Revolutionär und Staatsgründer - Wolfgang Templin - E-Book

Revolutionär und Staatsgründer E-Book

Wolfgang Templin

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Beschreibung

Es war ein sozialistischer Berufsrevolutionär, der Polen 1918 nach mehr als 120 Jahren der Teilung zu einem eigenen Staat führte: Józef Piłsudski (1867–1935). Unter dem Zaren zeitweise nach Sibirien verbannt, kämpfte er im Ersten Weltkrieg mit eigenen Truppen für Polens Unabhängigkeit. In der neu gegründeten Republik herrschte er ab 1926 autokratisch.
Heute gilt Piłsudski als einer der bedeutendsten europäischen Staatsmänner seiner Zeit. Doch insbesondere für Polens Nationalkatholiken bleibt er ein sperriger Held: der Religion gegenüber zu gleichgültig, zu sehr der Aufklärung verbunden, zu kosmopolitisch. Wolfgang Templin lässt Piłsudskis abenteuerliche Biografie lebendig werden. Zugleich erzählt er die tragische Geschichte eines Landes zwischen den Großmächten.


»Fesselt tatsächlich wie ein Abenteuerroman.«
Johanna Bichlmaier, Sehepunkte, über Wolfgang Templins Buch Der Kampf um Polen

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Seitenzahl: 611

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Wolfgang Templin

Revolutionär und Staatsgründer

Wolfgang Templin

REVOLUTIONÄR UND STAATSGRÜNDER

Józef Piłsudski – eine Biografie

Wydano z finansowym wsparciem FundacjiWspółpracy Polsko-Niemieckiej

Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung der Stiftungfür deutsch-polnische Zusammenarbeit

Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung (www.boell.de).

 

 

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeAngaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Ch. Links Verlag ist eine Markeder Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

entspricht der 1. Druckauflage von 2022

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,unter Verwendung eines Fotos aus der Bibliothèque nationale de France

ISBN 978-3-96289-152-7

eISBN 978-3-86284-523-1

INHALT

Vorwort von Ellen Ueberschär

Annäherungen

1Die verwunschene Provinz

Verlust der Freiheit

Die Sterne von Zułów

Das verhasste Gymnasium

Spójnia – eine geheime Schülergemeinschaft

Abschluss des Gymnasiums

Als Student in Charkow

Attentäter und Dilettanten

2Sibirische Lektionen

Ein eigener Kontinent

Auf dem Weg der Verbannten

Sozialistische Lehrer

Leonarda

Träume künftiger Größe

3An der Spitze der Sozialisten

Zurück in Wilna

Wilnaer Salons – Maria, Roman und Józef

An der Spitze der Sozialisten

Polnische Sozialisten gegen die Anhänger Rosa Luxemburgs

4Berufsrevolutionär

Konspirative Abenteuer

Genosse Wiktor

Die Falle schnappt zu

Flucht aus der Psychiatrie

5Der Kommandant

Krakau als neues Hauptquartier und Domizil

Luxemburg und Lenin in Krakau

Das japanische Abenteuer

Das Jahr 1905

6Die Spaltung der PPS

Parteikämpfe

Die Kampfgruppen der PPS

Der große Krieg rückt heran

Polnische Unabhängigkeitskräfte

7Legionen – Mythos und Realität

Die Formierung der ersten polnischen Einheiten

Die Gründung der POW

Warschau – Taktieren im Pseudostaat

Magdeburg

8Polonia Restituta

Ankunft in Warschau

Ein Staat entsteht

9Regierungsgeschäfte

Graf Kesslers Mission

Staatsbildung

Wahlen und verfassunggebende Versammlung

10Siege und Niederlagen

Eine Armee aus dem Nichts

Der Marsch auf Kiew

Entscheidung an Weichsel und Njemen

11Landschaft nach der Schlacht

Waffenstillstand

Verhandlungsergebnisse

Ein Präsident wird ermordet

12Rückzug nach Sulejówek

Leben als Schriftsteller

Familie und Freunde

Stille vor dem Sturm

Tage im Mai

13Zurück auf der Bühne

Der Preis des Staatserhalts

Erster unter Ungleichen

Repressionen und Straflager

14Die letzten Jahre

Madeira

Die Bedeutung der Streitkräfte

Auf der Suche nach Verbündeten

Der doppelte Weg

15Größe und Wirkung

Der Kampf um das Erbe

Über den Abgrund hinaus

Hoffnungszeichen

Anhang

Abbildungsnachweis

Karten

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Der Autor

VORWORT

Als Heinrich Böll im Oktober 1983 die Festrede zur Verleihung des Übersetzerpreises der Robert-Bosch-Stiftung an Teresa Rządkowska-Jętkiewicz (1905–1983) hielt, konnte die Preisträgerin wegen des Kriegsrechts nicht anwesend sein. Böll aber hob anlässlich der Ehrung seiner Übersetzerin die Bedeutung Polens für die europäische Kultur hervor und würdigte Schriftsteller und Übersetzer, mit denen er vertraut war. Vor allem angesichts der preußischen Geschichte der letzten 150 Jahre, so Böll, brauche Polen keine Belehrung von außen. Gleichzeitig aber gebe es eine Verantwortung gegenüber dem Zeitgeschehen, die über diplomatische Höflichkeit hinausgehe. Und deshalb erinnerte er an die politischen Gefangenen und namhaften Dissidenten – u. a. Jacek Kuroń und Adam Michnik – und die Prozesse gegen diese.

Nicht belehren, aber die Werte der Demokratie verteidigen! Nichts könnte aktueller sein für die Heinrich-Böll-Stiftung, die seit 2002 auch ein Büro in Warschau unterhält. Polen als gleichberechtigten Teil der europäischen Geschichte zu verstehen, hat sich im Grunde erst im Europa nach 1989 durchgesetzt – und davon gilt es, keine Abstriche zu machen. Es waren immer wieder gerade Polinnen und Polen, die für die Freiheit unseres Kontinents eingetreten sind, nicht zuletzt die Freiheitskämpferinnen und -kämpfer des 20. Jahrhunderts während des Zweiten Weltkriegs und der sowjetischen Besatzung nach 1945. Gerade Letztere plädierten immer wieder für eine »Rückkehr nach Europa«und damit zu den Errungenschaften von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Das deutsch-polnische Verhältnis befindet sich gerade in einer schwierigen politischen Phase. Von der aktuellen Regierung geförderte Entwicklungen wie Rechtsstaatsabbau, Diskriminierung von Menschen, Migrationsfeindlichkeit, geschürte Ablehnung der EU und Missachtung ihrer Institutionen sind nicht hinnehmbar. Dennoch unterstützt die Heinrich-Böll-Stiftung alle publizistischen Bemühungen, die dazu beitragen, das Wissen über Polen, seine Geschichte, seine Menschen und seine politischen Erfahrungen zu erweitern. In diesem Sinne war Wolfgang Templin von 2010 bis 2013 unser Büroleiter in Warschau. Sein Leben ist geprägt vom bedingungslosen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte. Enge Verbindungen nach Polen knüpfte er schon in den 1980er-Jahren in der DDR.

Auf dieser Basis aufbauend ist es kein Zufall, dass er nun ein Buch vorgelegt hat, das das Leben desjenigen betrachtet, den die Polen für ihren bedeutendsten Staatsmann halten: Józef Piłsudski. Erstaunlicherweise handelt es sich um die erste wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Piłsudski-Biografie in deutscher Sprache. Es kann selbstverständlich nicht darum gehen, den Marschall zu einem »lupenreinen Demokraten« zu stilisieren. Die dunklen Seiten seiner Biografie werden hinreichend deutlich. Aber Piłsudski war der Vater der polnischen Unabhängigkeit und Verfechter eines multikulturellen Polens, in dem die Rechte der nationalen Minderheiten zu einem gewissen Grade geachtet wurden. Damit war er vielen seiner Zeitgenossen voraus.

Der Rückgriff auf die Geschichte ist gerade dann sinnvoll und wichtig, wenn uns die Gegenwart vor schwer lösbare Konflikte stellt. Wir können aus ihr lernen, dass jede Generation immer aufs Neue um vermeintlich Erreichtes kämpfen muss. Die Biografie Józef Piłsudskis von Wolfgang Templin ist ein bedeutender Beitrag, die Hintergründe der Entwicklungen im heutigen Polen besser verstehen zu können und in den deutsch-polnischen Beziehungen einen langen Atem zu bewahren.

Berlin, im Januar 2022

Dr. Ellen Ueberschär

Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

ANNÄHERUNGEN

In Polen kennt ihn jedes Kind. Józef Piłsudski, der aus einem litauischen Adelsgeschlecht stammende langjährige Führer der polnischen Sozialisten, Kämpfer für die polnische Unabhängigkeit und Staatsgründer der Zweiten Polnischen Republik, gilt zu Recht als Vater der polnischen Nation.

Nach ihm sind Straßen in nahezu jeder polnischen Stadt benannt, zahlreiche Denkmäler existieren, seine Schriften, Briefe, Erinnerungen, Arbeiten zu seiner Person, die Biografien polnischer Autor*innen füllen Regalmeter in Bibliotheken und Buchhandlungen. Das Bild des schnauzbärtigen »Kommandanten«, wie er liebevoll genannt wird, ziert Briefmarken, er wird in zahlreichen Liedern besungen, an jedem 11. November, dem Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik 1918, wird seiner gedacht. Fragt man nach den bedeutendsten Pol*innen des 20. Jahrhunderts, dann wird neben dem polnischen Papst Johannes Paul II. und dem Arbeiterführer Lech Wałęsa mit einiger Sicherheit sein Name genannt.

So groß die Zahl von Piłsudskis Verehrer*innen auch ist, weder die postkommunistische Linke noch große Teile der Rechten in Polen schließen sich einem solchen positiven Bild an. Für viele Linke ist er ein Politiker, der seine frühen sozialistischen Ideale verriet und der Zweiten Polnischen Republik eine autoritäre Staatsform aufzwang. Nationalistische und klerikale Kräfte in Polen können mit dem religiös indifferenten Freigeist, der sich den Werten der Aufklärung verbunden fühlte und dem modernen Europa vorbehaltlos öffnete, mit dem Kosmopoliten und Judenfreund, nichts anfangen. So hat ein »wahrer Pole« in ihren Augen nicht zu sein.

