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Für viele unvorstellbar, für Betty Taube Realität seit der Geburt: Die eigene Mutter wird zu einem anderen Menschen, sobald sie Alkohol trinkt. In ihrer Autobiografie erzählt Betty über ihre Kindheit, die Angst vor der eigenen Mutter und ihre Zeit im Kinderheim. Mit bemerkenswertem Mut enthüllt sie nicht nur die dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit, sondern auch die komplizierte Liebe zu ihrer Mutter. Begleitet von Expert*innen sensibilisiert Betty für eines der größten Probleme unserer Zeit.
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2025
Betty Taube
SAG, DIE BLAUEN FLECKE KOMMEN VOM SPIELEN
Wie der Alkoholismus meiner Mutter meine Kindheit zerstörte
Für all diejenigen, die selber noch nicht laut sein können.
COVER
VORWORT
1 WIR BEKOMMEN DAS HIN
2 ENGEL MA
3 AUS DEM TEICH INS LEBEN
4 UNBESCHWERTE TAGE
5 MAMA WIRD ANDERS
6 WIE AUSGEWECHSELT
7 LEBEN AM LIMIT
8 NACH DEM HOCH KOMMT DER FALL
9 KINDERHEIM
10 RÜCKKEHR NACH HAUSE
11 KIND OHNE HEIM
12 EIN NEUES KINDERHEIM, EINE NEUE WOHNGRUPPE
13 EIN ANFANG UND EIN ENDE
14 MEIN LEBEN DANACH
15 ICH BIN EIN COA
16 ALKOHOL IN UNSERER GESELLSCHAFT
17 DER AUSTAUSCH MIT EINER BETROFFENEN
18 MAN IST NIE ALLEIN
19 KUNTERBUNTES HEUTE
WICHTIGE HILFE
DANKE
IMPRESSUM
>>Der wahre Schmerz entsteht nicht nur durch das, was uns widerfährt, sondern auch durch das, was nie ausgesprochen wird.<<
Was fällt dir ein, wenn du an deine Kindheit zurückdenkst?
Denkst du vielleicht an so etwas wie Geborgenheit, Spielen, Lachen, Freunde, Leichtigkeit, dein Zuhause, an deine Eltern, die immer für dich da waren?
Wenn ja, dann darfst du dich sehr glücklich schätzen. Du hattest etwas, das ich mir mein Leben lang sehnlichst gewünscht habe.
Etwas, was sich Tag für Tag viele kleine Kinderseelen da draußen wünschen.
Es gibt unzählige Tabuthemen, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. Themen, die einfach „unter den Teppich gekehrt“ werden, denn wer spricht schon gerne über das, was ganz tief im Inneren wehtut und alte Wunden aufreißen könnte?
Über Sucht? Über psychische Erkrankungen? Über all das, was sich hinter unzähligen verschlossenen Türen abspielt? Hinter verschlossenen Türen von Kinderzimmern.
Mit diesem Buch öffne ich dir die Tür zu meinem Kinderzimmer.
Eine Tür, die jahrelang von einer alkoholabhängigen Mutter verschlossen und bewacht wurde.
Alkohol kann geliebte Menschen in schreckliche Monster verwandeln. In Monster, die tiefe Wunden, einen Ozean an Problemen und schreckliche Narben hinterlassen. Allein in Deutschland müssen rund 2,65 Millionen Kinder tagtäglich mit solchen Monstern zusammenleben und gegen ihren Schrecken ankämpfen. Das bedeutet: Jedes vierte bis fünfte Kind wächst mit einem sucht- und/oder psychisch kranken Elternteil auf. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Diese Kinder müssen Dinge ertragen, die kein Kind auf dieser Welt jemals erleben sollte. Erlebnisse, die kein Kind unbeschadet überstehen kann. Denn während die kleine Welt um sie herum, Stück für Stück, zerbricht, bleibt keine Zeit, um einfach nur Kind zu sein.
Ich möchte die Gedanken und Gefühle dieser Kinder hörbar machen – damit sie nicht länger übersehen werden. Wenn nur ein einziges Kind durch dieses Buch eine Stimme bekommt und so den Kampf gegen sein Monster gewinnt, nur ein einziger Erwachsener durch meine Geschichte den Mut finden kann, seine eigene Kindheit aufzuarbeiten und zu heilen, dann hat es seinen Zweck erfüllt.
Dieses Buch ist ein Hilferuf.
Ein stellvertretender Hilferuf für alle Kinder da draußen, die noch immer Ähnliches erleben müssen wie das, was du auf den folgenden Seiten lesen wirst. Ich habe all meinen Mut in diese Seiten gepackt, um anderen Mut zu machen. Wenn wir gemeinsam mutig sind, genauer hinsehen, zuhören und handeln, können wir aus einem der größten Tabuthemen unserer Gesellschaft wichtige Prävention machen. Es ist längst überfällig, offen über Alkohol und Sucht zu sprechen und es eben nicht länger „unter den Teppich zu kehren“.
Bevor es losgeht, habe ich noch eine wichtige Bitte an dich: Bitte geh respektvoll mit diesem Buch und seinem Inhalt um. Kinder aus suchtbelasteten Familien brauchen kein Mitleid, sondern Verständnis, Sichtbarkeit und Unterstützung.
Dieses Info-Kästchen wird dir immer mal wieder begegnen. In ihm findest du Definitionen und Beiträge aus Wissenschaft und Praxis rund um das Thema Sucht und Alkohol.
TRIGGERWARNUNG!
Die Inhalte hier können emotional belastend sein. Es kann sein, dass dich dieses Buch an die Grenzen deiner Vorstellungskraft bringt. Aber alles, was du hier lesen wirst, ist keine Fiktion. Es ist die erschütternde Realität. Es sind Ausschnitte aus meiner Kindheit, die ich genau so erleben musste. Und diese Inhalte enthalten Darstellungen von psychischer und physischer Gewalt, Selbstverletzung sowie von suizidalen Gedanken und Handlungen.
Berlin Treptow-Köpenick
Die Wände sind in meiner Lieblingsfarbe Gelb gestrichen, in einer aufwendigen Wischtechnik. In der einen Ecke steht das Bett, über dem ein blaues Moskitonetz hängt. In diesem Netz und auch an den Wänden kleben grünlich schimmernde Leuchtsterne, die sich tagsüber im Licht selbst aufladen und nachts sanft leuchten. Diese kleinen Sterne sind in vielen Kinderzimmern zu finden. Neben dem Bett steht mein Kleiderschrank, auf dem an einigen Stellen süße Tieraufkleber sind.
Meine Mama hat mein Kinderzimmer mit viel Liebe eingerichtet. All meine Kinderzimmer waren bisher immer sehr schön. Sie hat sie regelmäßig umgestaltet, Dekorationen selbst gebastelt und alles sehr liebevoll gestaltet.
Durch die große Fensterfront blickt man in einen typischen Innenhof eines Berliner Plattenbaus. Der lieblos angelegte Holzspielplatz in der Mitte ist eigentlich viel zu klein für die Anzahl der Kinder, die in der Siedlung wohnen. Fast jeden Tag beobachte ich sie von meinem Zimmer aus beim Spielen.
Heute bemerke ich die Kinder auf dem Spielplatz nicht.
Ich öffne das Fenster.
Klettere auf das Fensterbrett.
Mein Name ist Betty Taube.
Ich bin acht Jahre alt – und heute will ich aus dem vierten Stock meines Kinderzimmers springen, um mir das Leben zu nehmen.
Ich kann vor Tränen kaum noch etwas sehen. Mein eigenes Schluchzen ist das Einzige, was ich noch wahrnehme, alles andere ist ausgeblendet.
Ich habe keine Kraft mehr für das alles.
Es war schon immer schlimm, doch mit der Zeit wurde es unerträglich. Ich werde älter und beginne, viele Dinge zu verstehen. Dinge, für die ich früher noch keine Erklärungen hatte und dann einfach so hingenommen habe. Aber ich will das alles nicht mehr.
