schwer und dem Genie so leicht wird. "Nah ist und schwer zu fassen der Gott," sagt Hölderlin.

Individualität haben heißt Seele haben; die Individualität eines Menschen ist seine Seele; hier ist also der springende Punkt, von dem alle künstlerischen Bestrebungen ausgehen müssen. "Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt, wo sie es findet," sagte Goethe von der Aufgabe des Künstlers. Selbstverleugnung ist die Losung des Christen, Selbstbetätigung ist die Losung des Künstlers. "Eines ist not", heißt es im Christentum; "Vieles ist not", heißt es in der Kunst. Vor der Rücksicht auf die eigene geistige Persönlichkeit, den eigenen künstlerischen Charakter, die besondere angeborene Künstlerseele müssen demnach dem Künstler andere Rücksichten zurückstehen: Rücksichten des Eigennutzes, der Überlieferung, ja oft selbst der Pietät müssen vor diesem ersten Erfordernisse schweigen. Ein Verzicht auf die eigene Individualität erscheint nur berechtigt, wenn er zugunsten einer höheren und wahrhaft seelischen Weltauffassung stattfindet. Aber seiner Individualität abtrünnig zu werden, aus bloßem Eigennutz oder aus Eitelkeit, ist gemein.

Die Persönlichkeit gehört an die Spitze der Kunst. Nur die erstere kann, wenn sie stark entwickelt wird, der letzteren das geben, was ihr heutzutage so sehr fehlt: echte Naivität. Dieser verlorene Ring muß wiedergefunden werden. Natur, Nation, Naivität entspringen einem gemeinsamen Wortstamme, der das Geborenwerden bezeichnet; also sich wiederum auf die gegebenen Eigenschaften des Menschen bezieht.

Kunst aus erster Hand, nicht aus zweiter Hand brauchen wir. Es ist ein großer Unterschied, ob eine Mutter ihr Kind schreien hört oder ob jemand anders es schreien hört; so ist es auch ein großer Unterschied, ob ein Volk die Muster seiner Kunstübung von sich selbst oder aus der Fremde übernimmt; der Zusammenhang des Blutes entscheidet dort wie hier. Der Künstler soll in seiner Art bleiben und in seiner Art sich bilden; tut er es nicht, so verfällt er der – Entartung; auch Worte sind weise. Der jetzige Deutsche hat zwischen Art und Entartung zu wählen. Natürliche und künstliche Weine lassen sich chemisch gar nicht unterscheiden; was beide dennoch scharf voneinander trennt, ist der Mangel oder das Vorhandensein des Aromas, der Blume; dieser Begriff ist für die bisherige Wissenschaft nicht faßbar; und doch ist er es allein, auf den es in solchem Fall ankommt. Individualismus ist die "Blume" des Lebens.

Die eigentliche Bedeutung der deutschen und aller Kunst überhaupt wurzelt im Typischen, Nationalen, Lokalen, Persönlichen; je klarer dies erkannt und je stärker dies betont wird, desto besser ist es für ihre Entwicklung; so auch im heutigen Deutschland. An der starken Persönlichkeit Rembrandts kann es sich aufrichten, erbauen, wiedergebären; ihr Wert ruht in ihrer Einzigkeit; und diese betätigt sich äußerlich wie innerlich, im kleinen wie im großen. Rembrandt ist unter den Künstlern des Nordens der einzige, welcher gleich den großen Künstlern des Südens seinen Vornamen zum Rufnamen erhob; der Name seines Vaters, nach dem er sich hätte nennen sollen, war Harmensz. Aber auch in seinem Vornamen "Rembrandt" liegt schon an sich ein ganz besonderer Hauch des Individuellen. Wie die individuelle und zuweilen überindividuelle Geistesrichtung der Engländer sich schon in ihren vielen und einem Festländer oft höchst sonderbar erscheinenden Vornamen – man denke nur an Percy Byshhe Shelley u. a. – kundgibt, so gilt ein gleiches auch von den Niederländern und am meisten von dem größten niederländischen Künstler. Sein Name ist fast so selten wie seine Kunst. Dieser Umstand deutet wiederum darauf hin, daß nicht nur Geist und Körper, sondern auch Namen und Sachen in einer eigenen, geheimen, unzweifelhaften Verbindung miteinander stehen; in der Natur ist alles Gesetz, nichts Zufall. Es gibt authentische Porträts Rembrandts sowohl wie Beethovens, auf welchen beide vollkommen wie Wahnsinnige aussehen; auch Goethe hat gelegentlich von sich gesagt, daß gewisse Gespräche, die er mit geistig sehr angeregten Leuten führte, ihn und sie in den Augen unbeteiligter Zuhörer hätten als Wahnsinnige erscheinen lassen müssen; so berührt die Persönlichkeit ihre äußerste Grenze.

