Sag, dass es dir gut geht - Barbara Bišiský-Ehrlich - E-Book

Sag, dass es dir gut geht E-Book

Barbara Bišiský-Ehrlich

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Beschreibung

"Als ich anfing, meine Oma Helenka für dieses Buch zu befragen, wiederholte sie immer nur die gleichen Worte: ›Das kann man niemandem erzählen, Bára. Das glaubt einem kein Mensch ...‹ Sie erzählte dennoch – und ich begann zu schreiben." Barbara Bišický-Ehrlich zeichnet als Chronistin ihrer eigenen Familiengeschichte ein mehrfaches Generationenporträt, angefangen bei ihren Urgroßeltern in der ehemaligen Tschechoslowakei, über die Zeit ihrer Großeltern und Eltern, bis hin zu ihren eigenen Erfahrungen als Enkelin von Holocaust-Überlebenden – ausgerechnet in der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder kreuzt die Weltgeschichte den Weg dieser Familie. Schreckensnamen wie Bergen-Belsen und Theresienstadt sind damit ebenso verknüpft wie die Zeit des Kommunismus nach 1945 in der CSSR und der Prager Frühling. Die Gefahr eines gewaltsamen Todes hängt beständig wie ein schwarzer Schatten über allen Familienmitgliedern. Entwurzelung, Neuanfang und erneute Entwurzelung sind die Folgen. Diese Geschichte erzählt vom einem Leben zwischen den Extremen, mit unerwarteten Wendungen, mit Traumata, die an Kindern vererbt werden und mit dem unglaublichen Überlebenswillen eines jeden Nachkommen. Barbara Bišický-Ehrlich lässt den Leser durch die Schilderung ihres Familienschicksals mühelos Jahrzehnte überbrücken und in die Zeitgeschichte eintauchen. Sie schafft eine Nähe, die dem Leser erlaubt an den Ängsten und Hoffnungen der Menschen teilzuhaben, die sich nichts sehnlicher wünschen als Frieden auf Erden. Zwischen Prag und Frankfurt am Main, zwischen Gefahren, Bedrohungen und den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, schwebt die eine große Frage: "Wie gehe ich mit Vergangenheit um?". "Bára ... warum interessiert dich das alles?", fragte Oma Helenka und fügte immer wieder den gleichen Wunsch hinzu: "Sag', dass es dir gut geht ..."

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Sag’, dass es dir gut geht

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2018 © Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2015www.groessenwahn-verlag.de Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-204-2

eISBN: 978-3-95771-205-9

Barbara Bišický-Ehrlich

Sag’, dass es dir gut geht

Eine jüdische Familienchronik

IMPRESSUM

Sag’, dass es dir gut geht

AutorBarbara Bišický-Ehrlich

Seitengestaltung Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schrift constantia

Covergestaltung Marti O´Sigma

Coverbild Christian Vesper

Familienfotos © Barbara Bišický-Ehrlich

Lektorat Thomas Pregel

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Februar 2018

ISBN: 978-3-95771-204-2

eISBN: 978-3-95771-205-9

Für Lyel, Samuel und Lian

Helenka

Als ich anfing, meine Oma Helenka für dieses Buch zu befragen, was denn genau alles passiert sei, wiederholte sie nur immer wieder die Worte: »Das kann man niemandem erzählen, Bára. Das glaubt einem kein Mensch. Ich hätte das selbst nicht geglaubt, wenn man es mir erzählt hätte. Das kann man nicht erzählen.«

Sie erzählte dennoch – und ich begann zu schreiben. 

Štepanka Budlovská, meine Uroma, und ihre Familie lebten schon seit vielen Generationen in Humpolec, einer böhmischen Stadt etwa 100 Kilometer südöstlich von Prag. In Humpolec gab es eine jüdische Gemeinde, eine Synagoge und einen jüdischen Friedhof. Etwa 300 Menschen lebten im jüdischen Viertel. Štepanka verlor früh ihre Mutter, die unter schwerem Diabetes litt, und kurz darauf ihren Bruder; er starb an einer Rippenfellentzündung. Ihr Vater, ihre Schwester Gusti und deren Familie wurden Jahre später in Bergen-Belsen ermordet. 