Ich kann nicht mehr …
Mein Kopf ist völlig leer, obwohl sich darin Tausende Gedanken und Erinnerungen gleichzeitig abspielen. Todesangst – ein Gefühl, das ich schon lange kenne – spüre ich hier, auf diesem Fensterbrett, zum ersten Mal nicht. Ich habe eher davor Angst, wie es sich wohl anfühlen wird. Wird es sehr wehtun?
Ich stehe noch einen kurzen Moment so da.
Nur noch ein einziger, kleiner Schritt – und das alles hat endlich ein Ende. Das Leben, das ich habe, will ich nicht mehr. Alles um mich herum ist still.
Ich werde jetzt springen.
Dann, plötzlich, spüre ich kalte Hände. Sie packen mich von hinten und reißen mich zurück in mein Kinderzimmer. Zurück in mein Leben, das ich doch eigentlich gar nicht mehr will.
Es war ihr meist egal, ob ich weinend oder schreiend in meinem Zimmer saß, aber aus irgendeinem Grund kam sie dieses Mal, um nach mir zu schauen. Sie hat mich noch nie so festgehalten und an sich gedrückt. Ich spüre ihr Herz rasen. Ihre Arme umklammern mich so stark, dass ich kaum noch Luft bekomme – gerade noch genug, um minutenlang zu schreien: „Ich will sterben!“
Mamas Tränen tropfen auf meinen Rücken. Jede einzelne fühlt sich schwer an.
„Nein, Fredchen! Nein! Wir bekommen das hin“, schluchzt sie wieder und wieder.
Worte, die mich für einen Moment aufhalten und mir kurz Luft zum Atmen lassen. Worte, die mir – gegen jede Vernunft – sofort neue Hoffnung schenken.
Meine Mama nennt mich immer Fredchen oder Fred, nur ganz selten Betty, und dann auch nur, wenn ich in ihren Augen wieder einmal „böse“ war.
Wir sitzen eng umschlungen auf dem Boden unter dem offenen Fenster. Jetzt, in diesem Augenblick, spüre ich es: Sie muss mich ja anscheinend doch irgendwie liebhaben. Ich fühle mich kraftlos und erschöpft, liege zusammenkauert in Mamas Armen. Langsam dringt das Lachen der Kinder draußen vom Spielplatz wieder zu mir durch.
Mama steht auf, schließt das Fenster und sagt mit Tränen in den Augen: „Fredchen, bitte, mach so etwas nie wieder! Versprich es mir. Ich kann nicht ohne dich sein. Ich liebe dich über alles! Es tut mir alles so leid!“
Sie lässt mich an diesem Tag nicht mehr aus den Augen.
Am Tag darauf ist alles wieder vergessen, und Mama hat einen Entschluss gefasst …
Meine Mama war schon immer anders. Sie ist eine wahre Schönheit – grüne Kulleraugen, ein blonder Kurzhaarschnitt und perfekte Modelmaße. Ich habe bis heute selten so makellos lange Beine gesehen wie ihre. Als ich ungefähr acht Jahre alt war, wollte ich unbedingt die gleiche Frisur wie sie haben. Das einzige Problem: Ich habe dunkle, lange Locken – und wollte weder auf den Rat der Friseurin noch auf den meiner Mama hören. Beide kämpften damit, keine Träne zu vergießen, als die nette Dame im Salon zur Schere griff. Ich hingegen war glücklich. Glücklich, die gleiche Frisur wie meine wunderschöne Mama zu tragen – und allgemein glücklich über meinen ersten Friseurbesuch. Bisher hatte Mama mir immer nur meine Spitzen geschnitten. Doch schon eine Woche später, als eine Kassiererin im Supermarkt zu ihr sagte: „Das hat ihr Junge schon eingepackt“, fand auch ich meine neue, nicht rückgängig zu machende Frisur plötzlich ziemlich blöd.
Mamas Lippen sehen aus wie gemalt. Man könnte denken, sie hätte sich ihren Lippenrand tätowieren lassen. Perfekt gerade Zähne ohne je eine Zahnspange getragen zu haben – und dazu dieses wunderschöne Lächeln. Auf ihrer rechten Schulter gibt es ein Tattoo mit vier Schmetterlingen. Zwar hat sie Ohrlöcher, aber sie trägt nie Ohrringe. Generell trägt sie keinen Schmuck – bis auf das Schildkrötenarmband, das wir beide seit unserem Türkeiurlaub haben.
Anscheinend finde nicht nur ich Mama besonders schön, sondern auch andere Leute. Früher hat sie nämlich gemodelt. Ich besitze noch einige Fotos von ihr, die ich mir oft anschaue – voller Bewunderung für ihre natürliche, pure Schönheit. Sowohl von außen als auch von innen.
Schaut man sich die Bilder meines Babyalbums an, erkennt man sofort, wem ich ähnlicher sehe: ganz eindeutig meinem Papa. Man sieht auf den ersten Blick, dass ich das gleiche „Monchichi-Gesicht“ habe wie er. Papas Vater kommt aus Nigeria, aber das ist ein Geheimnis und soll eigentlich keiner wissen … ups. Krauses, lockiges Haar, eine breitere Nase und speckige Wangen mit vielen Sommersprossen drauf. Mein Uropa mütterlicherseits hat mich manchmal geärgert: „Geh mal ins Bad und wasch dir die Fliegenkacke aus dem Gesicht.“ Aber er sagte das neckisch, liebevoll – er meinte das nie böse.
Ich mochte meine Sommersprossen ganz lange nicht. Aber meine Omi meinte: „Ein Mädchen ohne Sommersprossen ist wie ein Himmel ohne Sterne.“
Mama war in ihrer Schulzeit die Schülerin mit den guten Noten und verursachte weit weniger Ärger als ihre beiden Geschwister. Sie legt großen Wert darauf, dass auch ich in der Schule gute Leistungen bringe. „Ich wollte immer Hebamme werden und nie etwas anderes“, erzählt sie mir jedes Mal voller Stolz, wenn ich sie nach ihrem Traumberuf frage.
Muss sie an Weihnachten arbeiten oder es geht nicht anders, nimmt sie mich mit zur Arbeit. Das Krankenhaus, in dem sie tätig ist, ist für mich wie ein riesiger Abenteuerspielplatz. Ich darf in der Geburtsbadewanne ein tolles Dinosaurierschaumbad nehmen, habe mein eigenes Zimmer mit einem dieser coolen, verstellbaren Betten, kann neugeborene Babys beobachten – und durfte sogar schon dabei helfen, eins zu baden. Das fand ich ziemlich seltsam und irgendwie auch eklig, weil es noch voller Blut und Käseschmiere war.
Die älteren Frauen von den anderen Stationen freuen sich über meinen Besuch und teilen gerne ihre Pralinen und Süßigkeiten mit mir. Ein weiteres Highlight ist es für mich, mit dem Stethoskop die Babybäuche abzuhören. Der Raum für den Geburtsvorbereitungskurs, mit all den Gymnastikbällen, ist meine ganz private Turnhalle.
Ich liebe diese seltenen Tage bei Mamas Arbeit so sehr. Denn hier ist sie anders. Hier ist sie einfach … ganz normal. Na ja, alle beschreiben sie als sehr „flippig“, aber für mich ist sie hier einfach nur meine Mama. Mit ihrer besonderen Art zieht sie die werdenden Mütter, ihre Kollegen – und mich – gleichermaßen in ihren Bann. Sie liebt ihren Beruf als Hebamme über alles. Und ich habe noch nie etwas anderes gesehen, das ihre Augen so sehr zum Leuchten bringt.
Doch fangen wir von ganz vorne an.
Eberswalde, 23. November 1994, 22:08 Uhr
Da bin ich!
„Ja, das ist die Berliner Luft, Luft, Luft … und nun schnappt Betty Luft, Luft, Luft. Die besten Glückwünsche und alles Liebe und Gute wünschen euch beiden Gaby mit allen Kolleginnen.“ Das steht auf einer der Glückwunschkarten zu meiner Geburt, die heute noch in meinem Babyalbum klebt.