Jede Individualität stellt eine Abweichung vom Normalen dar; und wenn es gestattet ist, nach Analogie des Wortes Ideal ein Wort Normal zu bilden, so kann man sagen: sie ist ein verschobenes Normal; aber man muß sich hüten, Verschobenheit mit Verschrobenheit zu verwechseln. "Der Schädel Beethovens ist ein derart häßlicher, daß hinter dieser Schale niemand den edlen Kern hoher geistiger Begabung suchen würde," äußerte ein moderner Anatom nach eigener Augenscheinnahme desselben. Was indes dieser Mann der Wissenschaft "häßlich" nannte, ist gerade im Rembrandtschen, im deutschen, im individuellen Sinne "schön": nämlich ein hoher Grad von Unregelmäßigkeit, Verschobenheit, Eigenartigkeit; und so ergibt sich für den unparteiisch Urteilenden, daß Beethovens Schädel mit seiner Musik durchaus übereinstimmt. Klarheit, Ebenmaß, Gleichgewicht fehlt beiden; aber Kühnheit, Kraft, Reichtum der Formen und des Inhaltes besitzen beide. Auch hier behält die Natur gegenüber dem Professor recht; oder vielmehr der letztere kennt die Natur nur halb: der Schädel und die Kunst Rafaels bewegen sich in reinen, der Schädel und die Kunst Beethovens in unreinen Linien. Aber unreine Linien sind nicht unschöne Linien. Es liegt keinerlei Grund vor, die eine oder die andere Formation an sich vorzuziehen; Rafael, der Umbrer, ist den Griechen verwandt; Beethoven war ein Deutscher. Für Deutschland ist nun einmal die deutsche Schädelform die beste, die fruchtbarste; und eben das kann man von der Rembrandtschen Kunstrichtung, gegenüber der Rafaelschen, sagen. Nach einem alten Kunstgesetz soll Harmonie, die sich aus Disharmonie entwickelt, höher zu schätzen sein als eine solche, die sich aus der Harmonie selbst entwickelt; und danach wäre die deutsche Schädel-, Kunst- und Geistesform, wo sie in durchgebildeten Persönlichkeiten auftritt, jedenfalls als die höhere zu bezeichnen. Deutschlands Nationaldichter Schiller hat sogar gemeint und in seiner bestimmten und kurz formulierenden Art ausgesprochen: daß der Weg aller Bildung von der Natur durch die Unnatur zur Natur zurückgehe.