Familie Haller, 1937 Vorne v. l.: Ivo (Helenkas Cousin), Berta und Zikmund (Helenkas Großeltern), Helenka Hinten v. l.: Oskar und Štepanka, Gusti und Ota (Helenkas Onkel und Tante)

Štepanka heiratete Oskar Haller, der ebenfalls aus Humpolec stammte und dessen Vater einige Jahre lang Vorsitzender der dortigen jüdischen Gemeinde war. Štepanka und Oskar führten eine glückliche Ehe. Am 4. April 1924 wurde ihre Tochter Helenka, meine Oma, geboren. Ein weiteres Kind wollten die beiden nicht, denn dem einen sollte es gut gehen. Štepanka arbeitete als Buchhalterin in der Kolonialwarenhandlung, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Oskar führte. Damals wurde noch alles mit der Hand geschrieben: Jede Rechnung, jeden Brief, jedes Dokument verfasste sie handschriftlich. Oskar arbeitete Tag und Nacht, auch Urlaub machte die Familie nie. Eine Kinderfrau, die im selben Zimmer mit ihr wohnte, erzog die kleine Helenka. Aber Helenka mochte Fräulein Hrachová, genannt Tante Ella, nicht besonders. Lieber hätte sie mehr Zeit mit ihren Eltern verbracht. Immerzu wollte Tante Ella etwas von ihr: Wasch̕ dich, räum̕ auf, mach̕ deine Schularbeiten, sitz̕ gerade, Ellbogen vom Tisch, Finger aus der Nase! In der vierten Klasse bekam Helenka Rheuma und wurde über Monate von einem Privatlehrer unterrichtet, um die Klasse nicht wiederholen zu müssen. In dieser Zeit langweilte sie sich unendlich. 

Helenka hatte eine wunderbare, sehr friedliche Kindheit. Sie hatte viele Freunde, die sie alle mit nach Hause bringen durfte, spielte Tennis, fuhr Fahrrad, schwamm und war eine durchschnittlich gute Schülerin. Ihr Judentum spielte eine eher untergeordnete Rolle. Im selben Haus wie sie wohnten ihre großen Cousins, und überhaupt waren die Familienbande sehr eng. Zu Großeltern, Tanten und Onkeln gab es ein sehr inniges und herzliches Verhältnis. »Das ist wohl der Grund, warum mir bis heute Familie das Allerwichtigste ist«, überlegte Helenka viele Jahrzehnte später.

Als die Nazis die Macht ergriffen und später die Tschechoslowakei besetzten, war Helenka fünfzehn Jahre alt und musste die Schule verlassen. Oskar aber war der Überzeugung, sie müsse unbedingt trotzdem etwas lernen. So begann sie eine Ausbildung zur Schneiderin bei der ehemaligen Schneiderin von Štepanka. Es sei ein nobler Salon gewesen, sagte meine Oma. Die Kleider der wohlhabenderen Menschen wurden hier geändert oder geschneidert. Sie waren aus feinen Stoffen und rochen gut.

Doch das Leben hatte sich von Grund auf verändert, schon bald musste die gesamte Familie nach Prag umsiedeln, das Haus und alle Freunde zurücklassen. Den Lebensmittelhandel überließen sie notgedrungen einem Bekannten zu einem symbolischen Preis. Damals verstand Helenka nicht, wie schwer das für ihre Eltern war. Für sie war es ein großes Abenteuer. Abgesehen davon kannte sie Prag schon, da sie bereits ein Jahr auf einem Mädchengymnasium in Prag gelernt hatte.

Nun war aber alles anders: Die Rassengesetze betrafen alle Juden. Wenn Helenka einmal Freunde treffen wollte oder gar ein Rendezvous hatte, so ging das nur noch auf dem großen »Neuen jüdischen Friedhof«. Zwischen den Gräbern konnten sich die Jugendlichen treffen und zusammen lachen. Am 18. Dezember 1942 wurde die Familie Haller zum Abtransport aufgerufen. Zunächst mussten sich alle im Messepalast »Veletržni Palác« einfinden. Sie schliefen hier vier Tage auf dem Boden und auf ihren Koffern. Alle erhielten eine Nummer, Helenka die Nummer 241.