In genau diesem Krankenhaus, in dem ich zur Welt kam, hatte meine Mama übrigens selbst einmal als Hebamme gearbeitet. Meine Geburt verlief super, abgesehen von einem kleinen Nabelbruch meinerseits, an den ich mich natürlich nicht mehr erinnern kann. Mama meinte, ich hätte damals ausgesehen wie ein Frosch. (Ich persönlich finde Frösche cool – also betrachte ich das als eine Art Kompliment.) „Da musst du durch als Lurch, wenn du Frosch werden willst“, ist eine ihrer Lieblingsweisheiten an mich. Ich finde, in diesem Spruch steckt eine Menge Wahrheit. Ich werde diese Weisheit in meinem Leben noch oft brauchen.
Wir wohnen in dem überschaubaren Örtchen Joachimsthal, etwa eine Stunde von Berlin entfernt. Unsere Wohnung liegt ganz oben rechts in einem kleinen Plattenbau, direkt gegenüber vom Bahnhof. Vermutlich stammt unser Wohnblock noch aus DDR-Zeiten. Generell weiß ich ziemlich viel über die DDR, denn alle in meiner Familie – außer mir – sind in ihr aufgewachsen. „Damals zu Ostzeiten …“, so beginnen viele ihrer Geschichten, die ich mit zunehmendem Alter spannender finde. Früher hat es mich null interessiert, ob es damals Bananen zu essen gab oder nicht. Heute beginne ich aus Spaß gerne mal eigene Sätze mit „Damals zu Ostzeiten“ – aber kaum jemand versteht diesen Witz.
Unsere Wohnung ist recht übersichtlich: eine kleine Küche, ein winziges Bad, ein schmaler Flur, ein Wohnzimmer mit Balkon – und das größte Zimmer: mein Kinderzimmer.
Meine Mama hat kein eigenes Zimmer. Sie schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Über meinem Babybett hängen Holzbuchstaben mit meinem Namen. B E T T Y. Meine weiße Bettwäsche ist mit vielen roten Herzen bedruckt. Ich habe ein wirklich tolles Zimmer mit vielen Kuscheltieren und Spielsachen.
Die Bilder in meinem Babyalbum passen gut zu den ersten Erinnerungen, die ich in meinem Leben habe.
Meine erste bewusste Erinnerung habe ich an meine Haustiere, die ich mit ungefähr drei Jahren bekommen habe: zwei Meerschweinchen namens Paul und Paul. Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Mama bei der Namenswahl ihre Finger mit im Spiel hatte, denn wäre ich ein Junge geworden, würde ich heute Paul heißen.
Abends bürste ich Paul und Paul oft mit meiner Babyhaarbürste – und wurde dabei das ein oder andere Mal gebissen. Egal.
Mama bringt mir bei, dass man Tiere beschützen muss und ich sie nur ganz vorsichtig streicheln darf.
Ich bin in einem Waldkindergarten, in dem wir einmal im Monat zusammen im Wald Müll sammeln. Unsere Spielgeräte im Garten bestehen überwiegend aus Weidenholz. Ich spiele dort jedoch nicht gerne, weil an den Weidenruten sehr viele Schnecken kleben. Meine Mama hat einige Zeitungsartikel über unsere Müllsammelaktionen aufgehoben. Auf den Fotos sehe ich entweder superstolz oder supergelangweilt aus. Was ich aber noch genau weiß: Ich musste nach dem Mittagessen immer Rote Bete essen. Seitdem hasse ich Rote Bete. Das sollte jedoch mein einziges „Trauma“ aus dem Kindergarten bleiben. Je älter ich werde, umso mehr liebe ich es, meine Zeit hier zu verbringen.
Viele der Fotos in meinem Babyalbum stammen aus meinem ersten Kindergarten. Daran habe ich allerdings nur wenig Erinnerungen.
In meinem Babyalbum klebt auf den ersten Seiten ein Foto, auf dem meine Mama, mein Papa und ich zu sehen sind. Auf diesem Bild bin ich gerade einmal einen Monat alt – es ist mein erstes Weihnachten. Mama und Papa lächeln sich verliebt an, ich liege bei Papa auf dem Schoß und sehe … nun ja, wie ein Frosch aus. Dieses Foto ist das einzige, das ich je von uns entdeckt habe, auf dem wir zu dritt sind.
An meinen Papa habe ich wenig Erinnerungen aus meiner Kindheit. Die erste spielt sich aber in dieser kleinen Wohnung in Joachimsthal ab. Papa kam vom Fußball nach Hause und hatte blutige Knie. Ich sah ihn nicht oft, und es war immer etwas ganz Besonderes, wenn er bei uns zu Besuch war. Meine Mama holte diese blauen Gelpads aus der Küche und legte sie auf seine zerschundenen Knie. Ich hatte Angst um ihn. Doch er lächelte, gab mir das Gefühl, dass alles in Ordnung sei – und dann habe ich ihn jahrelang nicht mehr gesehen.
Dass auch schon in dieser Zeit schreckliche Dinge passiert sind, werde ich erst viele, viele Jahre später erfahren. Zum Glück fehlen mir die Erinnerungen daran bis heute.
Meine Mama und ich zogen schließlich nach Baden-Württemberg. Ohne Papa. Und ohne Paul und Paul. Auch meine Großeltern sind von nun an 780 Kilometer von uns entfernt.
Ich bin jetzt fast fünf Jahre alt.
Osterhofen
Mama und ich wohnen jetzt in der Kellerwohnung eines großen Hauses. Es ist sehr schön hier. Mein Zimmer ist wirklich groß und wieder sehr liebevoll eingerichtet. Meine Mama hat an der Decke ein paar Äste aufgehängt, die sie je nach Jahreszeit umdekoriert. Generell schmückt sie unsere Wohnung immer passend zur jeweiligen Jahreszeit. Ich habe sogar eine kleine Plastikrutsche in meinem Zimmer stehen. Aus meinem Fenster schaue ich direkt auf eine Pferdekoppel. Draußen, vor unserer Eingangstür, stehen große Pflanzkübel, denn Mama ist es wichtig, dass von außen alles schön aussieht. Ich bin oft draußen und erkunde hier zum ersten Mal das Landleben. Ein paar Häuser weiter gibt es einen kleinen Bauernhof, der meine volle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Hier wohnen zwar nur wenige Kühe, ein Hund und viele Katzen, aber ich spiele am liebsten im Silo.
Mama ist nachts manchmal weg, weil sie arbeiten muss, aber über uns wohnt meine Tagesmutter, bei der ich öfter mal bin. Mit ihren Kindern spiele ich auch sehr oft draußen. Mama nennt sie die „Ökofamilie“, denn sie sind sehr anders als wir. Aber sie sind ganz nett.
Die Straße, an der wir wohnen, ist kaum befahren – eher von unseren Trettraktoren als von richtigen Autos. Ich kann mich auch gut allein beschäftigen und spiele manchmal stundenlang nur für mich. Einmal habe ich auf einem seltsamen Haufen ein paar „Dinosaurierknochen“ gefunden und sie ganz stolz meiner Mama präsentiert. Sie hat allerdings keinen Halt vor der Wahrheit gemacht und mich aufgeklärt, dass es sich dabei lediglich um ein paar Hühnerknochen vom Komposthaufen der Nachbarn handelt. Mama war schon immer sehr ehrlich und direkt zu mir. Für mich gibt es keine Geschichten von „Blümchen und Bienchen“. Erst recht nicht, als es später um sexuelle Aufklärung ging – was wohl mit ihrem Beruf zusammenhängt.
Meine Mama wird komisch
Jetzt wohnen wir also in diesem kleinen Dorf namens Osterhofen. Mama findet nach und nach neue Freunde, und wir gehen ab und zu auf Feste. In der Gegend hier feiert man keinen Fasching, so wie ich es aus meinem alten Kindergarten kenne, sondern Fasnet – das ist zwar so ähnlich wie Fasching, aber alles etwas gruseliger. Es gibt viele Fasnetsvereine, bei denen sich alle als Hexen oder andere schaurige Wesen verkleiden. Zur Fasnet herrscht immer der Ausnahmezustand – acht Wochen lang wird gefeiert und „gesprungen“. Springen bedeutet, dass sämtliche Vereine an den Wochenenden einen Fasnetsumzug in der Umgebung veranstalten. Meine Mama ist davon so begeistert, dass sie uns beide im Fasnetsverein „Waldhex“ angemeldet hat. Ich verstehe den Sinn hinter der ganzen Sache nicht so wirklich, aber es klingt erst mal nach einer Menge Spaß.