Von Rembrandts Volks- und Kunstgeist

1. Wahrheitsliebe

Falscher Klassizismus, wie man ihn während der letzten hundert Jahre vielfach in Deutschland gepflegt hat, ist unwahr; echter Klassizismus ist, seinem ganzen Wesen nach, wahr. Wahrheit ist im sittlichen wie im geistigen Leben die erste aller Pflichten; Rembrandt ist der Maler der Wahrheit und Natürlichkeit; und darauf ist seine ganze Meisterschaft gegründet. Was ist Wahrheit? hat man oft genug in der Kunst gefragt und oft auch hier den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Wahr ist, wer wahrt. Der Künstler hat seine Persönlichkeit zu wahren; durch sie wird er schöpferisch: und desto mehr, je mehr er sie wahrt – gegenüber allen äußeren Ansprüchen von Tradition, Markt, Mode, Theorie, eigener Schwäche und fremder Anmaßung. Wahr ist, was währt. Das Bleibende in Natur und Menschheit, die großen einheitlichen Züge in ihr, die feste Volksphysiognomie, welche weder in einzelpersönlicher Willkür noch in leere Abstraktionen überschlägt, sie allein währen – wie anderswo so auch in der Kunst. Das Wort "Wahrheit" erklärt also sich selbst; sie ist ein, ja sie ist das konservative Prinzip, wenn es richtig verstanden wird. Mode ist demokratisch, Stil ist aristokratisch. Was der deutschen Kunst von heute fehlt, ist ein konservativer Charakter; sie tastet bald so bald so; sie ist, innerlich und sogar ganz äußerlich, nirgends zu Hause. Bilder und Statuen müssen für ein bestimmtes Licht, für einen bestimmten Platz, für ein bestimmtes Gebäude, nicht für Markt oder Laden gearbeitet sein. Die antike Kunst gruppierte sich um den Tempel; die moderne Kunst gruppiert sich um die Bude; ein solches Zentrum bietet zu wenig Halt. Die echte Kunst ist nicht nur ihrem Ursprunge, sondern auch ihren Zielen nach lokal umgrenzt; sie bedarf, wie das einzelne Bild, eines festen Rahmens; und nur die konservativ-aristokratische Richtung des geistigen wie sozialen Lebens einer Nation kann ihr ihn bieten. An dieser eingebornen deutschen Geistesrichtung gilt es festzuhalten; sie gilt es zu vertiefen; denn der Deutsche ist nur wahr, wenn er deutsch ist und er ist nur deutsch, wenn er wahr ist. Kein bildender Künstler ist mehr wie Rembrandt in diesem Sinne wahr gewesen; keiner hat mehr wie er von äußerlicher Tradition und äußerlicher Klassizität abgesehen; er hat sich selbst dadurch zu einem "ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht" gemacht. Er währt, weil er wahrt.

Eine solche "wahre" Erscheinung kann zum Maßstab für das geistige Leben von heute dienen. Weder die künstlerischen Naturalisten noch die wissenschaftlichen Spezialisten der deutschen Gegenwart "wahren" ihre eigene Persönlichkeit oder die großen bleibenden Züge in Natur wie Menschheit. Was beide interessiert und was beide darstellen, ist das unpersönliche Kleinigkeitswesen in Natur wie Menschheit; sie verleugnen sich selbst und den Weltgeist, d.h. Gott; sie sind durch und durch unwahr. Und eben darum sind sie vulgär.

Die deutsche Ehrlichkeit, obwohl in neuerer Zeit etwas aus der Mode gekommen, ist doch kein leerer Schall; an ihr muß daher auch die deutsche Kunst einen vollen Anteil haben. Ein vielbedeutender Ausspruch Goethes "es ist unbedingt ein Zeichen von Wahrheitsliebe, überall in der Welt das Gute zu sehen", bestätigt dies; und wenn ein solcher Ausspruch richtig ist, so muß man Rembrandt für einen und vielleicht den wahrheitsliebendsten unter allen Künstlern erklären. Keiner hat, wie er, im Schmutz der Welt das Gold des Geistes aufzulesen verstanden. Er ist dadurch mehr als irgendein anderer Künstler zum Eroberer im Gebiet der Kunst geworden. Rembrandt hat das ganze weite Gebiet dessen, was man vor ihm und auch lange nach ihm prosaisch nannte, dem Reich der Poesie einverleibt. Seit ihm kann man logischer und begründeterweise nicht behaupten, daß irgendein Gegenstand oder eine Situation in der Welt von der echten künstlerischen Darstellung ausgeschlossen oder ihr verschlossen sei; seit ihm gibt es für die bildende Kunst keine Grenzen mehr. In seiner göttlichen Unbefangenheit, seinem sachlichen Blick, seiner rücksichtslosen Verachtung aller willkürlich gezogenen Schranken der Kunst geht er sogar noch weiter als das erd- und himmelbewegende Kind Shakespeare. Er ist das enfant terrible der Kunst; aber im schönsten Sinne des Wortes: er ist ein Kind und dabei doch großartig, furchtbar, unheimlich durch die Tiefe seines forschenden Blickes, dem nichts verborgen bleibt.

