Ribbentrop. - Stefan Scheil - E-Book

Ribbentrop. E-Book

Stefan Scheil

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Beschreibung

Der Großhandelskaufmann Joachim von Ribbentrop.ging 1932 als Quereinsteiger an einflußreicher Stelle in die Politik. In seiner Villa in Berlin wurden die entscheidenden Gespräche geführt, die zur Ernennung des Reichskanzlers Hitler führten. Als Sonderbeauftragter, Botschafter und schließlich Außenminister prägte er dann die deutsche Außenpolitik zwischen 1933 und 1945 mit. In seiner Biographie arbeitet Stefan Scheil die Motive Ribbentrop. heraus, dessen überzeugtes und zugleich kritisches Verhältnis zum Nationalsozialismus sowie seine außenpolitischen Ziele. Scheil zeigt auf, daß die Loyalität Ribbentrop. aus der Euphorie des »nationalen Aufbruchs« kam, als die er Hitlers Diktatur deutete. Wie das Auswärtige Amt bereits zur Weimarer Zeit, trug Ribbentrop.das Endziel eines großdeutschen Nationalstaats mit, das Hitler ihm 1937 skizzierte. Dieses Ziel wollte Ribbentrop.als Minister seit 1938 durchsetzen und zugleich andere Staaten von einer bewaffneten Intervention dagegen abschrecken.

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STEFAN SCHEIL

Ribbentrop

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Joachim von Ribbentrop, 1938 (© ullstein bild – Roger-Viollet)

Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

ISBN 978-3-428-13907-1 (Print) ISBN 978-3-428-53907-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83907-0 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ƀ

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Immer wieder finden wir uns bei dem Begriff ‚Nation‘ auf die Beziehung zur politischen ‚Macht‘ hingewiesen und offenbar ist also ‚national‘ – wenn überhaupt etwas Einheitliches – dann eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer durch Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtgebildeorganisation verbindet, und zwar je mehr der Nachdruck auf ‚Macht‘ gelegt wird, desto spezifischer.“

Max Weber1

„Die Zeitung von heute morgen schreibt:

Als der Führer rief: ‚Ich kann nur leben, wenn mein gewaltiger Glaube in das deutsche Volk wieder und wieder durch den Glauben und das Vertrauen des Volkes in mich gestärkt wird!‘, antwortete ihm ein einziger Schrei der Massen, die ihre Treue bekannten.

Ich werde diesen ‚Schrei‘, dieses unmittelbare Gebrüll von 40.000 Menschen, die sich in einer einzigen Bewegung aufrichten, nicht mehr vergessen. ‚Hier beginnt eine neue Epoche….‘

Nein, es handelt sich nicht um Haß, es handelt sich um Liebe.“

Dennis de Rougemont2

1 Zit. n. Weber, Sozialökonomik, S. 226.

2 Zit. n. Rougemont, Journal, S. 61.

Vorwort

Obwohl Bücher wie dieses in der Ruhe von Bibliotheken und Archiven geschrieben werden, lebt der Autor natürlich nicht im isolierten Raum. Über die wissenschaftstheoretische Unmöglichkeit einer objektiven Geschichtsschreibung und die notwendige Prägung des Autors durch literarische Neigungen, beispielsweise zur Tragödie oder zur Farce, ist in den letzten Jahrzehnten viel geschrieben worden, mit Sicherheit zu viel. Zu diesen möglichen Einflüssen gesellen sich mögliche politische Prägungen des Autors und natürlich der Eindruck aktueller politischer Entwicklungen. Während nun dies hier in den letzten Jahren geschrieben wurde, trafen praktisch täglich Nachrichten über eine Krise der Europäischen Union ein. Es war dabei die Rede von einem Deutschland, das den einen zuviel politisches und wirtschaftliches Gewicht entwickelt hatte, während bei den anderen der Eindruck entstand, die Bundesrepublik Deutschland solle geradezu von den Nachbarn wirtschaftlich ausgenutzt und als Staatswesen einflußlos werden. Demnach stand so etwas wie die „deutsche Frage“ einmal mehr im Raum und dies gelegentlich zumindest rhetorisch sogar als eine Frage von Krieg und Frieden. Der größere von zwei vergleichsweise bescheidenen Nachfolgestaaten jenes deutschen Reichs, dessen Außenpolitik vor 1945 hier im folgenden geschildert werden wird, wurde teilweise verdächtigt, eine Hegemonie in Europa anzustreben. Daß die Auseinandersetzung darüber vielleicht ins Militärische eskalieren könnte, haben ranghohe Politiker dieses Staates gelegentlich angedeutet.

Ob diese Eindrücke in irgendeiner Form die Darstellung beeinflusst haben, ist schwer zu sagen. Beabsichtigt war es jedenfalls nicht. Immerhin ist der hier beschriebene politische Lebenslauf Joachim von Ribbentrops in den Jahren 1933 bis 1945 auch eine Abhandlung über gegenseitiges Mißtrauen und die daraus resultierenden Mißverständnisse. Wenn beides in der ideologisch aufgeladenen Ära der Weltkriege auch ganz anders begründet war, so ist dies in der internationalen Politik doch in gewissem Umfang ein zeitloses Problem, das mit dem drohenden Zerfall der jeweils vorhandenen internationalen Ordnung immer akuter wird. Die „realistische Schule“ der außenpolitischen Interpretationsschulen mit ihrer Grundannahme internationaler Anarchie wird in diesem Fall tendenziell zu zutreffenderen Beschreibungen kommen als die Annahmen von wertegeleiteter Außenpolitik und der allgemeinen Gültigkeit von Völkerrecht. Solche Annahmen und die daraus gewonnenen Normen stellen eben häufig lediglich den Ausdruck einer Hegemonie einzelner Staaten dar, die mit dem Verfall dieser Hegemonie fragwürdig werden. Was hier nun folgt, ist eine „realistische“ Darstellung deutscher Außenpolitik der nationalsozialistischen Ära anhand der Biographie Joachim von Ribbentrops. Mit den oben angesprochenen Problemen der Europapolitik hat dies [8] insofern unausweichlich zu tun, als die Europapolitik der letzten Jahrzehnte offiziell von der Grundannahme einer unprovozierten und grenzenlosen deutschen Kriegspolitik in den Jahren bis 1945 ausging, die den Krieg von 1939 verschuldet hätte. Diese Grundannahme hat sich als unzutreffend herausgestellt. Insofern ist dies unvermeidlich ein politisches Buch.

Ich danke den Mitarbeitern der verschiedenen Bibliotheken und Archive, die dies erst möglich gemacht haben, namentlich natürlich der Universitätsbibliothek Mannheim sowie dem Bundesarchiv Koblenz und dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. Besonders danke ich der Erich und Erna Kronauer Stiftung für die finanzielle Förderung dieser Arbeit, sowie Dr. Florian Simon für die freundliche Bereitschaft, den Text in das Verlagsprogramm von Duncker & Humblot aufzunehmen.

Stefan Scheil

Inhaltsverzeichnis

I. Fakten und Mutmaßungen über Ribbentrop – Zum Forschungsstand

II. Mensch – Nationalist – Nationalsozialist

1. Zur Person und wie sie die Welt sah

2. Die Analogie des nationalen Aufbruchs

3. Wirtschaftsfragen

4. Ribbentrop und der frühe Nationalsozialismus

III. Botschafter hinter den Kulissen

1. Zwischen London und Paris

2. Das Flottenabkommen von 1935

3. Wie man einen Premier einlädt – und scheitert

IV. Entscheidung in London

1. Von Hoesch zu Ribbentrop

2. Londoner Verhältnisse

3. Stilfragen einer imperialen Ära

4. Nevile Henderson – Botschafter ohne Hausmacht

V. Allein unter Diplomaten – Ribbentrop und das Auswärtige Amt

1. Hitlers „Schuttplatz der Intelligenz“

2. Das Amt, seine Organisation und der Minister

3. Der Minister und sein Staatssekretär

4. Der Jurist und seine Wende

VI. Endziel großdeutscher Nationalstaat: Das Hitler-Ribbentrop Programm 1937/38

1. Die Bülow-Denkschrift von 1933

2. Ribbentrops Bilanz und Prognose

3. Hitlers Endziele: Das Hoßbach-Protokoll

VII. Außenminister für Abschreckung

1. Risikogedanken

2. Prag und die Weltpolitik

3. Ribbentrops Berichterstattung über den drohenden Krieg

4. Programm erfüllt: Großdeutscher Nationalstaat für ein Jahr

5. Das Scheitern der Abschreckung

6. Ribbentrops sowjetische Karte

VIII. Diplomatie für’s Alibi

1. Konferenz oder Krieg

2. Diplomatische Hörschwächen

3. Das Alibi – eine Bilanz

IX. Im Zentrum des Vernichtungskriegs

1. Ribbentrop vs. Chamberlain – Schlagabtausch über Schuld und Vertrauen

2. Amerikanische Verhältnisse

3. Ribbentrop, das Amt und der Kompromißfrieden

4. Säkulare Verhandlungen mit der Weltrevolution

5. Der zweite amerikanisch-deutsche Krieg

X. Zwischenbetrachtung: Das Auswärtige Amt, der Minster und der Holocaust

XI. Politik in Zeiten des Krieges

1. Fluchtpunkt Europa

2. Stockholmer Friedenskontakte

3. Goebbels vs. Ribbentrop

4. Unter jedem Stein nachsehen

XII. Fiasko

Auswahlbibliographie

1. Eigene Schriften, Geleitworte und Reden von Joachim von Ribbentrop

2. Unveröffentlichte Quellen

3. Zeitschriften

4. Gedruckte Quellen, Dokumenteneditionen und Lexika

5. Memoiren, Erinnerungsliteratur und Tagebücher

6. Zeitgenössische politische und historische Schriften

7. Sekundärliteratur

Personenindex

Abkürzungsverzeichnis

AA

Auswärtiges Amt

ADAP

Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik

AJC

American Jewish Committee

BA

Bundesarchiv

BA-MA

Bundesarchiv-Militärarchiv

BDFA

British Documents on Foreign Affairs

CHAR

Chartwell Papers

DBFP

Documents on British Foreign Policy

DDF

Documents diplomatiques francais

DDI

Documenti Diplomatici Italiani

DDP

Dokumente der deutschen Politik

DNB

Deutsches Nachrichtenbüro

Doc.

Document

Dok.

Dokument

DR

Dienststelle Ribbentrop

DVP

Dokumenty vneshnei politiki

EZI

Encyclopedia of Zionism and Israel

FO

Foreign Office

FRUS

Foreign Relations of the United States

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

Hrsg.