Jede Hexe braucht dafür ein passendes Outfit, deshalb gehen Mama und ich auf eine besondere Shoppingtour. Ich freue mich jedes Mal, wenn Mama mit mir in die Stadt fährt und Erledigungen macht. Das Gefühl, unter Leuten zu sein, ist eine angenehme Abwechslung. Sonst bin ich mit Mama ja immer allein zu Hause, was manchmal echt langweilig sein kann.
Wir sind angekommen. Voller Vorfreude stehen wir beide vor einem Laden, der tatsächlich aussieht wie ein kleines Hexenhaus. Er soll die Anlaufstelle für eine richtige Hexengrundausstattung sein.
„Bist du bereit für deinen ersten Hexenbesen?“, kichert Mama.
„Jaaaaaaa“, platzt es vor lauter Aufregung aus mir heraus.
Sie kramt unsere Einkaufsliste aus der Tasche, und wir betreten das kleine Hexenhäuschen. Drinnen ist alles sehr dunkel und vollgestopft mit allem möglichen Kram und sehr viel Kleidung. Ich bleibe kurz wie angewurzelt stehen, denn so viele verrückte Dinge habe ich noch nirgends zuvor gesehen. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Es riecht nach Holz und auch ein bisschen nach diesen Räucherstäbchen, die Mama zu Hause oft benutzt.
Mama drückt dem Verkäufer unsere Liste in die Hand. Er fängt an, hin- und herzulaufen und alle Dinge für uns zusammenzusammeln. Er wirkt irgendwie gelangweilt und lächelt nie. Mama und ich dafür umso mehr, weil wir unsere ersten Hexenteile bekommen. Für uns gibt es tolle lila-schwarze Kleider mit türkisfarbenen Schürzen und Ringelsocken in Lila-Schwarz. An den Wänden und an der Decke sehe ich die vielen Hexenbesen hängen, von denen Mama und ich uns einen passenden aussuchen müssen. Als Erstes bin ich an der Reihe. Der Mann streckt mir nach und nach ein paar Besen entgegen. Mama und er warten gespannt auf meine Reaktion. Doch erst beim vierten Besen habe ich meinen ganz persönlichen Harry Potter-Moment.
„Das ist er!“, sage ich, während ich ihn superstolz in meinen Händen halte. Ich will ihn gar nicht mehr loslassen. Mit ihm werde ich auch bald meinen „Besenführerschein" im Verein machen, um auch ganz offiziell eine Hexe zu sein.
Mamas Besen fällt etwas größer aus, denn schließlich hat sie ja einen Erwachsenenbesen und ich einen Kinderbesen. Ist ja wohl klar. Es gibt aber noch einen Unterschied. Zu ihrem Kostüm gehört eine sehr teure, sehr schwere aus Holz handgeschnitzte Hexenmaske. Sie hat zwei Löcher, durch die Mama schauen kann, wenn sie diese trägt. Dazu eine große krumme Nase und ein paar Leberflecke. Zwei riesige Zähne ragen aus dem Mund, und an den Seiten baumeln zwei lange Zöpfe hinunter. Die Maske wurde extra für sie angefertigt, und deshalb darf ich sie nur selten anfassen, damit sie auch ja nicht kaputtgeht. Ich mag sie eh nicht, sie ist viel zu schwer, und die Zöpfe, die daran hängen, stinken. Ich flechte mir selbst zwei Zöpfe und werde eine Art Kopftuch tragen.
Wir sind jetzt zwei voll ausgestattete Hexen und bereit für die kommenden Fasnetwochenenden.
Es ist so weit. Unser erster Fasnetsumzug steht an. Unter unserer Kleidung tragen wir mehrere Strumpfhosen und Pullover, denn draußen ist es sehr kalt. Fasnet startet im Januar und endet im März am Aschermittwoch.
Ausgestattet mit Handschuhen und Tee in Thermoskannen geht’s endlich los. Ich freue mich riesig, die anderen Kinder des Vereins zu sehen, mit ihnen zu spielen und einen tollen Tag zu verbringen. Ich verstehe mich mit allen sehr gut und werde auch von allen herzlich aufgenommen.
Wir springen durch die Straßen. Am Rand stehen sehr viele Leute, die uns zusehen und zurufen. Die Aufgabe der erwachsenen Hexen ist es, den Leuten etwas Angst einzujagen, indem sie komische Geräusche machen. Man rollt dabei so komisch die Zungen und macht ein langes Rrrrrrrrrrrrr. Mama und ich haben das schon einige Male geübt und sind dabei jedes Mal in Lachen ausgebrochen. Jeder Verein hat seine eigenen Methoden, den Zuschauern Angst und Schrecken einzujagen. Bei uns werden Leute aus Spaß entführt und für einige Meter mitgeschleppt oder ein bisschen mit unseren Hexenbesen geärgert. Die Aufgabe von uns Kindern ist es, Streiche zu spielen. Wir verknoten die Schnürsenkel der Zuschauer, klauen Mützen (die wir danach natürlich wieder zurückgeben) oder verteilen Süßigkeiten. So ein Umzug kann gerne mal zwischen ein und drei Stunden dauern.
Ist er dann endlich geschafft, versammeln sich alle zu einer großen Party. Man kann sich das wie ein Dorffest vorstellen. Es gibt was zu essen und zu trinken und Musik. Ehrlicherweise gefällt mir dieser Teil der Fasnet eher weniger. Mama wird da immer so komisch. Erst hat sie megagute Laune, trinkt und lacht, und dann irgendwann – von jetzt auf gleich – wirkt sie so anders und irgendwie neben der Spur. Mir fällt generell auf, dass die Erwachsenen auf solchen Festen irgendwann immer seltsam werden. Entweder erzählen sie alles mehrmals, sind laut, reden merkwürdig und machen unlustige Witze oder kneifen mich in die Wange. Sie nerven. Die beste Ablenkung ist dann, mit den anderen Kindern weiterzuspielen.
So sehen von jetzt an unsere nächsten Wochenenden aus. Einmal hat Mama bei einer solchen Party unseren Haustürschlüssel verloren und daraufhin die Fensterscheibe meines Kinderzimmers mit einem Stein eingeschlagen. Die Scheibe war für einige Wochen kaputt, bevor sie repariert wurde, und ich hatte in der Zeit ständig Angst, dass nachts jemand zu mir ins Zimmer kommt.
Ist die Fasnetzeit vorbei und es schon etwas wärmer draußen, versucht Mama, mir das Fahrradfahren beizubringen – aber es will nicht so recht klappen. Wie oft sie die Stützräder an- und abgeschraubt hat, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Sie gibt jedoch nicht auf und probiert es immer wieder. Oben an der Straße, wo ich sonst immer mit den anderen Kindern spiele, rennt sie stundenlang neben mir und meinem Fahrrad her. Sie hält mich fest, dass ich nicht umkippe, und ich versuche, die Anweisungen von „Gleichgewicht halten“ zu verstehen. Die anderen Kinder stehen manchmal am Rand und feuern uns an. Aber was soll ich euch sagen? Es will einfach nicht klappen, und letztendlich schraubt Mama die Stützräder wieder dran. Für mich macht es keinen Unterschied, ob die Dinger dran sind oder nicht – Hauptsache, ich kann damit auf dem Bauernhof nebenan durch den Silo fahren.
Paulinchen und die Spatzen
„Wenn wir dort sind, habe ich eine ganz tolle Überraschung für dich.“ Mama strahlt über beide Ohren.
Heute ist ein aufregender Tag, denn ich darf wieder mit zu Mamas neuer Arbeit. Das Krankenhaus, in dem sie jetzt angestellt ist, hat im Keller einen riesigen Raum, gefüllt mit Gymnastikbällen und bunten Sportmatten. Die werdenden Mamis mit ihren kugelrunden Bäuchen stehen schon davor und warten auf ihre Hebamme – meine Mama. Ich verstecke mich hinter ihr und beobachte alles gespannt.