Von der innerpolnischen Auseinandersetzung um Piłsudski bekommt man in Deutschland und in anderen europäischen Ländern kaum etwas mit. Ebenso wenig ist man sich in diesen Ländern der Bedeutung Piłsudskis über Polen hinaus bewusst. Sollen bedeutende europäische Politiker*innen genannt werden, die sich in den 1920er- und 1930er-Jahren den mit Hitler und Stalin verbundenen Totalitarismen und der drohenden Kriegsgefahr entgegenstemmten, fallen die Namen von Winston Churchill und Charles de Gaulle, kaum jedoch der des polnischen Patrioten und Kämpfers für eine gemeinsame europäische Perspektive.

Der Plan zu einer Biografie Józef Piłsudskis entwickelte sich nicht am Schreibtisch oder in akademischen Debatten. Meine ersten direkten Erfahrungen mit Polen setzten im Spätsommer 1976 ein, als das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) seine Arbeit aufnahm und ich ein einjähriges Zusatzstudium der Philosophie in Krakau und Warschau absolvierte. Später konnte ich das Entstehen und den Erfolgsweg der Solidarność-Bewegung mitverfolgen, ab 1989 dann die stürmische, wechselvolle Geschichte der ersten Jahrzehnte der Dritten Polnischen Republik. Als anfänglich politischer Beobachter wurde ich selbst zum oppositionellen Akteur. Bei zahlreichen Begegnungen und auf Reisen, die meine Frau Christiane Schubert und mich nach der Jahrtausendwende in die östlichen Nachbarländer Polens führten, tauchte immer wieder der Name des polnischen Staatsgründers auf, wurden die Kontroversen und Legenden, die sich um seine Person rankten, verständlicher.

Den Begegnungen und Reisen folgte von 2010 bis 2014 meine Arbeit als Leiter des Warschauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Der intensive Kontakt zu polnischen Intellektuellen und Historiker*innen in dieser Zeit bestärkte mich in dem Bemühen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres Nachbarlandes. Vorangegangenen Büchern zur Geschichte der Ukraine folgte zunächst ein Buch zur Entstehung und zum Schicksal der Zweiten Polnischen Republik. Schließlich reifte die Entscheidung, eine Biografie Józef Piłsudskis zu schreiben.

Die Liste der Menschen, die den Weg bis zur Fertigstellung des Buches begleitet haben, ist lang. An erster Stelle ist hier meine Frau Christiane Schubert zu nennen, die zur ersten kritischen Leserin aller Stufen des Manuskriptes wurde.

Ohne die kundige Unterstützung zahlreicher polnischer Historiker*innen und Publizist*innen hätte ich mich nie an dieses Unternehmen gewagt. Die großen polnischen Biografen Piłsudskis, allen voran Władysław Pobóg-Malinowski, aber auch Andrzej Garlicki, Bohdan Urbankowski oder Włodzimierz Suleja, wurden mir unverzichtbar. Ihr Zugang zu den Quellen und Nachlässen, den Erinnerungen und Arbeiten von Zeitgenossen und Nachgeborenen half mir bei der eigenen Suche und Orientierung. Die gesammelten Werke Piłsudskis gelangten ebenso in meine Regale wie zahlreiche Artikel und Bücher der letzten Jahre, die seiner Person gewidmet sind. Dokumente, Fotomaterial und Audiodokumente kamen dazu.

Eine Reihe von Historiker*innen leistete mir im persönlichen Kontakt unschätzbare Hilfe, stellten mir ihre Arbeiten und ihre Erfahrung zur Verfügung, halfen beim Zugang zu Quellen und Archiven. Hier möchte ich an erster Stelle Andrzej Friszke nennen, dessen Professionalität und Integrität ich bewundere. Er öffnete mir vor Jahrzehnten die Augen über die Wurzeln und die Geschichte des polnischen Sozialismus, die Bedeutung von Personen wie Lidia Ciołkoszowa, Adam Ciołkosz, Leon Wasilewski oder Bolesław Limanowski, aber auch für die klar unterschiedenen Traditionslinien und Ziele polnischer Sozialist*innen und Kommunist*innen.

Grzegorz Nowik, den ich später kennenlernte, ermutigte mich, am Plan der Biografie festzuhalten, und ließ mich als wissenschaftlicher Direktor des Museumskomplexes in Sulejówek an seinen neuesten Arbeiten teilhaben. Er stellte mir seine eigenen Arbeiten zur Verfügung, machte mich mit vielen Spezialstudien vertraut. Auf seine Einladung hin konnte ich im August 2020 an einer Konferenz in Sulejówek teilnehmen und dort unvergessliche Momente erleben. Mehrfache Begegnungen mit dem Architekten und Enkel des Kommandanten, Krzysztof Jaraczewski, wurden sehr wichtig.

Wie bei vorangegangenen Arbeiten konnte ich auf die Unterstützung und Förderung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit zählen. Cornelius Ochmann half mir in vielen Fragen. Sein Kollege Krzysztof Rak stellte mir zahlreiche Manuskripte und eigene Arbeiten zur Verfügung. Seinen Büchern zur komplizierten Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen in den 1930er-Jahren verdanke ich sehr viel. An einer im April 2020 veranstalteten Begegnung von Piłsudski-Expert*innen konnte ich mit großem Gewinn teilnehmen. Dort erreichte uns auch die Nachricht vom überraschenden Tod Janusz Ciseks, der trotz seiner schweren Erkrankung noch an der Begegnung hatte teilnehmen wollen. Seine Arbeiten wurden für mich besonders wichtig und behalten einen besonderen Platz in der eigenen Bibliothek.

Zu meinem großen Glück stieß ich auf Biografinnen, die eine Reihe von Personen porträtierten, die im Leben Józef Piłsudskis eine wichtige Rolle spielten. Zu ihnen zählen Sylvia Frołow, Elżbieta Jodko-Kula und Joanna Kuciel-Frydryszak, die Biografien über Feliks Dzierżyński, Maria Koplewska und Kazimierza Iłłakowiczówna geschrieben haben.

Tomasz Szybisty und Jan Rydel von der Pädagogischen Universität in Krakau wurden zu wichtigen Beratern und Unterstützern. Ihnen gebührt ein besonderer Dank.

Den Kolleg*innen des Jan-Nowak-Jeziorański-Kollegiums in Wrocław, wo ich Vorstufen meines Manuskriptes vorstellen konnte, verdanke ich viel. Mein langjähriger Gesprächspartner Adam Krzemiński gab mir immer wieder wertvolle Ratschläge für den Umgang mit polnischer Geschichte. Das Gleiche gilt für meinen Freund Józef Pinior, der selbst zum Akteur der jüngeren Geschichte der PPS geworden ist.

Seit meiner Tätigkeit für die Heinrich-Böll-Stiftung bin ich mit der Arbeit des Warschauer Verlages und der Redaktion Krytyka Politycznaeng verbunden. Das Engagement der dortigen Kolleg*innen für die Demokratie in Polen sehe ich absolut als Hoffnungszeichen. Michał Sutowski, einer der Pfeiler der Verlags- und Redaktionsarbeit, stand mir in den ganzen letzten Jahren immer wieder mit Rat und Tat zur Seite.

Zahlreiche Begegnungen und Gespräche mit unseren Warschauer Freund*innen Agata Bielik-Robson und Cezary Michalski halfen uns beim Zurechtfinden im Irrgarten der neueren polnischen Geschichte. Agatas mahnende Worte, an mein Biografieprojekt gerichtet – »Wolfgang, behandle ihn bloß nicht zu gut. Er konnte furchtbar autoritär sein« –, begleiteten mich. Auch unseren Warschauer Freund*innen Gerhard Gnauck und Anna Smółka verdanke ich viel. Gerhard unterstützte in mannigfacher Weise das Projekt und verschaffte mir gastlichen Zugang zum Salon von Professor Lipiński, einem Museum eigener Art. Anna vertiefte meinen Zugang zum besonderen Charakter Litauens. Ihre Arbeiten zur polnisch-litauischen Nachbarschaftsgeschichte wurden sehr wichtig für mich.

Unterstützung wuchs mir auch von deutscher Seite zu. Der Berliner Kultursenator Klaus Lederer erkannte die Relevanz des Projektes und stand der Arbeit am Manuskript mit einer Förderung zur Seite. Ein Dank an ihn und seine Kolleginnen.

Mit der Heinrich-Böll-Stiftung als Kooperationspartnerin für das Buch sehe ich mich im besten Sinne in der Fortsetzung meiner alten Arbeit und danke allen Mitarbeiter*innen. Das gilt auch für den Ch. Links Verlag, den engagierten Programmleiter Christof Blome und meinen Lektor Ludger Ikas. Einen besseren Begleiter für die letzten Wochen der Arbeit am Manuskript hätte ich nicht finden können.

Allen anderen Begleiter*innen aus den deutsch-polnischen Gesellschaften und Freundeskreisen, die ich nicht mehr namentlich aufführen kann, ein Extradank.

Berlin, im Januar 2022

1DIE VERWUNSCHENE PROVINZ

Verlust der Freiheit

Was für die Deutschen Goethes Faust ist, bedeutet den Polinnen und Polen Pan Tadeusz (Herr Tadeusz) von Adam Mickiewicz. Es ist das polnische Nationalepos schlechthin, Schulstoff über Generationen hinweg, und entstand um 1832, als sich der Dichter bereits in der Pariser Emigration befand. Im Pan Tadeusz wird die Heimatliebe beschworen, genauer gesagt, die Trauer um den Verlust der Heimat und der Wille, sie wiederzugewinnen. So gut wie jede Polin, jeder Pole kann die ersten Zeilen des Epos aus dem Kopf rezitieren. Wenn dort Mickiewicz von Litauen als seiner Heimat spricht, geht es um seine »kleine Heimat«, um deren enge Verbindung mit der großen Heimat, dem geliebten Polen. Um die Geschichte Polens und den Verlust der einstigen Größe.

