Rosa Luxemburg - Ernst Piper - E-Book

Rosa Luxemburg E-Book

Ernst Piper

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Beschreibung

Rosa Luxemburg, 1871 im russischen Teil Polens geboren, gehörte vielen Minderheiten an. Sie kam aus einem jüdischen Elternhaus, perfektionierte erst während ihres Studiums in Zürich die deutsche Sprache, fand mithilfe einer Scheinehe in Deutschland ihre politische Heimat, war auf SPD-Parteitagen die einzige Frau mit einem Doktortitel und engagierte sich als rastlose Kämpferin für die europäische Arbeiterbewegung in nicht weniger als sieben verschiedenen sozialistischen Parteien.

Luxemburg war die bedeutendste marxistische Denkerin ihrer Zeit. Sie kämpfte für die Diktatur des Proletariats, aber zugleich gegen den autoritären Zentralismus Lenins, weshalb sie auch die Gründung der Kommunistischen Internationale ablehnte. Ihre Revolutionstheorie, ihr Freiheitsbegriff und ihr unbedingter Internationalismus ließen sie zur Ikone des weltweiten Protests der 1968er-Bewegung werden. Ihr berühmter Satz «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden» wurde eine Parole der Bürgerrechtler in der untergehenden DDR. In ihrer Gedanken- und Ideenwelt ist vieles zu finden, was auch heute, in einer Zeit des wieder erwachenden Nationalismus, anregend und wichtig ist.

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Seitenzahl: 1276

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Zum Buch

Wer war Rosa Luxemburg? Der SPD-Haudegen Karl Kautsky fand sie »nihilistisch«, Stalin wetterte gegen den »Luxemburgismus«, und da sie schon 1904 Lenins zentralistisches Parteikonzept kritisiert hatte, wurde sie postum in der DDR tot geschwiegen. In Westdeutschland wurde sie im Zuge der 68er Bewegung zu einer Kultfigur aller Linken und sie als eine Art Märtyrerin verehrt.

Sie war, wie Ernst Piper eindrucksvoll zeigt, eine facettenreiche, lebensbejahende Persönlichkeit, und zugleich eine Frau, die für das, was sie richtig fand, ihr Leben lang kämpfte.

Sie wuchs in Polen auf, Polnisch war ihre Muttersprache, doch wie die meisten jüdischen Familien sprach auch die ihre und mithin auch Rosa selbst perfekt Russisch, Deutsch und Französisch. Sie trat dafür ein, dass Polen von der russischen Vorherrschaft befreit wurde, aber sie wollte nicht den alten Nationalstaat wiederherstellen, getreu dem Diktum aus dem Kommunistischen Manifest: Arbeiter haben kein Vaterland. Daher wird sie heute noch in Polen als eine Art Vaterlandsverräterin gehandelt.

Fast alle ihre engen Freunde und Mitstreiterinnen waren jüdischer Herkunft. Auf SPD-Parteitagen machte sie sich manchmal auf Jiddisch Notizen, aber sie lehnte jedes Mitleid für sie als Jüdin ab. Das Leid eines ausgebeuteten Afrikaners sei ihr genauso nahe wie das eines gettoisierten Juden, sagte sie trotzig.

Rosa Luxemburg lebte das Leben einer vollständig emanzipierten Frau, aber den von der SPD ab 1900 regelmäßig organisierten Sozialistischen Frauenkonferenzen blieb sie demonstrativ fern. Sie war eine Politikerin durch und durch, aber als 1919 ein letztes Mal verhaftet wurde, las sie Goethes Faust, 2. Teil.

Zum Autor

Ernst Piper, 1952 in München geboren, lebt heute in Berlin. Er ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und hat zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts publiziert, zuletzt den Bestseller Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs (2014). Bei Blessing erschien seine Biografie Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe (2005).

Ernst Piper

ROSA LUXEMBURG

Ein Leben

Blessing

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Copyright © by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-19636-3V002

www.blessing-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Zamość

II Warschau

Kongresspolen, Depolonisierung, Novemberaufstand, Januaraufstand

Jüdischer Wohnbezirk, Pogrom von 1881

Kindheit, Krankheit, Schule

Oppositionsgeist, Proletariat

III Zürich

Arbeitervereine, Emigrantenszene, Universität

Die Schweizer Landschaft, Leo Jogiches, Georgi Plechanow

3. Kongress der Sozialistischen Internationale in Zürich, Gründung der SDKP

Promotion, Tod der Mutter, Scheinehe, Übersiedlung nach Berlin

IV Die polnische Nation

Allein in Berlin, die nationale Frage, die Industrialisierung Polens

Nationalitätenfrage und Autonomie

V Berlin

Wohnungssuche, Wahlkampf

Revisionismusstreit, SPD-Parteitag 1898

Ferien in der Schweiz, Clara Zetkin, Wiedersehen mit dem Vater, Luise Kautsky, SPD-Parteitag 1899

Leo Jogiches kommt nach Berlin

VI Die polnische Sozialdemokratie

Provinz Posen, PPS, Leo Jogiches

SPD-Parteitag 1902, Wahlkampf, Majestätsbeleidigung

VII Massenstreik

Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund, Auseinandersetzungen mit Lenin, die Russische Revolution von 1905

Jogiches in Krakau, Władysław Feinstein, Redakteurin des Vorwärts

Generalstreik

Reise Warschau, Verhaftung, Rückreise

Rückkehr, SPD-Parteitag 1906, Mannheimer Abkommen

VIII Kostja Zetkin

Parteitag der SDAPR in London, Kongress der Sozialistischen Internationale in Stuttgart

Lehrtätigkeit an der Parteischule der SPD

Auseinandersetzungen mit Karl Kautsky

IX Dem Krieg entgegen

SPD-Parteitag 1910, Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, Streit mit Lenin

Zweite Marokkokrise

Der Fall Radek

Spaltung der SDKPiL

Die Akkumulation des Kapitals

Preußischer Wahlrechtskampf, der Fall Radek, der Tod August Bebels

Leipziger Volkszeitung, Soldatenmisshandlungen, Paul Levi, Sozialdemokratische Korrespondenz

Die letzten Tage vor dem Kriegsausbruch

X Burgfrieden oder Klassenkampf

Das Ja zu den Kriegskrediten, Karl Liebknecht

Lenin in der Schweiz, Liebknechts Nein zu den Kriegskrediten, Mathilde Jacob, Internationale Sozialistische Frauenkonferenz in Bern, »Die Internationale«

Zimmerwalder Konferenz, Erste Reichskonferenz der Gruppe Internationale, Kientaler Konferenz, Bildung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft

Die Krise der Sozialdemokratie, Anti-Kriegskundgebung am 1. Mai 1916

Verhaftung von Karl Liebknecht, Spartakus-Briefe

Polizeigefängnis am Alexanderplatz, militärische Sicherungshaft, Februarrevolution, Gründung der USPD, Tod von Hans Diefenbach

Oktoberrevolution, Januarstreik, Frieden von Brest–Litowsk

Exkurs: Die Russische Revolution

XI Die Deutsche Revolution

Abdankung von Kaiser Wilhelm II., Friedrich Ebert wird Reichskanzler, Kriegsende, Arbeiter- und Soldatenräte

Spartakusbund, Die Rote Fahne, Kampf gegen die Wahlen zur Nationalversammlung, Blutbad am 6. Dezember

Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte, Gründung der KPD

Januaraufstand, Ermordung von Liebknecht und Luxemburg

XII »Ich war, ich bin, ich werde sein«

Editorische Notiz

Anmerkungen

Bibliografie

Unpublizierte Quellen

Schriften von Rosa Luxemburg

Publizierte Quellen und Literatur

Abkürzungen

Personenregister

Bildteil

Einleitung

Rosa Luxemburg war eine charismatische Persönlichkeit. Schon ihr erster öffentlicher Auftritt, im August 1893 in Zürich, erregte großes Aufsehen. Damals war die 22-jährige Studentin noch völlig unbekannt. Aber wer miterlebte, wie diese kleine Person, die auf einen Stuhl steigen musste, um sich Gehör zu verschaffen, darum kämpfte, am Kongress der Sozialistischen Internationale als Delegierte teilnehmen zu können, dem blieb ihre Erscheinung im Gedächtnis. Luxemburg zog schon früh Emotionen der unterschiedlichsten Art auf sich, gleichgültig ließ sie kaum jemanden. Zahlreiche Männer verfielen ihrer Ausstrahlung – das war ein Thema, das sie zeitlebens begleitete. Als leidenschaftliche Kämpferin für die von ihr als richtig erkannten Positionen begeisterte sie bei zahllosen Gelegenheiten ein großes Publikum. 1898 absolvierte sie, kaum in Deutschland angekommen, für die SPD eine Wahlkampftournee durch die Provinz Posen, die ihren legendären Ruf als brillante Rhetorikerin begründete.

Aber ihre Kompromisslosigkeit rief mit den Jahren auch eine wachsende Zahl von Gegnern innerhalb der sozialistischen Bewegung auf den Plan. Sie hatte große Kontroversen mit so unterschiedlichen Politikern wie Eduard Bernstein, Lenin oder Karl Kautsky. Einer ihrer passioniertesten Gegenspieler war Victor Adler, der sie im Lauf der Jahre mit einer Vielzahl von Kosenamen belegte. So beschwerte er sich 1910 bei seinem Freund August Bebel über die »zwei hysterischen Weiber Rosa u. Klara«1. Das war nicht weit entfernt von einem Polizeibericht aus dem gleichen Jahr. Clara Zetkin hatte in Berlin auf einer Versammlung zur preußischen Wahlrechtsreform gesprochen und den Massenstreik als politisches Kampfmittel propagiert. Eingefunden hatten sich etwa 700 Personen, in der Mehrheit Frauen. Am Rand des Berichts des Kriminal-Schutzmannes, der die Veranstaltung beobachtet hatte, findet sich der Kommentar: »Die Frauen Zetkin, Luxemburg u. a. sind (wieder einmal) radikaler als die Männer. Da werden Weiber zu Hyänen.«2

Die rhetorisch so begabte Luxemburg war ein ganz besonderes Hassobjekt. Schon im Kontext der ersten Massenstreikdebatte sprach die liberale Presse von der »blutigen Rosa«,3 ein sprachliches Bild, das sich rasch etablierte. Dass sich auch der 1904 gegründete Reichsverband gegen die Sozialdemokratie dieser Metapher bediente, war nicht überraschend.4 Erstaunlicher war es schon, ihr auch in der linksliberalen Weltbühne zu begegnen: »In Berlin tobt der Bürgerkrieg, und die blutige Rosa ist, als das Pulverfass in Berlin explodierte, ins Reich gefahren, um auch hier die Brandfackel in die aufgeregten Massen zu schleudern. Röslein, Röslein, Röslein rot; Deutschland steht in Flammen!«5 Mit diesen Worten schloss ein Porträt aus Erich Dombrowskis Serie »Politiker und Publizisten«; es erschien am 16. Januar 1919, einen Tag nach Luxemburgs Ermordung. (Und um auch das zu erwähnen: »Ins Reich gefahren« war sie nicht.)