2. Lokalismus.

Rembrandt war nicht nur als Mensch, sondern auch in seinen speziellen künstlerischen Leistungen ein rechter Holländer. Starke Persönlichkeit erwächst nur aus starkem Stammesgeist und dieser nur aus starkem Volksgeist; die Betriebsamkeit, Freiheitsliebe, Gemütstiefe, Schlichtheit des holländischen Charakters spiegelt sich in Rembrandts Werken mehr als irgendwo. Das sind Eigenschaften, welche die heutige deutsche Kunst recht wohl gebrauchen kann. Aber auch von diesen selbst abgesehen, ist der der gesamtdeutschen Kunst gegenüber so ungemein hoch entwickelte provinzielle Charakter der Rembrandtschen Malerei noch in einem ganz anderen Sinne von entscheidendster Wichtigkeit. Das edle Gefühl der Stammeseigentümlichkeit ist den Deutschen, über ihrer politischen Zersetzung, vielfach abhanden gekommen: sie nennen sich Württemberger, aber nicht Schwaben, Hannoveraner, aber nicht Niederdeutsche; damit ist ein Stück Volksseele verlorengegangen, das wiedererobert werden muß. Und vor allem ist dies auf künstlerischem Gebiet erforderlich. Wer die Gesetzmäßigkeit der altgriechischen Lokalalphabete kennt, welche gewisse Buchstabenformen streng und konsequent, und ohne Wissen der Handhabenden auf einzelne kleine Landbezirke oder Inseln beschränkt: wer die harmonische und man möchte sagen musikalische Folgerichtigkeit der Grimmschen Lautgesetze auf sich wirken ließ; wer erfuhr, wie selbst heute noch sprachliche Verschiedenheiten und Eigentümlichkeiten Z. B. des Plattdeutschen von geübten Ohren zuweilen bis auf die von dem Sprechenden bewohnte Quadratmeile unterschieden werden; der weiß auch, wie tief, wie durchdringend, wie allbeherrschend in der Natur, selbst da, wo sie sich mit der Kultur berührt, das individualistische Prinzip ausgeprägt ist. Diesen Schattierungen der Natur hat die Kunst zu folgen. Die deutsche Kunst muß sich nach dem Bilde der von Tacitus geschilderten deutschen Dörfer entwickeln: "wo jedem ein Platz oder ein Hain gefällt, da siedelt er sich an"; gerade die frühesten Anfänge eines Volkslebens lassen oft seine Eigenart und seine damit gegebene Bestimmung am deutlichsten erkennen. Der rechte Künstler kann nicht lokal genug sein. Eine gesunde und wirklich gedeihliche Entwickelung des deutschen Kunstlebens ist mithin nur dann zu erwarten, wenn sie sich in möglichst viele und in ihrer Einzelart möglichst scharf ausgeprägte, geographische, landschaftliche, lokale Kunstschulen scheidet und gliedert. Hier ist Dezentralisation, nicht Zentralisation notwendig. Rembrandt selbst war das Haupt und Zentrum einer derartigen lokalen Kunstschule. Er ist dem Boden treu geblieben, dem er entstammt; er malte holländisch.