Als die kleine Heimat, in der er aufwuchs, schildert Mickiewicz den Zauber, die Schönheit einer Region im heutigen Litauen und Belarus, durchzogen von einem Fluss, dem eine Vielzahl von Namen zu eigen ist. Als belarusischer Njoman, litauischer Nemunas, polnischer Njemen und deutsche Memel spiegelt er die einzigartige Geschichte dieser Landschaft wider. Ein Fluss, der für Polen, Litauer, Belarusen* und Deutsche eine nahezu magische Bedeutung besitzt. Eine Region, die über Jahrhunderte zum litauischen Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik gehörte. In ihr hatten sich im 16. Jahrhundert das westslawische Königreich Polen und das litauische Großfürstentum dynastisch zusammengeschlossen und ein gemeinsames christliches Großreich geschaffen. Es diente der Abwehr des Deutschen Ritterordens im Westen und des immer expansiveren großrussischen Nachbarn im Osten. Die Adelsrepublik stellte einen besonderen Fall europäischer Staatenbildung dar und sollte über mehrere Jahrhunderte die Entwicklung und Identität aller in ihr vereinigten Territorien prägen. Anders als absolutistische Staatsgebilde kannte sie nur einen gewählten Monarchen, außerdem gab es föderalistische und parlamentarische Ansätze einer Gewaltenteilung, Elemente also, wie sie absolutistischen Monarchien im Westen und den unter dem Zepter der Zaren zusammengeschlossenen russischen Territorien fremd waren, die einer byzantinisch-orthodoxen Tradition folgten.

Die Verfasstheit der polnisch-litauischen Adelsrepublik erlaubte nationale Vielfalt und konfessionelle Toleranz, bedeutete aber auch entscheidende Schwächen gegenüber den absolutistischen Nachbarn. Der polnische und litauische Groß- und Kleinadel als entscheidende Schicht der Union wachte eifersüchtig über partikularistische Privilegien und war häufig zerstritten. Immer wieder ließen sich zudem Einzelne seiner Vertreter oder ganze Adelsfamilien auf die Seite der konkurrierenden Großmächte ziehen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren sich Katharina die Große als Herrscherin Russlands, Friedrich der Große, der für das aufstrebende Preußen stand, und Habsburg unter Maria Theresia bei aller Konkurrenz einig: Die ungeliebte, immer wieder mit Anarchie in Verbindung gebrachte und von inneren Kämpfen geschwächte Adelsrepublik sollte zur gemeinsamen Beute werden. Russland war daraufhin die treibende Kraft bei den drei polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1792 und konnte sich weit über die Hälfte der polnisch-litauischen Territorien sichern. Der nordwestliche Teil der gewonnenen Gebiete, die litauischen Territorien, wurde dem Russischen Reich einverleibt. Hier, so die Rechtfertigung, ginge es um urrussische Erde, die vor Jahrhunderten von Polen und Litauern geraubt worden sei. Ein anderer Teil polnischer Territorien, mit der Hauptstadt Warschau, erhielt als »Weichselland« eine Scheinautonomie. Die Französische Revolution von 1789 und der Aufstieg Napoleon Bonapartes in ihrem Gefolge erschütterten dann allerdings schon bald die Herrschaftsarchitektur der europäischen Großmächte und stellten die polnischen Teilungen infrage. Nicht, um die Polen als souveränen Staat wiederauferstehen zu lassen, sondern aus Machtkalkül setzte Bonaparte auf die Karte polnischer Unabhängigkeit.

Die Handlung des Pan Tadeusz spielt 1811 /12 auf einem Gutshof in der Nähe von Wilna. Der bevorstehende Einmarsch der Truppen Napoleons facht die Hoffnungen, die Begeisterung der jungen Landadligen an. Aus ihrer Sicht stand Napoleon für den Kampf gegen die Macht des Zaren, für das Wiederentstehen eines souveränen Polen. Dafür traten sie in sein Heer ein, folgten ihm in die Tiefen Russlands. Die Verklärung Napoleons in Polen wie auch in der polnischen Emigration überdauerte seine Niederlage, seine Verbannung und seinen Tod. Im Dezember 1840 kehrte Napoleons sterbliche Hülle von der Insel Sankt Helena zurück nach Frankreich, um im Pariser Invalidendom die letzte Ruhestätte zu finden. Veteranen der alten Garde begrüßten ihren einstigen Kaiser, darunter Polen in Uniformen aus den Schlachten an seiner Seite. Viele von ihnen hatten den Russlandfeldzug miterlebt, hörten es aber nicht gern, wenn man sie die »Gespenster von Moskau« nannte. Polnische Lanzenreiter waren Napoleon schon auf seine Verbannungsinsel Elba gefolgt, von der er im März 1815 noch einmal zurückkehrte. Während der dramatischen Hundert Tage sollte er Europa erneut in Angst und Schrecken versetzen, bevor sein Stern bei Waterloo endgültig unterging. Auf dem Wiener Kongress von 1814 /15 wurde mit der »Heiligen Allianz« der Teilungsmächte die Ordnung vor der Französischen Revolution wieder eingesetzt. Eine Ordnung, gegen die sich die ehemals unabhängigen Polen verzweifelt wehrten.

In allen darauffolgenden Aufständen war die Provinz das Herz des aufrührerischen Polens. Angehörige des polnischen und litauischen Kleinadels führten jeweils die Erhebungen gegen die Fremdherrschaft an. Am letzten Aufstand der Jahre 1863 /64 waren Angehörige aller Schichten beteiligt. Die Bauern waren zwar in ihrer Mehrzahl aufseiten der Aufständischen, konnten aber oft nicht zu viel riskieren, um ihre Existenz nicht zu gefährden.

Der Aufstand von 1863 löste auf der russischen Seite große Panik aus. Angesichts einer möglichen Intervention europäischer Großmächte war Zar Alexander II. zunächst bereit, das Weichselland aufzugeben. An die nordwestlichen Provinzen seines Reiches klammerte er sich hingegen mit aller Macht. Wenig später konnte er sich der Unterstützung Preußens und Bismarcks sicher sein, und so verlor das Weichselland die letzten Reste seiner Autonomie. In den nordwestlichen Provinzen Wilna, Grodno und Kowno wurde ein Schreckensregime errichtet, für das der Name von Michail Murawjow stand. Als Sonderbevollmächtigter des Zaren erhielt Murawjow alle Vollmachten, die letzten Funken des Aufstands um jeden Preis zu ersticken. Als junger Adliger hatte er Jahrzehnte zuvor, 1825, selbst am militärischen Aufstand der Dekabristen gegen den Zaren teilgenommen und war damals der Verbannung nach Sibirien nur knapp entkommen. Er war ein Beispiel dafür, dass aus ehemaligen Rebellen die eifrigsten Diener ihrer Herren werden konnten.

In den großen Städten Wilna, Grodno und Kowno, nach denen auch die Provinzen benannt waren, füllten sich die Gefängnisse. Überall im Land wurden Galgen errichtet, Hunderte Todesurteile vollstreckt. Murawjow war, wann immer er konnte, bei den Hinrichtungen dabei und erhielt darum den Beinamen »Galgenmann«. Wenn in anderen europäischen Ländern die Märchen von schlimmen Riesen und vom bösen Wolf, von Hexen und Trollen erzählt wurden, trieb man in Litauen die Kinder mit dem Schreckensbild des Henkers Murawjow ins Bett. Aufständische, die in Gefangenschaft gerieten und der Todesstrafe entkamen, wurden mit ihren Familien nach Sibirien deportiert. Dort erwartete sie langjährige Zwangsarbeit in den Bergwerken oder die Ansiedlung in entlegenen Regionen. Ein solches Schicksal konnte auch Familien treffen, die Verwundete aufnahmen und pflegten.

Auch die katholische Kirche sollte die äußere Grundlage ihrer Existenz verlieren. Kirchen und Klöster wurden geschlossen oder in orthodoxe Kirchen und Klöster umgewandelt. Die Sorge um Sterbende nach katholischem Ritus wurde verboten. Alles Polnische sollte verschwinden. Der Gebrauch der polnischen Sprache im gesamten öffentlichen Leben war untersagt. Zuwiderhandlungen waren mit drakonischen Strafen belegt. Güter und Besitztümer des polnischen Adels wurden konfisziert oder ihre Eigentümer langfristig in den Ruin getrieben. Den polnischen und litauischen Einwohnern, ob Kleinadlige, Händler oder Handwerker, blieb nur der Ausweg, die russische Sprache und Kultur anzunehmen und zum orthodoxen Glauben überzutreten. Dann stand ihnen der Weg in den Staatsdienst oder sogar eine Militärkarriere offen. So gut wie unmöglich war dies für die jüdische Bevölkerung. Es gab durchaus Polen und Litauer, die diese Möglichkeiten nutzten. In zahlreichen anderen Familien lebte jedoch der Geist des Widerstands, der Geist der Aufstände und die Verklärung der Vergangenheit fort. Zu ihnen zählte die Familie, in die der künftige Führer der polnischen Sozialisten hineingeboren wurde.

Die Sterne von Zułów

Für die russische Besatzungsmacht gehörte die Region um Wilna zum gefährlichsten Teil der rebellischen litauischen Provinzen. Murawjow und seinen Leuten saß die Angst vor versteckten Nestern der Aufständischen im Nacken. Eine Kette von Beobachtungsposten zog sich über die Landschaft, Spione waren unterwegs. Auffällige Ansammlungen und Bewegungen sollten Tag und Nacht kontrolliert und gemeldet werden.

Die Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1867 war dunkel und stürmisch. Im Gutshaus von Zułów, ganz in der Nähe des gleichnamigen Dorfes, brannte das Licht heller als gewöhnlich, mehrere Fuhrwerke kamen an, und alles war in Bewegung. Eine berittene russische Polizeipatrouille versuchte herauszufinden, was dort vor sich ging. Wie sich herausstellte, handelte es sich nicht um ein Treffen von Verschwörern, sondern um die bevorstehende Geburt eines Kindes. Am nächsten Morgen kam ein Junge auf die Welt, das vierte Kind von Maria Piłsudska, geborene Billewiczówna, und Józef Wincenty Piłsudski, den Besitzern des Gutes und der umliegenden Ländereien. Der Sohn erhielt den Namen Józef Klemens. Am 5. Dezember war der Tag des heiligen Klemens, daher der zweite Vorname des Neuankömmlings. Eltern, Verwandte und Freunde der Familie sollten ihn lange Zeit nur bei seinem Kosenamen nennen: Ziuk (die Verkleinerungen des Namens gehen von Józef zu Józek, zu Ziuk und Ziuczek).