Herausgeber

hrsg.

herausgegeben

HZ

Historische Zeitschrift

IfZ

Institut für Zeitgeschichte

IMT

Internationales Militärtribunal

KTB

Kriegstagebuch

MGFA

Militärgeschichtliches Forschungsamt

MWT

Mitteleuropäischer Wirtschaftstag

OKW

Oberkommando der Wehrmacht

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PA-AA

Politisches Archiv-Auswärtiges Amt

PRO

Public Record Office London

SKL

Seekriegsleitung

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

VB

Völkischer Beobachter

I. Fakten und Mutmaßungen über Ribbentrop – Zum Forschungsstand

Am Anfang eines Forschungsunternehmens steht stets die Frage nach dem möglichen Erkenntnisgewinn. Was kann eine politische Biographie über Joachim von Ribbentrop leisten, was von anderen noch nicht geleistet wurde? Die Antwort auf diese Frage läßt sich zunächst auf zwei Ebenen geben. Eine davon betrifft das Gesamtbild der Epoche: Sowohl über die von Ribbentrop persönlich zu verantwortende Politik wie über die internationalen Verhältnisse seiner Zeit herrschen zahlreiche unzutreffende Vorstellungen. Dies wurde in den bisher vom Autor dieser Zeilen vorgelegten Veröffentlichungen bereits dargelegt und in einer mehrbändigen Gesamtdarstellung korrigiert.1 Auf dieser Vorarbeit beruht auch die jetzt hier vorgelegte biographische Studie, die diese Zeiten nun aus dem Blickwinkel einer einzelnen Person untersucht. Diese Perspektive rückt einige Fakten in den Vordergrund, die bisher weniger beachtet wurden, während andere, von denen die Person Joachim von Ribbentrop nicht berührt war, in den Hintergrund zurücktreten. Noch einmal aber wird auf dieser Ebene deutlich werden, in welchem Ausmaß deutsche Außenpolitik mit den Zielen und Bedrohungen durch andere Staaten zu rechnen hatte und daß sie viel häufiger reagierte als agierte.

Die zweite Ebene ist die der Person in ihrem Umfeld. Am politischen Leben und Handeln von Joachim von Ribbentrop lassen sich gleich mehrere Phänomene und Entwicklungen aufzeigen, die zeittypisch sind. Da ist zum einen das Phänomen des Quereinsteigers in die Politik, der vergleichsweise spät und als Außenseiter in die politische Führungsschicht des Nationalsozialismus einstieg. Er hatte zu diesem Zeitpunkt als Großhandelskaufmann sein Vermögen und seine gesellschaftliche Stellung bis hin zu weitgehender Unabhängigkeit ausgebaut. Als parteipolitisch agierender Mensch war er dagegen bis dahin nicht in Erscheinung getreten. Alles spricht dafür, daß JvR – wie wir ihn gelegentlich nennen wollen – in politisch weniger aufgeregten Zeiten als den Jahren 1929 bis 1932 seine Geschäfte als Privatmann weiter betrieben hätte. Da diese Zeiten nun aber einmal aufgewühlt und unsicher waren, stellte er sich den Nationalsozialisten offenbar aus einer Mischung aus Ehrgeiz und Nationalgefühl zur Verfügung, wie sie für die damalige Zeit nicht untypisch war. Es herrschte in Deutschland verbreitet der Eindruck, daß [14] die alten Eliten, die wilhelminische ebenso wie die der Weimarer Republik, den deutschen Nationalstaat in eine ausweglose Lage geführt hatten. Der Krieg von 1914 bis 1918 war ebenso verlorengegangen wie der Frieden von 1919 bis 1929. Die „nationale Erhebung“, als die der aufkommende Nationalsozialismus damals verbreitet gedeutet wurde und sich auch selbst empfand, schien hier einen Ausweg zu bieten. Wer dies nicht positiv empfinden konnte, sondern allenfalls als Ausdruck einer ausweglosen Lage, dessen Stimmungslage kam die Wahlkampfstrategie der NSDAP ebenfalls entgegen. „Unsere letzte Hoffnung: Hitler“ plakatierte man im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1932 und zeigte auf dem Plakat graue und ausgemergelte Gestalten aller Schichten.2 Das reichte zu keinem Zeitpunkt und auch nicht in diesem Präsidentschaftswahlkampf für eine Stimmenmehrheit der NSDAP, aber es ließ die nationalsozialistische Partei tatsächlich in alle Schichten und Milieus eindringen. Sie wurde damit – wahlsoziologisch gesehen – zur ersten deutschen Volkspartei3 und für viele, unter ihnen Joachim von Ribbentrop, tatsächlich zur Verkörperung eines nationalen Aufbruchs. Der außenpolitische Aspekt dieses Neuanfangs reizte Ribbentrop offenkundig von Beginn an besonders. Die vorliegende Darstellung wird deshalb darauf beruhen, Ribbentrops Politik als Teil des von Regierungs-, Staats- und Parteichef Hitler betriebenen Versuchs aufzuzeigen, unter nationalsozialistischen Vorzeichen eine Restauration des deutschen Reichs in seinen historischen Grenzen herzustellen, also in etwa in den Grenzen des Deutschen Bundes bis 1866. Diese Absicht, einen bisher so noch nie dagewesenen deutschen Zentralstaat in Mitteleuropa zu errichten, stellte die europäische Staatenwelt natürlich vor ein Akzeptanzproblem. Sie fand auch militante Gegner, unter anderem in Großbritannien, wie Ribbentrop persönlich zu spüren bekam.

Zu diesen Gegnern gehörten einflußreiche Geschichtspolitiker wie der spätere Kriegspremier Winston Churchill. In den vielfältigen Rollen als Parteipolitiker, Seelord, Minister, Regierungschef, Publizist und weltbekannter Historiker in eigener Sache, die er eingenommen hat, symbolisiert sich die bemerkenswerte Besonderheit der Weltkriegsära von 1914–1945, mehr als je eine kriegerische Auseinandersetzung zuvor Öffentlichkeitswirksam vor- und nachbereitet worden zu sein. Dies hat in Verbindung mit den dramatischen Eindrücken des europäischen Großund schließlich Weltkriegs seit 1939 die gegenseitigen politischen Absichten in der Vorkriegszeit bis 1939 weitgehend in Vergessenheit geraten lassen. Zusätzlich beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die international koordinierte Erziehungs- und Bildungspolitik nach 1960, in der die deutsche Geschichte der jüngeren Zeit als nicht legitimierter „Sonderweg“ einen festen Platz einnahm. Eine rea[15]listische Betrachtung deutscher Bedrohungslagen und Zielsetzungen hatte darin keinen Ort. Bisherige Darstellungen von Ribbentrops Persönlichkeit wie Politik leiden daher unter den üblichen Mängeln der Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Außenpolitik. Viele und gerade die besonders einflußreichen Darstellungen gehen von unbewiesenen, axiomatischen Annahmen über Hitlersche Stufenpläne zur Welteroberung aus. Das nationalsozialistisch regierte Deutschland hat in dieser Vorstellungswelt im Jahr 1939 einen unprovozierten Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen. Diese Annahme durchzieht eben auch die meisten biographischen Versuche über Joachim von Ribbentrop.

Zum anderen lassen sich viele Details in diesen Darstellungen des Reichsaußenministers auf die Nachwirkungen von gezielter, persönlich wie politisch motivierter Abneigung zurückführen. Um die Folgen dieser Quellenlage in Grenzen zu halten, wird im Folgenden darauf verzichtet werden, den Informationen aus Hörensagen das Gewicht zu geben, das sie in der Literatur bisher häufig gehabt haben. Man könnte diese geringere Gewichtung für eine Selbstverständlichkeit halten, doch ist eine große Neigung vieler Autoren zu konstatieren, auf solche Informationen zurückzugreifen. Das Gerücht aus dritter, vierter oder fünfter Hand ist in der Forschungsliteratur ein häufig und an prominenter Stelle anzutreffendes Phänomen. Dies gilt auch für angeblich zentrale Quellen in Bezug auf Joachim von Ribbentrop, so etwa die Erinnerungsbücher und Aufzeichnungen Ernst von Weizsäckers oder Theodor Kordts.

Es gab bisher sehr verschiedene Versuche, sich der Person JvR, seinen politischen Konzepten und seiner Politik anzunähern. Die ersten fielen naturgemäß in die Zeit bis 1945, als Ribbentrop als außenpolitischer Berater des deutschen Staatschefs und dann als dessen Botschafter und Außenminister aus aktuellen politischen Interessen vorwiegend im angelsächsischen Ausland negativ dargestellt wurde. Erstaunlicherweise gibt es aus dieser Zeit keinen deutschen Biographieversuch, der dem etwas hätte entgegensetzen wollen. Ribbentrop selbst autorisierte zwar zum Zweck der Pressearbeit gelegentlich eine kurze autobiographische Skizze, umfangreichere Darstellungen legten aber lediglich seine Gegner vor. Dem 1940 in London unter dem Titel „Ribbentrop is still dangerous“ erschienenen Pamphlet Douglas Glens folgte 1943 in New York die von Paul Schwarz mit etwas mehr Anspruch vorgestellte Biographie „This Man Ribbentrop – His Life and Times“.4 Glens „Ribbentrop“ ist, wie es Erscheinungsort, -zeit und Titel vermuten lassen, ein zu Mobilisierungszwecken verfaßtes Stück englischer Propaganda, das die Gefährlichkeit, Skrupellosigkeit und Radikalität des deutschen Außenministers anhand von Anekdoten und Unterstellungen populär zu machen sucht. Natürlich ist Ribbentrop für Glen einer der Hauptschuldigen am Krieg von 1939. Aber Ribbentrop wird von ihm auch als Saboteur und deutscher Geheimagent seit den Zeiten des Ersten Weltkriegs geschildert, dessen Aufenthalt in Kanada vor 1914 in [16] frei erfundener Weise als reine Spionagetätigkeit präsentiert wird. Zusammen mit Gerhard von Gunthers „Von Ribbentrop“ aus der Reihe „How they did it“, Oswald Dutchs,5 „Hitler’s Twelve Apostles“ oder H. W. Blood-Ryans „Franz von Papen“ gehört Glens Schrift zu jenen, die man mit Michael Bloch zustimmend als „kompletten Unfug“ bezeichnen kann.6

Paul Schwarz konnte als früherer deutscher Hafenkonsul in New York auf einige interne Kenntnisse und Beziehungen zum Auswärtigen Amt und zur traditionellen konservativen Führungsschicht in Deutschland zurückgreifen. Dies ermöglichte es ihm, eine detailreiche Darstellung zu verfassen, die einen großen Einfluß auf das Ribbentropbild der späteren Geschichtsschreibung ausgeübt hat. Nun ist „detailreich“ jedoch keineswegs identisch mit „kenntnisreich“ und so bleibt festzuhalten, daß Schwarz sich zwar im Deutschland der Vorkriegszeit recht gut auskannte, mit Blick auf Ribbentrop aber vorwiegend die oben bereits erwähnten Gerüchte aus dritter Hand vorbrachte. Sie waren zudem so ausgewählt, daß der von Schwarz ausdrücklich genannte Zweck einer Anklageschrift erfüllt wurde. Insofern kann auch sein biographischer Versuch nicht als objektive Darstellung eingestuft werden. Störende positive Informationen über Ribbentrop blendete Schwarz offenbar aus, so etwa die von Wolfgang Stresemann, dem Sohn des früheren deutschen Außenministers. Stresemann fühlte sich nach eigener Einschätzung imstande, Schwarz „in mancher Hinsicht zu helfen, da der spätere Nazi-Außenminister im Hause meiner Eltern verkehrte und damals keinerlei Tendenz in Richtung ‚Drittes Reich‘ erkennen ließ, und beim Tode meines Vaters einen warmherzigen Beileidsbrief schrieb.“7 In der von Schwarz schließlich vorgelegten Ribbentrop-Biographie blieben solche Informationen außen vor.