Es gab aber außerhalb des sozialistischen Lagers auch Stimmen, die ein differenzierteres Wahrnehmungsvermögen erkennen lassen. So berichtet Theodor Heuss in seinen Lebenserinnerungen: »Ich merkte sehr bald, dass etwa Rosa Luxemburg eine ungewöhnlich intelligente Frau war, mit einem scharfen Verstand, der dem dialektischen Spiel die sicherste Form zu geben wusste. […] Karl Liebknecht, der sich damals, mit dem väterlichen Namen gestärkt, auf dem Wege wusste, den Kampf um die Nachfolge Bebels einzuleiten, hat mich nicht zu beeindrucken verstanden. Seine aggressive Beredsamkeit verbarg kaum, dass er eigentlich wenig zu sagen hatte.«6 Mit diesem Urteil, das über Karl Liebknecht so ganz anders ausfiel als über Rosa Luxemburg, stand Heuss nicht allein. Kurt Eisner, der die beiden naturgemäß viel besser kannte, sah die Dinge ganz ähnlich. In der Ministerratssitzung vom 9. Januar 1919 erklärte er, Liebknecht, den er bei anderer Gelegenheit sogar als »geistig minderwertig«7 bezeichnet hatte, sei »unmöglich. Die einzig Vernünftige ist vielleicht Luxemburg.«8 Diese Aussage korrespondiert in gewisser Weise mit einem häufig zitierten Tagebucheintrag von Harry Graf Kessler, in dem er ein Gespräch mit Georg Bernhard über die Folgen des Januaraufstandes wiedergibt: »Dass diese discreditierte, blutbespritzte Regierung sich noch lange halten könnte, ist nach Bernhards Ansicht ausgeschlossen. Nur sei bei den Kommunisten Niemand, der als Staatsmann in Frage komme. Rosa Luxemburg sei der einzige Staatsmann der Partei gewesen, die vielleicht Deutschland hätte regieren können.«9

Ob Luxemburg sich tatsächlich zum Staatsmann (oder zur Staatsfrau) geeignet hätte, kann hier dahingestellt bleiben. Dass sie in der frühen Führungsriege der KPD, von der späteren ganz zu schweigen, eine Persönlichkeit von herausragendem Format war, ist nicht zu bestreiten. Und Nettl hat völlig recht, wenn er feststellt, dass sie »politischer [war] als die meisten Menschen in Deutschland«.10 Sie war ein durch und durch politischer Mensch, kein reiner Theoretiker wie Marx oder auch Kautsky, aber auch kein Parteibürokrat, wie es mit fortschreitenden organisatorischen Erfolgen viele gab in der sozialdemokratischen Bewegung. Dabei muss offenbleiben, wie ihre politischen Positionen sich weiterentwickelt hätten, wenn sie länger gelebt hätte. Die Unabgeschlossenheit ihres Werkes bietet Raum für die unterschiedlichsten Interpretationen. Während etwa Ulla Plener die Auffassung vertritt, bei allen Kontroversen zwischen Luxemburg und Lenin seien doch die Gemeinsamkeiten das Entscheidende gewesen, und sich gegen eine »dogmatische Entgegenstellung« Luxemburgs gegen Lenin wehrt,11 betont François Furet Luxemburgs »Ablehnung der leninistischen Auffassung der Revolution, gemäß der man die Macht mit allen Mitteln ergreifen und festhalten kann, sofern dies die geschichtlichen Umstände einer Avantgarde, so klein sie auch sein mag, ermöglichen«12. Hermann Weber, der als junger Mann selbst einige Jahre Mitglied der KPD war und sein Forscherleben der Geschichte des deutschen Kommunismus gewidmet hat, vertritt die These, dass Luxemburg eine eigene Spielart des Kommunismus begründet habe, den »demokratischen Kommunismus«13. Diesen Begriff würden andere wiederum für einen Widerspruch in sich selbst halten. Bernd Faulenbach, bis 2018 Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD, hält denn auch eine Zuordnung Rosa Luxemburgs für schwierig: »Sie war keine Anhängerin der Leninschen Parteidiktatur, doch auch keine Anhängerin der Demokratie, wie wir sie heute verstehen.« Für Sozialdemokraten sei der Sozialismus nur als »vollendete Demokratie« denkbar, sie dürfe ihm nicht nachgeordnet sein.14

Willy Brandt, dem wir einen sehr schönen Essay über Rosa Luxemburg verdanken, vermutet, dass sie, anders als ihr Freund Paul Levi, sich nicht für eine »Rückkehr zur sozialdemokratischen Mutterkirche«15 entschieden hätte. Das mag sein. Aber in der stalinisierten KPD wäre kein Platz für Luxemburg gewesen. Die Brandleristen, wie die nach Heinrich Brandler benannten Anhänger des »Luxemburgismus« hießen, wurden alle aus der Partei vertrieben. Die Sozialdemokratie blieb dauerhaft gespalten, allerdings nicht in drei Parteien, da die zunächst überaus erfolgreiche USPD bald in der Bedeutungslosigkeit verschwand, aber in zwei Parteien. Manche von Luxemburgs Weggefährten kehrten zur SPD zurück, neben Levi z. B. Karl Kautsky, andere, wie Paul Frölich, schlossen sich der linkssozialistischen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) an (auch der zitierte Willy Brandt wechselte 1931 von der SPD zur SAP).

Rosa Luxemburg wollte zeitlebens politisch wirken, schon ganz früh, als Gymnasiastin, schloss sie sich einer politischen Gruppierung mit dem Namen »Proletariat« an. Im Laufe der Jahre kamen noch sechs weitere Parteien hinzu. Es ist schwer vorstellbar, dass sie sich, hätte sie länger gelebt, mit der Rolle einer Einzelgängerin, die nur publizistisch tätig gewesen wäre, begnügt hätte.

Als sie am 15. Januar 1919 ermordet wurde, gehörte sie noch der KPD an, die die Tote stets für sich reklamiert, zugleich aber ihre Ideen und Überzeugungen vehement verurteilt hat. Die Sozialdemokraten, die mit der ehemaligen Genossin nichts mehr zu tun haben wollten, haben es den Kommunisten leicht gemacht, diesen Anspruch durchzusetzen. Rosa Luxemburg, und mit ihr Karl Liebknecht, wurde mit stillschweigender Duldung, wenn auch wohl nicht mit Billigung des Sozialdemokraten Gustav Noske von Angehörigen des Garde-Kavallerie-Schützen-Regiments ermordet. Nichts hat die Beziehungen zwischen den beiden Arbeiterparteien in der Weimarer Republik mehr belastet als dieser ruchlose Mord. Hannah Arendt glaubt sogar, dass er die Spaltung der europäischen Linken in Sozialdemokraten und Kommunisten unwiderruflich gemacht habe.16 Erfolgt wäre sie wohl auch ohne diese Tat. Aber der Graben zwischen den beiden deutschen Parteien wäre dann weniger tief und unüberbrückbar gewesen.

*

Wer es heute unternimmt, eine Luxemburg-Biografie zu verfassen, hat gegenüber früheren Biografen den großen Vorteil, dass seit wenigen Jahren das Werk von Rosa Luxemburg nahezu vollständig ediert ist. Lediglich der achte Band der Werkausgabe fehlt noch, der die polnischen Schriften enthalten wird, die in Einzelausgaben aber inzwischen ebenfalls vorliegen. Bis dieser Punkt erreicht war, musste ein ungewöhnlich langer und steiniger Weg zurückgelegt werden. Zunächst hatte die Freundin Luise Kautsky einen ersten Band mit Briefen herausgebracht,17 dem ein zweiter folgen sollte, den Kautsky mit Rosas Bruder Józef Luxemburg als Vertreter der Erben bereits verabredet hatte. Doch der Bruder schloss mit der KPD einen Generalvertrag,18 sodass dieser zweite Briefband nicht erscheinen konnte.19 1921 setzte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Komitee zur Herausgabe des Nachlasses ein,20 dem Clara Zetkin, Adolf Warski, Julian Marchlewski und Edwin Hoernle angehörten.21 Die Redaktion der Bände lag in den Händen von Paul Frölich. Von der geplanten Ausgabe erschienen allerdings lediglich drei Bände:

Bd. VI: Die Akkumulation des Kapitals, 1923

Bd. III: Gegen den Reformismus, 1925

Bd. IV: Gewerkschaftskampf und Massenstreik, 192822

1928 wurde Frölich als Brandlerist aus der KPD ausgeschlossen, was den Fortgang der Arbeiten zum Erliegen brachte. Daneben gab es die von der KPD nicht autorisierten Editionsarbeiten Paul Levis, der 1922 das Manuskript Die Russische Revolution23 herausbrachte und 1925 die Einführung in die Nationalökonomie24.