Am 15. Dezember wurde der Junge in der nahe gelegenen Dorfkirche von Podbrodzie getauft. Sein Taufpate schenkte ihm ein Miniaturbild der Matka Boska Ostrobramska, der »Mutter Gottes vom Tor der Morgenröte« in Wilna. Sie wurde zur Schutzheiligen des kleinen Ziuk und sollte in seinem Leben eine ganz besondere Rolle spielen.

Józef Piłsudskis Eltern lebten zu der Zeit sehr zurückgezogen auf ihrem Gutshof in der Nähe von Wilna. Das hatte sehr viel mit dem oben erwähnten Aufstand von 1863 /64 zu tun. Die größten Besitztümer und Güter der Familien des Ehepaares lagen nämlich im Nordosten des Landes, in Niederlitauen. Dort hatten auch Maria und ihr Mann bis zu ihrer dramatischen Flucht in den Wirren der Kämpfe gelebt.

Beide Familien, die Billewiczóws und die Piłsudskis, führten ihre Stammbäume auf alte litauische Adels- und Fürstengeschlechter zurück, deren Angehörige sich im Laufe der Zeit polonisiert hatten. Ihre Vorfahren hatten wichtige Positionen in der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung des litauischen Teils der Adelsrepublik innegehabt. Die Familien von Maria und Józef Wincenty Piłsudski waren mit den niederdrückenden Folgen der Teilung konfrontiert gewesen und hatten sich an den verschiedenen Aufständen beteiligt. Traditionsbewusst und stolz auf ihre litauischen Vorfahren, verstanden sie sich als Teil einer großen gemeinsamen Geschichte.

Maria und Wincenty kannten sich von Kindesbeinen an. Ihre Familien pflegten enge Kontakte untereinander, und beide waren sogar entfernt miteinander verwandt. Um heiraten zu dürfen, benötigte das Paar deshalb im Frühjahr 1863 eine spezielle kirchliche Erlaubnis. Maria wurde im Jahre 1842 geboren und war neun Jahre jünger als Wincenty. Die Tage und Wochen vor der Hochzeit und die Hochzeit selbst fielen in die Zeit der Vorbereitung des Aufstands. Maria erlebte alles aus nächster Nähe. In ihrem Elternhaus trafen sich Freunde und Nachbarn, Uniformen wurden geschneidert, Waffen beschafft und Kampftrupps aufgestellt. Auch sie selbst unterstützte den Aufstand und brannte für den Erfolg der Erhebung. Nachdem die Aufständischen anfangs erfolgreich ganze Landstriche Litauens unter ihre Kontrolle bringen konnten, führte die russische Seite Linientruppen und Eliteeinheiten in immer größerer Zahl heran. Dagegen half kein Mut der schlechter bewaffneten und zumeist mangelhaft ausgebildeten Milizen der Aufständischen. Ihr militärisches Dilettantentum, die ausbleibende Unterstützung aus anderen Provinzen, Zerstrittenheit und Desorganisation brachten ihnen am Ende eine blutige Niederlage ein.

Józefs Mutter: Maria Piłsudska, ca. 1870

Józefs Vater: Wincenty Piłsudski, ca. 1870

In seinem niederlitauischen Distrikt war Wincenty Piłsudski einer der zivilen Kommissare der kurzzeitigen Nationalregierung der Aufständischen gewesen und musste aufgrund der Niederlage mit Verhaftung und Schlimmerem rechnen. In dieser Situation bewies er Realitätssinn, und das Glück kam ihm zu Hilfe. Es gelang ihm, über jüdische Vermittler einen russischen Militärbeamten mit einer Summe von mehreren Tausend Rubeln zu bestechen. Der löschte Wincenty Piłsudskis Namen aus der Liste der steckbrieflich gesuchten Personen und trug ihn als »verschollen« ein. Damit ließ sich auch die tatsächliche Rolle verschleiern, die er während des Aufstands gespielt hatte. Hätte der russische Administrator seine Pflicht erfüllt und Wincenty Piłsudski ausgeliefert, wären alle Besitztümer der Familie an die russische Krone gefallen.

Damit Verschwinden und Rettung glückten, musste das junge Ehepaar in aller Eile die heimatliche Provinz verlassen. Sie rafften das Nötigste zusammen und flohen in das über zweihundert Kilometer entfernte Wilna. Nach kurzem Aufenthalt dort zogen sie rund fünfzig Kilometer weiter nordöstlich in das Dorf Zułow. Von dort aus ging es zu dem gleichnamigen Gut. Die nächstgelegene Bahnstation war fünfzehn Kilometer entfernt.

Zum Familienbesitz der Billewiczóws, den Maria als Einzelkind erbte, gehörten große Ländereien in Niederlitauen. Dazu kamen das kleinere Gut Zułów und weitere Besitztümer in der dortigen Region. Insgesamt umfassten die verstreuten Besitztümer einige Tausend Hektar Felder, Waldflächen und Wiesen. Die Erbschaft Marias ermöglichte der schnell wachsenden jungen Familie ein relativ sicheres Auskommen.

Nach seinem erzwungenen Rückzug in die entlegene Provinz hatte Wincenty Piłsudski ehrgeizige Pläne. Eigentlich war er eher künstlerisch veranlagt. Er zeichnete, komponierte und dichtete. Obwohl ihm der Zeigefinger der rechten Hand fehlte – der Hufschlag eines Pferdes hatte ihn in seiner Jugend verletzt –, spielte er ganz passabel Klavier. Das angestrebte Ingenieursstudium war ihm aufgrund der Einschränkung ebenso verwehrt gewesen wie eine Laufbahn beim Militär. Stattdessen hatte er ein Studium der Agronomie absolviert. Nun, im neuen Domizil in Zułów, hegte er zahlreiche Pläne für neue Anbautechniken. Eine große Mühle, eine Brauerei und eine Ziegelei wurden errichtet. Der Gutsherr versuchte sich unter anderem an der Herstellung von Spirituosen, Terpentin, Hefe und Wurst. Auf Reisen zu Landwirtschaftsmessen in Deutschland, der Schweiz und Großbritannien lernte er moderne Technologien kennen. Für seine verschiedenen Unternehmungen stellte er ausländische Fachleute ein. In den ersten Jahren schien ihm der Erfolg recht zu geben.

Gutshof der Familie Piłsudski in Zułów, 1931

Dem wachsenden Gutsbetrieb entsprach die schnell wachsende Anzahl der Familienangehörigen, Freunde und Angestellten, die auf dem Gutshof lebten. Zu ihnen gehörten Ziuks Großmutter väterlicherseits, Teodora Butlerowna, und zwei Schwestern des Vaters. Alle drei Frauen hatten an den Aufständen teilgenommen und Gefängnishaft verbüßt. Ihre dramatischen Erinnerungen daran waren alltäglicher Gesprächsstoff auf dem Gutshof. Ähnliche Erinnerungen brachten auch Freunde der Familie mit, die für kürzere oder längere Zeit zu Besuch kamen. Die größte Autorität besaß die Großmutter Teodora. Im Januaraufstand 1863 hatte sie eine bedeutende Rolle als Kundschafterin gespielt. Wohl auch deshalb wurde sie in der Familie respektvoll »General« genannt.

Um die Betreuung und die frühe Ausbildung der Kinder kümmerten sich Kindermädchen und Gouvernanten, zu denen auch eine Französin und eine Deutsche gehörten. In der Abgeschiedenheit des Gutes konnten die Mädchen und Jungen Privatunterricht genießen und blieben so von dem Drill des russischen Schulsystems verschont.

Maria Piłsudska war der Mittelpunkt, die Seele der Familie. Bei all ihrer patriotischen Begeisterung wird sie nicht als fanatische Eiferin geschildert, sondern als eine zutiefst ausgleichende und liebevolle Natur. Nur wenn es sein musste, konnte sie dennoch Grenzen setzen. Die ganzen Jahre über machte sie sich Sorgen, dass die hochschießenden Projekte ihres Mannes scheitern könnten, Befürchtungen, die sich später als nur zu begründet erwiesen.

Ging es um die Kinder, war ihr der Zusammenhalt der Geschwister, ihre gegenseitige Unterstützung am wichtigsten. Eifersucht aufeinander, Neid und Hader waren ihr zuwider. Sie hielt die Kinder an, zum Dienstpersonal respektvoll und höflich zu sein. Ihre besseren Lebensumstände seien nicht ihr Verdienst und gäben ihnen kein Recht, auf Untergebene herabzusehen. Die Angehörigen des Personals wussten, dass sie ungehörigen Forderungen der Kinder nicht zu folgen brauchten.

Jeden Abend versammelte Maria die älteren Kinder um sich. Helena war 1864 geboren worden, Zofia 1865, Bronisław 1866 und Józef 1867. In der Öffentlichkeit waren Bücher in polnischer Sprache wie überhaupt polnische Literatur verboten. In Familien wie den Piłsudskis wurden Bücher und Manuskripte jedoch gehütet und versteckt. Abends holte Maria die Bücherschätze aus einem Versteck hervor.

Neben Gedichten und Poemen Adam Mickiewiczs gehörten die Werke von Juliusz Słowacki und Zygmunt Krasiński dazu. Beide waren Zeitgenossen von Mickiewicz und bildeten mit ihm das Dreigestirn der polnischen Romantiker. Krasińskis Biografie zeigt in dramatischer Weise, wie zerrissen die Situation polnischer Familien in dieser Zeit sein konnte. Sein Vater hatte in Bonapartes Russlandfeldzug als General gedient und war nach der Niederlage Napoleons zum loyalen russischen Staatsdiener geworden, zum General in der Armee des Zaren. Er tat alles dafür, dem Sohn die patriotischen polnischen Gefühle auszutreiben, strich ihm das Geld, verweigerte ihm die Liebesheirat – vergeblich. Todunglücklich verlegte sich Zygmunt Krasiński auf das Schreiben und schuf Werke, die den Kanon polnischer Literatur enorm bereicherten.