Eine der schwangeren Frauen hält einen kleinen Karton auf dem Arm, kommt direkt zu uns und bleibt vor mir stehen.
„Schau mal rein“, sagt Mama und zwinkert mir zu.
Behutsam öffnet die schwangere Frau den Karton. Ich beuge mich darüber und sehe vorsichtig hinein. Genauso vorsichtig schauen mich zwei kleine Knopfaugen an. Eine Babykatze miaut mir entgegen. Sie hat ein graues, flauschiges Fell mit schwarzen Streifen und sieht unfassbar niedlich aus.
„Wenn du magst, wohnt sie ab heute bei uns“, sagt Mama.
Mein „Ja“ hätte nicht lauter sein können. Es ist wohl der schönste Tag meines Lebens. Mama ist einfach die Beste, und Paulinchen, so soll die kleine Katze ab sofort heißen, ist ab sofort unser neues Familienmitglied.
Aktuell wohnen bei Mama und mir auch zwei Wasserschildkröten. Ratet mal, wie die beiden heißen? Richtig: Paul und Paul.
Paulinchen, meine Katze, ist aber was anderes. Mit ihr kann man richtig spielen und vor allem viel kuscheln. Sie ist meine beste Freundin. Wir erkunden draußen immer gemeinsam die Umgebung. Manchmal läuft Paulinchen mir wie ein kleiner Hund hinterher. Wenn sie nicht bei mir ist, jagt sie wahrscheinlich kleine Vögel. Letztens habe ich einen aus ihrem Maul gerettet.
„Mama, Mama, Mama, komm schnell!“, schreie ich durchs offene Küchenfenster.
Wenige Sekunden später steht Mama panisch im Garten vor mir.
Ich halte meine Hände schützend über das Gras, sodass Paulinchen nicht drankommen kann.
„Was ist passiert, Fredchen?“, versucht Mama die Lage zu checken.
„Sie wollte den Vogel töten“, antworte ich mit Tränen in den Augen.
„Ach, Fredchen.“ Mama wirkt etwas erleichtert. „Katzen jagen und fressen nun mal Vögel.“
Sie erklärt mir alles ganz sanft, um mir zu zeigen, dass sie meine Traurigkeit zwar ernst nimmt, aber ich auch lernen muss, dass das etwas völlig Normales ist und noch öfter vorkommen wird, wenn man eine Katze als beste Freundin hat.
„Pass hier kurz auf. Ich komme sofort wieder“, sagt Mama entschlossen und verschwindet um die Ecke.
Während ich versuche, dem kleinen Spatz gut zuzureden, kommt sie nach wenigen Minuten wieder. Sie hält einen leeren Schuhkarton, ausgestopft mit Papier von der Küchenrolle, in den Händen und startet unsere erste Vogelrettungsaktion.
Sie legt den Spatz, der leider etwas mitgenommen aussieht und anscheinend auch einige Verletzungen hat, vorsichtig in den Karton.
„Dann retten wir mal den kleinen Kerl. Komm mit!“, sagt Mama entschlossen. Ich trotte ihr hinterher. In der Küche stellt sie den Karton auf den Tisch. Nach und nach sammelt sie ein paar Dinge zusammen und legt sie neben den Karton. Ich sitze auf der Bank und schaue gespannt zu, um herauszufinden, was sie mit all dem Zeug vorhat.
Sie packt eine kleine grüne Spritze aus, die ich von ihrer Arbeit kenne und mit denen ich aus meinem Arztkoffer auch gerne spiele. In einer Schüssel mischt sie eine Flüssigkeit zusammen, die sie dann mit der kleinen Spritze aufzieht.
Ich bin ganz erstaunt. Ich habe bisher nicht gewusst, dass Mama anscheinend Vögel operieren kann.
„Was machst du da?“, frage ich.
„Wir päppeln den kleinen Kerl auf. Wir füttern ihn, damit er wieder zu Kräften kommt. Ich kann dir nicht versprechen, dass das funktioniert, aber wir geben unser Bestes.“
„Kann er dann auch wieder fliegen?“, frage ich gespannt.
„Das dann hoffentlich auch“, antwortet sie.
Ich beobachte, wie sie die kleine Spritze ganz vorsichtig in den kleinen Schnabel des Vogels steckt und ihn so füttert.
„Darf ich auch mal?“, frage ich.
„Ja, klar. Schau, du musst das sehr behutsam machen und darfst nicht zu doll drücken“, erklärt sie.
Das macht mir Spaß. Ich bin so froh, dass Mama und ich dem Spatz helfen. Hoffentlich ist er bald wieder gesund.
Obwohl wir uns in den nächsten Tagen gut um den kleinen Vogel kümmern, stirbt er nach einiger Zeit. Ich bin zwar traurig, aber Mama hat mir in den letzten Tagen immer wieder erzählt, dass das in der Tierwelt normal ist und Tiere eben andere Tiere fressen. Genau wie die toten Maulwürfe und Mäuse, die manchmal vor unserer Haustür liegen, stehen auch Vögel auf Paulinchens Speiseplan.
Warum kriegt sie überhaupt Katzenfutter, wenn sie doch andere Tiere frisst? Aber dafür hat Mama ebenfalls eine Erklärung. Ich war schon immer sehr neugierig. Mama muss täglich etliche Warum-Fragen von mir beantworten.
Obwohl ich den Speiseplan meiner Katze so langsam verstanden habe, sollte es nicht unsere letzte Vogelrettungsaktion bleiben. Regelmäßig bringe ich verletzte Vögel mit heim. Mama und ich haben noch ein paar weitere Male versucht, das ein oder andere Vogelleben zu retten. Ich würde uns jetzt allerdings nicht als Auffangstation empfehlen, denn ich kann mich an keinen Vogel erinnern, der es je lebend aus dem Schuhkarton wieder rausgeschafft hat. Mama und ich beerdigen jeden unserer Patienten im Garten.
Wenige Wochen nachdem Paulinchen bei uns eingezogen ist, kommt Mama von der Arbeit nach Hause und begrüßt mich gar nicht so fröhlich wie sonst. Sie nimmt meine Hand und schaut mir traurig ins Gesicht.
„Ich muss dir etwas sagen“, seufzt sie und macht eine kurze Pause. „Paulinchen … ich habe sie oben an der Straße gefunden. Ein Auto hat sie überfahren.“
„Ist sie tot?“, frage ich.
„Ja“, antwortet Mama.
Tränen strömen mir übers Gesicht. Mama nimmt mich in den Arm, hält mich fest, streichelt mir sanft über den Rücken und versucht, tröstende Worte zu finden. Hand in Hand laufen wir gemeinsam zur vermeintlichen Unfallstelle. Ich sehe Paulinchen dort im hohen Gras liegen und verstehe die Welt nicht mehr. Es schaut aus, als würde sie da nur liegen und schlafen. Ich werfe noch einmal einen kurzen Blick auf sie, sehe ihre offenen Augen und drehe mich wieder weg, um bei Mama Trost zu finden.
„Sie hatte ein schönes Katzenleben bei uns“, sagt sie. „Manchmal passieren solche Dinge, leider, auch wenn sie sehr wehtun.“
Aber Paulinchen war doch eben erst bei uns eingezogen! Hand in Hand gehen wir zurück zur Wohnung. Mama holt eine Schaufel aus der Garage, und wir suchen gemeinsam im Garten einen passenden Platz für ein Grab aus. Wir beerdigen Paulinchen.
Meine Traurigkeit geht langsam vorbei. Mama hat das große Talent, mich recht schnell zu trösten und aufzumuntern. Damit wir unsere kleine Katze nicht vergessen, pflanzt sie regelmäßig schöne Blumen auf ihr Grab. Wenn ich draußen spiele, dann pflücke ich jedes Mal einen kleinen Blumenstrauß für Mama und einen für das Grab von Paulinchen.
So langsam habe ich mich in der neuen Wohnung und Umgebung eingelebt. Das Einzige, wovor ich neuerdings Angst habe, ist vor dem Heizofen, der in der Küche steht. Wenn man von oben in den Schlitz des Gitters guckt, brennt da ständig eine kleine, blaue Flamme.