Nach 1933 war an eine Fortsetzung der Editionsarbeit nicht zu denken. Als das NS-Regime überwunden und der Zweite Weltkrieg vorbei war, lebten von den ursprünglich an der Edition Beteiligten nur noch Hoernle und Frölich, die jedoch schon zu Beginn der 50er Jahre starben. Deutschland war geteilt in die antikommunistische Bundesrepublik und die stalinistische DDR, was für eine erneute Luxemburg-Rezeption keine günstigen Voraussetzungen bot. Im Westen erschien in den Jahren der Studentenbewegung eine dreibändige Auswahlausgabe, in der DDR war schließlich der 100. Geburtstag Luxemburgs Anlass dafür, einen ernsthaften Anlauf für eine Werkausgabe zu unternehmen,25 die diesen Namen verdiente. Es dauerte fünfzehn Jahre, bis jeweils fünf Bände Werke und Briefe veröffentlicht waren. Ein weiterer Briefband, der auch zuvor Unerwünschtes enthielt, erschien 1993, sodass die Briefausgabe, die eine Quelle von nicht zu überschätzender Bedeutung ist, schon wesentlich länger vollständig vorliegt als die Werkausgabe. Sie enthält insgesamt 2 696 Briefe an 150 verschiedene Adressaten. Im Zentrum stehen die Zeugnisse persönlicher Verbindungen. Allein die Briefe an Leo Jogiches (938), Kostja Zetkin (613), Paul Levi (55) und Hans Diefenbach (22) machen gut sechzig Prozent des Gesamtbestandes aus. Leider sind keine Briefe an Władysław Feinstein erhalten. Auch Briefe an andere wichtige Freunde wie Alexander Parvus und Paul Frölich liegen nicht vor.26 Ein knappes Fünftel der erhaltenen Briefe ging an Luxemburgs Freundinnen Clara Zetkin (200), Luise Kautsky (64), Mathilde Wurm (10), Marta Rosenbaum (35), Mathilde Jacob (153) und Sophie Liebknecht (35). Nur vergleichsweise wenige Briefe sind dagegen ganz von politischen Fragen bestimmt. So gibt es z. B. ganze drei Briefe an August Bebel, einen einzigen an Lenin, jeweils drei an Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck und vier an Karl Radek.27

Sehr lückenhaft ist leider die Gegenüberlieferung. So müssen die zahllosen Briefe von Leo Jogiches, die es offensichtlich gegeben hat, als verloren gelten, zumal er die Empfängerin immer wieder mit der ihm eigenen Strenge anwies, aus Gründen der Konspiration alles nach der Lektüre zu vernichten. Immerhin kann man ihren Inhalt zum Teil aus Luxemburgs Antworten erschließen. Aber es gibt vermutlich noch Gegenüberlieferungen, die der Erschließung durch die Forschung harren. Annelies Laschitza hat auf dieses Forschungsdesiderat zu Recht hingewiesen.28 Sehr hilfreich sind, nicht nur in diesem Zusammenhang, die neuerdings vorliegenden, von Jörn Schütrumpf vorzüglich betreuten Editionen der Briefe und Schriften von Paul Levi und Clara Zetkin. Sie helfen, Licht ins weitgehende Dunkel der Gegenüberlieferungen zu bringen.

*

Ein Wissenschaftler ist kein wie eine Maschine akademische Prosa produzierendes Neutrum, sondern ein Mensch mit subjektiven Neigungen und persönlichen Überzeugungen. In den Geisteswissenschaften ist das naturgemäß noch stärker spürbar als in den Naturwissenschaften. Die drei wichtigsten Luxemburg-Biografien zeigen das sehr deutlich. Peter Nettl war ein junger Linker, vom revolutionären Geist seiner Zeit durchdrungen, der sich Rosa Luxemburg, ihrem Wollen und Wirken, mit großer Sympathie und einer bemerkenswerten geistigen Durchdringung genähert hat. Dabei zeigte er sich offen für Diskussionen und nahm in sein Buch sogar einen längeren Brief von Karl Kautsky junior auf, der sich darüber beschwerte, dass Nettls Buch seinem Vater nicht in allem gerecht werde. Nettls weit ausgreifende Darstellung, die ins Deutsche, Französische, Italienische, Spanische, Türkische und Ungarische übersetzt wurde, hatte eine enorme Resonanz und gab den wohl wichtigsten Anstoß für die Wiederentdeckung Luxemburgs in der Umbruchphase der 1968er-Jahre, der die intensive Auseinandersetzung mit ihrem Denken in der Zeit des Eurokommunismus folgte. Er war ein »linksbürgerlicher« Autor und stellte für die Orthodoxie der DDR-Historiografie eine große Herausforderung dar. Nettls Biografie ist die bis heute bedeutendste. Es ist bewundernswert, wie weit seine Darstellung noch immer trägt, wenn man bedenkt, dass ihm nur ein Bruchteil der heute bekannten Quellen zur Verfügung stand. Peter Nettl war ein ungewöhnlich begabter junger Wissenschaftler, leider ist er 1968 mit 42 Jahren tödlich verunglückt.

Elżbieta Ettinger hat von allen Biografen die empathischste Lebensbeschreibung vorgelegt. Die biografischen Parallelen sind unübersehbar. Ettinger war 1925 in Warschau zur Welt gekommen. Sie überlebte wie durch ein Wunder die nationalsozialistische Verfolgung. Es gelang ihr, aus dem Warschauer Getto zu fliehen. Sie schloss sich dem polnischen Widerstand an und arbeitete nach dem Krieg für das polnische Außenhandelsministerium. Als nach dem Sechstagekrieg 1967 die Staaten des Ostblocks von einer Welle des Antisemitismus erfasst wurden, emigrierte sie in die USA, wo sie als Hochschullehrerin tätig war und u. a. Biografien über Hannah Arendt und Rosa Luxemburg verfasste. Ettinger zeichnet, mit deutlich erkennbarer Sympathie, das Bild einer bedeutenden polnisch-jüdischen Intellektuellen, das sich durch große Lebendigkeit auszeichnet, faktografisch allerdings nicht immer zuverlässig ist. Ettinger hat, ausweislich ihrer Bibliografie, in vielen Archiven gearbeitet und mit vielen Personen sprechen können, die inzwischen verstorben sind, darunter auch Verwandten von Rosa Luxemburg. Leider ist oftmals nicht nachvollziehbar, wie sie ihre Erkenntnisse gewonnen hat.

Annelies Laschitza hat ihr langes Forscherleben im wissenschaftlichen Umfeld des ZK der SED verbracht und sich sehr große Verdienste um die Rosa-Luxemburg-Forschung erworben. Dabei hat auch das jeweils politisch erwünschte Luxemburg-Bild Eingang in ihre Darstellungen gefunden, was sie inzwischen in einigen Veröffentlichungen auch selbstkritisch reflektiert hat.29 Allerdings ist auch ihre nach dem Ende der DDR verfasste Biografie von einem ideologisch geformten Geschichtsbild geprägt. Und es finden sich dort Sätze wie diese: »Einen festen Halt gab ihr die Partnerschaft mit Leo Jogiches, der sie unbändig liebte und nicht selten als der weiter und schärfer Blickende wie ein theoretisches und praktisches Gewissen für sie war. Mitunter wurde dies ihr lästig, führte zu kleinen Reibereien, letztendlich aber forderte sie die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit ihm zu ungewöhnlichen Leistungen heraus.«30 Wir erfahren weiter, dass Jogiches ein Revolutionär im edelsten Sinne des Wortes war, der als große Mannespersönlichkeit in treuer, beglückender Kameradschaft eine große Weibespersönlichkeit neben sich zu ertragen vermochte, sodass auch aus Luxemburg eine kühne Revolutionärin werden konnte.31 Diese Klassenkampfprosa transportiert nicht nur Tatsachenbehauptungen, die keiner Überprüfung standhalten. Sie offenbart auch ein Frauenbild von abenteuerlicher Antiquiertheit.

Alle drei Biografien sind von starken, jeweils ganz unterschiedlichen Sympathien für Rosa Luxemburg geprägt. Sie beleuchten deshalb auch in ganz unterschiedlicher Weise ihre Persönlichkeit und ihren Lebensweg. Wer sich intensiv mit ihr beschäftigen will, kann sie auch heute noch alle drei mit Gewinn zur Hand nehmen, idealerweise in Kombination. Daneben gibt es auch Wissenschaftler, die keine Biografien verfasst, aber dennoch bedeutsame Forschungserträge vorgelegt haben, die Wesentliches beitragen zu dem, was wir heute über Rosa Luxemburg wissen. Ich nenne stellvertretend Klaus Gietinger, Holger Politt, Ottokar Luban und Feliks Tych.

Auch ich bin als Wissenschaftler kein Neutrum. Ich vertrete – als Wissenschaftler wie als Mensch – Überzeugungen, die in den Bewertungen, die in ein Buch wie dieses unweigerlich einfließen, auch sichtbar werden. Schon als Student habe ich mich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigt, und als ich 1988 den Fragebogen des FAZ-Magazins auszufüllen hatte, habe ich auf die Frage »Ihre Heldinnen in der Geschichte?« geantwortet: »Rosa Luxemburg und ihre Schwestern im Geiste«,32 was mir damals einige antikommunistisch eifernde Leserbriefe eingebracht hat. Ich finde – wie so viele Menschen – Rosa Luxemburg bis heute faszinierend, bin aber deshalb noch lange kein Anhänger der Idee der Diktatur des Proletariats. Im vorliegenden Buch habe ich mich wie in all meinen Büchern bemüht, das Geschehene differenziert darzustellen und dabei meine eigenen Überzeugungen so vorzutragen, dass auch erkennbar wird, was Anhaltspunkte für eine abweichende Bewertung der Ereignisse sein könnten. Ob mir das immer gelungen ist, möge der geneigte Leser33 entscheiden.