Die Geschichtswissenschaft selbst ließ sich Zeit mit der Erforschung der nationalsozialistischen Außenpolitik und des leitenden Ministers. In Deutschland lag bekanntlich bis in die 1960er Jahre nicht einmal das Archivmaterial des Auswärtigen Amts vor, das die Alliierten 1945 beschlagnahmt hatten und nur zögerlich zurückgaben. Erst die von den Alliierten vorgenommene Edition der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik stellte Archivmaterial in veröffentlichter Form bereit – wenn man als Historiker bereit war, Auswahl und Echtheit der Edition zu akzeptieren. Zuvor mußte auf die bis dahin vorliegenden Erinnerungsbände, das Anklagematerial aus dem Nürnberger Prozeß und auf die von deutscher Seite bis 1945 veröffentlichten Akten und Dokumente zurückgegriffen werden, wozu jedoch offenbar wenig Neigung bestand.

Zu Beginn der 1960er Jahre kam es dann zu den bekannten Kontroversen über den Kriegsausbruch des Jahres 1939, die wenigstens am Rande auch das Bild [17] Joachim von Ribbentrops beeinflussten. A. J. P. Taylor und David Hoggan auf der einen und Walther Hofer auf der anderen Seite konzentrierten sich jedoch, soweit sie über die nationalsozialistische Entscheidungsfindung schrieben, auf die Person des Staatschefs. Der Minister Joachim von Ribbentrop trat dabei gegenüber Hitler in den Hintergrund, bei Hofer als ausführendes Organ eines angeblich feststehenden Programms, für Taylor oder Hoggan als Mitarbeiter eines schwankenden oder gar in den Krieg getriebenen Diktators. E. M. Robertson kann als der erste betrachtet werden, der Ribbentrop eine eigene Konzeption der Außenpolitik zugestand, die in gewissem Gegensatz zu diesem „Programm“ gestanden habe.8 Dies führte in Deutschland zu der prompten Kritik des akademischen Establishments, das damals in den Personen Hans-Adolf Jacobsen und Andreas Hillgruber seine herausragenden Repräsentanten hatte. Beide waren führend an dem Projekt beteiligt, in der zeitgeschichtlichen Forschung die erstaunliche Behauptung durchzusetzen, Hitler habe einen „Stufenplan“ zur Welteroberung besessen. Erstaunlich ist diese Behauptung zu nennen, da sich bei genauem Hinsehen recht schnell herausstellt, daß die Redewendung eines Stufenplans zur Eroberung der UdSSR, eines Hitlerschen „Programms“ zur Eroberung von Lebensraum oder gar eines „Weltblitzkriegs“ auf bloßen Mutmaßungen basieren. Dies wurde in einschlägigen Standardwerken gelegentlich von den Protagonisten selbst ausdrücklich eingeräumt. Es gibt keinen „quellenmäßigen Beleg“ für die von ihm angenommenen „Stufenpläne“ Hitlers zur Erreichung der Weltherrschaft, schrieb etwa Andreas Hillgruber selbst in „Hitlers Strategie“.9 Dies hinderte ihn nicht, das Phantom dieser nicht nachweisbaren Stufenpläne zum Leitmotiv seiner Habilitationsschrift zu machen, dies zusammen unter anderem mit Jacobsen als Forschungsstandard durchzusetzen und vor diesem Hintergrund den eben genannten Robertson zu kritisieren, er habe den außenpolitischen „Grundplan“ Hitlers zu wenig berücksichtigt und deshalb Ribbentrops Einfluß überschätzt.10

Wir werden sehen, daß sich der außenpolitische Grundplan Hitlers in den Jahren 1938/39 mit dem deckte, was er Joachim von Ribbentrop bei dessen Amtsantritt als Außenminister als Aufgabe nannte. Es ging ihm um die Durchsetzung territorialer Änderungen in Bezug auf Österreich, die „Tschechei“, das Memelland und Danzig. Dies waren die substantiellen Ziele, die Ribbentrop verfolgen sollte und verfolgte. Eingebettet waren sie in den fortgesetzten Versuch, das internationale Umfeld zur Hinnahme dieser Grenzveränderungen zu bringen, wobei die Art und Weise dieser Akzeptanz nicht festgelegt war. Bilaterale Bündnis[18]abschlüsse mit England oder Italien wurden von Hitler wie von Ribbentrop für ebenso möglich erachtet wie multilaterale Konferenzen unter Einschluß anderer wichtiger Staaten, inklusive der Sowjetunion. Die Ambivalenz in der Haltung gegenüber der Staatenwelt zeigte sich besonders im Fall Großbritannien. Ribbentrop betrieb in den Jahren 1938/39 eine Politik, die dieses Land ausdrücklich von einem Angriff auf Deutschland abschrecken sollte. Er schloß aber auch nicht aus, nach erreichter Abschreckung und Abschluß des territorialen deutschen Revisionsprogramms doch noch ein bilaterales Bündnis zwischen Berlin und London zu schließen. Dies sei an dieser Stelle betont, da auch die weiteren vorliegenden Untersuchungen zu Ribbentrops Politik von einer starken axiomatischen Fixierung entweder Hitlers oder Ribbentrops auf einen Krieg ausgehen, die sich in den Quellen nicht nachweisen läßt und diesen daher immer wieder spekulativ übergestülpt wird.

Zu dieser Zeit in den 1960er Jahren geriet der Name Ribbentrop auf eine neue Weise in die Schlagzeilen, da die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik ihn als Stichwort zum Anlaß nahm, eine angebliche Kontinuität von Bundesrepublik und Drittem Reich zu behaupten und dies an verschiedenen Personen aus dem Auswärtigen Amt festzumachen.11 „Von Ribbentrop zu Adenauer“ wurde in sämtliche Weltsprachen übersetzt. Mit dem Amtsantritt des Bundeskanzlers Kiesinger befeuerte die DDR erneut die Debatte mit der Herausgabe einer auf den neuen Kanzler zugeschnittenen Kampfschrift, die ebenfalls auf den Namen Ribbentrop nicht verzichten wollte.12 In diesen Zeitraum fallen auch die von Ostberlin initiierten zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen des bereits in den fünfziger Jahren erschienenen Memoirenbandes „Unterwegs nach Deutschland“ von Wolfgang Gans Edler Herr zu Putlitz. Putlitz hatte auch zu Ribbentrops Amtszeit einen Posten an der deutschen Botschaft in London und dort nach eigenen Angaben zusammen mit Robert Vansittart und dem früheren langjährigen deutschen Botschaftsmitarbeiter Jona von Ustinov13 aktive Spionage zum Sturz der Regierung Chamberlain betrieben. Während des Krieges arbeitete er demnach für die Propagandaabteilung Sefton Delmers.14 Seine vom „Verlag der Nation“ in Großauflagen in die Weltöffentlichkeit gebrachten Memoiren waren als Polemik gegen den westlichen, kapitalistischen Militarismus ausgestaltet, der den Nationalsozialisten ihren Aufstieg ermöglicht habe, während Stalin dank des Nichtangriffspakts mit Deutschland auch in der Ausgabe von 1967 noch als „der große Staatsmann [19] unserer Zeit“ präsentiert wurde.15 Putlitz hat einigen Einfluß auf das Ribbentropbild in der Öffentlichkeit ausgeübt.16

Einen bedeutenden Sprung in der Erforschung von Ribbentrops Politik stellte Wolfgang Michalkas Dissertation über „Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik“ dar.17 Michalka versuchte bewußt kein „politisches Porträt“ Ribbentrops zu zeichnen, sondern beschränkte sich auf die Darstellung von dessen Englandkonzeption und von deren Rolle innerhalb der Entscheidungsfindung des Dritten Reichs. Dabei skizzierte er Personen mit politischen Alternativkonzepten: Hjalmar Schacht als liberalen Imperialisten, Ernst von Weizsäcker als traditionellen Großmachtpolitiker und Hermann Göring als wilhelminischen Allerweltspolitiker. Michalka schrieb Ribbentrop schließlich eine Hauptrolle bei jener Wende Hitlers zu einer antienglischen Politik in den Jahren 1938/39 zu, die er festgestellt zu haben glaubte. Leider blendete Michalka die politischen Aktionen der Deutschland umgebenden Mächte weitgehend aus und folgte dem erwähnten fiktiven Deutungsschema Hitlers als eines Diktators mit dogmatisch fixierten Welteroberungszielen, der allerdings – in Abkehr von damaligen Vorstellungen – „niemals allein zuständig und damit verantwortlich für die deutsche Außenpolitik“ gewesen sei.18 So wurde die Politik des Diktators von anderen Konzepten umrahmt, unter anderem denen Ribbentrops, ohne daß Michalka die angeblichen Fernziele des Diktators in Frage zu stellen bereit war.