Mama muss jetzt öfter Nachtschichten übernehmen, und deshalb üben wir gerade, dass ich nachts allein zu Hause bleiben kann. Es ist gruselig, wenn sie nicht da ist, so still und dunkel. Ich stehe alle paar Minuten auf und gehe rüber in die Küche zum Ofen. Ich schaue, ob nur die kleine Flamme brennt oder die ganze Küche. Ich sehe die Flamme, bekomme panische Angst und fange fürchterlich an zu weinen. An meinem Bett steht aber das Babyfon. Ich nehme es in die Hand und rufe nach meiner Tagesmutter. Sie wohnt ja praktischerweise über uns. Kurz darauf erscheint sie, beruhigt mich, streichelt mir ein paarmal über die Stirn. Dann schlafe ich endlich ein, bis Mama morgen früh von der Arbeit heimkehrt. Mit der Zeit wird es jedoch mit mir und dem Ofen immer besser. Mama und meine Tagesmutter sind sehr stolz auf mich, wenn ich es schaffe, eine Nacht nicht übers Babyfon zu rufen.
Haisterkirch
Wir bleiben nicht lange in Osterhofen. Die Umgebung ist zwar schön, aber die Wohnung leider alles andere als das. An einigen Wänden schimmelt es, und dadurch, dass es eine Kellerwohnung ist, fehlt jegliche Gemütlichkeit. Also ziehen wir in den nächsten Ort, in eine schöne Wohnung eines Hauses, in dem dieses Mal eine Familie unter uns wohnt. Es ist eine tolle Wohnung. Haisterkirch, Holderweg 2. Mama hat sogar endlich ihr eigenes Schlafzimmer. Allgemein sind alle Zimmer sehr groß, und es gibt hier auch keinen Ofen mehr, vor dem ich Angst haben muss.
Mittlerweile gehe ich auch wieder in einen richtigen Kindergarten. Hier gibt es viele tolle Spielsachen. Wir basteln und lernen sehr viel. Ich habe schon einige Freundschaften geschlossen. Am liebsten klettere ich auf dem Hof auf die Bäume und falle von ihnen herunter, oder ich fahre mit den coolen Kettcars herum. Natürlich versuche ich, den Parcours schneller zu fahren als die Jungs.
Direkt neben dem Kindergarten ist ein Tennisplatz, auf dem meine Mama und ich sehr oft sind, denn hier hat sie uns im Tennisverein angemeldet. Mama spielt gerne Tennis. Ich für meinen Teil bin nur sehr kurz dort angemeldet, weil alle schnell gemerkt haben, dass ich mehr dafür zu begeistern bin, in den umgrenzenden Büschen die verloren gegangene Tennisbälle zu suchen. So spart meine Mama auch einiges an Geld, weil sie keinen verzweifelten Tennislehrer mehr für mich zu bezahlen braucht. Im Tennisverein sehe ich sie recht wenig, denn die Kinder bleiben meist unter sich und die Eltern auch. Ich treffe sie lediglich zum Essen, wenn ich ein Eis will, ein Pflaster für mein aufgeschürftes Knie benötige, einen Wackelzahn verloren habe oder wenn sie mich später auf einer Bank im Vereinsheim zudeckt, weil die Party noch in vollem Gange ist und sie nicht nach Hause will. Ich verbinde die Zeit im Tennisverein mit Sommer, warmen Tagen, viel Eis, Verstecken in den Maisfeldern und wenig Sorgen.
Doch das wird sich bald ändern.
Offiziell ein Schulkind
Mama und ich sind in der nächstgrößeren Stadt unterwegs, denn ich brauche ein Outfit für meine Einschulung. Irgendwie ist dieser Tag besonders. Mama hat gute Laune, und es geht mal nur um mich. Ich darf mir sogar selbst aussuchen, welche Klamotten mir gefallen, und das durfte ich bisher noch nie. Ich ziehe eigentlich das an, was Mama mir rauslegt. Am liebsten habe ich entweder mein König der Löwen- oder Käpt´n Blaubär-Outfit getragen, aber so langsam bin ich aus dem Alter raus. Ich entscheide mich für eine lilafarbene coole Lederjacke und eine Jeanshose mit Schlag, auf der Blumen drauf sind. Leider darf ich alles erst nächste Woche zu meiner Einschulung tragen. Ich kann es kaum abwarten. Ich habe keine Lust mehr auf den Kindergarten und will endlich ein richtiges Schulkind sein.
Endlich ist der große Tag gekommen, dem ich so lange entgegengefiebert habe. Und ich darf mein neues Outfit tragen. Meine Tante Mary aus Ravensburg ist extra angereist, um mit uns diesen besonderen Tag zu feiern. Ich liebe es, wenn sie bei uns ist oder wir sie besuchen. Sie ist die Einzige aus unserer Familie, die in unserer Nähe wohnt. Auch ist es entspannend, wenn mal jemand anderes da ist, der sich mit Mama unterhält.
Zu dritt laufen wir das erste Mal den Weg zu meiner Schule. Ich könnte nicht stolzer und aufgeregter sein. Aber am wertvollsten ist für mich, dass ich gemeinsam mit Mama und meiner Tante etwas erlebe – das kommt nämlich sehr, sehr selten vor. Ganz nebenbei genieße ich es auch, im Mittelpunkt zu stehen. Es ist ungewohnt, aber fühlt sich richtig gut an.
Auch heute schaue ich mir noch gerne die Bilder von diesem Tag an.
Auf dem Einschulungsprogramm steht zunächst ein kleiner Gottesdienst in der Kirche gegenüber unserer Schule, bei dem ich auf dem Xylofon spielen darf. Religion langweilt mich meistens, und ich kann nicht viel damit anfangen. Das haben schon die Erzieher und Erzieherinnen im Kindergarten gemerkt und mir deshalb immer andere Aufgaben gegeben, wenn gebetet wurde oder man uns etwas aus der Bibel erzählte. So habe ich nicht gestört und war auf eine andere Art beschäftigt.
In dieser Region in Baden-Württemberg sind alle sehr religiös. Das mit der Religion ist aber ganz neu für mich. Mama glaubt nicht an einen Gott und hat mir kaum was über Religion erzählt. Wir sind klassische Atheisten. Ich habe allerdings schnell herausgefunden, meine Vorzüge daraus zu ziehen. Während alle beten, mache ich ein Nickerchen, und beim Sankt-Martins-Tag esse ich besonders viele Martinsmänner (diese kleinen, süßen Hefebrote in Männchenform).
Wir schauen gemeinsam meinen zukünftigen Klassenraum an, lernen meine Klassenlehrerin kennen und machen uns wieder auf den Weg nach Hause. Dort darf ich auch meine Schultüte auspacken. Am Abend fahren wir noch zu dritt in die Therme.
„Mama! Mama! Schau mal!“, schreie ich sie schon fast an.
Ich schwimme vor ihr im Kreis, und sie beobachtet mich voller Stolz. An diesem Abend bin ich das erste Mal ohne Schwimmflügel und mit richtigen Froschbewegungen geschwommen.
Das war der perfekte Tag.
Jetzt bin ich also offiziell ein Schulkind. Ohne es zu wissen, wird sich so einiges verändern. Ich bin mehr und mehr auf mich allein gestellt und werde von Tag zu Tag selbstständiger. Morgens mache ich mich ohne Mama fertig und laufe zur Schule. Ob ich immer pünktlich zu Schulbeginn ankomme, kann ich nicht wirklich sagen – ich lasse mich gerne auf dem Schulweg von allem Möglichen ablenken. Ich rette entweder Katzen von Bäumen oder füttere ein paar Pferde auf der Koppel, weil sie ja schließlich auch frühstücken müssen.
Wenn ich dann in der Schule ankomme, liebe ich es, dort zu sein. Es macht mir viel Spaß, neue Buchstaben zu lernen und mit Kathrin auf dem Pausenhof zu spielen. Kathrin geht in meine Klasse und ist schon im Kindergarten meine beste Freundin geworden. Übrigens hat sie mir, ganz nebenbei und unabsichtlich, innerhalb weniger Minuten das Fahrradfahren beigebracht. Wir spielten an der Straße vor dem Tennisverein, als sie plötzlich keine Lust mehr hatte, weiter auf ihrem Rad zu fahren.