*

Viele Menschen haben zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Ganz besonderen Dank schulde ich Ottokar Luban, dem langjährigen Generalsekretär der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft, der mich in ganz ungewöhnlich liebenswürdiger Weise an seinem unerschöpflichen Wissen teilhaben ließ. Das hat mir den Einstieg in dieses Buchprojekt erheblich erleichtert. Jörg Becken habe ich für die Vorbereitung und Organisation meiner Archivreise nach Polen zu danken. Julia Pohlmann hat mir sehr geholfen bei der Übersetzung der polnischen Quellen und Literatur, da ich der Muttersprache von Rosa Luxemburg leider nicht mächtig bin. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich auch den Mitarbeitern der Archive, in denen ich gearbeitet habe, ganz besonders denen des Archivs für soziale Demokratie (Bonn), deren Hilfsbereitschaft ich sehr strapaziert habe. Für wichtige Hinweise, Unterstützung und Informationen danke ich außerdem: Prof. Dr. Alexander Gallus, Dr. Manfred Jehle, Sven Felix Kellerhoff, Dr. Anja Kruke, Prof. Dr. Helmut Milz, Dr. Max Roehl, Prof. Dr. Benjamin Ziemann.

Ein Werk wie dieses Buch kann nicht ohne viele Helfer auskommen. Mein Verleger Holger Kuntze hat das Projekt von Anfang an mit dem Enthusiasmus begleitet, ohne den kein Autor auskommt. Ihm, meinem Lektor Edgar Bracht und den anderen Mitarbeitern des Blessing Verlags danke ich sehr für ihre Unterstützung. Auch mein Agent Peter Fritz hat den Fortgang der Arbeit stets mit wachem Interesse begleitet. Die Zusammenarbeit mit dem Bildredakteur Dr. Manfred Jehle, mit dem ich schon viele schöne Buchprojekte realisieren durfte, war auch diesmal wieder eine große Freude. Ulrike Plessow von BuchContact hat gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen einmal mehr großartige Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Dafür bin ich sehr dankbar. Nachdem ich vor einigen Jahren eine Augenoperation hinter mich gebracht habe, brauche ich nach einem halben Jahrhundert mit Brille inzwischen keine mehr. Cordula Giese danke ich deshalb sehr für wunderbare neue Autorenfotos.

Heike Roehl hat meine intensive Liaison mit Rosa Luxemburg in bewundernswerter Weise geduldet. Sie hat mir darüber hinaus, wenn ich angesichts der unerschöpflichen Fülle des Materials zu verzagen drohte, immer wieder die Gewissheit zu vermitteln vermocht, dass das Unternehmen irgendwann zu einem guten Ende kommen würde. Dafür gebührt ihr ganz besonderer Dank.

I

Zamość

Rosa Luxemburg wurde in der Kleinstadt Zamość, etwa 250 Kilometer südöstlich von Warschau, geboren, die einst Jan Zamoyski gegründet hatte. Er gehörte einer der bedeutendsten polnischen Familien an, die in den letzten 500 Jahren eine Fülle bemerkenswerter Persönlichkeiten hervorgebracht hat, deren jüngste der Historiker Adam Zamoyski ist, dem wir ein großartiges Buch über das für die polnische Geschichte so bedeutsame Jahr 1812 verdanken.34 Jan Zamoyski prägte über Jahrzehnte hinweg das politische Leben in Polen wie kaum ein anderer. Er stammte aus einer calvinistischen Familie, ging zum Studium nach Paris und später nach Padua, wo er 1563 – gerade einmal 21 Jahre alt – Rektor der Universität wurde. Wenige Jahre später kehrte er in die Heimat zurück, wurde 1566 königlicher Sekretär, 1576 Kanzler, 1578 Großkanzler und 1581 Großhetman der polnischen Krone. In dieser Eigenschaft befehligte er das Heer des Königreichs Polen und Litauen. Daneben unterhielt Zamoyski auch eine Privatarmee mit mehreren Tausend Soldaten. Er war im Seijm, dem Parlament, das unter anderem den König wählte, Anführer der Partei der Szlachta. Das war der niedere Adel, dem etwa ein Zehntel der polnischen Bevölkerung angehörte. Die Szlachta war bis zur Niederschlagung des Januaraufstands 1863 die maßgebliche Trägerin der politischen Willensbildung in Polen.

Zamoyski war sehr reich. Er besaß zwei Dutzend Städte und Hunderte von Dörfern. 1580 gründete er nahe seinem Geburtsort Skokówa die Stadt Zamość, in deren Namen er sich verewigte. 1588 konstituierte sich auf Zamoyskis Initiative dort eine jüdische Gemeinde, und 1595 wurde feierlich eine Akademie eröffnet, die jungen Angehörigen der Szlachta die humanistische Bildung nahebringen sollte. Zamość wurde von dem venezianischen Baumeister Bernardo Morando ganz im Stil der Renaissance erbaut. Die Altstadt gruppiert sich um den großen, fast quadratischen Marktplatz, an dem auch das Rathaus steht, ein gewaltiger Bau mit einer großen geschwungenen Freitreppe und einem achteckigen Glockenturm. Den Platz säumen Häuser, deren Fassaden von großer Schönheit sind. Das ganze Ensemble ist bis heute erhalten und wurde 1992 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Zamość gehörte nach der ersten polnischen Teilung 1772 zum Kronland Galizien und Lodomerien und damit zum Habsburger Reich. 1809 wurde die Stadt russisch und gehörte ab 1815 zum Königreich Polen. Das war ein konstitutionelles Königreich, das bei der vierten und endgültigen Aufteilung der polnischen Gebiete auf dem Wiener Kongress geschaffen wurde. Daher stammt seine umgangssprachliche Bezeichnung Kongresspolen. Dieses Königreich Polen war durch Personalunion mit dem Russischen Reich verbunden, und nach dem Januaraufstand 1863 wurden alle seine Zentralbehörden aufgelöst, sodass Kongresspolen nur noch eine Provinz des Zarenreiches war.

Die Stadt Zamość entwickelte sich gut und hatte Ende des 19. Jahrhunderts etwa 7 000 Einwohner, von denen die Mehrheit der jüdischen Gemeinde angehörte. Die Gemeinde war von Gegnern des Chassidismus dominiert. Der osteuropäische Chassidismus war eine religiöse Erneuerungsbewegung, die auf das Studium der Tora großen Wert legte, die aber auch auf kabbalistische Traditionen rekurrierte und dem religiösen Gemeinschaftserlebnis hohe Bedeutung beimaß, sodass sie oftmals eine mystische Ausprägung gewann. Zamość dagegen war ein wichtiges Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, als deren bedeutendster Vertreter der deutsche Philosoph Moses Mendelssohn gilt. 1939 lebten mehr als 28 000 Menschen in Zamość, unter ihnen 12 500 Juden. Es gab zwei Synagogen und neun Bethäuser, außerdem neun Bibliotheken, vier Buchhandlungen und drei Druckereien. Es erschienen zahlreiche Zeitschriften, unter anderem die Zamoscher Shtime, die von der zionistisch-sozialistischen Partei Poale Zion publiziert wurde.35

Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde Zamość am 12. Oktober 1939 Teil des Distrikts Lublin innerhalb des »Generalgouvernements für die besetzten polnischen Gebiete«. Schon bald gingen die Deutschen daran, die im »Generalplan Ost« niedergelegten Germanisierungsabsichten mit ungehemmter Brutalität in die Tat umzusetzen. Am 12. November 1942 erklärte Heinrich Himmler, den Adolf Hitler zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« ernannt hatte, den Kreis Zamość zum deutschen Siedlungsgebiet. Im Zuge der »Aktion Zamość« sollten etwa 130 000 Polen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern vertrieben werden und Platz machen für 9 000 deutsche »Neusiedler«. So sollte der von den Nationalsozialisten propagierte »Lebensraum im Osten« für das deutsche Volk geschaffen werden. Die Mehrheit der Polen konnte fliehen, viele von ihnen gingen in den Untergrund und schlossen sich den Partisanen an, aber 51 000 wurden deportiert.

Für die jüdische Bevölkerung von Zamość war nicht die Vertreibung, sondern die Vernichtung vorgesehen. Vom 27. September bis 5. Oktober 1939 war die Stadt in der Hand der Russen gewesen, viele Juden verließen mit den russischen Truppen die Stadt, für die verbleibenden 4–5 000 wurde im Frühjahr 1941 ein Getto in der Stadt errichtet.36 Im Mai 1942 begannen die Deportationen in das Vernichtungslager Bełżec, etwa 50 Kilometer südöstlich von Zamość. Sie waren nach wenigen Monaten abgeschlossen, und am 18. Oktober 1942 wurde Zamość offiziell für »judenrein« erklärt. Wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, würde die Stadt heute »Himmlerstadt« heißen. Gott sei Dank gewannen sie ihn nicht.

*

Am 5. März 1871 kam Rozalia Luxenburg, die sich später Rosa Luxemburg nannte, in Zamość zur Welt. 1871 war ein historisches Schicksalsjahr. Am 18. Januar wurde der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser gekrönt. Damit war das Deutsche Reich konstituiert, das ab 1898 für Rosa Luxemburg zur Stätte ihres Wirkens werden sollte. Vom 18. März bis zum 28. Mai 1871 herrschte in der Hauptstadt des von den Deutschen besiegten Frankreich die Pariser Kommune, nach der Überzeugung von Karl Marx die erste Verwirklichung der Diktatur des Proletariats. Ihre außerordentlich brutale Niederschlagung durch französische Regierungstruppen kostete Zehntausende Menschen das Leben und machte die Pariser Kommune zum zentralen Erinnerungsort der europäischen Arbeiterbewegung. Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Kommune war der Pole Jaroslaw Dabrowski, ein revolutionärer Demokrat, der wegen Umsturzbestrebungen zu 15 Jahren Verbannung verurteilt worden war. Nach vier Jahren gelang ihm die Flucht aus Sibirien, und er ging nach Frankreich. Am 23. Mai 1871 fiel er beim Barrikadenkampf am Montmartre.