Die abendlichen Zusammenkünfte mit den Kindern beschloss Maria Piłsudska regelmäßig mit einem Psalm Krasińskis: »Polen wird kommen, im Namen des Herrn.« Sie sollten immer daran denken und darauf warten. Es werde der Tag kommen, an dem Polen frei sein werde.

Auf die Kinder übten diese Worte, übten diese Abende eine magische Wirkung aus. Ziuk war der lebhafteste und vorwitzigste unter den Geschwistern. Immer wieder fragte er die Mutter, wann das denn sei, wann Polen wiederkomme? »Wenn wir bereit sein werden, dafür zu kämpfen«, entgegnete sie ihm. In solchen Momenten kam es ihm vor, als sähe seine Mutter die Zukunft klar vor Augen. Ihre Worte, ihre Haltung und Willensstärke sollten ihm später über Momente der Schwäche, schlimme Anfeindungen und Anfechtungen hinweghelfen. Den Sinn für Gerechtigkeit und die Willensstärke bekam er von der Mutter mit, ihre Geduld eher nicht.

Maria betete auch mit den Kindern, hatte aber ihren eigenen Zugang zum Glauben, der sich nicht unbedingt an die äußere Fassade und den Ritus der katholischen Kirche hielt. Gelegentlich beklagte sich der Priester der nahe gelegenen Gemeinde darüber, dass Ziuk nicht häufig genug zur Beichte kam und dass er ungehörige Fragen stellte. Fragen nach dem ewigen Leben und der Allmacht Gottes. Maria versuchte dann, den Geistlichen zu beschwichtigen, dachte aber nicht daran, ihrem Sohn Vorhaltungen zu machen.

Die Wissbegierde des heranwachsenden Ziuk war unersättlich. Er besaß eine schnelle Auffassungsgabe, lernte spielend lesen und verschlang alle Bücher, die er bekommen konnte. Darunter war nicht nur die Lieblingslektüre der Mutter. Sein Vater bevorzugte im Unterschied zu ihr, die das Französische schätzte, die deutsche Sprache und Kultur. Er bewunderte die Deutschen als praktische Nation, ihr Erfindergeist und ihre technologischen Fortschritte imponierten ihm. Von seinen Reisen brachte er immer wieder Bücher in deutscher Sprache mit, viele davon waren für die Kinder bestimmt und bereicherten den weihnachtlichen Gabentisch. Werke über die Heldentaten der Griechen und Römer in der Antike waren ebenso darunter wie aktuelle Reisebeschreibungen, alle Arten von historischer Literatur und Berichte über Erfindungen und Entdeckungen.

Auf diese Weise drang das moderne Europa in die abgelegene Einöde. Außer von den Römern und Griechen war Ziuk besonders von den populären Romanen Jules Vernes angetan. Alle dort geschilderten Abenteuer zur Luft, auf dem Wasser, in den Tiefen der See oder der Erde fesselten ihn. Einzig bei Jules Vernes Reise auf den Mond stieß seine Fantasie an ihre Grenzen. Einer der Lieblingshelden des Jungen war natürlich Napoleon. Neben allen im Familienkreis kursierenden Erzählungen über den großen Korsen und neben den Büchern, die er dazu verschlang, hatte das auch mit einem besonderen Ort zu tun.

In Wilna und Umgebung hatten sich im Juni und Juli 1812 bedeutende Kontingente von Napoleons Großer Armee gesammelt und auf den weiteren Vormarsch in die Tiefen Russlands vorbereitet. Wichtige Wege und die Heerstraße, auf der sie unterwegs waren, führten sie an Zułów vorbei. In Wilna angekommen, hatte Napoleon den Vormarsch beaufsichtigt, Vorausabteilungen inspiziert und dabei einen Hügel unweit des Gutes erreicht. Von dessen höchster Stelle hatte er den Blick über die zauberhafte Landschaft schweifen lassen. Dutzende Erzählungen kreisten seither um diese Episode und um diesen Ort. Man sprach vom Geist Napoleons, der hier immer noch über allem schwebe. All das beflügelte auch die Fantasie der Kinder und ließ sie für ihre Ausflüge und Spiele oft diese Anhöhe wählen.

Bei all seiner Leidenschaft für das Schmökern war Ziuk alles andere als ein Stubenhocker. Er dachte sich eigene Geschichten und Spiele aus, bei denen er regelmäßig der Anführer war. Inspiriert von den Erzählungen über die Taten der Aufständischen, gab es Spiele, bei denen es darauf ankam, die Moskowiter aus dem Land zu treiben. Die polnischen Aufstandshelden standen dabei sogar noch über Napoleon, so viel Nimbus dessen Person auch besaß.

Für Ausflüge und andere Unternehmungen hielt die Natur rund um Zułów viele Gelegenheiten bereit. Ein kleines Flüsschen, die Mera, schlängelte sich um den Gutshof. Dort wie auch in nahe gelegenen Teichen und im See Piorun konnte man Fische und Krebse fangen. Im Winter lockten Schlittenfahrten und die zugefrorenen Gewässer. Reiten gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen der Kinder. Als Erwachsener sollte Józef Piłsudski die Landschaft und die Jahre seiner Kindheit immer wieder als ein wahres Paradies beschreiben. An keinem anderen Ort gab es für ihn einen so wunderschönen Sternenhimmel.

Der Junge wuchs mit einer polnischen Sprache auf, welche von der weichen singenden Intonation der Wilnaer Region geprägt war. Eine Sprachmelodie, die ihn sein ganzes Leben begleiten sollte. Den Dialekt des Belarusischen, der von der Dorfbevölkerung gesprochen wurde, beherrschte er von Kindesbeinen an. Zu dieser Zeit erlebte auch die litauische Sprache ihre Renaissance als Teil einer stärker werdenden, eigenständigen litauischen Nationalbewegung. Mit dem Litauischen war Józef Piłsudski zeitlebens nur sehr wenig vertraut. Französisch lernte er von den Gouvernanten, und auch auf Deutsch konnte er sich später verständlich machen. Auf dem Gymnasium kam dann die russische Sprache dazu.

Bei allen Ausflügen und Unternehmungen war Ziuks älterer Bruder Bronisław sein engster Gefährte. Bronisław fehlten die schnelle Auffassungsgabe, die Leichtigkeit und das Temperament des jüngeren Bruders. Meistens wurde darum Ziuk als Anstifter aller Streiche und allen Unsinns angesehen, selbst wenn er es ausnahmsweise einmal nicht gewesen war. Wie die anderen Mitglieder der Familie erkannte der Ältere die Talente des Jüngeren an, überließ ihm die Führungsrolle und vergötterte ihn nahezu.

Józef und Bronisław Piłsudski, Reproduktion einer Aufnahme von 1873

Zugleich haderte er damit, wie egoistisch sein Bruder sein konnte und wie er es verstand, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Über Jahre führte Bronisław Tagebuch und hielt darin penibel fest, wie sich der Bruder immer nach vorne schob, ob beim Spielen oder wenn es darum ging, sich das größte Stück Kuchen zu schnappen und die beste Scheibe Schinken zu ergattern. Mit allen seinen Streichen und Unarten blieb Ziuk dennoch stets der Liebling der Erwachsenen. Schullektionen, das Verfassen von Erzählungen oder das Tanzen – alles, womit sich Bronisław oft vergeblich herumquälte, flog ihm förmlich zu.

Im Umgang mit Fähigkeiten und Begabungen zeigten sich aber auch Ziuks Grenzen. Wenn eine Aufgabe mühsames, geduldiges Durcharbeiten und Üben verlangte, kam es immer wieder vor, dass er zu schnell resignierte und alles hinwarf. So hatte der Vater für seine beiden ältesten Söhne eigens eine Klavierlehrerin engagiert. Ziuk umschmeichelte sie, kletterte auf ihre Knie, die Lehrerin war von ihm sehr angetan. Während Bronisław hartnäckig übte, sich durch alle Schwierigkeiten mühte und später passabel Klavier spielte, langweilte sich sein Bruder schnell und kapitulierte. Der Klavierlehrerin blieb am Ende nur, Ziuks Mutter das Scheitern ihrer Bemühungen einzugestehen.

Bronisław war häufig der schärfste Kritiker von Ziuks überzogener Eigenliebe. Sein Hader, in den sich natürlich Neid mischte, führte dennoch nicht dazu, dass die Brüder sich dauerhaft entzweiten. Wenn es darauf ankam, standen sie zusammen und halfen sich gegenseitig aus der Patsche. Das galt auch bei den Schicksalsschlägen, die das Ende der unbeschwerten Kindheit begleiteten. Der wohl härteste traf sie im Sommer 1874.

Wincenty und Maria Piłsudski hielten sich in Wilna auf, um verschiedene Angelegenheiten zu erledigen. In dieser Zeit war ein großer metallener Kessel für den Betrieb der neu errichteten Hefefabrik von der nächstgelegenen Bahnstation abzuholen. Alle Männer des Gutes wurden dafür zusammengeholt, da der Kessel auf dem Weg nach Zułow durch ein Flusstal transportiert werden musste. Zurück blieben die Frauen und die Kinder. Ausgerechnet dann löste wahrscheinlich eine unachtsam weggeworfene Zigarette ein Feuer aus, das durch den heißen, trockenen Südostwind schnell ein Gebäude nach dem anderen erfasste. Alle Männer, die einige Kilometer entfernt mit dem Kessel beschäftigt waren, fehlten zum Löschen. Unter Führung von Tante Celina gelang es den Frauen gerade noch, die Kinder zu retten und einige Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Die nächsten Nachbarn hatten die gewaltige Rauchsäule zwar gesehen, kamen aber zu spät und konnten nichts mehr ausrichten.

In Wilna wurden die Piłsudskis telegrafisch alarmiert. Bei ihrer eiligen Rückkehr sahen sie sich mit dem ganzen Ausmaß der Katastrophe konfrontiert. Den Kindern war glücklicherweise nichts passiert. Dafür war das große Wohnhaus der Familie mit der gesamten Einrichtung in Flammen aufgegangen. Viele Nebengebäude, die Hefefabrik, die Brauerei, die Wurstfabrik und die Mühle waren ebenfalls Opfer der Flammen geworden. Terpentin und andere brennbare Flüssigkeiten, die an verschiedenen Stellen gelagert waren, hatten die rasante Ausbreitung des Feuers befördert. In den Ställen waren Pferde, Schweine und andere Tiere verbrannt.