In gleicher Weise hat sich die Kunst bei den Griechen, bei den Italienern und sogar, wiewohl in abgeschwächtem Maße, auch bei den Modernen entwickelt; es gilt nunmehr dies Prinzip für die deutsche Gegenwart und Zukunft festzuhalten, es zu verschärfen und womöglich zu vertiefen. Es ist nicht wünschenswert, daß Deutsche oder gar Ausländer sich mit Vorliebe in größeren Zentralpunkten der Kunst in Berlin oder Düsseldorf oder München zusammenfinden, zuweilen auch zusammenfilzen und dort nach der gerade herrschenden Mode malen: heute Cornelius, morgen Piloty. Darin liegt nicht die wahre Methode. Die Kunst braucht Zerstreutes, nicht gesammeltes Licht; unter dem Brennglas kann nichts wachsen. Eine rechte Kunst kann nur aus dem mannigfach nuancierten und doch in sich einheitlich verbundenen Volkscharakter erstehen. Die Mängel gewisser moderner Kunstentwickelungen beweisen dies. Die Pariser Kunst entbehrt sehr das französische Provinzleben; sie wechselt zwischen Demimonde und Proletariertum, zwischen Patchouli und Holzschuhen; und in der Münchener Kunst weiß man wenig von Hamburg. Es fehlen hier wie dort die innigen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Volksorganismus.

Geist der Individualität ist Geist der Scholle. Die Kunst bedarf des Lokalismus und des Provinzialismus; hier ist der Kantönligeist am Platze; in den heimatlosen Millionenstädten werden Kunst und Künstler schnell verzehrt, aber selten erzeugt. Will man daher auch nicht mit dem Bismarck von 1848 wünschen, daß jene Millionenstädte "vom Erdboden vertilgt würden", so möchte man doch wünschen, daß ihre Rolle im produzierenden Kunstleben eine minder bedeutende werde als bisher. Das atemlose Jagen nach Gewinst, welches an solchen Orten herrscht, ist höheren Interessen nicht förderlich; diese werden dort oft erstickt und öfter gemißbraucht. Auch erscheint es wünschenswert, daß einzelne sittliche Schattenseiten des millionenstädtischen Lebens auf künstlerischem Wege nicht noch mehr in Umlauf kommen, als es ohnehin schon der Fall ist. Durch eine eigentümliche Ironie des Schicksals geraten sonst leicht höchst frivole Kunstwerke in eine höchst ehrbare Umgebung; Beispiele liegen nahe. Die heitere und dekorative, aber innerlich hohle Kunst Makarts; die herben und kräftigen, aber innerlich kühlen Werke Menzels; die farbigen, aber innerlich teils groben, teils raffinierten Leistungen der Münchener Malerschule – sie alle spiegeln die Örtlichkeit ihres Ursprungs ganz unverkennbar wider. Aber weshalb soll der Deutsche sich mit diesen wenigen und nicht eben besten Reflexen seines nationalen Einzeldaseins begnügen? Weshalb sollten nicht auch die deutschen Mittelstädte, welche jetzt etwa die Bedeutung haben, wie Haarlem oder Leyden im einstigen Holland, zu künstlerischen Pflanzstätten werden?

3. Bürgertum

Unerfahrene Kinder und geübte Diplomaten haben das oft blitzartige Durchschauen von Menschen und Charakteren miteinander gemein; aber freilich aus einem ganz entgegengesetzten Grunde: jene besitzen noch den Blick für das Ganze, diese schon denjenigen für die Einzelheiten des menschlichen Seelenlebens. Man kann sagen, daß der rechte Künstler beide genannten Eigenschaften in sich vereinigen muß; und Rembrandt hat eben diesen Doppelblick; er weiß die Seele des Menschen zu malen, wie keiner vor oder nach ihm! Er ist als Maler der Repräsentant, aber zugleich auch der Schilderer – Schilderer bedeutet im Holländischen: Maler – der deutschen Volksseele; er stellt sie von jener Seite dar, wo sie am tiefsten ist. Alles Hochtrabende, Akademische, Formalistische liegt ihm so fern wie möglich. Er spricht seine Gedanken mit derselben Offenheit und man möchte fast sagen Verlorenheit aus, wie es ein Kind tut; aber seine künstlerische Seele gibt auch an Schärfe und Feinheit der Beobachtung dem gewiegtesten Weltmanne nichts nach. Er taucht in die Tiefe und bringt Perlen herauf. Kein Künstler steht dem eigentlichen Bürgerstande so nahe, kein Künstler weiß so wie er den großen Gehalt in schlichte Form zu fassen. Aus dem Bilde eines Schreibmeisters, eines Gefängniswärters, in einfacher Radierung schwarz auf weiß, versteht er Seelengemälde zu machen, die einem Hamlet oder Fallstaff Shakespeares nicht nachstehen. Ein gelagertes Schwein oder eine Frau, die Pfannkuchen bäckt, weiß er mit wenigen hingekritzelten Strichen so zu zeichnen, daß es ihm kein Künstler der Welt nachmacht. Von ihm kann die Kunst den Zusammenhang mit dem Volk, mit dem Mittelstande wieder lernen, den sie infolge ihrer Kostümliebhabereien und ihres sonstigen Archaisierens verloren hatte.