Rosa Luxemburg, die stets gegen die Wiedererrichtung des polnischen Nationalstaats gekämpft hatte, ist bis heute wenig gelitten im Land ihrer Geburt. Den meisten Polen gilt sie als Verräterin. Dennoch gab es Mitte der 1960er-Jahre eine Korrespondenz zwischen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, wie die Kommunistische Partei in Polen hieß, und dem Stadtrat von Zamość. Es ging um die Einrichtung eines kleinen Museums in Luxemburgs Geburtshaus und um die Anbringung einer Gedenktafel.37 Das Museum wurde nie verwirklicht, die Gedenktafel gab es von 1979 bis 2018. Allerdings war sie in der Ulica Staciza angebracht, unter dem Laubengang an der Südseite des Marktplatzes. Tatsächlich kam Rosa Luxemburg zwei Straßen weiter südlich zur Welt, in der Ulica Tadeusza Kościuszki. Damals, unter russischer Fremdherrschaft, war die Straße allerdings nicht nach dem polnischen Nationalhelden Tadeusz Kościuszko benannt, sondern hieß einfach Ulica Ogrodowa, zu Deutsch Gartenstraße.38

Das Haus in der Gartenstraße hatte zunächst Rosa Luxemburgs Großvater Abraham gehört. Abraham Luxenburg hatte seine Jugendjahre allem Anschein nach in Warschau verbracht, bevor er 1828 im Alter von 22 Jahren Chana (Anna) Szlam heiratete und sich in Zamość niederließ.39 Aus dieser Ehe gingen acht Kinder hervor. Nach Chanas Tod 1848 heiratete Abraham Amalia Lewinsztajn (Löwenstein), die Tochter des Rabbis von Meseritz, die ihm zwei weitere Kinder gebar. Nach ihrem Tod heiratete er Amalias jüngere Schwester Golda, die jedoch nach kurzer Zeit ebenfalls verstarb. Ein viertes Mal heiratete Abraham nicht. Stattdessen verließ er Zamość und zog nach Berlin, wo er 1872 starb.

Abraham Luxenburg war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der mit Holz handelte und internationale Verbindungen pflegte. Er war einer der reichsten Bürger von Zamość, hatte Verbindungen zu Angehörigen der Szlachta und spielte auch eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinde. Er war ein entschiedener Vertreter der Haskala, deren Anhänger, die Maskilim, für die Trennung von Religion und Staat eintraten und für die Öffnung der jüdischen Gemeinschaft gegenüber der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die Juden in Zamość verstanden sich in ihrer großen Mehrheit als polnische Patrioten, die ihre christlichen Landsleute bei ihrem Kampf gegen die russische Fremdherrschaft nach Kräften unterstützten. Als Abraham Luxenburg Zamość 1862 verließ, verkaufte er das Haus in der Gartenstraße an seinen erstgeborenen Sohn Edward, der seit 1853 mit Lina Löwenstein verheiratet war, der jüngeren Schwester der zweiten und dritten Frau seines Vaters. Die drei Schwestern hatten auch einen Bruder, Bernhard, er war Rabbi der jüdischen Reformgemeinde im galizischen Lemberg. Sein Sohn, Rosas Cousin, war der Rechtsanwalt Nathan Löwenstein, der 1895 in den Landtag des habsburgischen Kronlandes Galizien und Lodomerien gewählt wurde und in Lemberg den jüdischen Bürgerklub mit begründete. Unter den Vorfahren von Lina Löwenstein gibt es viele Rabbiner. Der bedeutendste von ihnen war Jakob Jehoschua Falk, der, 1680 in Krakau geboren, Oberrabbiner in Lemberg und Frankfurt am Main war und 1756 in Offenbach starb. Aber genau wie Karl Marx sprach Rosa Luxemburg nie von den vielen jüdischen Gelehrten, die ihren Stammbaum schmückten.

Edward Luxenburg (1830–1900) und Lina Löwenstein (1835–1897) hatten fünf Kinder: Chana (Anna) (1854–1925), Nathan (Mikolaj) (1855–1940), Maksymilian (1860–1943), Józef (1866–1934) und Rozalia (1871–1919). Edward trat in die Fußstapfen seines Vaters, führte den Holzhandel weiter und war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Das Unternehmen hatte seinen Sitz in Warschau und Zamość und trieb Handel im In- und Ausland. Wenn Luxenburg mit Polen verhandelte, benutzte er die polnische Form seines Vornamens, im Geschäftsverkehr mit deutschen Handelspartnern die deutsche Form Eduard. Sein jüdischer Vorname war Elisha, was er später in Eliasz veränderte. Seinen Nachnamen schrieb er meist Luxenburg. Er benutzte aber auch die Form Luksenburg, was damit zusammenhing, dass es im polnischen Alphabet den Buchstaben »x« nicht gibt. Luxemburg (oder Luxenburg) ist aber die ursprüngliche Form des Familiennamens, denn die Familie hatte deutsche Wurzeln und war erst Ende des 18. Jahrhunderts aus Frankfurt am Main nach Polen eingewandert.40

Die Eltern Lina und Edward Luxenburg, nach 1850 – © Bundesarchiv (SAPMO), Bild Y 10-RL3-1688-00

Edward genoss eine gründliche Ausbildung. Er besuchte Schulen in Berlin und im preußischen Bromberg, das heute zu Polen gehört und Bydgoszcz heißt. Später studierte er am Rabbinerseminar in Warschau. Er schlug keine theologische Laufbahn ein, aber er schrieb Hebräisch und gehörte dem Vorstand der jüdischen Gemeinde in Zamość an. Er handelte nicht nur mit Holz, wie sein Vater, sondern auch mit militärischem Material. Auf Wunsch von Andrzej Artur Zamoyski, einem der Führer des Januaraufstands von 1863, schmuggelte Edward Luxenburg Waffen von Schweden nach Litauen.41 Wie sein Vater gehörte auch Edward zu den angesehensten und reichsten Bürgern der Stadt. Das zeigt auch ein Dokument aus dem Jahr 1871. Es handelt sich um eine vollständige Auflistung der Einrichtungsgegenstände und des Hausrats der Familie Luxemburg.42 Sie sind Zeugnis eines ausgesprochen großbürgerlichen Lebensstils. Der Hausrat ist nicht nur sehr umfangreich, es gibt sieben Tische, 24 Stühle, sieben Schränke und Kommoden und zwölf Betten und Sofas. Viele Gegenstände sind auch aufwendig und hochwertig verarbeitet. Es gibt gold- und messinggerahmte Spiegel, acht gerahmte Ölgemälde, Damastdecken, Bücherschränke und Skattische aus Eschenholz und vieles andere, was auf ein reges gesellschaftliches Leben schließen lässt. Entsprechend umfangreich ist die Ausstattung mit Geschirr und Wäsche. Natürlich ist auch ein Tallit verzeichnet, der Gebetsschal für gläubige Juden.

Auf die herausgehobene gesellschaftliche Stellung von Edward Luxenburg weisen vor allem zwei Positionen in der Liste hin. Er besaß einen doppelreihigen Delia. Das war ein prächtiger, reich verzierter Mantel, wie ihn die Angehörigen der Szlachta trugen. Als Wert sind zehn Rubel angegeben, etwa so viel, wie alle anderen Mäntel zusammen wert waren. Außerdem sind, und das ist noch viel ungewöhnlicher, zwei Thorarollen aufgeführt. Mit 26 Rubeln sind sie die mit weitem Abstand am höchsten bewerteten Gegenstände. Thorarollen waren etwas sehr Wertvolles und kamen in Privathaushalten kaum vor. Wir wissen nicht, ob es sich tatsächlich um Luxenburgs Privateigentum handelte oder ob er sie nur für die jüdische Gemeinde verwahrte, deren Vorstand er angehörte, wenngleich die Tatsache, dass sie in der Liste auftauchen, für Ersteres spricht. Der Gesamtwert der aufgelisteten Gegenstände ist mit 497,55 Rubeln angegeben.

Die Synagoge in Zamość wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts, kurz nach der Gründung der Stadt, errichtet. Der Renaissancebau gehört zu den eindrucksvollsten Zeugnissen jüdischer Religiosität in Polen. Das von den Nationalsozialisten verwüstete und beschädigte Gebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Lagerhalle benutzt und erst vor wenigen Jahren umfassend renoviert. Wie so viele Synagogengebäude dient es heute als Museum, nachdem die jüdische Gemeinde Polens im Holocaust nahezu vollständig ausgelöscht worden ist.

Im Zarenreich gab es vor dem Ersten Weltkrieg etwas mehr als fünf Millionen Juden, das war damals etwa die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung. Zugleich war der russische Staat der einzige in Europa, in dem keine Judenemanzipation stattgefunden hatte. Die Angehörigen der jüdischen Minderheit waren gezwungen, sich im sogenannten Ansiedlungsrayon niederzulassen, der auf einen Erlass von Katharina II. aus dem Jahr 1786 zurückging und in etwa die Gebiete von Litauen, Weißrussland, Kongresspolen, der Ukraine, Wolhynien, Podolien und Bessarabien umfasste. Dort lebten die Juden in größeren Gruppen, meist in den Städten, wo sie sich in geschlossenen Wohnbezirken, den Schtetlech, zusammenfanden, die von beachtlicher Größe sein konnten und mancherorts sogar den größeren Teil der betreffenden Stadt ausmachten. Im Distrikt Lublin betrug der jüdische Anteil an der städtischen Bevölkerung 44,6 Prozent, was fast genau der Situation in Zamość entsprach.43

Es war diese Welt, in die Edward Luxenburgs Tochter Rozalia am 5. März 1871 hineingeboren wurde. Früher ist ihr Geburtsdatum häufig mit dem 5. März 1870 angegeben worden.44 Dieser Irrtum beruht vermutlich darauf, dass das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana mehr als drei Monate vom Jahresbeginn nach unserem gregorianischen Kalender entfernt liegt, was früher immer wieder zu Umrechnungsfehlern geführt hat. Es gibt sogar noch ein drittes Geburtsdatum. Als Rosa Luxemburg in Zürich studierte, gab sie bei der ersten Immatrikulation 1889 das Geburtsjahr 1870, bei der zweiten Immatrikulation drei Jahre später 1871 an.45 In ihrem Lebenslauf nennt sie den 5. März 187146, aber als sie dann eine Scheinehe mit Gustav Lübeck einging, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, ließ sie in die Heiratsurkunde den 25. Dezember 1870 eintragen, ein Datum, das sich auch noch in zwei anderen Dokumenten findet.47 Als die niederländischen Sozialisten Henriette und Rik Roland-Holst im Dezember 1906 zum Geburtstag gratulierten, antwortete Luxemburg jedoch: »Ich danke Dir und Rik herzlich für die Geburtstagskarte, über die ich gelacht habe: mein ›offizielles‹ Geburtsdatum ist nämlich falsch (ganz so alt bin ich nicht), ich habe doch, als anständiger Mensch, keinen echten Geburtsschein, sondern einen ›angeeigneten‹ und ›korrigierten‹.«48 Wir dürfen also davon ausgehen, dass der 5. März 1871, der heute auch allgemein genannt wird, das richtige Geburtsdatum ist.