Der Umbruch der Jahre 1989/90 und die deutsche Wiedervereinigung belebten die Debatte um die frühere deutsche Außenpolitik und die Rolle Deutschlands im internationalen System. Dies führte zu einer Reihe von Studien, die sich mehr als ein Jahrzehnt nach Michalka der Person Joachim von Ribbentrops widmeten. Da der Umbruch in Osteuropa zum ersten Mal seit 1939 eine wirkliche Debatte über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt aus diesem Jahr ermöglichte, der in Osteuropa unter dem Begriff Ribbentrop-Molotov-Pakt bekannter ist, rückte die Person Ribbentrop in mehreren fremdsprachigen Veröffentlichungen in den Mittelpunkt.19[20] Zudem änderte sich die Quellenlage. Die UdSSR gab Mitte der 1980er Jahre die bis dahin stets bestrittene Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt zu, mit seinen Abgrenzungen der gegenseitigen deutsch-sowjetischen Interessensphären. Die Studien, die diesen Punkt aufgriffen, zeigten den Außenminister in konventioneller Weise als Vollstrecker von Hitlers mutmaßlicher Angriffspolitik, der allerdings, wie es schon die Memoirenliteratur aus der sowjetischen Ära immer wieder behauptet hatte, schließlich gegen den deutschen Angriff auf die UdSSR gewesen sei.

Als weitgehend irrelevant erwies sich leider die von John Weitz 1992 publizierte Studie über JvR als „Hitler’s Diplomat“. Zwar tritt der Autor mit geradezu heroischem Anspruch auf:

„Diese Biographie führte mich von den Archiven des Bonner Außenministeriums zu Archiven überall in Europa. Ich jagte den Geist von Ribbentrops über die Berge Österreichs bis hin nach London, Berlin, Nürnberg, Hamburg und Washington, D. C.“20

Bei genauem Hinsehen findet sich im gesamten Buch nicht ein einziger Verweis auf eine einzige Archivquelle in irgendeiner Stadt, ja nicht einmal ein einziger Querverweis auf die veröffentlichten Akten irgendeines Außenministeriums, sei es das deutsche, britische oder das amerikanische. Weitz schrieb an den fragwürdigsten Teilen der vorliegenden Memoirenliteratur entlang und komprimierte sozusagen die Summe der Versäumnisse und Fehler, die sich in den vorherigen Darstellungen finden. Insofern wird auf seine Studie hier im weiteren kein Wert gelegt.

Der bereits erwähnte Michael Bloch unternahm Anfang der 1990er Jahre den Versuch einer umfassenden Biographie Ribbentrops.21 Als Jurist und routinierter Autor von mehreren Biographien, sowohl von Edward VIII. als auch aus dem Umfeld des abgedankten englischen Königs, gestaltete er den Stoff mit Spannung. Als Nebenwirkung dieser Gestaltungsform enthielt sein „Ribbentrop“ allerdings romanhafte Züge mit unzähligen, naturgemäß unbelegbaren Behauptungen, was sich Ribbentrop oder andere zu diesem oder jenem Punkt seinerzeit wohl gedacht hatten. Er verzichtete zudem auf eigene Archivstudien oder die Einbindung des Forschungsstands und blieb insofern wenig innovativ. Immerhin ist seine Studie trotz solcher Mängel ein beachtenswerter Versuch. Sie zeichnet aber eben wegen der offenkundigen Unkenntnis der damaligen europäischen Verhältnisse und der Nichtberücksichtigung entscheidender Dokumente, wie etwa Ribbentrops Abschlußbericht als Londoner Botschafter vom Dezember 1937, ein völlig falsches Bild von den Zielen der deutschen Außenpolitik in den Jahren 1938/39.

Nahezu zeitgleich mit Bloch erarbeitete der Stuttgarter Historiker Stefan Kley seine schließlich 1996 publizierte Dissertation über „Hitler, Ribbentrop und die [21] Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“.22 Anders als Bloch betrieb Kley intensive Archivstudien, insbesondere im Auswärtigen Amt. Er beschränkte sich auf die Darstellung der Jahre 1938 und 1939. Ähnlich wie Michalka betonte er Differenzen in den Konzeptionen Hitlers und Ribbentrops, hielt jedoch am Axiom eines einseitigen Willens zum Krieg fest, der nur in Deutschland vorhanden gewesen sei und dort beim Diktator zu finden gewesen wäre. Hitler habe dieses Ziel eines Kriegsausbruchs ununterbrochen verfolgt, das er laut Kley wegen dessen Brisanz aber sowohl vor sämtlichen Mitarbeitern, Ribbentrop inklusive, sowie in Reden, Weisungen und Anordnungen verschweigen mußte. So geriet Kleys Untersuchung trotz mancher Verdienste erneut zu einer Phantomjagd und „wahrscheinlich“ wurde in ihr zu einer der meistverwendeten Vokabeln, da er genötigt war, diese aus den Quellen nicht belegbare Behauptung plausibel werden zu lassen, indem Hitler seiner Ansicht nach „wahrscheinlich“ entweder etwas anderes oder das Gegenteil dessen gemeint habe, was er sagte oder schrieb. Joachim von Ribbentrop tritt in diesem Rahmen als derjenige auf, der „wahrscheinlich“ ahnte, was Hitler wirklich wollte, es ablehnte, es aber nicht verhindern konnte. Zuletzt veröffentlichte Vasilij Molodjakov eine umfassende Studie über Joachim von Ribbentrop.23 Er bezeichnet den Minister schon im Titel als generell „eigenwillig“ und arbeitet Ribbentrops Eintreten für den Kontinentalblock als Gegensatz zu anderen in der NS-Führung vertretenen Ansichten heraus. Auch dies stellt eine nicht unerhebliche Korrektur des konventionellen Bildes des Außenminister dar.

Abgesehen von diesen Studien über Joachim von Ribbentrop ergriff auch die Familie Ribbentrop mehrfach das Wort. Ribbentrops Veröffentlichungen aus der NS-Zeit fielen 1945 zunächst vollständig unter die Rubrik der „auszusondernden Literatur“.24 JvR schrieb allerdings noch im Nürnberger Gefängnis seine Erinnerungen unter dem Titel „zwischen London und Moskau“, die sowohl seine eigene politische Tätigkeit als Diplomat wie die Lage Deutschlands überhaupt zum Thema hatten. Trotz der schwierigen Umstände, die Memoiren während des Prozesses, ohne Zugang zu Unterlagen und unter dem Eindruck des drohenden Todesurteils verfassen zu müssen, sind sie als Quelle wertvoll und mehr als nur eine reine Verteidigungsschrift. Neben Ribbentrop schrieb auch seine Frau Annelies in den fünfziger und sechziger Jahren gleich mehrere Bände, in denen sie auf seine Außenpolitik einging und auf die Verbindungen der konspirativen Kreise im Auswärtigen Amt zu den potentiellen deutschen Kriegsgegnern im Vorfeld des Kriegsausbruchs von 1939. Ihren Darstellungen ist der Eifer für den Ehemann deutlich anzumerken, doch sind auch diese umfangreichen Veröffentlichungen durchaus als sach[22]licher Beitrag zu werten.25 Zuletzt veröffentlichte Ribbentrops Sohn Rudolf unter dem Titel „Mein Vater Joachim von Ribbentrop“ eine biographisch wie autobiographisch angelegte Skizze von Leben und Denken des Ministers und seiner Zeit, die sich auch als Darstellung seiner politischen Grundsätze versteht.

1 Insbesondere in den vier Bänden: Logik der Mächte – Europas Problem mit der Globalisierung der Politik, Berlin 1999; Fünf plus Zwei, Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2009; 1940/41 – die Eskalation des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2011; Churchill, Hitler und der Antisemitismus – Die deutsche Diktatur, ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39, Berlin 2009.

2http://www.annefrank.org/de/Subsites/Zeitleiste-/Zwischenkriegszeit-1918–1939/Anne-Franks-Geburt/1932/Ein-Naziplakat-fur-die-Wahl-des-Reichsprasidenten-Der-Text-lautet-Unsere-letzte-Hoffnung-Hitler/#!/de/Subsites/Zeitleiste-/Zwischenkriegszeit-1918-1939/Anne-Franks-Geburt/1932/Ein-Naziplakat-fur-die-Wahl-des-Reichsprasidenten-Der-Text-lautet-Unsere-letzte-Hoffnung-Hitler/.

3 Vgl. Falter, Wähler, S. 371.

4Douglas Glen: Ribbentrop is still dangerous, London 1940; Paul Schwarz: This man Ribbentrop, New York 1943.

5 Der Name Oswald Dutch war ein Pseudonym für Otto Erich Deutsch (1894–1983), einen 1938 nach der Vereinigung mit Österreich emigrierten NS-Gegner, der nach 1945 wieder als Journalist in der Bundesrepublik tätig war.

6 Vgl. Bloch, Ribbentrop, S. 459.

7 Vgl. Stresemann, Zeiten, S. 210.

8 Vgl. Esmonde Manning Robertson: Hitlers Pre-War Policy and Military Plans 1933–1939, London 1963.

9 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 37. Hitler hat zu keinem Zeitpunkt seiner Regierungszeit ausdrücklich davon gesprochen, Lebensraum in Rußland erobern zu wollen, weder öffentlich noch geheim, dies stellte auch Jürgen Förster in der Darstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts zum Angriff auf Rußland fest. Vgl. Förster, Entscheidung, S. 16 bzw. S. 18 ff.

10 So die Besprechung von Andreas Hillgruber in: NPL 10 (1965), S. 466.

11 Ministerium f. Auswärtige Angelegenheiten d. Dt. Demokrat. Republik (Hrsg.): Von Ribbentrop zu Adenauer, (Ost)Berlin 1961.

12 Vom Ribbentrop-Ministerium ins Amt des Bundeskanzlers, Berlin (Staatsverl. d. DDR) 1968.

13Jona Freiherr von Ustinov, auch Klop Ustinov, (1892–1962), geboren in Jaffa, während des Ersten Weltkriegs dekorierter deutscher Jagdflieger, Vater von Peter Ustinov.

14 Vgl. Putlitz, Unterwegs, vgl. für Vansittart-Ustinow S. 210 f., S. 229, S. 239 ff., bzw. für Sefton Delmer S. 328 ff.

15 „Jetzt war der Spieß umgekehrt, nicht wie Chamberlain es sich auf seinen Angelpartien in Schottland vorgestellt hatte. England mußte selbst antreten, um den tollen Hund Hitler zu zerfleischen.“ Zit. n. Putlitz, Unterwegs, S. 256.

16 Der offenkundige politische Zweck und die phantasievollen Ausmalungen des Textes entwerten ihn als Quelle. So erfindet Putlitz einen „Geheimerlass“ Ribbentrops aus dem Frühjahr 1939, der von Ernst von Weizsäcker unterschrieben gewesen sei und angeblich lautete: „Wenn einer meiner Leute noch die geringste miesmacherische Äußerung tun sollte, dann werde ich ihn in mein Zimmer bestellen und mit eigener Hand erschießen.“ Zit. n. Putlitz, Unterwegs, S. 254.

