Schaeffler. Biographie einer Familie und ihres Unternehmens - Gregor Schöllgen - E-Book

Schaeffler. Biographie einer Familie und ihres Unternehmens E-Book

Gregor Schöllgen

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Beschreibung

Pioniere der Bewegung

Seit 75 Jahren bewegen sie die Welt. Mit dem Nadellager legten die Brüder Wilhelm und Georg Schaeffler das Fundament des Erfolgs. Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann und ihr Sohn Georg F.W. Schaeffler schrieben ihn fort. Es war eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, mit spektakulären Übernahmen und bahnbrechenden Innovationen, aber auch mit existenziellen Krisen. Am Ende behielten die Kraft und Solidarität des Familienunternehmens immer die Oberhand. Heute gehört die Schaeffler Gruppe zu den führenden Automobil- und Industriezulieferern der Welt.

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Seitenzahl: 1017

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GREGOR SCHÖLLGEN

Biographie einer Familie und ihres Unternehmens

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2021 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Ditta Ahmadi, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung der Konstruktionszeichnung des Nadelkäfigs von Georg Schaeffler, September 1950

Typografie und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Bildbearbeitung: Bettina Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-28996-6V001www.dva.de

Inhalt

Vorwort

Grundlegung eines Imperiums

Die Schaefflers werden Unternehmer

1865–1946

Krisenerprobte Improvisation

Der Aufbau der INA

1946–1963

Immer nur Aufwärts?

Auf dem Weg zum Konzern

1963–1996

Weite Horizonte

Ein Familienunternehmen im globalen Wettbewerb

1996–2008

Alles oder nichts

Der Conti-Coup

2008–2015

Ankunft in der Gegenwart

Die Schaefflers an der Börse

2015–2021

Epilog

Schaeffler Profil einer Familie und ihres Unternehmens

Anhang

»Vom Ursprung deutschen Reichtums« – Geschichte eines Vorwurfs

Zur Archiv- und Quellenlage

Abkürzungen

Anmerkungen

Personenregister

Bildnachweis

Vorwort

Auch Bücher haben eine Geschichte. Diese beginnt Anfang des Jahres 2004, als Maria-Elisabeth Schaeffler mich fragte, ob es mich reizen könne, die Biographie der Familie ihres 1996 verstorbenen Mannes Georg Schaeffler aufzuschreiben. Anlass war der bevorstehende 40. Geburtstag des gemeinsamen Sohnes Georg F. W. Schaeffler. An eine Veröffentlichung war nicht gedacht. Die Aufgabe interessierte mich, obgleich die Zeit außerordentlich knapp bemessen und vertiefende Recherchen außerhalb des damals noch nicht erschlossenen Historischen Archivs der Familie kaum möglich waren.1

Jahre gingen ins Land, bis Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann und Georg F. W. Schaeffler erneut bei mir anfragten. Jetzt ging es darum, die Geschichte ihres Unternehmens, das im November 2021 seinen 75. Geburtstag feiern würde, zu ergründen und aufzuschreiben. Natürlich reizte mich auch diese Herausforderung. Ich sagte zu unter der Voraussetzung, dass ich uneingeschränkten Zugang zu den Archiven der Firma und der Gesellschafter erhalten würde. Das sicherten mir die Familie und die Führung ihres Unternehmens zu. Und daran haben sie sich ohne Wenn und Aber gehalten.

Daher gilt mein erster Dank Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann und ihrem Sohn Georg F. W. Schaeffler. Ohne ihr Vertrauen und ihre Gesprächsbereitschaft wäre dieses Buch nicht entstanden. Die Serie intensiver Gespräche, die ich mit Georg F. W. Schaeffler über seine Familie und das Unternehmen führen durfte, wurde zu einer tragenden Säule der Darstellung. Dass dabei kein Thema ausgeklammert wurde, keine Frage unbeantwortet blieb und keinem Zitat die Freigabe verweigert wurde, hatte ich nicht erwartet.

Für seine Unterstützung und seine Gesprächsbereitschaft zu Dank verpflichtet bin ich auch Klaus Rosenfeld, dem Vorsitzenden des Vorstandes der Schaeffler AG, sowie einer ganzen Reihe ehemaliger und aktiver Mitarbeiter2 der heutigen Schaeffler Gruppe. Von den Gesprächen, die ich mit ihnen über ihren Betrieb, ihre Arbeit, ihre Kollegen oder auch über die Schaefflers führen durfte, hat die Darstellung erheblich profitiert. Dass darunter auch Mitarbeiter waren, von denen die Schaefflers sich getrennt haben, fand ich respektabel.