Am 22. Dezember 1942 wurden Oskar, Štepanka und Helenka nach Theresienstadt abtransportiert. Dort waren sie etwa ein Jahr. Helenka arbeitete zunächst in einer Putzkolonne, später meldete sie sich zur Arbeit auf einer der Krankenstationen. Schließlich war es immer ihr großer Traum, Medizin zu studieren. Und, wenn sie schon an einem solchen Ort sein musste, so wollte sie doch wenigstens etwas für andere tun.

Sie war die jüngste in der Abteilung und bekam die schwersten Aufgaben. Dennoch machte ihr die Arbeit Spaß. Ihre Mutter Štepanka arbeitete in einer der Wärmeküchen Theresienstadts, in denen sie das mitgebrachte Essen der Menschen erwärmte und die Kessel und das Geschirr bewachte. Sie kochte Brei, Milch und Nahrung für Babys, Kleinkinder und Mütter. Was grade eben ging. Oskar war zunächst bei der Ghettowache, was ein sehr angesehener und verantwortungsvoller Posten war. 

Ghetto-Geld, 1943

Später sortierte er in der Kleiderkammer all die Dinge, die in den Koffern der Menschen übrigblieben, die in ein Lager deportiert wurden. Selbstverständlich konnte diese Arbeit nur unter strengster Kontrolle erfolgen, denn die guten und wertvollen Dinge wurden direkt nach Deutschland verschickt. Es ging ihnen einigermaßen gut, und Oskar wiederholte immer wieder: »Wenn Gott will, können wir hier überleben.«

Eines Tages wurde eine große Zählung der Häftlinge anberaumt und alle Insassen in einen Talkessel gejagt. Der Grund war ein Fehler in der Anzahl der Ghettobewohner, und so wollten die deutschen Wachen lieber selber noch einmal nachzählen. Einige wenige Krankenschwestern blieben mit den Patienten im Ghetto zurück, darunter auch Helenka. Sie hatte schreckliche Angst und wusste nicht, was mit den Menschen, die hinaus mussten, geschehen würde. Den ganzen Tag hatte sie die Aufgabe, Schwerstkranke auf Karren auf andere Stationen zu verlegen. Das bedeutete für Helenka sowohl psychisch als auch körperlich vollkommenes Auszehren. Viele der Kranken in den Karren starben an diesem Tag. Als die anderen Ghettobewohner am späten Abend endlich zurückkehrten, konnte Helenka das Glück kaum fassen: Ihre Eltern lebten!

Eines Nachts wurden Helenka und einige andere Krankenschwestern geweckt, für alle anderen gab es eine strenge Ausgangssperre, nicht einmal aus dem Fenster durfte man sehen. Ein Transport mit 1200 polnischen Kindern kam am Gleis von Theresienstadt an. Es waren Kinder aus dem Ghetto Bialystok. Sie sahen schlimm aus, waren in einem katastrophalen Zustand: ausgehungert, schmutzig, in Lumpen, teilweise ohne Schuhe, krank, panisch. Sie schwiegen. Auf dem Gelände von Theresienstadt gab es eine alte Brauerei, hier sollten die Kinder desinfiziert und entlaust werden. Als den Kindern befohlen wurde, sich auszuziehen, begannen sie hysterisch zu schreien und sich mit Händen und Füßen zu wehren: »Gas! Gas!« Das war das erste Mal, das Helenka dieses Wort hörte – sie wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Die ganze Nacht kümmerten sich die Schwestern um die bedürftigsten Kinder. Danach wurden sie in einer Halle untergebracht, die etwas abseits lag, und besonders gut verpflegt. Es gingen einige Gerüchte über die Zukunft dieser Kinder um. Dr. Reinisch, einer der jüdischen Lagerärzte und Leiter des dortigen Gesundheitswesens, kam ein paar Tage nach der Ankunft der Kinder auf Helenka zu und sagte ihr, die polnischen Kinder seien da, um aufgepäppelt und dann mit ein paar Auserwählten, darunter auch Helenka, in die Schweiz in Freiheit gebracht zu werden. Es liefen Verhandlungen über einen Austausch gegen in Palästina inhaftierte Deutsche. Das war ein sehr verlockendes Angebot. Helenka aber wollte mit ihren Eltern bleiben und lehnte wenige Tage später schweren Herzens ab. Nach einigen Wochen wurden alle Kinder und die »Auserwählten« in Viehwaggons gepfercht – in Auschwitz angekommen, gingen sie direkt von der Rampe ins Gas. 