17Wolfgang Michalka: Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933–1940 – Außenpolitische Konzeptionen und Entscheidungsprozesse im Dritten Reich, München 1980.

18 Vgl. Michalka, Ribbentrop, S. 306.

19 In gewisser Weise läßt sich von einer Veröffentlichungsflut sprechen. Vgl. etwa: Karol Grünberg: Joachim von Ribbentrop, Bydgoszcz (Bromberg) 1991; Zbigniew Jerzy Hirsz: Panstwo polskie po ukladzie Ribbentrop-Molotov, Bialystok, 1991; Ljudmila B. Cërnaja: Koricnevye diktatory, Rostov-na-Donu: Izdat. Feniks, 1999; Marek Kornat, Polska 1939 roku wobec paktu Ribbentrop-Molotov, Warszawa: Polski Inst. Spraw Miedzynarodowych, 2002.

20 Zit. n. Weitz, Diplomat, S. XV.

21Michael Bloch : Ribbentrop, London 1994.

22Stefan Kley: Hitler, Ribbentrop und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs, Paderborn 1996.

23Vasilij E. Molodjakov: Ribbentrop – uprjamyj sovetnik fjurera, Moskva 2008, 494 S.

24 Punkt 9498 der entsprechenden Liste: Ribbentrop, Joachim von: Sämtliche Schriften. http://www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit-r.html.

25Wolfgang Michalka bezeichnete den Wert der von Annelies von Ribbentrop veröffentlichten Dokumente als „zweifelhaft“, ohne dies näher zu begründen. Tatsächlich stuft er sie an anderer Stelle dann als „wesentliche Komplettierung“ des vorliegenden Quellenmaterials ein. Vgl. Michalka, Ribbentrop, S. 22.

II. Mensch – Nationalist – Nationalsozialist

1. Zur Person und wie sie die Welt sah

„Ribbentrop versuchte im Gespräch mit mir zu ergründen, wer Bernadotte sei, wer hinter ihm stünde, was er letzten Endes außer der Rettung der Skandinavier aus dem zusammenbrechenden Reich noch wolle. Dieweil fand ich neben mir in den Polstern meines Sessels eine kleine mit Papieren gefüllte Ledertasche. Als ich sie hervorholte, fiel mir der Paß Bernadottes in die Hand. ‚Was haben Sie da?‘, fragte der Reichsaußenminister. ‚Die Brieftasche Ihres letzten Gastes.‘ Ich reichte sie ihm hinüber.

Was würde jetzt geschehen? Ribbentrop war kein Privatmann. Er war der Außenminister eines Staates, der auf Leben und Tod kämpfte. Sein Gast war ebenfalls kein Privatmann, sondern ein Politiker in äußerst heikler Mission. Er war, wie man sagte, kurz zuvor in London gewesen. Er ging (zuerst) nicht zum Auswärtigen Amt, sondern zum Reichsführer SS. Ribbentrop aber nahm die mit Papieren vollgestopfte Brieftasche, stand ohne Zögern auf, ging zu seinem Schreibtisch, tat die Tasche in einen großen Privatumschlag, den er verklebte und mir mit den Worten zurückreichte: ‚Bitte bringen Sie Herrn Bernadotte schnell seine Brieftasche zurück. Er wird sie vermissen.‘“

Peter Kleist1

Von denen, die ihn persönlich erlebt haben, wird Ribbentrop – je nachdem positiv oder negativ konnotiert – durchweg als emotionaler, man könnte auch sagen, sensibler Mensch mit musischen Neigungen beschrieben. Er spielte Geige und hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, dies zum Beruf zu machen. Er sprach ein auch von Gegnern anerkennend erwähntes, fließend akzentfreies Englisch und Französisch und war bei aller Sensibilität nicht ohne persönlichen Mut. So hatte er es beispielsweise im Ersten Weltkrieg auf sich genommen, sich auf abenteuerlichem Weg als blinder Passagier aus Nordamerika nach Deutschland durchzuschlagen, um dort den Kriegsdienst anzutreten.2 Das „Deutschland über Alles“, [24] das seit den Kriegen gegen Napoleon den Ribbentrops in jeder Generation das Eiserne Kreuz eingebracht hatte, hatte er zweifellos verinnerlicht. Dazu kam offenbar eine motorische Begabung, die sich nicht nur im Geigenspiel ausdrückte, sondern zugleich in eher handfesten Aktivitäten wie dem kanadischen Eishockey, das er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Kanada kennenlernte. Im Februar 1914 soll er gar an einem Spiel des kanadischen Nationalteams gegen die Vereinigten Staaten teilgenommen haben, der „Ellis Memorial Trophy“. 3 Den für einen Politiker untypisch „sportlichen“ Gesamteindruck hinterließ er auch noch zwanzig Jahre später bei manchen englischen Gesprächspartnern. 4 JvR hatte sein Vermögen nach dem Krieg selbst erworben und legte beispielsweise bei seiner Ernennung zum Außenminister ausdrücklich wert darauf, von seinem neuen Amt nicht finanziell zu profitieren. Das ließ er in mehreren Erlassen festlegen:

„Es soll weder das dem RAM bzw. nach seinem Ableben seiner Familie zur Verfügung stehende Privatkapital angegriffen werden, noch soll (mit Ausnahme der RAM vom Führer gegebenen einmaligen Dotation von 500.000.- RM während der Amtszeit des RAM eine Vermehrung des Privatkapitals eintreten.“5

Um letzeres sicherzustellen, hatte Ribbentrop seine Bezüge durch das Auswärtige Amt an das Betriebsergebnis seiner Großhandelsfirma geknüpft. Sie wurden bei gutem Betriebsergebnis entsprechend gekürzt.6 Natürlich fand diese finanzielle Zurückhaltung angesichts von Ribbentrops beachtlichem Privatvermögen und der Dotationen Hitlers, die dieser immer wieder auch an Generäle verteilte, auf einem sorgenfreien Niveau statt. Bemerkenswert ist dies dennoch, schon allein deshalb, weil es zu manchen über ihn gestreuten Gerüchten über die Herkunft sei[25]nes Vermögens,7 persönliche Bereicherungsabsichten und Luxusleben in Gegensatz steht. Ribbentrop war zudem ein Familienmensch, seinen Kindern ein offenbar guter und nach Möglichkeit präsenter Vater, seiner Frau ein treuer Ehemann. Er verriet weder Land noch Dienstherr, brachte aber als einer der wenigen sogar gegenüber dem Diktator offen seine eigene abweichende Meinung zur Sprache, auch in gefährlichen Punkten wie etwa der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Um es zusammenzufassen: Ribbentrop ist in vieler Hinsicht zunächst einmal eine sympathisch wirkende Persönlichkeit.

Diese Persönlichkeit zog tatsächlich aber eine Menge Feindschaft und persönlicher Unterstellungen auf sich. Eitel, feige, dumm und anderes mehr soll er demnach gewesen sein. Obwohl sich die Gerüchte über Korruption und Luxusleben bei Ribbentrop immer wieder als unzutreffend herausstellten, kamen sie dennoch immer wieder auf, bis sie schließlich noch im Nürnberger Prozeß ein ausgiebiges Thema im Rahmen der alliierten Anstrengungen zur Diskreditierung seiner Person wurden. Obwohl er objektiv der am meisten zu offenem Widerspruch neigende und eigenwilligste Mitarbeiter in Hitlers Umgebung war, wurde er dennoch oft als kritikloser Ja-Sager gegenüber dem Diktator dargestellt. Man gewinnt den Eindruck, daß Ribbentrop als Person über ein Auftreten verfügt haben muß, das andere gegen ihn aufbrachte. Eine Analyse der Gründe für diesen Umstand kann im Rahmen einer politischen Biographie nur ansatzweise geleistet werden. Möglicherweise war es gerade der Kontrast zwischen Ribbentrops verinnerlichten Auffassungen von bürgerlichem Anstand und der Notwendigkeit, diese Auffassungen im zutiefst unanständigen Geschäft internationaler Politik – zumal der Weltkriegsära – überspielen zu müssen, die ihn zu einem vielfach unecht und überzogen wirkenden Auftreten bewog. Das wurde dann von ganz anderen Szenen unterbrochen, in denen Ribbentrop sich spontan zeigte, wie es in der eingangs zitierten Szene mit der umstandslos zurückgegebenen Brieftasche Graf Bernadottes zum Ausdruck kommt. Augenzeuge Peter Kleist wertete dieses Verhalten übrigens überaus positiv, als „eine kleine, vielleicht bedeutungslose Geste, aber doch eine Geste der Ritterlichkeit mitten in der Auflösung eines Vernichtungskampfes, der alle Schranken niedergerissen hatte“.8 Selbstverständlich läßt sich zugleich die Frage stellen, ob es angesichts der auch von Kleist geschilderten Verantwortung Ribbentrops im Angesicht des Untergangs nicht selbstverständlich gewesen wäre, diese Papiere wenigstens durchzusehen. Dies hätte sich schon allein deshalb angeboten, weil Bernadotte nicht der erste Diplomat auf Reisen gewesen wäre, der seine Brieftasche „vergaß“, um auf diese Weise ein Dokument diskret und zeugenfrei zu übergeben. Ob das internationale Geschäft zwischen europäischen Nationalstaaten überhaupt Ritterlichkeit vertrug oder nicht grundsätzlich am besten [26] eine Sache von Personen war, die man unter anderen Umständen korrekterweise als „Lumpen“ ansprechen würde, wie ‚Italiens Bismarck‘, der Staatsmann Camillo di Cavour sich einmal ausdrückte, blieb die ständige Frage.9 Faktisch blieb beides eine stete Begleiterscheinung internationaler Politik auf allen Seiten. Was Ribbentrop als Person anging, so hatten allerdings viele persönliche Unterstellungen gegen ihn einen direkten politischen Zweck, ob sie nun von außen oder aus dem Inneren des Regimes kamen.