Peter Gutzmer, dem vormaligen Technikchef der Schaeffler Gruppe, und Norbert Indlekofer, zuletzt Vorstand Automotive, danke ich für ihre geduldige Bereitschaft, die Partien des Manuskripts zu prüfen, in denen es um die technische Entwicklung des Unternehmens geht. Mein ganz besonderer Dank gilt dem langjährigen Chefsyndikus Klaus Deißenberger, ohne dessen vielfältige Unterstützung ich schwerlich einen gesicherten Weg durch das Labyrinth dieses ungewöhnlichen Unternehmens gefunden hätte. Die Verantwortung für die Darstellung liegt selbstverständlich allein bei mir.

Erlangen, im September 2021

Gregor Schöllgen

Grundlegung eines Imperiums

Die Schaefflers werden Unternehmer

1865–1946

Nicht das Nadellager macht den Anfang. Den Anfang macht der Teppich. Mit der Herstellung von Textilien aller Art legen die Brüder Wilhelm und Georg Schaeffler seit September 1940 das Fundament ihres Erfolgs. »Wir sind ursprünglich Textilleute«, sagt der Ältere noch 1966, als ihr Nadellager längst Karriere macht.1 Damals überrascht das niemanden. Aber wer weiß heute noch, dass die Schaefflers bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein auch zu den führenden deutschen Teppichproduzenten zählten?

Tatsächlich entstammen sie einer Familie von Leinewebern und Bauern. Georg Jakob Schaeffler – der Vater von Wilhelm und Georg, Schwiegervater von Maria-Elisabeth und Großvater von Georg F. W. Schaeffler – ist einer der erfolgreichsten Landwirte seiner Zeit. Man muss seine Geschichte erzählen. Denn die Äpfel fallen nun einmal nicht weit vom Stamm. Schon Georg Jakob Schaeffler trägt das Gen des Unternehmers in sich. Das beträchtliche Vermögen, das er im Laufe der Jahrzehnte erwirtschaftet, bringt er in die Firma ein, die seine Söhne 1946 in Herzogenaurach aus der Taufe heben werden.

Die Familie kommt aus Neustadt am Kulm. Die Stadt südöstlich von Bayreuth im Grenzgebiet von Oberfranken und der Oberpfalz hat Mitte des 19. Jahrhunderts knapp 1500 Einwohner. Die meisten betreiben Landwirtschaft, andere gehen im Haupt- oder Nebenerwerb einem Handwerk nach. So auch die »Schefflers«, wie sich die Familie damals noch schreibt. Sie ist in Neustadt am Kulm ansässig, seit Johan Scheffler, der Urgroßvater Wilhelm und Georg Schaefflers, 1822 die Witwe Magdalena Orttung geehelicht und in das damalige Anwesen Nr. 36 der Stadt eingeheiratet hat.

Fortan wendet sich der Leineweber Johan Scheffler auch der Landwirtschaft zu. Sein Sohn Johann Sebastian Scheffler, der am 2. April 1825 in Neustadt am Kulm zur Welt kommt, und seine vier Jahre jüngere Frau Barbara Scheffler, geborene Porsch, folgen ihm auf diesem Weg.2

Einiges spricht dafür, dass das Weberhandwerk und der Hof Johann Sebastian Scheffler und seine Familie zunächst gut ernähren können. Vier Töchter und drei Söhne gehen aus der Ehe hervor. Georg Jakob Schaeffler erblickt am 29. März 1865, kurz vor Mitternacht, das Licht der Welt, und weil der Vater erst am kommenden Tag das Ereignis amtlich festhalten lässt, findet sich mitunter auch der 30. März als Geburtstag. So zum Beispiel im Einwohnerverzeichnis der Stadt Metz, wo Georg Jakob Schaeffler mit seiner Familie eine Reihe von Jahren gemeldet und mit der Staatsangehörigkeit »Bayern« registriert sein wird.3

Über seine Kindheit und Jugend ist nur wenig zuverlässig überliefert. Im Wesentlichen sind wir auf einige persönliche Erinnerungen von Familienmitgliedern angewiesen, darunter insbesondere ein Schreiben, das Frieda Riess, die Tochter der ältesten Schwester Georg Jakob Schaefflers, Anfang März 1955 an ihre Cousins Wilhelm und Georg Schaeffler gerichtet hat. Anlass war Georg Jakob Schaefflers Goldene Hochzeit, die fast auf den Tag mit seinem neunzigsten Geburtstag zusammenfiel.4