Erst wenn der Künstler sich nicht mehr als romantische Ausnahmeperson, sondern als ein Bürger unter Bürgern fühlt, kann er wieder zu gedeihlicher Tätigkeit gelangen. Wer die deutschen Künstler von heute kennt, weiß, daß dies bürgerliche und wenn man will spießbürgerliche Gefühl den meisten von ihnen fehlt; Rembrandt hatte es, so gut wie Shakespeare es hatte. Beide sind nicht trotzdem, sondern deswegen die großen Künstler, die sie sind. Zur Zeit als Shakespeare den Macbeth schrieb, mahnte er einen seiner Nachbarn um einige geliehene Scheffel Korn; und die betreffende Tragödie ist darum nicht schlechter geworden. Der Künstler, der im besten Sinne des Wortes "bürgerlich" ist, wird seinen Mitbürgern dadurch auch persönlich nahetreten und sie seinerseits um so eher zur Kunst hinüberziehen; nicht der Maler mit seiner manierierten Samtjacke, sondern Walther von der Vogelweide mit dem Schwert an der Seite, Peter Bischer im Schurzfell und Rembrandt in der Arbeitsbluse sind die rechten Künstlertypen. Je weniger der Künstler sich äußerlich von seinen Mitbürgern unterscheidet, desto besser ist es für ihn, desto echter wird er sein; ihn als eine Art von interessantem Vagabunden, Bohéme anzusehen, ist französische, nicht deutsche Auffassung. Nicht aufzufallen, ist das erste Gesetz des guten Tones; es gilt auch in bezug auf das persönliche Verhältnis des Künstlers zur bürgerlichen Gesellschaft: je mehr er mit ihr verschmilzt, desto besser ist es für ihn und für sie. Unscheinbarkeit steht jedem gut, und dem Großen am besten; und dem Deutschen ist sie eigentlich angeboren. Gerade hieraus erklärt sich Zum guten Teil die geringe Beachtung, welche Rembrandt bisher bei seinen weiteren Landsleuten, den Deutschen, gefunden hat. Es ist merkwürdig genug, daß der volkstümlichste aller Maler, ja wohl aller modernen Künstler der Durchschnittsmasse der heutigen Gebildeten am unbekanntesten oder doch geistig am fremdesten gegenübersteht. Rafael ist ihnen vertraut, aber Rembrandt nicht; und doch wäre ein Studium gerade des letzteren Künstlers den Deutschen so heilsam. Er ist in mancher Beziehung ihr besseres Selbst. Die künstlerische Persönlichkeit Rembrandts ist so überaus reich, daß hier nur wenige Hauptzüge seines Wesens hervorgehoben werden können, um dies nachzuweisen.