Joachim von Ribbentrop interpretierte Außenpolitik als Politikform, bei der die Beziehungen zwischen Staaten als Verhältnisse souveräner staatlicher Einheiten aufgefaßt werden, während deren innere Verfassung für diese Beziehungen als zweitrangig gilt. Den Maßstab, nach dem sich diese Beziehungen idealerweise richten sollten, faßte er immer wieder mit dem Begriff „säkular“ zusammen.10 Dieser Grundsatz setzte die Verhandlungsfähigkeit der verschiedenen Staaten ungeachtet eventueller ideologischer Gegensätze voraus und gehört somit in den vieldiskutierten Bereich der „realistischen Schule“ von Diplomatie und Diplomatiegeschichte. Außenpolitik und innere Verfassung werden darin von einander getrennt betrachtet. Das Einvernehmen in den internationalen Beziehungen wird in dieser Sicht nicht entscheidend von Werte- und Kulturgemeinschaft beeinflußt und ebensowenig von nicht-staatlichen Interessen wie etwa den Wirtschaftsverbänden. Den Vorrang hat die Staatspolitik. Ihr Ziel besteht im Erhalt und Ausbau der eigenen Machtstellung innerhalb einer prinzipiell anarchischen, also weder durch Völkerrecht noch durch Hegemonie eines Einzelnen regierten Umgebung.

Diese Sichtweise stand zu dieser Zeit natürlich in Gegensatz zu der seit 1917 in den Vereinigten Staaten entwickelten Rhetorik, die Welt für ein einziges innenpolitisches Konzept, die Demokratie, „sicher zu machen“ und als Voraussetzung dafür ein verbindliches Völkerrecht und eine Organisation wie den Völkerbund zu seiner Durchsetzung zu schaffen. Die USA waren dem von ihnen mitbegründeten Völkerbund aber schließlich selbst nicht beigetreten. Er hatte sich in der Praxis auch weniger als Mittel zur Durchsetzung von gleichem Recht für alle erwiesen, sondern oft als Mittel zur bequemen Verwirklichung nationaler Eigeninteressen der einflußreichen Siegerstaaten, allen voran der beiden Westmächte Großbritannien und Frankreich. Seine Existenz schien den Ansichten der realistischen Schule daher nicht zu widersprechen, sondern ihren Wert noch einmal zu bestätigen. Die formal „idealistische“ internationale Rangordnung stand deshalb zu Beginn der 1930er Jahre wegen ihrer inneren Widersprüche und der Weltwirtschaftskrise ebenso materiell wie intellektuell vor dem Aus, was bereits den letzten Regierungen der Weimarer Zeit zu einigen außenpolitischen Erfolgen verholfen hatte.

[27] Damit wurde die Diplomatie, verstanden als Kontakt zwischen einflußreichen und verantwortlichen Personen der jeweiligen Staaten, zu dem zentralen Instrument in Ribbentrops außenpolitischer Strategie. Dies entsprach den Grundsätzen, wie sie auch das Auswärtige Amt als Institution weitgehend führte. Es führt dazu, daß sich die deutsche Außenpolitik der nationalsozialistischen Regierungszeit auf dieser Ebene beschreiben läßt. Wir können daher Ribbentrops Weg als privatem Reisediplomaten, Leiter der Dienststelle Ribbentrop und späterem Außenminister nachgehen und die vagen außenpolitischen Aktivitäten anderer nationalsozialistischer Stellen eher am Rand erwähnen.11 Dies ist im Rahmen einer Biographie ohnehin naheliegend und zudem in der Sache gut begründet. Wolfgang Michalka kam in seiner Untersuchung über „Ribbentrop und die Weltpolitik“ ebenfalls zu der Ansicht, Ribbentrop hätte ebensogut unter Wilhelm II. das Außenministerium führen können. Daran ist so viel richtig, daß er Außenpolitik nicht als Vollzug ideologischer Vorgaben betrachtete und auch nicht als Praxis der internationalen Solidarität jeweils führender Schichten oder bestimmter Klassen. Im Zentrum von Ribbentrops außenpolitischem Denken standen die Staaten als Machtstaaten. Sie handelten als Akteure auf der politischen Bühne, vertreten jeweils durch Personen, aber auch den Zwängen und Traditionen machtpolitischer Konkurrenz unterworfen. Dies hatte direkte Folgen für sein Verhältnis zu überstaatlichen Strukturen wie etwa dem damals bestehenden Völkerbund. Sie spielten gegenüber den bilateralen Beziehungen einzelner Länder in seinen politischen Konzeptionen eine nachgeordnete Rolle. Dies trug dazu bei, daß Ribbentrop beispielsweise den Antikominternpakt gegen die Kommunistische Internationale als multinationales Abkommen schließen konnte. Damit kam er zumindest scheinbar dem Selbstverständnis der Nationalsozialisten als antikommunistischer Bewegung entgegen, während er tatsächlich mit Hilfe dieses Pakts an einer anti-britischen Abschreckungskoalition arbeitete. So wurde er angesichts der weiteren englischen Politik bald darauf ein überzeugter Verfechter der Kontinentalblockskonzeption, in der die Sowjetunion neben Japan, Italien und Deutschland dann sogar als zentrales Element eingeplant war, sei sie nun kommunistisch oder nicht. Ribbentrop nannte das wie erwähnt ge[28]legentlich eine Politik nach „säkularen Maßstäben“ und es gehörte zweifellos zur Tragik seines politischen Ansatzes, daß er in einem Zeitalter Außenpolitik treiben mußte, in dem säkulare Maßstäbe nach einer Renaissance in der ersten Hälfte der 1930er Jahre dann wieder zunehmend von ideologischen Zielsetzungen und Überzeugungen radikalster Art überlagert wurden.

Mit einem Geburtsjahrgang von 1893 gehörte Ribbentrop deutlich nicht mehr der im Jahr 1900 und später geborenen „Generation des Unbedingten“ ohne Frontkriegserfahrung an, die später in der SS-Führung die ideologischen Extrementscheidungen treffen sollte, angefangen bei SS-Chef Himmler persönlich.12 Gerade diese Gruppe, die für die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs nur ein wenig zu jung gewesen war, stellte die radikalsten Funktionäre des Regimes. Ribbentrop geriet auch deshalb recht bald nach Kriegsausbruch in grundsätzlichen Konflikt mit deren Methoden und Zielen.

Nun lassen sich die 1930er und 40er Jahre als Übergangszeit charakterisieren, während der die Zweifel an diesen machtpolitischen Methoden im imperialistischen Westen zu wachsen begannen. Der nach dem Ersten Weltkriegs ausgerufene Völkerbund arbeitete zwar wie gesagt politisch ganz real als Vehikel des französischen und englischen Imperialismus, während dort zugleich viel von Abrüstung und von Völkerrecht gesprochen wurde. Er war daher ein durchaus zynisches und unter diesem Aspekt zu Recht vielkritisiertes Unternehmen im Rahmen der grandiosen Selbstverharmlosung des europäischen Westens. Andererseits aber hatten die Formeln von der „Demokratisierung der Welt“ und dem „Krieg, der alle Kriege beenden wird“ unter denen der Erste Weltkrieg geführt worden war, ihre Spuren hinterlassen. Der sprichwörtliche imperialistische Jingoismus der englischen Politik des 19. Jahrhunderts, der bedenkenlos Krieg geführt oder fremde Länder und Rechte an Dritte verkauft hatte, um Politik zu machen, war auf dem Rückzug. Er existierte noch, aber er war nicht mehr offen salonfähig. Das britische Empire befand sich in einer intellektuellen Krise, die innerhalb des Regierungsapparats zwar eher die jüngeren erfasst hatte, die aber die Führung einer rein interessengeleiteten Außenpolitik gegenüber der Öffentlichkeit erschwerte. Ribbentrops Pragmatismus brachte ihn aber auch in einen sich steigernden Gegensatz zu den nach 1941 zunehmend ideologisch ausgerichteten Handlungen Hitlers, etwa im Bereich der antijüdischen Politik oder möglicher Friedensinitiativen, aber auch in Konflikte mit der Nebenaußenpolitik, die sich SS-Chef Heinrich Himmler aus ebenfalls ideologischen Gründen leistete. Dieser Gegensatz nun führt zu einem weiteren Feld, auf dem sich anhand des politischen Lebens Ribbentrops ein typisches Element des nationalsozialistischen Regierungssystems aufzeigen läßt, nämlich dessen Polykratie. Als Spät- und Quereinsteiger hatte JvR das Ohr des Staatschefs und [29] Diktators, aber eben letztlich auch nur das.13 Den Konkurrenzkampf der Ministerien und Fraktionen mußte er auf dieser Basis bestehen, was zu wechselnden Koalitionen führte. Die innere Verfassung des Regimes glich aus seiner Perspektive insofern der äußeren deutschen Lage. Deutschland war isoliert und mußte aus Ribbentrops Sicht optieren.

Unter den oben skizzierten Voraussetzungen mußte die außenpolitische Lage Deutschlands in den Jahren 1932/33 bedenklich sein. Ohne Verbündete, ohne funktionierendes internationales Sicherheitssystem und mit nur rudimentären Mitteln zur Selbstverteidigung war das Staatsgebiet der Weimarer Republik mitten in Europa dem politischen Druck von allen Seiten und sogar dem drohenden und wiederholt auch durchgeführten Durchmarsch ausländischer Streitkräfte ausgeliefert. Mit einer Wiederholung mochte nur im Extremfall zu rechnen sein, aber es hatte seit 1919 mehrere Präzedenzfälle gegeben und bereits die Möglichkeit behinderte die alltägliche Außenpolitik auch zu Beginn der 1930er Jahre auf allen Ebenen. Dazu kam, daß aus gesamtdeutscher Perspektive bedeutende Teile des eigentlich legitimen Staatsgebiets entweder abgespalten (Danzig, Saarland, Österreich) oder als Folge der Versailler Nachkriegsregelungen bereits von fremden Staaten besetzt (Oberschlesien, Sudetenland, Memelland, Südtirol, Nordschleswig) waren. Auch auf weitere, wenigstens historisch gesehen deutsche Gebiete wie das Elsaß, Böhmen und Mähren außerhalb des Sudetenlands oder Westpreußen – also den polnischen „Korridor“ – sowie die frühere Provinz Posen, erhoben bedeutende Repräsentanten der deutschen Politik aller Parteien offen oder verdeckt einen Anspruch.14 Dies gehörte zu dem innenpolitischen und außenpolitischen Umfeld, in dem der Übergang von der Außenpolitik der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Außenpolitik seit 1933 stattfand.