Am 1. August 1944 wurde Oskar, Helenkas Papa, nach Auschwitz deportiert. Dann kam die Meldung, dass auch Štepanka für einen Transport vorgesehen sei. Helenka lief sofort zu den zuständigen Dienststellen und meldete sich ebenfalls für den Transport. Dr. Reinisch flehte Helenka an, nicht zu gehen, sie stehe auf einer Schutzliste. Doch ihr Entschluss stand fest. Schließlich konnte sie ihre Mama nicht allein gehen lassen, schon gar nicht nachdem Oskar seine Tochter beim Abschied gebeten hatte, sich um diese zu kümmern. Štepanka war zu dieser Zeit sehr krank und nach einer Diphterie ziemlich gebrechlich. Die furchtbaren Bedingungen machten sich bei ihr besonders bemerkbar, mehr als bei einer jungen Frau von 20 Jahren, wie es meine Oma damals war. Mutter und Tochter wurden also gemeinsam in den Viehwaggon getrieben. Sie dachten, sie seien auf dem Weg nach Deutschland zur Arbeit. Gegen eine Wand gepresst, las Helenka ins Holz geritzte Worte: »Jetzt fahrt ihr nach Auschwitz.« Ihr war nicht bewusst, was das bedeutete. Bei der Ankunft führte der Lagerarzt Josef Mengele höchstpersönlich die Selektion durch. Štepanka schickte er in eine andere Richtung als ihre Tochter. Daraufhin begann Helenka panisch zu schreien. Mengele rief Štepanka zu sich und fragte: »Wie alt bist du?« Instinktiv machte sich die 44jährige einige Jahre jünger und durfte so auf die Seite ihrer Tochter. Sie wurden geschoren, desinfiziert und vor allem scheinbar endlos lange gezählt, immer wieder. Es wurde gepfiffen und gezählt, gezählt und gepfiffen.

Nach etwa zwei Wochen in Auschwitz wurden die beiden mit 1000 anderen Frauen zur Strafarbeit geschickt. »Wenn ich heute daran denke, Barunko«, sagte meine Oma, »habe ich keine Ahnung, wieso ich das überlebt habe.«

Sie arbeiteten auf dem Feld, hoben Panzergräben aus, schliefen in einer Scheune ohne Decken – und für alle 1000 Frauen gab es gerade einmal eine Wasserpumpe, die zwischendurch auch noch kaputt ging. Das wichtigste waren die Schuhe. Deshalb zogen Helenka und Štepanka sie auch niemals aus, zu groß war die Angst, dass sie gestohlen würden. 

Am 18. Januar 1945 wurde das Straflager evakuiert und die noch lebenden Häftlinge auf den Weg in ein weiteres Lager getrieben, dieses Mal zu Fuß. Es folgte ein grauenvoller Todesmarsch durch den eisigen Winter, auf abgelegenen Feldwegen und durch den Wald. Immer wieder mussten die Frauen große Löcher in den gefrorenen Boden graben. Die Schwachen wurden einfach hineingeschossen. Helenka aß Schnee und vor allem wusch sie sich damit, um frisch und sauber auszusehen und so nicht erschossen zu werden. Einige Wochen ging das so, bis der Winter, die Anstrengung des Marsches und eine schwere Durchfallerkrankung Štepanka das Weitergehen vollkommen unmöglich machten. Sie konnte nicht weiter. Helenka blieb mit ihrer Mutter stehen. Ein bewaffneter SS-Mann trieb die beiden in den Wald und wollte meine kleine Uroma erschießen. Er sah Helenka an und sagte: »Bist du nicht die Krankenschwester aus Theresienstadt?« Helenka nickte, und es folgten kaum zu ertragende Sekunden. Schließlich setzte der SS-Mann an: »Lauft!« Er schoss zweimal in die Luft und ging zurück zu den Gefangenen.