Die Familie Luxenburg lehnte die jüdische Orthodoxie ab, sie bekannte sich aber zu ihrer jüdischen Identität und zugleich auch ausdrücklich zur polnischen Kultur. Zu Hause wurde Polnisch gesprochen, aber auch Deutsch und Russisch, genau wie in den meisten jüdischen Familien. Rozalias Mutter sprach vorzugsweise Jiddisch, eine Sprache, die die erwachsene Rosa Luxemburg, ebenso wie die Zionisten, als »Jargon« ablehnte. Dennoch benutzte sie das Jiddische später, um sich während der SPD-Parteitage Notizen zu machen, vermutlich, weil das außer ihr kaum jemand lesen konnte.

Polnisch war die Sprache, in der Luxemburg sich am meisten zu Hause fühlte. Als sie 1887 das II. Warschauer Frauengymnasium mit einem glänzenden Abschlusszeugnis verließ, erhielt sie in den Fächern Russisch, Deutsch und Französisch die Note »sehr gut«, in Polnisch aber »ausgezeichnet«. Und 13 Jahre später, als sie schon in Berlin lebte, schrieb sie an ihren Geliebten Leo Jogiches, sie fürchte sich vor seiner russischen Sprache, die sie gänzlich verlernt habe: »Mein Leo sollte eigentlich polnisch mit mir sprechen.«49 Dass sie Russisch verlernt hatte, stimmte natürlich nicht. Eher war es so, dass Jogiches erst auf ihre Initiative hin Polnisch gelernt hatte, es aber nicht so gut beherrschte wie Russisch, Luxemburg wiederum das Russische nicht ganz so vertraut war und sie für die intime Kommunikation Deutsch oder Polnisch bevorzugte.

Das zitierte Abschlusszeugnis vermerkte auch, die Schülerin Rosalie Luxenburg sei mosaischer Konfession.50 Später verließ sie die jüdische Gemeinde. Aber sie blieb immer geprägt von ihrer Herkunft und dem maskilischen Milieu, in dem sie aufgewachsen war. Rosa Luxemburg war eine typische Vertreterin des assimilierten Judentums, die sich gelegentlich auch zu spöttischen Bemerkungen über orthodoxe Ostjuden hinreißen ließ, was sie aber nicht hinderte, sich gegenüber ihrem Geliebten Leo Jogiches als seine Mame zu bezeichnen. Sie bewunderte die polnische Kultur, namentlich den großen Dichter Adam Mickiewicz, von dessen Versepos Pan Tadeusz, der polnischen Nationaldichtung, sie ganze Passagen zitieren konnte.51 Gleichzeitig lehnte sie jeglichen Nationalismus entschieden ab. Luxemburg machte von ihrem Judentum kein Aufhebens, setzte sich aber gegen Antisemitismus entschieden zur Wehr, wenn es nottat. 1910 begann in Polen eine Hetzkampagne gegen die SDKPiL, die auch nicht davor zurückschreckte, Luxemburg persönlich anzugreifen und sich zu der bemerkenswert geschmacklosen These verstieg, ihre körperliche Behinderung sei ein Beispiel jüdischer Degeneration.52 Gegen diese Kampagne ging sie mit einer ganzen Artikelserie vor, die auf Polnisch und Deutsch erschien.53

Rosa Luxemburg fühlte sich am wohlsten unter ihresgleichen, unter Sozialisten, die aus jüdischen Familien stammten, die aber die Welt der jüdischen Gemeinden hinter sich gelassen hatten. Dies traf auf Leo Jogiches, den wir bei aller Kompliziertheit ihrer Beziehung als die Liebe ihres Lebens bezeichnen dürfen, genauso zu wie auf Paul Levi, mit dem sie wenige Jahre vor ihrem Tod eine Liebesbeziehung hatte und der dann zu ihrem intellektuellen Testamentsvollstrecker wurde. Auch für weniger wichtige Männer in ihrem Leben wie Władysław Feinstein gilt dies und für Parteifreunde wie Alexander Parvus oder Karl Kautsky. Auch der zunächst von Luxemburg sehr geschätzte Karl Radek war ein »Kind der Haskala«54. Und es gilt, mit Ausnahme von Clara Zetkin, für alle ihre engen Freundinnen, für Luise Kautsky, die später in Auschwitz ermordet wurde, für ihre wichtigste Mitarbeiterin Mathilde Jacob und für Marta Rosenbaum, die beide in Theresienstadt ums Leben kamen. Viele Mitglieder der Familie Luxemburg wurden nach 1939 in Konzentrationslagern ermordet oder von den Nationalsozialisten als Angehörige des polnischen Widerstands hingerichtet. Die Familie geriet nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 auch in die Mühlen der stalinistischen Vernichtungsmaschinerie. Luxemburgs Neffe Jerzy Luxemburg wurde 1940 von den Sowjets in Katyn erschossen, andere Mitglieder der Familie wurden als Angehörige der Bourgeoisie nach Sibirien deportiert.55 Luxemburgs Großnichte Irene Borde, die in der Sowjetunion aufgewachsen war, emigrierte 1973 nach Israel: »In Russland hatten wir mit dem Namen Luxemburg nur Nachteile.« Ihre Großtante sei dort als Gegnerin Lenins eine unerwünschte Person gewesen.56

Zu Rosa Luxemburgs Freundinnen gehörte auch Mathilde Wurm (geb. Adler), die 1920 für die SPD in den Deutschen Reichstag gewählt wurde, 1933 nach Großbritannien emigrierte und dort zwei Jahre später unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. (Der Stolperstein, der in Berlin-Tiergarten für sie verlegt worden ist, spricht von einer »Flucht in den Tod«.) Am 16. Februar 1917 schrieb Luxemburg aus der Festungshaft in Wronke an die Freundin, die damals der jüdischen Gemeinde noch angehörte, einen Brief. Wurm hatte ihr den Spinoza-Roman von Berthold Auerbach zur Lektüre geschickt. Luxemburg antwortete ihr, sie wolle nicht solchen »Kitsch« lesen, und fuhr fort: »Was willst Du mit den speziellen Judenschmerzen? Mir sind die armen Opfer der Gummiplantagen in Putumayo, die Neger in Afrika, mit deren Körper die Europäer Fangball spielen, ebenso nahe.« Es folgt dann ein Zitat aus einem Buch über die Vernichtung der Herero durch die deutschen Kolonialtruppen unter Führung des Generals Lothar von Trotha im Jahr 1904, ein militärisches Unternehmen, das heute allgemein als Völkermord gilt. Luxemburg fährt dann fort, dass die ungehörten Schreie der Verdurstenden in ihr so stark nachhallen, »dass ich keinen Sonderwinkel im Herzen für das Ghetto habe: Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.«57

Rosa Luxemburg war eine entschiedene Internationalistin. Die Judenfrage war für sie ein Resultat der Klassengesellschaft; mit ihrer Überwindung würde der Antisemitismus verschwinden, aber auch der jüdische Nationalismus, der Zionismus.58 Sie war sich ihrer jüdischen Herkunft bewusst, liebte die polnische Kultur, kämpfte für die deutsche Sozialdemokratie und war eine leidenschaftlich liebende Frau, aber sie wollte auf keine dieser Rollen reduziert werden und lehnte den jüdischen »Sonderwinkel« genauso ab wie den polnischen Nationalismus oder den Feminismus. Ab 1900 führte die SPD parallel zu ihren Reichsparteitagen immer wieder eigene Frauenkonferenzen durch, von denen Luxemburg in all den Jahren nur eine, im Jahr 1911, besucht hat, ohne dort das Wort zu ergreifen. In der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit, die seit 1892 erschien, war sie, die so viel schrieb, erstmals 1905 mit einem Beitrag vertreten, dessen Thema nicht etwa ein feministisches, sondern die Russische Revolution war.59 Und zum zweiten internationalen Frauentag 1912 hielt Luxemburg eine Rede zum Kampf um das Frauenwahlrecht. Ihr ging es dabei um die »Massen des weiblichen Proletariats«60. Luxemburg war davon überzeugt, dass die bürgerliche Gesellschaft den Frauen das Wahlrecht nicht zugestehen wollte, weil sie in ihrer großen Mehrheit dem Proletariat angehörten und so dessen politische Macht weiter stärken würden: »Das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht der Frauen würde […] den proletarischen Klassenkampf ungeheuer vorwärtstreiben und verschärfen.« Es ging ihr auch hier nicht um Frauenrechte, denn »durch den Kampf um das Frauenwahlrecht wollen wir die Stunde beschleunigen, wo die heutige Gesellschaft unter den Hammerschlägen des revolutionären Proletariats in Trümmer stürzt.«61

Rosa Luxemburgs Ziel war die Befreiung der Menschheit durch den Sozialismus, nicht Rechte für einzelne Gruppen. Dafür kämpfte sie, rücksichtslos gegen andere wie gegen sich selbst, und das war, so scheint es, schon in früher Jugend in ihr angelegt.