„Fahr du das Rad zurück“, sagte sie.
„Ich kann nicht Rad fahren“, antwortete ich peinlich berührt.
Doch anstatt mich auszulachen, schaute sie mich mit ihren unfassbar schönen blauen Augen an und meinte: „Probier es einfach. Du schaffst das!“
Also stieg ich auf ihr Fahrrad und fuhr los.
Plötzlich konnte ich von jetzt auf gleich Fahrrad fahren.
Ich habe gefühlt stundenlang nichts anderes gemacht, als diese Straße rauf- und runterzufahren. Irgendwann wurde es Kathrin zu langweilig, mir dabei zuzusehen, und ging zurück zum Tennisplatz.
„Wo ist Betty?“, fragte meine Mama sie.
„Die fährt Fahrrad“, erwiderte Kathrin.
Ich werde diesen Moment nie vergessen, wie Mama in ihrem schwarzen Lieblingssommerkleid mit Blümchen auf die Straße gerannt kam, während ich ihr auf dem Fahrrad ohne Stützräder entgegenfuhr. Mit Freudentränen in den Augen nahm sie mich fest in den Arm. Als Belohnung gab es natürlich meine absolute Lieblingsbelohnung – Eis.
Kathrin bedeutet mir sehr viel. Neben dem Fahrradfahren habe ich noch mehr von ihr gelernt: dass man nicht neidisch zu sein braucht und es Spaß macht, Dinge mit anderen zu teilen. Sie ist mein Zufluchtsort und mein absoluter Lieblingsmensch. Ich klingele mindestens einmal am Tag bei ihr und versuche, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Wir malen mit Window Color, tauschen Diddl-Blätter oder fahren mit den Rädern durch die Gegend. Am liebsten spielen wir draußen. Am Bach bauen wir kleine Staudämme oder verstecken uns im Stroh vor den Bauern. Ihre Eltern sind sehr lieb zu mir. Ihren großen Bruder sehe ich kaum, aber er ist auch schon ein Teenager und will mit uns wahrscheinlich nicht viel zu tun haben. Ich bin mittlerweile lieber bei Kathrin als bei mir zu Hause, denn bei ihr ist es irgendwie schöner, und meine Mama hat immer weniger Zeit für mich.
Mama hat sich in letzter Zeit verändert, und durch Kathrins Eltern fällt mir auf, dass sie irgendwie komisch ist.
Haushaltspflichten auf Zehenspitzen
Mama ist anders geworden. Sie lacht nicht mehr so viel wie früher und ist meistens nur noch schlecht gelaunt. Sonst bekomme ich nicht viel von ihr mit, und ich erledige meinen Alltag mittlerweile fast komplett allein. Tagsüber schläft Mama, wenn ich aus der Schule heimkehre. Dann mache ich alles so leise, wie es nur möglich ist. Ich schleiche die ganze Zeit auf Zehenspitzen durch die Wohnung, bewege, öffne und schließe alles in Zeitlupe, um bloß keine Geräusche zu verursachen. Zuerst mache ich mir in der Küche eine Schüssel Cornflakes. Danach gehe ich in mein Zimmer und erledige meine Hausaufgaben. Ich bin recht gut in der Schule, erledige auch sehr gerne meine Hausaufgaben, oft mehr, als uns aufgegeben wurde. Zurzeit bekommen wir Buchstabenübungsblätter, auf denen ich die verschiedenen Buchstaben nachschreiben muss. Sind meine Zeilen voll, fülle ich noch das restliche Arbeitsblatt an den Rändern und auf der Rückseite mit den jeweiligen Buchstaben. Meine Lehrerin hat mich dafür schon ein paarmal gelobt und anerkennende Worte in mein Hausaufgabenheft geschrieben. Mama ist das sehr wichtig.
Sind die Hausaufgaben erledigt und ist der Schulranzen für den nächsten Tag gepackt, würde ich gerne rausgehen und draußen spielen. Ohne Mama aber vorher zu fragen, darf ich das nicht. Deshalb muss ich mich die nächsten Stunden leise in meinem Zimmer beschäftigen. Es ist schon ein paarmal passiert, dass ich zu laut war und Mama dadurch wach geworden ist. Dann gab es riesigen Ärger von ihr – und das will ich möglichst vermeiden. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Reh, das leise durch den Wald schleicht, um nicht vom bösen Wolf entdeckt zu werden. Wenn Mama dann irgendwann endlich wach ist, streiten wir uns in letzter Zeit immer öfter. Sie gibt mir irgendwelche komischen Aufgaben, die ich nicht machen möchte. Manchmal muss ich zum Beispiel mit meinem Kinderstuhl zum Zigarettenautomaten gehen und ihr neue Zigaretten holen. Den Stuhl brauche ich, weil ich sonst nicht an den Schlitz komme, um das Geld in den Automaten einzuwerfen. Ich mache diese Aufgabe nicht gerne. Ich habe auch noch nie ein anderes Kind gesehen, das so etwas tun muss. Einmal haben mich Spaziergänger dabei beobachtet und mich daraufhin angesprochen. „Wo ist denn deine Mama?“ Ich habe ihnen nicht geantwortet. In diesem Moment habe ich mich sehr geschämt.
Deshalb lasse ich Mama so lange wie möglich schlafen, damit ich meine Ruhe habe. Auch wenn ich dann nicht rauskann zum Spielen.
Hin und wieder bekomme ich von ihr aber auch eine Uhrzeit, zu der ich sie abends wecken muss. Sie zu wecken, ist wirklich keine leichte Aufgabe. Dass ich morgens so meine Schwierigkeiten habe, aus dem Bett zu kommen, und ein Morgenmuffel bin, habe ich wohl eindeutig von ihr. In ihrem Fall ist sie aber ein Abendmuffel.
Meist brauche ich ein paar Versuche, um sie wach zu kriegen. Schließlich steht sie auf und macht sich für ihre Nachtschicht im Krankenhaus fertig. Sie fragt mich beiläufig, wie es in der Schule war, und dann darf ich vor dem Fernseher meine Super-RTL-Serien schauen, während sie sich im Badezimmer fertig macht und ihre Sachen für die Arbeit zusammenpackt.
Sie sieht immer sehr schön aus und duftet nach einem tollen Parfum, wenn sie aus dem Badezimmer kommt.
„Ich hab dich lieb, Fredchen. Schlaf später gut, und ruf an, wenn was ist“, sagt sie und gibt mir noch einen Kuss, bevor sie zur Haustür rausgeht und zur Arbeit fährt.
Ich kenne ihre Nummer in- und auswendig, und wir haben lange geübt, dass ich nachts allein sein kann. Ich habe auch fast keine Angst mehr. Wenn der große Zeiger der Uhr auf der Zwölf und der kleine Zeiger auf der Sieben steht, muss ich ins Bett.
Am liebsten habe ich aber die Abende, an denen sie nicht zur Arbeit muss. Da darf ich dann etwas länger wach bleiben. Am Wochenende, wenn keine Schule ist, machen wir oft tolle Fernsehabende.
Muss Mama aber doch arbeiten und kehrt früh am Morgen von der Arbeit heim, weckt sie mich immer sehr liebevoll. Sie ist morgens viel entspannter, aber auch sehr müde von ihrer Nachtschicht. Ich mache mich alleine fertig, aber in der Zwischenzeit schmiert sie meine Schulbrote – die ich später an die Schweine verfüttern werde.
Abenteuer auf dem Nachhauseweg
Wenn die Schule aus ist, werde ich zu einem kleinen Bilbo Beutlin, der sich auf Abenteuer begibt. Für den Heimweg von ungefähr einem Kilometer brauche ich Stunden – zumindest fühlt es sich so an. Zu Hause wartet eh niemand auf mich, da Mama ja tagsüber meist schläft.
Mein erster Stopp ist der kleine Bach neben der Schule. Natürlich gibt es eine Brücke, aber die benutze ich nur selten – was mir im Winter oft zum Verhängnis wird. Fast täglich muss ich mit nasser und eingefrorener Hose den kompletten Weg nach Hause stapfen. Bekommt Mama das mit, ist Ärger vorprogrammiert.