In dessen früherem Leben hinterlässt vor allem der ältere Bruder eine erkennbare Spur. Hans Schaeffler ist Bahnadjunkt in Triesdorf und mit der Tochter des Direktors der dortigen Ackerbauschule verheiratet. Diese Anstalt besucht Georg Jakob Schaeffler, nachdem er, wie zu vermuten steht, die Mittelschule absolviert hat. Während seiner Zeit auf der Ackerbauschule von Triesdorf wohnt er im Haus von Bruder Hans. Danach verliert sich dessen Spur in den Akten.

Georg Jakob Schaeffler selbst erinnerte sich anlässlich seines 90. Geburtstages, dass er nach seiner Ausbildung in Triesdorf zunächst auf großen Gütern in der Rüsselsheimer Weingegend volontiert und dann in Mainz, also bei der preußischen Armee, seinen Militärdienst abgeleistet hatte. Von seiner Nichte Frieda Riess wissen wir, dass er eigentlich »nach des Vaters Tod … den elterlichen Besitz übernehmen« sollte, dass ihm aber »die Verhältnisse« in Neustadt »zu klein« waren. »Sein Blick hatte sich schon geweitet, sein Tatendrang verlangte nach größeren Aufgaben.«5

Landwirt und Webermeister: Johann Sebastian Scheffler und seine Frau Barbara, geborene Porsch, die Großeltern von Wilhelm und Georg, Urgroßeltern von Georg F. W. Schaeffler, etwa 1885.

Also verlässt Georg Jakob Schaeffler früh die Heimat und geht nach Lothringen. Damit beginnt eine Reise, die erst 1946, in seinem 81. Lebensjahr, ihr Ende findet. Geplant war sie nicht, jedenfalls nicht so, wie sie verlaufen ist. Wohl hat der Landwirt zeitlebens nach neuen Horizonten und Herausforderungen gesucht – eine Eigenschaft, die er seinen Nachkommen vermacht hat. Aber er ist auch ein Getriebener, von den Zeitläuften betroffener und immer wieder eingeholter Mann. Denn seine Lebensspanne überdeckt die Zeit jenes Deutschen Reiches, das 1871 als Monarchie gegründet wird und 1945 als Diktatur in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs untergeht.

Georg Jakob Schaeffler ist nicht einmal sechs, als dieser erste Nationalstaat auf deutschem Boden geformt wird. Nur wenige Jahre hat es gedauert, bis der preußische Ministerpräsident und erste Reichskanzler Otto von Bismarck das neue Kraftzentrum in der Mitte Europas etabliert hatte. Der Weg dorthin führte über Kriege gegen Dänemark, Österreich und zuletzt Frankreich und war für die Nachbarn eine Warnung, künftig auf der Hut zu sein. Der Abschluss des Ganzen, die Proklamation des deutschen Kaiserreichs auf Schloss Versailles am 18. Januar 1871, war eine Machtdemonstration und eine Demütigung des französischen Nachbarn. In dem geographischen und politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Spannungsfeld, das damit entsteht, werden die Schaefflers über Jahrzehnte leben und arbeiten.

Für die Deutschen sind die Gründerjahre, die auf die Reichseinigung folgen, eine Zeit wirtschaftlichen Booms und scheinbar grenzenlosen Fortschritts. Als es schon bald nicht mehr so stürmisch weitergeht, reagieren sie nervös. Im Herbst 1873 leitet ein Börsenkrach ein konjunkturelles Wechselklima ein, das wenig später auch die Landwirtschaft erfasst und bis Mitte der neunziger Jahre anhält. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine schwere Wirtschaftskrise im strengen Sinne des Wortes. Aber dass die Zeitgenossen diese Jahre als »Große Depression« erleben, zeigt doch, wie tief die Verunsicherung ist.

In diesen unsicheren Jahren bricht Georg Jakob Schaeffler also aus der Oberpfalz auf, und es mag sein, dass die wirtschaftliche Lage ihn dazu veranlasst und wohl auch sein Reiseziel bestimmt: Mit dem Frankfurter Frieden hat Frankreich am 10. Mai 1871 die Departements Bas-Rhin, Haut-Rhin, Moselle und Teile von Meurthe und Vosges an das Deutsche Reich abtreten müssen, und das macht sich umgehend an die umfassende Einverleibung des neuen »Reichslandes« Elsass-Lothringen: Deutsch ist jetzt auch in französischsprachigen Gemeinden die Unterrichtssprache, in Straßburg führt bald ein kaiserlicher Statthalter, unterstützt von einem Ministerium, die Geschäfte, und natürlich sind die Planer in Berlin sehr daran interessiert, Deutsche zur Ansiedlung in der neuen Provinz zu bewegen.