Im Wald kauernd, blieben zwei vollkommen kraftlose Geschöpfe zurück. In diesem Moment verließ Helenka ihr letzter Lebenswille. Sie wollte sich von einer Brücke stürzen oder sonst irgendwie ihr Leben beenden. Štepanka aber schöpfte neue Kraft: »Jetzt, da wir allein sind? Jetzt möchtest du sterben? Jetzt musst du leben!« 

Sie befanden sich irgendwo in der Nähe von Dresden. Es war der 13. Februar 1945, der Tag, an dem die großen Luftangriffe auf die Stadt begannen. Sie rafften sich auf und gingen zur nächsten Straße. Am ersten Haus, das sie sahen, klopfte Helenka und bat um etwas zu essen. Das bekamen sie, allerdings durften die beiden Frauen nicht in der Scheune übernachten. Über ihren Köpfen flogen die Geschosse und alle möglichen Kampfbomber. Sie schlugen sich weiter durch, waren zwischenzeitlich noch einmal in einer Schule eingesperrt und beteuerten stets, ausgebombte tschechische Arbeiterinnen zu sein, die es auf der Flucht vor einem Angriff nicht mehr geschafft hatten ihre Papiere mitzunehmen. Immer wieder wurden sie gefragt, ob sie nicht zu dem Gefangenenmarsch gehörten, der in der Nähe vorbeizog. Ihr großes Glück waren zwei Kopftücher und der Umstand, dass ihre Unterarme am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz nicht mit Zahlen gebrandmarkt worden waren. Das ist höchstwahrscheinlich einem Fehler der SS bei der Registrierung geschuldet, was vor allem bei weiblichen Häftlingen, die ein Lager nur als Durchgangslager benutzen sollten, geschah.  

Auf einer Landstraße hielt Helenka todesmutig einen mit Holz beladenen Lastwagen an und fragte den Fahrer, ob er sie in die Nähe eines noch intakten Bahnhofs bringen könne. Er nahm die beiden sogar bis nach Zittau nahe der tschechischen Grenze mit und erzählte den Frauen die ganze Fahrt über vom bevorstehenden deutschen Endsieg. Ihre Herzen rasten vor Angst. Sie schafften es zum Bahnhof, und nach vielen Umwegen stiegen sie in einen Zug Richtung Prag. Ein mitreisender deutscher Soldat riet Helenka, sie solle sich mit ihrer Mutter schlafend an die Seite setzen, als eine Kontrolle nahte. Nach der überstandenen Fahrkartenkontrolle dankte Helenka und fragte den Soldaten, warum er das getan, warum er ihnen das geraten habe. Er antwortete trocken: »Weil ich kein Wort von eurer ›ausgebombten Arbeiterinnengeschichte‹ glaube.« Sie bat um seinen Namen, um ihm möglicherweise eines Tages danken zu können. Doch er schwieg.

Auf dem Prager Bahnhof herrschte das Chaos des Krieges: Gefangene wurden abgeführt, Soldaten überall und mittendrin Štepanka und Helenka. Die Angst war kaum zu ertragen. Keiner hielt sie an. Sie fuhren mit der Straßenbahn zu alten Freunden, die zunächst Helenka und Štepanka nicht erkannten. So sehr hatten die erlebten Gräuel ihre Gesichter verzerrt und ihre Körper gezeichnet. Die Freunde gaben ihnen zu essen und ließen sie erst einmal schlafen. Bleiben konnten sie nicht. Sie fuhren wieder mit dem Zug hin und her, bis Helenka die einzig logische Möglichkeit einfiel zu überleben: Sie mussten zurück nach Theresienstadt. Dort würden sie den Krieg schon irgendwie überstehen. Doch vorher müssten sie noch der Familie Vaňha über ihre Pläne Bescheid geben. Helenkas Cousin würde ganz sicher zu Vaňhas fahren, sollte er aus dem Krieg zurückkehren, denn er liebte deren Tochter. Und so wüsste wenigstens irgendjemand, was mit ihnen geschehen war und wo man sie suchen könnte. Familie Vaňha lebte zu sechst mit einem Hund in einer Zweizimmerwohnung. Als sie die beiden Frauen endlich erkannten und von ihren Plänen hörten, nach Theresienstadt zurückzukehren, war sofort klar, dass das überhaupt nicht in Frage komme. Sie beschworen die beiden Frauen, bei ihnen zu bleiben. Vaňhas versteckten sie bis zum Ende des Krieges in ihrer winzigen Wohnung. Immer wieder mussten die Frauen stundenlang im Schrank ausharren oder allein in der Wohnung zittern, wenn Kontrollen drohten oder Bombenalarm war und die anderen in den Schutzkeller eilten. »Das war eigentlich die schlimmste Zeit«, sagte mir meine Oma. Zu der Angst, selbst entdeckt zu werden, kam nun noch die Angst um die lieben Freunde, die ihr Leben für sie riskierten. Das muss für meine Oma, die ihr Leben lang immer nur für andere gelebt hatte, furchtbar gewesen sein.