In unserem beschaulichen Ort gibt es nicht viel außer diesem Bach, dem Friedhof mit der Kirche, Einfamilienhäuser und Bauernhöfe. Meine Liebe zu Tieren ist hier noch mal um einiges gewachsen. Tiere spielen in meinem Leben eine besondere Rolle. Oft fühle ich mich ihnen mehr verbunden als Menschen. Tiere stellen keine Fragen, und man kann sich mit ihnen auch nicht wirklich streiten. Ich habe ein großes Wissen über die Tierwelt und kann mich stundenlang an Tierdokumentationen und Tierbüchern erfreuen.
Nachdem ich das Bächlein also irgendwie überquert habe, klappere ich alle Tiere ab, die im Dorf so wohnen. Eigentlich sind sie fast so etwas wie meine Freunde geworden – zumindest von meiner Seite aus. Eine meiner Lieblingsanlaufstellen ist der Hof mit den fünf Schweinen. Auch sie freuen sich jedes Mal, mich zu sehen, und fangen laut an zu grunzen, wenn ich sie begrüße. Sie kommen nämlich fast jeden Tag in den Genuss meiner Pausenbrote. Meine Käse- und Wurstbrote esse ich nie auf. Am Anfang, weil sie mir nicht geschmeckt haben, und mittlerweile, um meinen tierischen Freunden eine kleine Freude zu bereiten. Zwei mickrige Brote für fünf Schweine – trotzdem versuche ich, darauf zu achten, dass jeder etwas kriegt. Während sie fressen, erzähle ich ihnen, wie mein Schultag so war. Ich streichle sie kurz, und dann geht es weiter zum Kuhstall. Manchmal muss ich hier frische Milch für Mama holen. Ich finde so richtig frische und noch warme Kuhmilch extrem eklig. Oben in der Kanne schwimmt eine richtige Fettschicht, und die Milch stinkt. Mama liebt sie trotzdem. Milch für sie zu holen, ist eine der Aufgaben, die ich gerne und vor allem tausendmal lieber mache, als am Automaten Zigaretten zu ziehen.
Ich liebe diese Bauernhöfe. Sie sind mein ganz persönlicher Abenteuerspielplatz. Ich streichle alle Tiere in Reichweite, egal ob Hunde, Katzen, Kühe oder Pferde. Die Bauern kennen mich schon und haben mich noch nie verscheucht.
Heute ist ein besonderer Bauernhoftag, denn es gibt wieder neue Babykatzen. Einer der Bauern zeigt sie mir, weil er weiß, wie sehr ich mich darüber freue.
„Möchtest du eine der kleinen Katzen haben?“, fragt er.
„Ja“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Ich muss aber erst meine Mama fragen.“
Ich renne so schnell ich nur kann nach Hause, werfe meinen Schulranzen in die Ecke und schleiche mich in ihr Schlafzimmer. Sie schläft.
„Mama, darf ich eine Babykatze haben?“, frage ich und stupse sie vorsichtig an.
Keine Reaktion. Ich stupse sie erneut.
Ein verschlafenes „Hm“ lässt sich erahnen. Ich werte das ganz eindeutig als ein „Ja“.
Ich renne zurück zum Bauernhof, suche mir eine kleine Katze aus und trage sie behutsam in meinen Händen in ihr neues Zuhause.
Messerstiche und Todesangst
Mama ist noch immer nicht wach. Ich lasse sie weiterschlafen und spiele mit Paulchen, so heißt mein neues Haustier, in meinem Zimmer.
Zur ausgemachten Uhrzeit wecke ich Mama und zeige stolz, noch während sie im Bett liegt, für welche der Babykatzen ich mich entschieden habe.
„Sag mal, Betty, hast du sie noch alle? Was macht diese Katze hier?“, fragt sie mich und schaut mich mit großen Augen an.
Eben noch völlig verschlafen, sitzt sie jetzt aufrecht im Bett und kocht vor Wut.
„Ich habe dich doch vorhin gefragt, und du hast Ja gesagt“, antworte ich.
Mama schmeißt ihre Bettdecke zur Seite, springt auf und fängt an, mich zu beschimpfen.
„Du bringst dieses Scheißvieh auf der Stelle zurück, dorthin, wo du sie herhast. Keine Diskussion!“, schreit sie.
Zugegeben, es war wohl etwas naiv von mir, meine Mama im Halbschlaf nach einem neuen Haustier zu fragen, aber als Sechsjährige kann das passieren.
Die Tränen schießen mir in die Augen, und ich fange bitterlich an zu weinen. Ich flehe sie an, Paulchen behalten zu dürfen. Ich spüre eine starke Wut in mir, wie ich sie vorher noch nie gefühlt habe.
Es ist niemals eine gute Idee, meiner Mama zu widersprechen. Das weiß ich, und deshalb mache ich das eigentlich auch nie, aber ich will Paulchen um alles in der Welt behalten. Ich kann meinen Zorn nicht länger zurückhalten.
„Ich hasse dich“, schreie ich.
Ein Fehler.
Ich schaue zu Mama, bekomme Angst und renne in mein Zimmer. Ich schlage die Tür voller Kraft zu. Panik überrollt mich. Meine Hände zittern, mein Herz rast. Ich renne zu meinem Schreibtisch, krieche darunter, schiebe meinen Schreibtischstuhl vor mich und presse mich gegen die Wand. Mein Stuhl bietet kaum Schutz, aber trotzdem hoffe ich, dass sie mich nicht finden kann. Schräg gegenüber steht mein BABY born-Spieltisch. Die kleine Plastikpuppe liegt mit ihrem aufgemalten Lächeln still und friedlich da, in ihrem Strampler, den Mama für sie von der Arbeit mitgebracht hatte.
Es dauert nicht lange, bis sie in mein Zimmer gestürmt kommt. In ihrer Hand hält sie ein langes Messer. Sie schreit und rennt zu meinem Spieltisch. Sie sieht die Puppe und sticht mit aller Kraft auf sie ein.
Einmal.
Zweimal.
Immer und immer wieder.
Ich schließe meine Augen und halte mir die Ohren zu. Ich presse meine Hände so sehr gegen meinen Kopf, bis es wehtut. Das habe ich schon öfter gemacht, wenn ich Mamas Schreien nicht mehr ertragen konnte. Manchmal kneife ich mir dann auch selber in den Arm, bis es anfängt zu bluten. Der Schmerz lenkt mich für einen kleinen Moment ab.
Ich will es nicht hören und ich will es nicht sehen. Ich kann es nicht aushalten, was gerade passiert, und fange an zu schreien.
Ich schreie so laut ich kann – vor Angst, vor Panik und vielleicht auch in der Hoffnung, dass mich irgendjemand hört. Jemand, der kommt und mich aus meinem Kinderzimmer rettet. Das zu hoffen, war dumm von mir.
Mama dreht sich zu mir. Sie hatte mich bisher nicht wirklich entdeckt. Ihr Blick ist finster. Die Augen sind voller Hass. Ich erkenne sie nicht wieder. Sie wirkt wie besessen.
Sie beugt sich zu mir, reißt den Stuhl weg und packt mit ihrer freien Hand meinen Arm. Ihre Fingernägel graben sich tief in meine Haut, während sie versucht, mich unter dem Schreibtisch hervorzuziehen. Ich wehre mich und schaffe es irgendwie, mich von ihr loszureißen. Ich renne in Richtung Tür – doch Mama ist schneller als ich. Zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich, was es bedeutet, Todesangst zu haben.
Sie bekommt mich erneut zu fassen.
Ich greife noch nach dem Türrahmen und versuche, mich daran festzuhalten und nach vorne zu ziehen, aber ich schaffe es nicht, gegen Mamas Kraft anzukommen. Ich rutsche ab.
Mit brutaler Kraft zerrt sie mich in Richtung Bett. Ich will mich am Teppichboden festkrallen. Ich schaffe es nicht. Sie zieht mich weiter aufs Bett.
Meine Kraft verlässt mich, und ich kann mich kaum noch wehren. Mit ihrem rechten spitzen Knie drückt sie ihr ganzes Körpergewicht in meine Rippen, sodass ich nicht mehr weglaufen kann.