In den ersten Tagen konnte die Familie bei Nachbarn unterkommen. Dann richteten sie sich, so gut es ging, in einem kleinen, vom Feuer verschonten Gästehaus des Gutes ein. Eine dauerhafte Lösung konnte dies nicht sein. Der Wiederaufbau von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden würde Zeit brauchen und riesige Summen verschlingen. So kam es zu der Entscheidung, erst einmal eine Wohnung in Wilna zu mieten.

Die Verluste durch das Feuer waren dramatisch, bedeuteten aber nicht den wirtschaftlichen Ruin der Familie. Der größte Teil von Marias Vermögen war noch vorhanden. Die landwirtschaftliche Produktion in Zułow warf weiter Erträge ab. Lebensmittel für den Verbrauch der Familie oder für den Verkauf gelangten nach Wilna. Ferien und Feiertage konnten die Kinder weiterhin in der geliebten Umgebung auf dem Land verbringen. Mit einer solideren Wirtschaftsführung und weniger waghalsigen Projekten war zwar nicht das alte Lebensniveau zu halten, aber vielleicht würde sich so der unaufhaltsame Abstieg verhindern lassen.

Doch alle Hoffnung trog am Ende. Der Vater stürzte sich weiter in unwägbare wirtschaftliche Experimente und wählte obendrein oft ungeeignete Mitarbeiter aus, sodass die finanziellen Reserven schmolzen. Marias Sorgen um die Existenz der Familie wuchsen, ohne dass sie das dramatische Ausmaß der Verschuldung auch nur ahnen konnte. Erst als ihr in Abwesenheit Wincentys Wechsel präsentiert wurden, von denen sie nichts wusste, die aber ihre Unterschrift als Eigentümerin trugen, sah sie den drohenden Ruin vor sich. Ihr Mann hatte ihr aus Scham oder falschem Stolz die wirkliche Situation verschwiegen. Er nahm neue Kredite auf, um die alten zu bedienen, immer mehr Gläubiger bedrängten ihn. Bei all dem war er mit einer russischen Steuer- und Finanzpolitik konfrontiert, die den Niedergang der noch verbliebenen litauisch-polnischen Gutsbesitzer gezielt beförderte. Deren Familien sollten verarmen, auswandern oder als Untertanen des Zaren an die Kette gelegt werden.

Die gescheiterten Projekte des Vaters, seine wirtschaftlichen Fehlgriffe konnten auch den heranwachsenden Söhnen nicht verborgen bleiben. Maria hoffte verzweifelt auf die Hilfe ihres ältesten Sohnes Bronisław. Seinem Tagebuch vertraute er an, wie sehr ihn das überforderte. Freunde der Familie versuchten zu helfen, konnten aber den Niedergang und endgültigen Ruin nur hinauszögern.

In der Wilnaer Zeit, von 1876 bis 1883, musste die Familie in immer kleinere Wohnungen umziehen. Sie konnten nicht mehr alle Verwandten aufnehmen und mussten sich von immer mehr Personal trennen. Dennoch wurden fünf weitere Kinder in dieser Zeit geboren. Die jüngsten, die Zwillinge Piotr und Teodora, starben mit anderthalb Jahren.

Im Jahr 1880 brachte der knapp dreizehnjährige Ziuk zusammen mit seinen Brüdern Bronisław und Adam eine geheime Zeitschrift heraus. Handschriftlich verfertigt, kursierte sie innerhalb der Familie und unter vertrauten Freunden. »Die Taube von Zułow« brachte es immerhin auf 46 Nummern und eine Reihe von Zusätzen. Texte verbotener Lieder aus dem Aufstand und die Lebensläufe nationaler Helden wechselten sich mit internationalen politischen Nachrichten ab, so über die revolutionäre Bewegung in Russland, die Kriege im entfernten Chile und Bolivien, oder mit selbstverfassten Erzählungen über die Kämpfe der Indianer in Nordamerika. Ziuk war der federführende Redakteur, und Napoleon als sein größtes Steckenpferd durfte nicht fehlen. In die von ihm verfassten Darstellungen der Schlachten bei Austerlitz und Marengo flossen Einzelheiten ein, die darauf hinwiesen, dass er dabei nicht bloß aus einem einzelnen Buch geschöpft hatte.

Napoleon war für Ziuk ein Militärstratege, der es verstand, zu kämpfen und zu siegen, während die tapferen Kämpfer der polnischen Aufstände vor allem Niederlagen erfuhren. Ein herber Schlag für seinen jugendlichen patriotischen Stolz. Der drängende Wunsch, dieses Schicksal umzukehren und aus den polnischen Aufständischen Sieger zu machen, sollte ihn immer stärker beschäftigen. Familienreisen in andere Regionen Litauens vertieften die Eindrücke von den Orten der Aufstände. Dort trafen sie auch Freunde der Verwandten, die an den Aufständen beteiligt gewesen waren.

Zugleich brachte das Stadtleben in Wilna jede Menge neuer Erfahrungen, Kontakte und Bekanntschaften mit sich. Darunter waren Altersgenossen und Erwachsene, die als Freigeister jeder Form von Religion und traditionellem Glauben abgeschworen hatten. Bronisław beschrieb sie in seinem Tagebuch als Häretiker und registrierte folglich verunsichert und sorgenvoll, dass sein Bruder diesen Leuten offener und unbefangener begegnete. Tatsächlich machte Ziuk so erste Bekanntschaften mit atheistischen Ideen, mit Gedanken des westeuropäischen Sozialismus und einem Skeptizismus, der naturwissenschaftlich beeinflusst war.

Womit Ziuk allerdings schwer zu kämpfen hatte, war das harte Schulregime im Wilnaer Gymnasium, das er von 1877 an acht Jahre lang besuchen musste.

Das verhasste Gymnasium

Das ehrwürdige Gebäude, in dem sich früher die Wilnaer Universität befand, hatte Generationen von Studenten und Schülern gesehen. Auch Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki hatten hier studiert und den akademischen Geheimgesellschaften der Philareten und Philomanen angehört. Den Traditionen der Aufklärung und den Werten der Französischen Revolution folgend, hatten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts solche Gesellschaften in Westeuropa gebildet und ihren Einfluss immer weiter nach Osten ausgedehnt. In den polnischen Territorien sollten sich die ursprünglichen aufklärerischen Impulse dieser Vereinigungen mit dem Streben nach nationaler Unabhängigkeit verbinden. Mitglieder der Philareten und Philomanen spielten in allen polnischen Aufständen eine wichtige Rolle. Sie zahlten einen hohen Preis, wenn ihre Zirkel entdeckt wurden und die Aufstände scheiterten. Gelang ihnen die Flucht, führte sie ihr weiterer Weg meist in die Emigration. Wer gefasst wurde, endete entweder am Galgen oder er landete im Gefängnis beziehungsweise in den Eiswüsten Sibiriens. Viele von denen, die ursprünglich mit ihnen sympathisiert hatten, passten sich jedoch irgendwann an, wurden russische Staatsbeamte und machten zum Teil Karriere in St. Petersburg oder Moskau.

Mehr als ein Jahrzehnt nach dem sogenannten Januaraufstand von 1863 / 64 kam der führenden Wilnaer Bildungsstätte eine besondere Bedeutung zu. Die wichtigste polnisch-litauische Provinz sollte sich endgültig in ein russisches Gouvernement verwandeln. Es galt also, alle Spuren einer anderen Vergangenheit zu löschen. Begonnen wurde damit in den höheren Schulen. Der Gebrauch der polnischen Sprache war streng verboten, und das nicht nur im Unterricht, sondern auch während der Pausen und auf dem Schulhof. Wer Polnisch sprach oder Literatur in polnischer Sprache mit sich führte, riskierte mehrstündigen oder gar mehrtägigen Arrest. Entdeckte Literatur wurde konfisziert, wiederholte Zuwiderhandlungen konnten zum Ausschluss von der Schule führen. Den Schülern wurde eingebläut, polnische Sprache, Kultur und Geschichte seien etwas Minderwertiges und sogar Feindliches. Im Lehrplan nahm die russische Sprache den ersten Platz ein, gehörten Klassiker der russischen Literatur zum Kanon, wurde die russische Sicht auf die Geschichte vermittelt. Danach war Litauen schon seit Ewigkeiten ein Teil Russlands gewesen und ab dem 15. Jahrhundert von polnischen Eindringlingen eingenommen und niedergedrückt worden. Deren Adelskaste habe sich schließlich durch Misswirtschaft und fremde Einflüsse selbst zugrunde gerichtet.

Es bedurfte eines besonderen Typus von Lehrern und Schulaufsehern, um ein solches Schulsystem und alle damit verbundenen Schikanen und Strafen rigoros durchzusetzen. Das dafür nötige Personal wurde mit Zulagen und der Hoffnung auf Aufstieg aus der russischen Provinz nach Litauen gelockt. Manche der Pädagogen verwandelten sich in Sadisten, andere verbargen ihre Herkunft, wenn sie aus polnischen Familien stammten. In der Menge der brutalen und gefügigen Staatsdiener gingen die wenigen Lehrer unter, die sich menschlich verhielten. Was die russischen Bajonette nicht geschafft hatten, sollte nun das russische Schulwesen vollenden.

Zahlreiche Szenen dieses Schulregimes hielt Bronisław in seinem Tagebuch fest. Wenn er fragte, warum sie im Unterricht nicht die Muttersprache gebrauchen dürften, schäumte der Lehrer vor Wut. Wer das russische Brot esse, alle Rechte eines Untertanen des Zaren in Anspruch nehme, solle gefälligst auch russisch sprechen. Als wenn ein Untertan des Zaren wirkliche Rechte besaß. Wenn Józef Piłsudski Jahrzehnte später von seinen Lebensabenteuern sprach, stellte sich heraus, dass es nicht die schlimmsten Erlebnisse in Sibirien waren, die seine Albträume beherrschten. Es war der eine oder andere seiner verhassten Wilnaer Lehrer, der ihn im Schlaf heimsuchte.