Die beiden Cousins kehrten als einzige Familienmitglieder zurück.

Oskar, Helenkas Vater, kam in Auschwitz ums Leben.

Jahrzehnte lang verfolgten Helenka jede Nacht schlimme Albträume rund um die Kriegsjahre. Die Träume endeten jedoch mit einem Schlag an dem Tag, als ihr Mann, mein Opa Tonda, 1974 starb. 

Štepanka zog recht schnell nach Tondas Tod zu ihrer Tochter Helenka, die sich fortan um ihre Mutter kümmerte.

»Báro, warum interessiert dich das alles? Darüber wurden so viele Bücher geschrieben. Jede meiner Freundinnen wird dir etwas anderes erzählen. Jede erinnert sich an etwas anderes. Aber das glaubt doch sowieso alles niemand. Mir ist nur wichtig, dass es dir gut geht. Geht es dir gut? ... Du musst mir das öfter sagen. Ich brauche das.«

Fahrt ins Graue

Stundenlang hat die Fahrt immer gedauert. Wir saßen im Mercedes Kombi, hörten Hörspiele, sangen und aßen ununterbrochen Schnitzelbrote, Süßigkeiten, Obst, geschnittenes Gemüse, Kuchen … Der Vorrat war groß und besonders wichtig. Überhaupt hat Essen einen unglaublich hohen Stellenwert in meiner Familie – Essen ist Teil unserer Identität und unseres Selbstverständnisses. Was, wann, wie viel, wo und wie gegessen wird, sind essenzielle Fragen bei uns zu Zause. Wir hatten grundsätzlich das beste Essen, und das war auch von ungeheurer Wichtigkeit, jedenfalls für unseren Selbstwert. Alle Kinder wollten immer bei uns essen, und Mama wusste, dass jeder, der bei uns einziehen würde, in nur wenigen Tagen wohlgenährt wäre. Und darauf waren wir alle stolz.

Unsere Eltern rauchten im Auto bei geschlossenen Fenstern. Wir waren aber so daran gewöhnt, dass es uns gar nicht störte. Die Stimmung wurde immer angespannter, je näher wir unserem Ziel kamen. Je mehr Kilometer hinter uns lagen, umso stiller wurde es im Wagen. Als Kinder konnten wir das nicht verstehen, eigentlich nahmen wir es nicht einmal richtig wahr. Und wenn doch, so machten wir uns eher über unseren Papa lustig. Er drehte die Musik ab, rauchte noch mehr und schrie uns ab und zu an, wir sollten ruhig sein. Die Ängste und Sorgen, die er jedes Mal durchlebte, verstanden wir nicht. Nicht einmal unsere Mama hat sie wirklich nachvollziehen können – unsere immer starke, angstfreie Mama. Sie machte jederzeit den Eindruck, alle Hürden im Leben nehmen zu können und sich niemals zu fürchten. Solange sich also nur Honza fürchtete, mussten wir uns keine Sorgen machen, denn wirklich bedrohlich konnte es dann in unseren Kinderaugen nicht sein. Mama sagte nur hin und wieder: »Kinder, seid jetzt mal ruhig, Honza muss sich konzentrieren.« Wir kannten die Prozedur, die uns am Grenzübergang erwartete: Pässe, warten, zur Seite fahren, warten, aussteigen, warten, Auto ausräumen. Dann wurden alle Koffer gefilzt, alle Kisten ausgeschüttet und das ganze Auto durchsucht. Das dauerte manchmal Stunden, denn unser Wagen war vollgestopft mit Geschenken. Südfrüchte, Zigaretten, Kleidung, Nutella-Gläser, hunderte Kaugummi-Packungen, Putzmittel – alle möglichen westlichen Güter eben, ob gebraucht oder neu. Vor allem aber lieferten wir Toilettenpapier, das war das am meisten begehrte Gut, denn dann musste man einige Tage oder vielleicht Wochen kein Zeitungspapier mehr zerschneiden und am WC aufhängen. Wir waren ein fahrendes Warenhaus. 