II

Warschau

Kongresspolen, Depolonisierung, Novemberaufstand, Januaraufstand

Als Rosa Luxemburg zweieinhalb Jahre alt war, zog die Familie nach Warschau. In der Literatur wird eine Vielzahl von Gründen für den Umzug genannt. Dass die Präsenz der Maskilim, der Anhänger der Haskala, in Zamość stark rückläufig war, sei ein Beweggrund gewesen. Andere Autoren verweisen auf eine Choleraepidemie in der Provinz Lublin im Jahr 1873. Das mag eine Rolle gespielt haben, aber überzeugender klingen die Begründungen, die mit dem neuen Wohnort zu tun haben. Warschau habe für Edward Luxenburg bessere geschäftliche Möglichkeiten geboten, die kosmopolitischere Atmosphäre der Stadt habe ihn gereizt, und auch die besseren Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder sollen eine Rolle gespielt haben. Davon konnten aber nur noch die beiden jüngsten profitieren. Die älteren Kinder waren zum Zeitpunkt des Umzugs bereits 19, 18 und 17 Jahre alt. Józef dagegen war erst sieben. Er besuchte später das Gymnasium und studierte anschließend an der Königlichen Warschauer Universität, die der russische Zar und polnische König Alexander I. 1816 gegründet hatte. Die Universität war nach dem Novemberaufstand 1830/31 und nach dem Januaraufstand 1863/64 jeweils für mehrere Jahre geschlossen worden. 1870 wurde sie wiedereröffnet, wobei jetzt nur noch auf Russisch unterrichtet werden durfte. Die Russen wollten keinesfalls einen dritten polnischen Aufstand erleben. Eine rigorose Depolonisierungspolitik setzte ein, deren Ziel die dauerhafte Etablierung der russischen Herrschaft war. Die administrativen Strukturen des Königreichs wurden aufgehoben und durch eine neue russische Verwaltung ersetzt. Russisch war ab sofort die einzige Amtssprache. Alle Schilder im öffentlichen Raum mussten in kyrillischer Schrift gehalten sein. Straßen und Orte wurden umbenannt, manchmal auch größere Städte. So wurde z. B. aus Breść jetzt Brest-Litowsk. (Heute heißt die Stadt Brest und liegt in Weißrussland.) Der Unterricht an allen weiterführenden Bildungseinrichtungen musste auf Russisch erfolgen, Polnisch durfte nur noch als Fremdsprache unterrichtet werden.62

Wenn der neue russische Generalgouverneur zu Empfängen in die Warschauer Residenz lud, durften die Angehörigen der Szlachta nur noch Russisch sprechen. Bisher hatten sie sich, wie die Adeligen in vielen europäischen Ländern, gerne auf Französisch unterhalten, aber das war jetzt ebenso verboten wie die Benutzung der polnischen Sprache. Um die Position der Szlachta dauerhaft zu schwächen, verfolgte die zaristische Regierung eine Politik der Emanzipation der Agrarbevölkerung. Zar Alexander II. erklärte durch eine Anordnung das von den Bauern bewirtschaftete Land zu deren Privateigentum, sodass die Bauern nicht länger von den Feudalherren abhängig waren. Tatsächlich trat die Szlachta beim Januaraufstand 1863/64 zum letzten Mal in der polnischen Geschichte als das handelnde Subjekt auf. Bei allen späteren politischen Auseinandersetzungen war die soziale Basis eine andere. In den 1880er-Jahren bildeten sich auch in Polen sozialrevolutionäre und sozialistische Gruppierungen, die Namen wie »Arbeiterverteidigungsrat«, »Das polnische Volk« oder »Proletariat« hatten,63 von denen noch zu sprechen sein wird.

Warschau war die Hauptstadt des 1815 geschaffenen Königreichs Polen. Dadurch entwickelte sich die Stadt zu einem dynamischen Zentrum der Industrialisierung. Dadurch, dass das Königreich Polen zum Zarenreich gehörte, war die polnisch-russische Zollgrenze weggefallen. Das hatte einen enormen Wirtschaftsaufschwung zur Folge. (Ein Thema, das später in Rosa Luxemburgs Dissertation eine wichtige Rolle spielte.) Warschau war nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte Stadt des Zarenreiches. Es war zugleich auch ein Mittelpunkt des kulturellen Lebens. In den hundert Jahren polnischer Nichtstaatlichkeit war Warschau das wirkmächtige Zentrum der polnischen Kulturnation. Die Stadt war der Ausgangspunkt des Novemberaufstands 1830 und des Januaraufstands 1863, die beide lang anhaltende Kämpfe nach sich zogen, aber in den preußischen und habsburgischen Teilen Polens nur ein verhaltenes Echo fanden. Nach der Niederlage des Novemberaufstands gingen etwa 30 000 Polen ins Exil, unter ihnen der Komponist Frédéric Chopin und der von Rosa Luxemburg so verehrte Nationaldichter Adam Mickiewicz.

Die Aufstände, insbesondere der Januaraufstand, führten zur Suspendierung der polnischen Autonomie. Unter der russischen Repression hatte auch der jüdische Teil der Bevölkerung zu leiden. Andererseits verbesserten sich aber die Beziehungen zu den nichtjüdischen Polen in dieser Zeit erheblich, was das Los der Juden in vielem erträglicher machte. Die Warschauer Juden hatten sich mit großem Einsatz am Januaraufstand beteiligt und so ihren polnischen Patriotismus unter Beweis gestellt. Viele Zöglinge des Warschauer Rabbinerseminars, das ein Zentrum der Haskala war, hatten sich an den Kämpfen beteiligt und dabei ihr Leben gelassen. Die Judenemanzipation hatte auch schon vor dem Aufstand erhebliche Fortschritte gemacht. 1861 war den Juden das aktive und passive Wahlrecht für den Gemeinderat gewährt worden, und im Jahr darauf wurden auch die bis dahin noch geltenden Beschränkungen für das Wohnrecht, Handels- und Gewerberecht aufgehoben.64

Jüdischer Wohnbezirk, Pogrom von 1881

Als die Familie Luxemburg 1873 in Warschau eintraf, hatten Juden das Recht, sich auch außerhalb des jüdischen Wohnbezirks anzusiedeln, während sie bis 1862 dafür noch eine Genehmigung gebraucht hatten, die 60 000 Złoty kostete, was eine außerordentlich hohe Summe war. Außerdem musste der Antragsteller perfekte Kenntnisse des Polnischen oder des Deutschen nachweisen und sich verpflichten, künftig auf die Kleidung der orthodoxen Juden in der Öffentlichkeit zu verzichten.65 All das galt jetzt nicht mehr. Die Luxemburgs ließen sich in der Ulica Złota (Goldstraße) Nr. 16 nieder, etwas südlich des jüdischen Wohnbezirks. Luxemburgs Biografin Elżbieta Ettinger hat die Situation im neuen Warschauer Quartier anschaulich beschrieben:

Es beherbergte auch polnische Intellektuelle und lag nicht weit, aber weit genug ab von dem Bezirk, den die armen und orthodoxen Juden bewohnten. Dieser Judenbezirk – mit seiner exotischen Atmosphäre, den gestikulierenden Männern mit Schläfenlocken und Kippa in flatternden Kaftanen wie große schwarze Vögel, den Frauen mit Perücke, den Bettlern und Straßenhändlern – glich mehr einer mittelalterlichen Szenerie als einer westlichen Kapitale. Er war eine ständige Peinlichkeit, ein Stein des Anstoßes für assimilierte Juden, die sich der Rückständigkeit ihres Volkes schämten und sich wünschten, nicht damit identifiziert zu werden. Sie reformierten ihren Glauben, sie sprachen vor den Kindern nicht mehr Jiddisch; sie milderten ihr semitisches Äußeres ab, indem sie sich westlich kleideten. Und dennoch – nur wenige Straßen weiter war diese andere Welt, das Haupthindernis für sie, akzeptiert zu werden: lärmende Leute in bizarren Kostümen; Arbeiter, die sich weigerten samstags zu arbeiten; Zaddikim, chassidische Sektenprediger, die Wunder vollbrachten; Rabbiner, die Gesetze erließen. Durch Zarenerlass angewiesen, ihre Bärte und Gewänder abzulegen, fanden sie Mittel und Wege, beides zu behalten; aus einem Stadtteil vertrieben, tauchten sie in einem anderen wieder auf; zum Erlernen des Polnischen gezwungen, erhoben sie das Jiddische zur Literatursprache.66

Ettingers Beschreibung des jüdischen Wohnbezirks ist typisch für die Sicht vieler assimilierter Juden auf die in der traditionellen Orthodoxie verharrenden Ostjuden, deren Andersartigkeit als Gefahr für den eigenen Assimilierungsgewinn wahrgenommen wurde. Von Rosa Luxemburg sind vergleichbar harsche Worte nicht überliefert, Menschenverachtung war ohnehin nicht ihre Sache, aber wir dürfen davon ausgehen, dass ihre eigene Sicht auf die jüdische Orthodoxie der ihrer Biografin nicht ganz unähnlich war, wobei man bezweifeln darf, dass ihr eine ähnlich dezidierte Verachtung für das Jiddische zu eigen war, wie sie Ettinger hier erkennen lässt und wie sie bis heute von vielen Zionisten gepflegt wird.

Etwa elf Millionen Menschen sprachen damals Jiddisch, von denen mehr als 80 Prozent in Europa lebten.67 Für die große Mehrheit der Juden im russischen Ansiedlungsrayon war Jiddisch die Alltagssprache, was sich aber in den amtlichen Statistiken nicht niederschlug, weil es als Sprache von den staatlichen Autoritäten nicht anerkannt war. Dort mussten sie das Deutsche als ihre Sprache angeben. Tatsächlich ist das Jiddische relativ eng mit dem Deutschen verwandt. Es wurde deshalb von manchen, auch jüdischen Autoren, als »Jüdischdeutsch« bezeichnet. Es gab damals eine bedeutende jiddische Literatur, Verlage und Theater, kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen. Wilna, der Geburtsort von Leo Jogiches, wegen seiner zahllosen Synagogen oft als das »litauische Jerusalem« bezeichnet, war seit dem 17. Jahrhundert eines der Zentren jüdischer Gelehrsamkeit. Seine jüdischen Bibliotheken gehörten zu den größten der Welt. Wilna war auch ein Zentrum der Haskala.