Stefan Żeromski, ein Altersgenosse Piłsudskis, besuchte das Gymnasium in der zentralpolnischen Stadt Kielce. Seine Erlebnisse dort, die ähnlicher Art waren, hielt er in dem Roman Sisyphusarbeit fest, der später weltberühmt wurde. Ob Wilna, Warschau oder kleinere Städte, in allen von Russland beherrschten Territorien Polens herrschte ein ähnliches Schulregime. Im Wissen darum rieten viele Eltern ihren Kindern zur Vorsicht. Sie sollten nicht »gegen den Strom schwimmen«, nicht »gegen den Wind spucken«. Solche Warnungen bekam Ziuk weder von seiner Mutter noch von seinem Vater zu hören. Dennoch waren beide besorgt, denn vom Abschluss des Gymnasiums hing die berufliche Zukunft des Sohnes ab.

Während der Gymnasialzeit der Brüder verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Mutter zunehmend. Von eher zarter Konstitution, war sie seit ihrer Kindheit durch eine Knochentuberkulose des Hüftgelenks gehbehindert. Frühere Operationen im Ausland und wiederholte Kuraufenthalte hatten keine wirkliche Besserung gebracht. In den letzten Jahren konnte sie nur noch mit Mühe das Bett verlassen. Viel zu früh starb sie schließlich im September 1884. Ihre fortschreitende Krankheit und ihr Tod überschatteten die ohnehin schwierige Situation der Familie. Der Vater vermochte nicht so entschieden wie die Mutter für den Zusammenhalt zwischen den Geschwistern zu sorgen. Er war in seine riskanten Unternehmungen und Geschäfte verstrickt, die meistens misslangen, war oft auf Reisen und daher wochenlang abwesend. Den Tanten und anderen Verwandten, welche die Familie und die Mutter unterstützten, wuchs unterdessen alles über den Kopf.

Bronisław und Józef waren nicht darauf vorbereitet, als älteste Brüder eine Art Vaterrolle für die Geschwister zu übernehmen. Die äußere Situation wurde immer bedrückender. Manchen Nachmittag brachten sie Produkte aus der eigenen Wirtschaft oder von Nachbarn auf den Markt und verkauften sie dort. Auch mit Holzhacken, Botengängen und anderen Arbeiten verdienten sie etwas für die Familie dazu. Erfinderisch, wie er war, nutzte Ziuk all diese Gelegenheiten, um sich dem ungeliebten Gymnasium zu entziehen. Bronisław murrte und protestierte gegenüber den schlimmsten Zumutungen des Schulalltags und musste erleben, wie sein Bruder ihn auch beim Erfinden von Ausreden übertrumpfte. Wenn Ziuk Lektionen schwänzte oder dem obligatorischen sonntäglichen Kirchenbesuch fernblieb, riskierte er natürlich Strafen. Mit Glück und Geschick kam er aber doch meist glimpflich davon. Zog er auf der Straße vor dem Generalgouverneur nicht die Mütze, behauptete er, den Herrn in Uniform nicht zu kennen. Seinen Schuldirektor hatte er angeblich nicht gesehen, wenn es darum ging, ihm den Gruß zu erweisen. Fehlte er in der Kirche, war ihm die letzte Hose kaputtgegangen, oder er musste auf seine Geschwister aufpassen. Mal kam er damit durch, ein andermal erntete er Tadel und Schularrest. Damit lernte er umzugehen. Was ihn in ohnmächtige Wut versetzte, waren andere Demütigungen. Etwa, als sie im Unterricht eine historische Arbeit durchnahmen, nach der die Heilige Mutter vom Hellen Tor, die Matka Boska Ostrobramska, orthodoxe Wurzeln habe. Religiöse Fragen und die Kirche überhaupt waren ihm sonst ziemlich gleichgültig. Seine Schutzheilige in den Händen der Moskauer, der Moskalen, zu sehen, kränkte ihn jedoch zutiefst. Er geriet mit seinem Lehrer hart aneinander und riskierte empfindliche Folgen. Mit seinen russischen Mitschülern prügelte er sich, wenn die wieder einmal gegen die Polen hetzten. Das verschaffte ihm Respekt, ließ ihn aber immer wieder härtere Strafen oder sogar den Verweis von der Schule riskieren. Eine Konsequenz, vor der vor allem Bronisław Angst hatte.

Sein Bruder Ziuk schien einfach aber auch immer wieder Glück zu haben. Hatte der sich auf eine der zahlreichen Übungen an der Wandtafel nicht richtig vorbereitet, erlöste ihn im richtigen Moment die Pausenglocke. Häufig schwänzte er eine oder mehrere Schulstunden und spazierte in der Stadt herum. Hatte er dabei Gesellschaft, gab er selbst erfundene Geschichten zum Besten oder rezitierte aus Texten polnischer Literatur. Nicht selten war er in Begleitung junger Mädchen, die dann schwärmerisch an seinen Lippen hingen. Bronisław bekam das voller Neid mit. Es war immer das Gleiche, ob innerhalb und außerhalb der Schulmauern. Ihm fiel es viel schwerer, sich vorzubereiten, und dann konnte es geschehen, das Ziuk bei ihm abschrieb, das Vorbereitete besser präsentierte und dafür mehr Punkte einheimste. Bronisławs Hader legte sich letztlich wieder, wenn ihm Ziuk zu später Stunde von den Abenteuern in der Stadt erzählte, seine Schwächen eingestand und bei ihm gut Wetter machte. Dann siegte jedes Mal die Bruderliebe.

Den Aufmerksameren unter Ziuks Lehrern blieb nicht verborgen, was in dem Jungen steckte. Den Schulakten lag eine vertrauliche Charakteristik seiner Person bei. Die offenkundige Kluft zwischen seinen Fähigkeiten und seinen Leistungen sei ungewöhnlich, konnte man dort nachlesen. Was er in den einzelnen Fächern abliefere, sei meistens zufriedenstellend, zeuge aber nicht von großem Fleiß oder einer stetigen Arbeitsweise. Er habe besondere Fähigkeiten in der Mathematik und zeige großes Interesse für historische Themen. Dabei verweigere er sich jedoch der vorgeschriebenen russischen Sicht auf die neuere Geschichte und verwende viel Zeit auf die Lektüre polnischer Literatur. Der Schluss, dass sich dadurch mangelhafte Leistungen im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der russischen Sprache erklären ließen, zeigte die Blindheit der Schuloberen. Ziuk beherrschte die russische Sprache weit besser, als er es die Verfasser der Berichte merken ließ, und hatte durchaus Interesse an der russischen Literatur. Allerdings nicht an den Autoren und Größen, die den offiziellen Literaturkanon bestimmten. Später sollten ihm Turgenjew und Tschechow viel näher sein als die großen Epen Tolstois und der von Dämonen besessene Dostojewski. Puschkin, der den Zaren in den Himmel hob und Polen verächtlich machte, kam für ihn schon gar nicht infrage. Ziuks Betragen im Unterricht ließ die Lehrer häufig aus der Haut fahren. Der Schüler zeige sich stolz und aufbrausend, mit einer großen Portion Eigenliebe, vermerkte die schon erwähnte Charakteristik. Alle Aufsichtspersonen bis hin zum Schulinspektor rätselten, warum sich seine Fähigkeiten nicht in bessere Leistungen lenken ließen. Dabei gab es eine einfache Antwort: Er war von einer anderen Leidenschaft besetzt. Die Energie und der Ehrgeiz des Jungen richteten sich auf andere Ziele als darauf, einer der besten Schüler zu werden.

Spójnia – eine geheime Schülergemeinschaft

In ihren letzten Jahren am Gymnasium wurden Józef und Bronisław zu Mitbegründern einer geheimen Gemeinschaft von Schülern namens Spójnia. Sie folgten damit dem Beispiel der Philomanen und Philareten, deren Geschichte und deren Ende allen Beteiligten so bewusst war wie das Schicksal ihrer Mitglieder. Sie gehörten nun jedoch zu einer anderen Generation. Knapp zwanzig Jahre nach dem letzten großen Aufstand von 1863 / 64 wichen für einen Teil der Nachwachsenden Angst, Resignation und Anpassung der Bereitschaft zu einem neuen Aufbruch. Zwei Mitschüler riefen 1882 die Gruppe ins Leben, die ein knappes Jahr später bereits sechzehn Mitglieder zählte. Bronisław wurde deren zweiter Präsident, eine Position, in der ihm Ziuk später nachfolgte. In der Spójnia fanden sich Schüler verschiedener Jahrgangsstufen, die sich nach Auswahl und Prüfung mit einem Eid zu strenger Geheimhaltung verpflichten mussten. Sie alle wussten, dass der Schulverweis das Mindeste war, was ihnen bei Aufdeckung drohte.

In ihrer Gemeinschaft strebten sie eine Bildung an, die ihnen am Gymnasium verweigert wurde. Sie organisierten Vorträge und Debatten zu historischen und literarischen Themen, für die sie sich selbst den Stoff erarbeiteten. Es ging um Klassiker der polnischen Literatur, Erinnerungen an die Aufstände, Berichte aus der Verbannung und Gefängnishaft in Sibirien. Aus Westeuropa gelangten Schriften moderner Denker wie Auguste Comte, Thomas Henry Huxley und Herbert Spencer in die Hände der Schüler. Nicht immer wurde die Disziplin des Studienprogramms eingehalten, oft uferten die Debatten aus oder mündeten in erbitterte Kontroversen. Einigkeit aber herrschte in der Gruppe, wenn es um die Fragen der Religion ging. Kirche und Glaubensdogmen waren ihrer Meinung nach etwas für einfältige Menschen, die diesen Halt im Leben brauchten. Aufgeklärte Menschen konnten darauf verzichten. Eine Position, die auch Ziuk teilte. Ausgenommen davon war seine Schutzheilige, die ihren besonderen Platz für ihn behielt. Zu ihr hatte er eine unmittelbare Beziehung, welche der Kirche nicht bedurfte.