Deutschland mußte es als ein kontinentaler Staat der Mitte möglichst vermeiden, von mehreren Seiten gleichzeitig bedroht oder gar militärisch bekämpft zu werden. Diese „Einkreisungsgefahr“ war trotz der besonders ausgeprägten deutschen Mittellage keine ausschließlich spezifisch deutsche Situation, sondern konnte von Frankreich über Polen bis hin zur UdSSR im Prinzip jeden kontinentalen Staat treffen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Für die internationale Politik, die in den dreißiger Jahren intensiv in historischen Analogien dachte, lagen geschichtliche Beispiele bereit. Die internationale Anarchie als Grundannahme [30] der realistischen Schule der Diplomatie ließ sich überall herauslesen. So hatte eine mögliche Einkreisung Frankreichs zwischen Deutschland und Spanien einmal eine große Rolle für das französische Veto gegen einen Hohenzollern auf dem spanischen Thron gespielt und mit zur Entstehung des deutsch-französischen Krieges 1870/71 beigetragen. Dennoch blieb die Aussicht eines spanisch-deutschen Koalitionskriegs gegen Frankreich eher eine theoretische Möglichkeit, die allerdings seit 1936 wegen des spanischen Bürgerkriegs wieder diskutiert wurde. Es gehörte zu Ribbentrops Aufgaben auf dem internationalen Parkett, solche Befürchtungen in einem in London extra eingerichteten „Nichteinmischungsausschuß“ der europäischen Staaten zu zerstreuen. Historisch gesehen konnte sich diese Befürchtung vor einer spanisch-deutschen Koalition allenfalls auf die Lage der Frühen Neuzeit stützen, als Spaniens Karl V. und Frankreichs König Franz I. um die deutsche Kaiserkrone konkurrierten und der schließlich erfolgreiche Karl V. als spanischer König und römisch-deutscher Kaiser das eingekreiste Frankreich tatsächlich in Bedrängnis brachte. Frankreich konterte damals, indem es die propagierte christliche Solidarität brach und die muslimisch-osmanische Türkei im Rücken des frühneuzeitlichen Kaisertums deutscher Nation ins Spiel brachte. Dies mochte als Vorbild weit hergeholt erscheinen, aber an diese Option traditioneller Machtpolitik jenseits aller ideologischen Zwänge erinnerte Edouard Herriot 1932 vor dem Parlament mit einem Bekenntnis zur traditionellen Machtpolitik:

„Erinnern Sie sich, wie Franz I. sich nicht nur angesichts, sondern tatsächlich gegen die gesamte Christenheit mit der Türkei verbündete, weil die Interessen Frankreichs dies und nichts anderes verlangten.“15

Dies lag in der Tat weit in der Vergangenheit und wurde hier dennoch präsentiert, um eine sowjetisch-französische Annäherung ins Gespräch zu bringen. Etwas realistischer mochte aus der Sicht des Jahres 1932 aber eine Einkreisung der UdSSR durch eine japanisch-englische Konstellation sein, eventuell unterstützt durch Polen und Deutschland, wie sie kurz nach der Revolution zwischen 1918 und 1920 erkennbar gewesen war. Auch Polen selbst hatte eine Einkreisung durch Deutschland und die UdSSR zu fürchten, baute aber auf den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen beiden Staaten. Was Ribbentrop aber als aktuelle Drohung tatsächlich vorfand, als er sich mit Außenpolitik zu befassen begann, war die Einkreisung Deutschlands zwischen Großbritannien, Frankreich und Polen und die offene Drohung eines polnischen Einmarschs in Deutschland, sobald die Westmächte ihn politisch stützen würden.16 Es sollte ein Kennzeichen der Außenpolitik JvRs werden, die Gefahr einer deutschen Einkreisung durch den Abschluß verschiedener bilateraler und schließlich multilateraler Bündnisse aus der Welt schaffen zu wollen. Er selbst sollte dies in seinen Erinnerungen als eine Situation [31] zwischen „London und Moskau“ darstellen. Das betraf die Zeit des amtierenden Außenministers Ribbentrop, aber man kann auch sagen, daß es zuvor ebenso eine Situation zwischen „Paris und Warschau“ gegeben hatte, die 1932/33 eine völlig realistische Bedrohung für einen militärischen Angriff auf Deutschland darstellte. Von Warschau aus ließ die polnische Regierung mehrfach anfragen, ob die französische Regierung polnische militärische Schritte gegen Deutschland billigen oder unterstützen würde. Hätte aus Paris und/oder London die Zustimmung vorgelegen, wäre ein solcher Angriff erfolgt, wie ihn der kommende polnische Außenminister Beck im Spätjahr 1932 in Briefen an Staatschef Pilsudski forderte. Die Lage für einen Krieg sei jetzt so günstig wie nie, ein „Krieg, um die Befreiung der polnischen Territorien vom deutschen Joch“ anzugehen. Die Armee sei bereit.17

Offenkundig hatte ein derart offenes Spiel möglicher Staatenkonstellationen zu permanenter Unsicherheit und Spannungen geführt und mußte dies weiter tun. Das „Zeitalter der kämpfenden Staaten“, wie Oswald Spengler eine vergleichbare Ära in der chinesischen Geschichte genannt hatte, fand in Europa seine Entsprechung. Einen Ausweg daraus konnte eine engere Zusammenarbeit wenigstens der größeren europäischen Staaten bieten, also etwa eine Art Viererdirektorium durch England, Frankreich, Italien und Deutschland, idealerweise mit einer Einbeziehung von Staaten der zweiten Reihe wie beispielsweise Spanien oder Polen. Dies mußte nicht notwendig zur Entwicklung einer gemeinsamen Europaidee führen, setzte aber ein allseitiges Problembewußtsein und die Absicht zu seiner Lösung voraus. Eine Alternative bestand in der Hegemonie einzelner Mächte in Europa, die in Europa um 1930 herum nur noch Deutschland wenigstens theoretisch leisten konnte, oder in der Ausübung der europäischen Hegemonie durch die Sowjetunion oder die Vereinigten Staaten. Eine Hegemonie des Völkerrechts, wie sie der 1919 gegründete Völkerbund auszuüben beanspruchte, hatte es in der Praxis nicht gegeben. Die in der Völkerbundsakte formulierten Rechtsgrundsätze waren durch die Völkerbundsmitglieder selbst des öfteren verletzt worden, in Europa und anderswo. Der Völkerbund bot seinen Mitgliedern keinen effektiven Schutz vor Angriffen und Besetzung.

Dennoch gab es wenigstens theoretisch auch ganz andere Alternativen für eine deutsche Politik. Für Ribbentrop, für Hitler, aber auch für die gesamte Elite des Auswärtigen Amts und der Weimarer Parteien galt das Axiom, Deutschland sei nur sicher, wenn es Bündnispartner habe und nur bündnisfähig, wenn es über eine gewisse Rüstung verfüge. Es gab aber auch ganz andere Sichtweisen der Dinge. Alle demonstrativ vorgezeigte Rüstung hatte das wilhelminische Kaiserreich nicht vor der außenpolitischen Isolation schützen können, vielleicht hatte sie sogar in Gestalt von Großbritannien wenigstens einen zusätzlichen Gegner auf den Plan gerufen. [32] Man hätte daher sagen können und manche sagten es auch,18 daß gerade die offenkundige militärische Harmlosigkeit der Weimarer Republik ganz neue Möglichkeiten der Außenpolitik eröffnete. Ohne die Kosten für eine Armee, völlig sicher vor dem Vorwurf, man bedrohe andere, gab es für die Nachbarn wenig Angriffsfläche, mit der sie eine Aggression gegen Deutschland hätten rechtfertigen können. Theoretisch hätte die Weimarer Republik Kapital aus jener (oder einer ähnlichen) Strategie schlagen können, wie sie nach 1945 den schleichenden Aufstieg der bundesrepublikanischen Großmacht ermöglichte. Schuldig gesprochen, in gewisser Weise reuig, jedenfalls abhold der anachronistischen imperialistischen Machtspiele der Nachbarn in Ost und West, hatte auch die Weimarer Republik bereits ein beachtliches politisches Kapital aufgebaut. Warum sollte es nicht möglich sein, demonstrativ auf die Wiederaufrüstung und deren immense Kosten zu verzichten, mit den gesparten Mitteln die Infrastruktur zu verbessern und die deutsche Republik wieder wirtschaftlich zum Zentrum Europas und zugleich zum Zentrum einer neuen Form der Weltpolitik werden zu lassen? So ließ sich eine moralisch überlegene, wirtschaftlich attraktive und letztlich aktive deutsche Außenpolitik aufbauen. Es waren nicht nur Waffen, die Verbündete schaffen konnten, Geld tat es auch.

Viele Gründe sprachen allerdings gegen die Erfolgsaussichten einer solchen Politik für die 1920er oder 1930er Jahre. Nicht nur Schußwaffen, auch Wirtschaftskraft kann Angst, Feindschaft und Begehrlichkeiten wecken. Eine Politik der wirtschaftlichen Harmlosigkeit setzt letztlich eine aktive Hegemonie voraus, in der die Eroberungs- und Besatzungsphantasien anderer Staaten entweder gezügelt oder erfüllt sind und in der die eigene wirtschaftliche Leistung entfaltet werden kann. Beides war nicht der Fall, wie der damalige Staatssekretär im AA, Bülow noch für das Jahr 1934 feststellte. Die europäische Politik ließ eine Entfaltung der deutschen Wirtschaftskraft nicht zu und wußte dies zu nutzen:

„Bei unserer Isolierung und gegenwärtigen wirtschaftlichen und Devisen-Schwäche haben unsere Gegner zunächst gar nicht nötig, sich dem Risiko, dem Odium und den Gefahren militärischer Zwangsmaßnahmen auszusetzen. Ohne einen Mann zu mobilisieren oder einen Schuß abzufeuern, können sie uns in die ärgste Notlage versetzen, indem sie eine offene oder versteckte Finanz- und Wirtschafts-Blockade gegen uns verhängen.“19

Deutschland war nach der Niederlage von 1919 verarmt und von auswärtigen Krediten abhängig, die seit 1929 zurückgefordert wurden. Diese deutsche Isolierung hatte den Regierungsantritt der Nationalsozialisten nicht zuletzt erst möglich werden lassen, war aber in wirtschaftlicher Hinsicht danach sogar noch gewachsen. Allerdings konnte im Sommer 1934, zum Zeitpunkt von Bülows Schreiben, der kritischste Punkt bereits als überwunden gelten, der im Winter 1933/34 [33] fast den Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft verursacht hätte. Es war der Weimarer Republik nicht gelungen, sich als wirtschaftliche Großmacht zu etablieren. Sie konnte kaum Einfluß auf politische Entwicklungen nehmen, die den deutschen Staat existentiell bedrohten, so etwa die fortdauernde Abspaltung Österreichs und die Diskriminierung der Deutschen und schleichende Entdeutschung in Polen und der Tschechoslowakei. Daher lag die Schlußfolgerung in den Kategorien der Ära der kämpfenden Staaten auf der Hand. Eine umfassende Revision, die Sicherheit und Prosperität bringen konnte, mußte mit der politisch-militärischen Gleichberechtigung beginnen. Dies würde jedoch voraussehbar zu Spannungen führen und konnte in eine Ära der Unsicherheit münden. Es war eine Frage der deutschen Politikfähigkeit, aber auch der Politikfähigkeit anderer Staaten, ob diese Unsicherheit dann wieder überwunden werden konnte oder ob nicht sogar in verschiedenen Staaten die Neigung überwiegen würde, in der allgemeinen Unsicherheit die Chancen zur eigenen Entfaltung zu sehen, wie es dann 1938/39 in einer ganzen Reihe von Staaten der Fall sein sollte. Für die zeitgeschichtliche Forschung mit Blick auf Deutschland stellte sich die Frage nach der Friedensfähigkeit des Nationalsozialismus leider oft nur sehr einseitig. Immerhin hob Walther Hofer im Jahr 1964 seine Antwort darauf, was geschehen wäre, „wenn man nur dem weiteren Treiben Hitlers tatenlos zugeschaut hätte“, wenigstens andeutungsweise auf eine Ebene der Differenzierung:

„Es wäre bestenfalls ein Frieden von deutschen, nationalsozialistischen Gnaden geworden und damit ein Frieden, der für so manche, Menschen und Staaten, ein Friedhofsfrieden gewesen wäre. Einen solchen Frieden konnten die lebendigen europäischen Kräfte 1939 allerdings nicht akzeptieren, so wenig wie sie heute, gegenüber der ähnlich gelagerten bolschewistischen Bedrohung und Erpressung, einen Frieden um jeden Preis wünschen.“20

Diese Sätze formulieren eine recht direkte Absage an die von Hofer selbst sonst polemisch vertretene These, Hitler habe 1939 um jeden Preis Krieg gewollt. Für diesen Fall würde sich nämlich die Frage gar nicht stellen, ob die „lebendigen europäischen Kräfte“ Hitlers Frieden theoretisch akzeptieren könnten. Daß man Hitlers Frieden laut Hofer nicht akzeptierte und nicht mehr „tatenlos zuschaute“, bedeutet darüber hinaus eine durchaus treffende Umschreibung, welche Partei 1938/39 – ebenfalls – die Aktivität ergriff. Mit Blick auf den von Hofer gezogenen Vergleich mit dem „Bolschewismus“ taucht schließlich die weitere Frage auf, ob ein „Friedhofsfrieden“ 1939 nicht ebensogut und zum Vorteil für die Menschen in Europa in einen Kalten Krieg hätte münden können, wie dies bald nach 1945 der Fall war. Der Nationalsozialismus stellte ebensogut wie der Kommunismus bolschewistischer Prägung, der polnische Zwischenkriegsnationalismus oder der ausgehende westliche Imperialismus keine unwandelbare Einrichtung dar. Diese Feststellung stellt keine Spekulation dar, sondern erinnert an die Eigenschaften des Geschichtsprozesses. Das Projekt, dem sich JvR mit der Bindung an den Nationalsozialismus verschrieben hatte, war für ihn in erster Linie ein patriotisch[34]nationalistisches, das in der Geschichte nicht ohne Beispiel war. Hitler verkörperte eine exzentrische Erscheinung, wie ihn aus Ribbentrops Sicht auch andere Nationen erlebt hatten.

2. Die Analogie des nationalen Aufbruchs

„Ich war sehr in Versuchung, mich in irgendeiner Form nach 1933 jener Bewegung anzuschließen. Aber das hatte nicht das Geringste mit den Meinungen dieser Leute zu tun, sondern nur mit jener elementaren Reaktion auf das, was Wilhelm Kütemeyer die Pseudoausgießung des Heiligen Geistes im Jahr 1933 genannt hat.“

Carl Friedrich von Weizsäcker21

Nach dem Zerfall oder besser: der Zerschlagung Österreich-Ungarns durch die in Paris unterzeichneten Friedensverträge, stand die deutsche Frage nach dem Ersten Weltkrieg nun in ganz anderer Dimension auf der Tagesordnung als zuvor. Bis dahin konnte Österreich-Ungarn zwar als ein Staat gelten, dessen Existenz gewollt oder ungewollt für pangermanistische Zielsetzungen einsetzbar war. Aber es war nun einmal ein schwacher Staat gewesen, dessen außenpolitische Differenzen mit dem deutschen Kaiserreich erheblich waren und der gegen Kriegsende sogar versucht hatte, mit den Alliierten einen Sonderfrieden zu Lasten Deutschlands zu schließen. Es konnte also keineswegs als sicher gelten, daß Österreichs Existenz den Weg für alldeutsche Ziele bahnte. Nach 1919 stand allerdings ein ganz anderes Problem auf der internationalen Tagesordnung. Die Deutschösterreicher in der als solchen proklamierten Republik sahen die eigene politische Zukunft bevorzugt als Teil eines vereinigten Deutschland. Dies war offen erklärt worden, wurde in Probeabstimmungen mit mehr als neunzig Prozent Zustimmung bekräftigt, war also allgemein bekannt und führte zum ausdrücklichen – und 1945 wiederholten – Verbot einer solchen Einigung, die man die Großdeutsche nannte, durch die Alliierten.22

Günther Wollstein hat vor nun schon längerer Zeit ein demokratisches Großdeutschland als „Ordnungsmodell ohne Chance“ beschrieben, chancenlos zugleich aus inneren wie aus außenpolitischen Gründen.23 Die deutschen Nachbarstaaten sahen eine solche gesamtdeutsche Vereinigung mit Mißtrauen und nicht zu Unrecht als Gefahr für die eigenen politischen Handlungsfähigkeiten. Einen [35] zentral regierten deutschen Industriestaat in seinen traditionellen, seit dem späten Mittelalter bis 1866 bestehenden Grenzen, hatte es noch nicht gegeben. Es bestand die Aussicht, daß seine wirtschaftlichen Möglichkeiten und sein demographisches Übergewicht die Unabhängigkeit von Ländern in Ostund Südostmitteleuropa in Frage stellen würde, ganz gleichgültig, wie seine innere Verfassung aussehen mochte. Insofern gab es geschworene Gegner einer solchen Einigungsmöglichkeit.24

Der britische Premier Benjamin Disraeli hatte die deutschen Einigungsbestrebungen einmal als „dreamy and dangerous nonsense“ bezeichnet. 25 Das wird bis heute gern und viel zitiert, wobei der Schwerpunkt auf den Begriffen „verträumt“ und „Unsinn“ liegt, und weniger auf dem Begriff „gefährlich“. Gefährlich mußte ein solcher deutscher Staat aus Sicht der englischen Politik zwar werden, aber doch zumal zu Disraelis Zeiten, als die industrielle und demographische Explosion in Deutschland noch bevorstand, wohl nicht so gefährlich, daß seine Existenz zwangsläufig ganz zu verneinen gewesen wäre. Es gab auch insbesondere nach 1919 einflußreiche Personen in der englischen Politik, die ein Groß- oder Gesamtdeutschland ohne Flotte und Kolonien, aber mit Einfluß in seinem östlichen Vorfeld, für ein akzeptables Projekt hielten. Zu denen, die dies selbst nach 1939 noch deutlich und bei prominenter Gelegenheit zum Ausdruck brachten, gehörte zum Beispiel der frühere Regierungschef David Lloyd George.26 Wir werden im weiteren sehen, daß dies im wesentlichen das Projekt war, das JvR als Außenminister auf Anweisung und mit Billigung von Staats- und Parteichef Hitler in den Jahren 1938 und 1939 verfolgte. Das bedeutete allerdings ein Novum in der europäischen Staatenwelt und die Suche nach historischen Analogien konnte brisant ausfallen.

Gegenüber seinem langjährigen britischen Gesprächspartner und Kontaktmann Ernest Tennant27 verteidigte Ribbentrop den Nationalsozialismus mit Hilfe einer solchen historischen Analogie. So jedenfalls erinnerte sich Tennant an den Inhalt des ersten Gesprächs zwischen beiden. Er selbst hätte damals die Schwierigkeiten betont, die Hitler sich selbst bereiten würde, indem er sich die Katholiken und [36] Juden weltweit zu Feinden machen würde. Ribbentrop gab den Vorwurf an England zurück, das wie alle großen europäischen Länder zu Zeiten selbst seine Auseinandersetzung mit den beiden Genannten gehabt hätte:

„In diesem Zusammenhang argumentierte Ribbentrop, Deutschland sei gerade in Bezug auf Juden und Katholiken Hunderte von Jahren hinter Großbritannien zurück. Großbritannien, sagte er, hätte unter Königin Elisabeth I. begonnen, sich zu einer großen Nation zu entwickeln, nachdem ihr Vater, Heinrich VIII. die Macht des Vatikan gebrochen und die Klöster geschlossen hätte. Des weiteren hätte es gerade in dieser Periode des englischen Aufstiegs keine Juden in England gegeben. Edward I. hätte sie alle vertrieben und erst unter Cromwell seien die ersten zurückgekehrt. … Deutschland, so Ribbentrop, versuche nur einen Grad der Freiheit von äußeren Einwirkungen zu erreichen, den Großbritannien bereits dreihundertfünfzig Jahre früher erreicht hätte.“28

Tennant datiert dieses Gespräch und einige weitere mit Ribbentrop auf die Zeit vor dem Regierungsantritt des Reichskanzlers Hitler. Ribbentrops korrekter Verweis auf Cromwell, der in der Tat als erstes nach Jahrhunderten Unterbrechung wieder den Aufenthalt von Juden in England zugelassen hatte, mochte ihm insofern etwas denkwürdig erscheinen, als Fritz Thyssen gegenüber Tennant nach Hitlers Ansprache vor dem Düsseldorfer Industrieklub erklärt hatte, Hitler hätte die Absicht, Deutschlands Cromwell zu werden. Hier stieß die Analogie deutlich an ihre Grenzen.

Tennant war bei Hitlers berühmt gewordener Ansprache vor dem Industrieklub selbst anwesend,29 bei der sechshundert überwiegend skeptische Repräsentanten der deutschen Wirtschaft nach einer zweieinhalbstündigen Ansprache Hitlers30 geneigt waren, in ihm eine politische Hoffnung zu sehen, jedenfalls keine politische Unmöglichkeit. Hitler bekannte sich deutlich zum Recht auf Privateigentum und forderte einen allgemeinen nationalen Neuaufbruch. Den Antisemitismus sparte er als Thema völlig aus.31 Tennant sondierte zu dieser Zeit im Auftrag des englischen Außenministeriums offenbar allgemein die politische Landschaft in Deutschland in den Tagen vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. 32 Den National[37]