Was die Zöllner suchten, wusste ich nicht, es war mir nie klar. Wir waren fest davon überzeugt, dass das reine Kommunistentyrannei war. Dass sie, vom Kommunismus frustriert, ihrem Leben einen Sinn geben mussten, in erster Linie aber ihren Verpflichtungen nachgingen, als brave Soldaten des Genossen Obrigkeit. Und das ging wohl am ehesten mit Schikane. Wenn wir dann endlich weiterfahren durften, war die Erleichterung unermesslich. Die Stimmung löste sich mit jedem Kilometer. Wir waren wieder lustig und scherzten, dass Martin, mein Bruder, der geborene Zöllner sei, dass das seine wahre Bestimmung im Leben sein würde. Nicht der Frust oder Neid der Ostblock-Zöllner, sondern Martins Begeisterung für Gerechtigkeit, Ordnung und Kontrolle waren Ausschlag gebend. Martin wollte alles wissen, er saugte alles in sich auf. Wieso, wer, wann, warum, wen, weshalb, wie viel, was, wo …? Er war der wissbegierigste Junge, den ich kenne. Natürlich kannte er auch alle Autoschilder und Marken, Flaggen und sämtliche Hauptstädte dieser Erde. 

Hinter der Grenze sah sofort alles anders aus. An die Landstraße grenzten nun nicht mehr hübsche kleine Dörfer mit gerichteten Vorgärten, ordentlichen Maschendrahtzäunen und kleinen Gartenzwergen. Wir fuhren über Schlaglöcher, vorbei an grauen, rauchenden Häusern, von denen der Putz an jeder Ecke bröckelte. Die Autos waren alt und schrecklich schmutzig. Westliche Automarken sah man nicht, überhaupt waren es nicht viele Autos. Die Menschen sahen angestrengt und traurig aus. Wenn wir an Kindern vorbeifuhren, blieben diese immer stehen und schauten staunend unserem schönen Mercedes hinterher. Manchmal zeigten sie mit dem Finger auf uns, auf das große Auto mit deutschem Kennzeichen. In meiner Erinnerung ist alles, was hinter der Grenze war, wie ein alter Schwarz-Weiß-Film, als führen wir mit der Überquerung der Grenze direkt in einen alten Film hinein. Alles war grau in grau; nur wir nicht, wir waren der Farbkleks in diesem Film: die reiche Familie aus Deutschland, die mit bunter Jahrmarktware im dicken Benz dem Ziel rasant entgegenfährt. Wir mussten immer an einem Ort vorbei, der Sokolov heißt. Hier gab es jede Menge Schornsteine, aus denen widerlicher schwarzer Rauch aufstieg. Mama erzählte uns, dass dort Braunkohle verarbeitet würde und die Stadt derart verpestet sei, dass sie die höchste Kindersterblichkeitsrate ganz Europas habe. Seitdem hielt ich jedes Mal die Luft an, wenn wir an Sokolov vorbeifuhren. Die Stadt machte mir schreckliche Angst. Natürlich hielt ich es niemals lange aus, die Luft anzuhalten, und das machte es nur noch schlimmer.

In Prag angekommen, parkten wir vor dem Haus, in dem meine Oma zusammen mit meiner Uroma wohnte. Eine Straße direkt am Park, der dem Grau der Häuser einen Hauch Freundlichkeit verlieh. Wunderschöne Altbauten reihten sich hier aneinander, die alle derart verwahrlost waren, dass das Alte nur noch hässlich wirkte. Das Auto war nach der relativ kurzen Strecke von der Grenze bis zum Ziel so schmutzig, wie es in einem ganzen Jahr Fahrt durch den sauberen Westen niemals geworden wäre. Wir fingen an, unsere Kisten voller kapitalistischer Schätze auszuladen.