Gruppe der Spójnia, 3. von links Józef Piłsudski, 4. von links Bronisław Piłsudski, 1885

Für alle Gruppenmitglieder waren die selbst gewählten Regeln und der innere Zusammenhalt entscheidend. Was sie dem Schulbetrieb an Energie und Interesse entzogen, widmeten sie der Arbeit in der Spójnia. Es galt die Konspiration aufrechtzuerhalten, sich vor Provokateuren und Spitzeln zu schützen. In der Schule kursierten Gerüchte über die Existenz einer derartigen Gruppe, welche die Mitglieder zu zerstreuen suchten. Sie trafen sich in der Regel vierzehntäglich oder während der Feiertage, gelegentlich auch zu gemeinsamen Ausflügen. Neben Selbststudium, Seminaren und Vorträgen im eigenen Kreis gab es durchaus zahlreiche Aktivitäten der Gruppe, die nach außen gerichtet waren. Sie hatten den Charakter von geselligen Abenden und Theateraufführungen oder waren als solche getarnt.

Sehr wichtig für die Arbeit der Spójnia wurde eine geheime Bibliothek. Deren Grundstock bildeten Bücher, die aus den Familienhaushalten der Schüler stammten. Die literarischen Schätze der Piłsudskis zählten dazu. Der Standort der Bibliothek wechselte. Zum späteren Sitz der Redaktion und der Druckerei ihrer hektografierten Zeitschrift wurde die Wohnung von Stefania (Stefka) Lipmanówna. Im Leben Ziuks spielte Stefania eine besondere Rolle. Sie war eine enge Verwandte der Mutter, um einige Jahre jünger als diese. Ein früherer Verlobter der alleinstehenden, lebenslustigen Frau war in den Jahren nach der Niederlage des letzten Aufstands verschollen. Über ihn gab es nur Gerüchte. Die attraktive Stefania verschloss sich jeder späteren Bindung und Heirat. Sie ging als Tante (Ciocia) Stefka in die Familiengeschichte ein. Ziuk hing sehr an ihr und umschmeichelte sie. Er war ihr kleiner Prinz und jugendlicher Vertrauter, dem sie nahezu alle Unarten verzieh. Zahlreiche spätere Briefe des jungen Piłsudski waren an Tante Stefka gerichtet. In der Zeit der Spójnia war sie die Beschützerin und ein guter Geist für die Gruppe.

Aufgrund seiner Zuverlässigkeit und Ordnungsliebe wurde Bronisław zum Bibliothekar der Spójnia. Er katalogisierte die vorhandenen Titel, kümmerte sich um Ausleihe und Rückgabe sowie um die Bestellung neuer Bücher. Das dafür nötige Geld beschafften die Mitglieder der Gruppe auf verschiedenen Wegen. Einige von ihnen gaben Nachhilfestunden und steuerten auf diese Weise etwas bei. Gute Einnahmen erbrachten außerdem gesellige Gesangsabende und Liebhaberaufführungen mit zumeist patriotischen Motiven und Stoffen. Dazu zählten auch Komödien. Ziuk, der leidenschaftlich gern Theater spielte, wirkte in einer Aufführung von Alexander Fredros Mädchenschwüre mit und glänzte dort in einer der weiblichen (!) Hauptrollen. Als die Sängerin Marcelina Sembrich-Kochańska, eine der berühmtesten Koloratursopranistinnen ihrer Zeit, ein Konzert in Wilna gab, suchte sie eine Delegation der Spójnia mit Ziuk an der Spitze auf. Sie stellten sich als junge Verteidiger der Sache Polens vor und baten die gefeierte Sängerin um ihre Unterstützung. Die Künstlerin war überrascht, aber zu einem zusätzlichen Auftritt in einer Privatwohnung bereit. Der Erlös, immerhin 2000 Rubel, ging an die Schüler. Die Bestände der Bibliothek wuchsen damit weiter.

Historisch-literarische Werke und Zeitschriften ließen sich über Buchhandlungen beziehen. Politische Literatur, vor allem sozialistische Schriften, gelangte auf anderen Wegen zur Gruppe. Kontakte zu Studenten, die aus der Region stammten und an den Universitäten in St. Petersburg, Dorpat oder Kiew immatrikuliert waren, spielten dabei eine wichtige Rolle. In diesen Städten gab es geheime Druckereien für die Broschüren und Flugblätter etwa der sozialrevolutionären russischen Bewegung der Narodniki (»Volkstümler«) oder der ebenfalls sozialrevolutionären Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (»Wille des Volkes«). Erstere träumten davon, friedlich »ins Volk zu gehen«, während sich Letztere bereits dem Terror verschrieben hatte.

Aus London, Paris, Brüssel oder Berlin stammten Schriften westeuropäischer Sozialisten. Sie wurden in die großen Städte im Osten Europas geschmuggelt und fanden von dort aus ihren Weg auch nach Wilna. Die Arbeiten von Wilhelm Liebknecht, Ferdinand Lassalle und August Bebel gehörten dazu. Karl Marx und Friedrich Engels setzten sich seit den 1860er-Jahren intensiver mit Russland und Polen auseinander, lernten Russisch und studierten die Texte der russischen Revolutionäre. Umgekehrt gab es Das Kommunistische Manifest und Das Kapital bereits in russischer und polnischer Übersetzung. Das Interesse von Marx und Engels für Russland und ihre Auseinandersetzung mit dem russischen Despotismus bestimmten auch ihren Blick auf Polen und die polnische Frage. Engels sah in den polnischen Befreiungskämpfen und in der Wiederherstellung Polens die entscheidende Möglichkeit, russischen imperialen Gelüsten und preußischen Großmachtambitionen entgegenzutreten. Russland und Preußen schienen ihm in ihrer negativen Politik in Bezug auf Polen wechselseitig aufeinander angewiesen zu sein.

Auf Karl Marx übte die Tapferkeit der polnischen Aufständischen von 1863 eine besondere Faszination aus. Einem Besucher zeigte er stolz eine Fotografie seiner Lieblingstochter Jenny, auf der sie ein kleines Kreuz um den Hals trug. Dies sei eine Erinnerung an die Kämpfer des Aufstands. Jenny, die später den französischen Sozialisten Paul Lafargue heiratete, ihr Vater und Friedrich Engels wussten, welche Rolle polnische Emigranten und Freiwillige in den italienischen Unabhängigkeitskriegen und während der Pariser Kommune 1871 spielten. Zahlreiche Offiziere und Kommandeure der Kommunarden waren Polen, eine Tatsache, die Bismarck in seiner Ansicht bestärkte, die Polen seien ein Volk von Aufrührern und Konspirateuren, die es mit aller Kraft zu bekämpfen gelte. Er hatte dem Zaren bereits zur Niederschlagung des Aufstands von 1863 gratuliert und dabei angemerkt, dass es schade um jeden Hieb sei, der danebengehe. Bei der Niederschlagung der Pariser Kommune durch Einheiten der Versailler Regierung, die von preußischen Belagerungstruppen unterstützt wurden, wurden zahlreiche Kommune-Kämpfer und Zivilisten ermordet. Dabei genügte es oft schon, als Pole identifiziert zu werden, um vor das Exekutionskommando zu kommen. Ohne die Kommune zu überhöhen, konnte (und kann) man sie als eine der Geburtsstunden der europäischen Arbeiterbewegung ansehen.

Unter dem Einfluss von Marx und Engels hatte sich die ursprüngliche Losung des Bundes der Kommunisten, »Alle Menschen werden Brüder«, in die Forderung »Proletarier aller Länder vereinigt euch« verwandelt. Klassenkampf, internationale Revolution, Diktatur des Proletariats und eine künftige klassenlose Gesellschaft waren nun das Ziel. Folglich wurde eine nationalstaatliche Souveränität, wie sie die Polen hatten erkämpfen wollen, nur noch als Moment des Übergangs betrachtet. Davon war auch die Haltung ihrer dogmatischen Anhänger bestimmt, für die das Ziel nationaler Souveränität ein reaktionärer Anachronismus war.

Bücher und Druckerzeugnisse hatten für die Mitglieder der Spójnia eine weitere wichtige Bedeutung. Selbststudium und Selbstvervollkommnung sollten mit einer Wirkung nach außen verbunden werden. Freunde, Bekannte und Familienmitglieder, denen man trauen konnte, die aber nichts von der Existenz der Gruppe wissen durften, wurden als Teil einer organisierten Gemeinschaft von Lesern mit Literatur und Informationen versorgt. Auf diese Weise sollte der Boden für künftige Aktivitäten bereitet werden. Es gab nur ein Dilemma dabei: Konspiration sicherte das Überleben der Gruppe und ihrer Mitglieder, machte aber jede wirkliche Öffnung unmöglich.

Mit fieberhafter Aufmerksamkeit verfolgten die Schüler alle Entwicklungen im Russischen Reich. Nach dem Sieg über Napoleon 1814 /15 und dem Wiener Kongress hatte sich Russland in einer starken europäischen Position gesehen. Der »Gendarm Europas« war in den Augen der europäischen Großmächte eine Ordnungsmacht und wurde dieser Rolle bei der Niederschlagung der Revolution von 1848 /49 gerecht. Mit dem Anspruch einer europäischen Hegemonialmacht, eines Dritten Roms und dem Griff nach Konstantinopel hatte sich Russland jedoch übernommen. Als es um das Schicksal des Osmanischen Reiches und die Vorherrschaft im Nahen Osten ging, bildete sich im Krimkrieg (1854–1856) eine britisch-französische Koalition gegen Russland. Sie half Frankreich aus dem Schatten der Niederlage Napoleons heraus und fügte der russischen Seite in verlustreichen Kämpfen eine vernichtende Niederlage zu. Vor den Eroberungen Katharinas der Großen am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Krim nie zu Russland gehört. Jetzt wurde, trotz der Niederlage, der Hafen Sewastopol zur Heldenstadt, und die Krim wurde zur heiligen russischen Erde, die es wiederzugewinnen galt. Österreich und Preußen blieben in diesem Krieg offiziell neutral, verweigerten sich aber allen russischen Erwartungen auf Unterstützung. Die Ordnung des Wiener Kongresses war zerbrochen. Die Niederlage Russlands im Krimkrieg offenbarte das Ausmaß seiner Rückständigkeit auf zahlreichen Gebieten und ließ führende Vertreter des Zarenreiches für umfassende Reformen eintreten. Zar Nikolaus I. war kurz vor dem Friedensschluss von 1856 überraschend verstorben, und sein Nachfolger Alexander II. zeigte sich bereit für einschneidende Veränderungen.