4. Musikalisches

Richard Wagner hat richtig bemerkt, daß das Adagio "die Grundlage aller musikalischen Zeitbestimmung" sei; und insofern die Deutschen das musikalischeste aller Völker sind, darf man es das speziell deutsche Musiktempo nennen. Was ist wohl deutscher als ein Adagio von Beethoven? Hier erkennen wir unsere Seele. Rembrandts Bilder sind geradezu im Adagio gehalten, wie sie sich denn überhaupt einem musikalischen Empfinden nähern. In der Tat gibt es Brücken zwischen den einzelnen Künsten; die Architektur kann sich in die Plastik, die Plastik in die Malerei, die Malerei in die Musik verlieren; und zwar ohne sich zu verirren. Im Gegenteil, dieses Überfliegen einer Kunst in die andere scheint gerade dann stattzufinden, wenn jede einzelne Kunst ihr höchstes Niveau erreicht hat: die gotischen Dome lösen sich in Bildhauerarbeit auf; Michelangelo malte Skulpturen an der Decke der sixtinischen Kapelle; Leonardo und Giorgione waren nicht nur selbst bedeutende ausübende Musiker, sondern sie ließen auch von dieser Kunst etwas in ihre Gemälde überklingen. Die weiche Luft oberitalienischen Klimas und der milde Hauch oberitalienischer Musik äußert sich in ihren Bildern als das, was technisch sfumato genannt wird. Auch in Rembrandts Gemälde scheint etwas von dem leisen Rauschen des Meeres hineinzutönen, das seine Heimat umspült; weiche, süße, schmelzende Farbenakkorde durchfluten sie. Sie haben etwas von jenem stillen, tiefen, dunklen, bezaubernden Wohllaut an sich, wie er gewissen Volksliedern des nördlichen Deutschlands eignet; und wie man ihn etwa den Weisen des Rattenfängers von Hameln zuschreiben möchte. Kurz es ist eine niederdeutsche Musik und eine niederdeutsche Melancholie, die in seinen Bildern lebt. Melancholisch heißt wörtlich "schwarzgallig": gerade etwas "Schwarzgalliges" ist schon äußerlich den Bildern Rembrandts eigen; sie bewegen sich gern in den Tönen Schwarz und Grüngelb, und sind so in ganz eigentlichem Sinn melancholisch. Aber sie sind dies auch innerlich; eine zur Harmonie aufgelöste Bitterkeit erfüllt sie – wie die Werke Beethovens. "Die Wollust der Kreatur ist gemenget mit Bitternis," sagte Meister Eckhard; und von der Wollust der Kunst gilt oft dasselbe. Die musikalisch-melancholische Natur des Deutschen findet somit in Rembrandt ihr Echo. Eine Art von zart verschwiegener, weltabgekehrter deutscher Anmut ist ihm zuteil geworden: von der vollen, runden, hellen, heiteren Grazie des Südländers hat er nichts. Viele seiner Gemälde sind fast monochrom zu nennen; ihre Buntheit, soweit vorhanden, bewegt sich stets in sehr engen Grenzen; sie gleicht fast nur dem leisen Schillern der See. Dieser Maler ist in allen seinen Mitteln außerordentlich anspruchslos, dafür aber um so feiner. Etwas von jenem nebelhaften Duft und Schmelz, der seine Werke umspielt, wäre dem so mannigfach brutalisierten und vielfach allzu grell beleuchteten deutschen Leben von heute recht sehr zu wünschen, in der Kunst wie anderswo.

5. Abtönung

Rembrandts Vornehmheit bleibt sich stets gleich. Es ist eine Vornehmheit, die aus der Wirklichkeit und dem Schoße des Volkes geboren ist. Es ist eine gedämpfte und fast lautlose, aber dadurch nur um so wirksamere Vornehmheit; sie ist nicht von prunkender und glänzender Art; sie strahlt von außen nach innen, nicht von innen nach außen; sie blendet nicht, sondern beruhigt. Rembrandts Kunst ist gerade hierin echt niederländisch, echt deutsch, echt nordisch; gerade hierdurch ist sie vielem überlegen, was man sonst wohl als besonders vornehm zu preisen pflegt: fremden, südlichen, glühenden Natur und Kunsteffekten. Die sogenannte exotische Farbenpracht ist sehr häufig nur exotische Farbenarmut; und dies darf man nicht übersehen; die nordischen Naturerzeugnisse im Tier- wie Pflanzenreiche sind in bezug auf künstlerische Wirkung reicher