Der jiddische Schriftsteller Isaac Bashevis Singer, der später in die USA auswanderte, erhielt 1978 für sein Werk den Nobelpreis für Literatur. Der Sohn eines Rabbiners war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als kleines Kind mit seiner Familie nach Warschau gekommen. Sie wohnten in der Ulica Krochmalna, einer Parallelstraße zur Ulica Złota, fünf Straßen weiter nördlich, mitten im jüdischen Armenviertel.68 Er hat das Leben dort in dem Erzählungsband »Eine Kindheit in Warschau« anschaulich beschrieben:

Das Miethaus, in dem ich aufwuchs, würde heute in Amerika zu den Slums gehören, aber damals empfanden wir das als nicht weiter schlimm. Abends wurde unsere Wohnung von einer Petroleumlampe erleuchtet. Badezimmer oder fließendes heißes Wasser kannten wir nicht. Das Klosetthäuschen war draußen im Hof. […] Die Leute, die in der Krochmalna wohnten, waren meistens arme Ladenbesitzer oder Arbeiter, aber es lebten dort auch viele Gelehrte ebenso wie Tagediebe, Verbrecher, Leute aus der Unterwelt.69

Die berühmten Fotografien von Roman Vishniac geben einen starken Eindruck von dieser untergegangenen Welt der Schtetlech und der großen Armut, die in den jüdischen Wohnbezirken in Osteuropa oftmals herrschte. Zu den Ikonen der Fotogeschichte gehört das Bild von der kleinen Sara, die den ganzen Winter im Bett verbringen musste, weil ihre Eltern zu arm waren, um das Kellergeschoss, in dem die Familie hauste, zu heizen.70 Im Hintergrund sieht man die Blumen, die der Vater ihr an die Wand gemalt hat. Es waren die einzigen Blumen, die Sara in ihrer Kindheit zu sehen bekam. Wir dürfen davon ausgehen, dass Rosa Luxemburg, die einen überaus wachen Sinn für Kreaturen in Not und Bedrängnis hatte, diese Verhältnisse durchaus vor Augen standen, auch wenn ihr Vater in der Lage war, ein Quartier in einer besseren Gegend anzumieten.

Kindheit, Krankheit, Schule

Rosa Luxemburg hat sich nur selten über Persönliches geäußert. Deshalb wird der Brief an Luise Kautsky, in dem sie sich über ihre Warschauer Kinderjahre äußert, häufig zitiert. Luxemburg hat ihn im September 1904 aus der Haft in Zwickau geschrieben. Sie schildert zunächst die Abendstimmung im Gefängnis und schreibt dann: »Das Leben spielt mit mir ein ewiges Haschen. Mir scheint es immer, dass es nicht in mir, nicht dort ist, wo ich bin, sondern irgendwo weit.« Auf diesen Gedanken, dass das Leben »irgendwo weit« ist, kommt Luxemburg am Ende dieses langen Briefes noch einmal zu sprechen. Dazwischen schweifen ihre Gedanken zurück zu ihren Warschauer Kinderjahren:

Damals zu Hause schlich ich mich in der frühesten Morgenstunde ans Fenster – es war ja streng verboten, vor dem Vater aufzustehen –, öffnete es leise und spähte hinaus in den großen Hof. […] Alles schlief noch, eine Katze strich auf weichen Sohlen über den Hof, ein paar Spatzen balgten sich mit frechem Gezwitscher, und der lange Antoni mit seinem kurzen Schafpelz, den er Sommer wie Winter trug, stand an der Pumpe, beide Hände und Kinn auf den Stiel seines Besens gestützt, tiefes Nachdenken im verschlafenen, ungewaschenen Gesicht.71

Antoni war ein Mensch von »höheren Neigungen«. Er las jeden Abend die Zeitung, obwohl er kein Wort verstand und nur »die Buchstaben an und für sich [liebte]«.72 Des Morgens aber kehrte er den Hof:

Sein Hofkehren, das war ein Dichten. Und das war auch der schönste Augenblick, bevor noch das öde, lärmende, klopfende, hämmernde Leben der großen Mietskaserne erwachte. Es lag eine weihevolle Stille der Morgenstunde über der Trivialität des Pflasters; oben in den Fensterscheiben glitzerte das Frühgold der jungen Sonne, und ganz oben schwammen rosig angehauchte duftige Wölklein, bevor sie im grauen Großstadthimmel zerflossen. Damals glaubte ich fest, dass das ›Leben‹, das ›richtige‹ Leben, irgendwo weit ist, dorthin über die Dächer hinweg. Seitdem reise ich ihm nach.73

Das war nun 30 Jahre her. In der Abgeschiedenheit der Gefängniszelle standen die Bilder ihrer Kindheit Rosa Luxemburg wieder vor Augen. Die erzwungene Untätigkeit schuf den Raum für eine Kontemplation, die sie sich sonst nur selten gestattete, und so gibt es nicht viele Briefe, die von ihrem persönlichen Ringen um ein gelingendes Leben zeugen.

Warschau nahm im 19. Jahrhundert einen rapiden Aufschwung. Hatte die Stadt zu Beginn des Jahrhunderts nur etwas mehr als 100 000 Einwohner gehabt, waren es 1873 schon mehr als 300 000 und 1910 781 000 Einwohner. Der jüdische Bevölkerungsanteil nahm dabei stark zu, nachdem die Ermordung von Zar Alexander II. am 13. März 1881 in Russland eine Welle von antijüdischen Pogromen ausgelöst hatte. Der reformorientierte Alexander II. fiel einem Attentat der linksterroristischen Untergrundorganisation Narodnaja Wolja (»Volkswille«) zum Opfer. Ihm folgte sein Sohn Alexander III., der ein brutaler Autokrat war und durch die sogenannten Maigesetze 1882 die Liberalisierung, die die Situation der jüdischen Minderheit erleichtert hatte, weitgehend wieder aufhob. Viele Juden flohen in die westlichen Regionen des Zarenreiches. Etwa zwei Millionen Juden emigrierten nach Westeuropa oder in die USA. 1882 betrug der Anteil der jüdischen Gemeinde an der Warschauer Stadtbevölkerung 33,4 Prozent, am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren es sogar 39,2 Prozent. Mit 306 000 Mitgliedern war die jüdische Gemeinde in Warschau damals die größte in Europa.74

Auch in Warschau kam es 1881 an den Weihnachtstagen zu einem Pogrom. Ein irrtümlicher Feueralarm hatte in der Heilig-Kreuz-Kirche eine Massenpanik ausgelöst, bei der 29 Menschen zu Tode kamen. Anschließend verbreitete sich das Gerücht, dass jüdische Taschendiebe den falschen Alarm verursacht hatten, um die panisch fliehenden Menschen berauben zu können. Dreitägige Unruhen waren die Folge, die erst durch eine russische Militärintervention und Tausende von Verhaftungen beendet werden konnten, nachdem die Polizei die Marodeure zunächst hatte gewähren lassen. Zwei Menschen kamen durch das Pogrom um, 24 wurden verwundet. Mehr als 1 000 Juden wurden durch die Verwüstungen in den materiellen Ruin getrieben. Dieses Pogrom veranlasste auch Warschauer Juden zur Emigration, aber die Zuwanderung aus dem Osten führte bei Weitem zur Überkompensation dieses Bevölkerungsverlustes, sodass die Gemeinde weiter anwuchs.

Bei dem Pogrom wurde auch die Ulica Złota, in der die Luxemburgs wohnten, nicht verschont. Die Familie wurde allem Anschein nach nicht geschädigt, aber Genaueres wissen wir darüber nicht. Lediglich Elżbieta Ettinger gibt in ihrer Biografie eine lebhafte Schilderung des Geschehens. Ettinger hatte selbst Schlimmes durchgemacht. 1925 in Warschau geboren, schloss sie sich 1939 dem bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft an, überlebte den Krieg wie durch ein Wunder, musste aber 1967 emigrieren, als infolge des Sechstagekriegs eine Welle des Antisemitismus die Staaten des Ostblocks erfasste. Das mag ihre Schilderung beeinflusst haben, von der sie selbst schreibt, dass sie nur auf ihrer Vorstellung beruht. Sie schildert, wie der Mob in das Haus eindringt, in dem die Luxemburgs wohnen. Von schweren Stiefeln und splitterndem Glas ist die Rede. Die Eltern können die zehnjährige Rosa nicht verteidigen, die auch nicht weglaufen kann: »Sie zog ihr kurzes Bein hinter sich her, sie würde bestimmt der Horde in die Hände fallen. Nie zuvor war ihr Hinken als Gefahr erschienen, als Lebensbedrohung; nie zuvor war die Gefahr so real gewesen.«75 Weder in den Quellen noch in Luxemburgs Schriften gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass es sich so zugetragen hat.76

Lediglich ein einziges Mal erwähnt Rosa Luxemburg das Pogrom von 1881. In der schon einmal zitierten Artikelserie gegen den Antisemitismus von 1910/11 gibt es einen Beitrag »Antisemitismus Arm in Arm mit dem Banditentum«, in dem sie von einem »abscheulichen Judenpogrom« spricht.77 Sie geht aber auf das Ereignis, das sie auch fälschlich auf 1882 datiert, gar nicht weiter ein. Es dient ihr lediglich als Beispiel zur Illustration ihrer These, dass der Antisemitismus eine Erscheinung der kapitalistischen Länder sei, der »reaktionären Verrohung«: »Deshalb spielt die Aufwiegelung zum Rassen- und nationalen Hass, um den polnischen Arbeiter vom jüdischen Arbeiter oder russischen Arbeiter zu entzweien, allein den Ausbeutern in die Hände.«78 Antisemitismus sei in Wirklichkeit Antisozialismus, aber in der Zeit der Revolution von 1905 »war das Arbeitervolk durch den Sozialismus bereits soweit aufgeklärt, dass die teuflischen Machenschaften der Zarenregierung im Keim erstickt werden konnten.« Deshalb konnten die polnischen Arbeiter das Land vor der »Pest des Antisemitismus« bewahren.79

Wesentlich glaubwürdiger als Ettingers dramatische Schilderung ist in diesem Fall der Bericht Luise Kautskys, dass die zaristischen Repressionen schon in jungen Jahren Luxemburgs Zorn erregten, »vor allem aber waren es die entsetzlichen Judenpogrome, die auf Rosa erschütternd und aufreizend wirkten, sie zum Hass und zur Verachtung aufstachelten und unauslöschliche Eindrücke in ihrem jugendlich-empfänglichen Gemüte hinterließen«.80