1887 wird der »Verein zur inneren Kolonisation« gegründet; gut möglich, dass dessen Aktivitäten Georg Jakob Schaeffler im Jahr darauf bewegen, nach Elsass-Lothringen zu gehen. In Zeiten wirtschaftlicher Stagnation bietet das stark geförderte Reichsland vor allem jungen, familiär noch ungebundenen Männern interessante Perspektiven. Auch vermögende Deutsche kaufen sich hier ein. Zum Beispiel Wilhelm II., seit 1888 König von Preußen und deutscher Kaiser, der 1890 Schloss und Domäne von Urville erwirbt, oder Wilhelm Funcke, ein Unternehmer aus dem westfälischen Hagen, der am 1. September 1899 die Domaine de Marimont kauft.

Für eine Reihe von Jahren sind die Geschichte dieses Gutes, das auch einmal einem Grafen Richelieu gehört hat, und die Geschichte Georg Jakob Schaefflers und seiner Familie aufs Engste miteinander verwoben. Zwar wird der gebürtige Oberpfälzer im Sommer 1914, also bei Ausbruch des großen europäischen Krieges, erstmals als »Verwalter für die Erben W. Funcke« namentlich genannt; damals umfasst das Gut 477 Hektar. Der »Gutsinspektor« muss aber spätestes 1905 seine Arbeit auf Marimont aufgenommen haben, denn seither wohnt er dort mit seiner jungen Frau.6

Am 14. März 1905 heiratet der fast vierzigjährige Georg Jakob Schaeffler die 17 Jahre jüngere Anna Carolina Weissmann. Die Trauung findet in Metz statt, und offensichtlich hat sie der Bürgermeister der Stadt vorgenommen. Trauzeugen sind ein ortsansässiger Malermeister und ein Hoflieferant; zur Feier hat man ins Hotel Englischer Hof geladen. Ein beachtliches Arrangement, das nicht überrascht. Denn Anna Carolina ist die Tochter von Wilhelm Weissmann, »Hofschlächtermeister und Stadtrat«.7

Wilhelm Weissmann und sein Schwiegersohn haben einiges gemeinsam, unter anderem die Generation.8 Wilhelm Weissmann ist gerade einmal neun Jahre älter als Georg Jakob Schaeffler. Am 18. Juni 1856 ist er im pfälzischen Rothselberg als Sohn Philipp Weissmanns »des Fünften, Ackerer«, zur Welt gekommen. Auch ihn führt der Weg in den Jahren nach der Reichsgründung nach Elsass-Lothringen. Seit November 1876 leistet er als Rekrut eines bayerischen Infanterieregiments in Metz seinen dreijährigen Militärdienst ab. Dann fasst er in der Stadt beruflich Fuß, ist bald Inhaber einer »Fleischerei & Wurstwaarenfabrik mit Dampfbetrieb« und seit März 1894 »Königlich Bayrischer Hoflieferant«.9 Zwei Jahre später hat er es bis zum »Obermeister« der Fleischerinnung gebracht. Wilhelm Weissmann nimmt also im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Stadt Metz Schritt für Schritt eine respektable Stellung ein.

Seit der Jahrhundertwende tritt er auch politisch hervor. Als Linksliberaler gehört er zeitweilig dem Landesgewerberat und der Handwerkskammer für Elsass-Lothringen an, sitzt von 1901 an im Stadtrat von Metz und wird 1908 in den Bezirksrat gewählt. Seit 1911 ist er Mitglied des Landtags von Elsass-Lothringen, 1912 kandidiert er, allerdings ohne Erfolg, für den Reichstag.10 Wenig überraschend gehört Wilhelm Weissmann den Ehrenkommissionen an, die Kaiser Wilhelm II. bei seinen Besuchen in Elsass-Lothringen willkommen heißen. Auch Enkel Wilhelm Schaeffler ist einmal dabei, wird vom Großvater auf einen Tisch gehoben und darf Seiner Majestät, »einen Blumenstrauß in der Hand, … ein Gedicht aufsagen«.11 Im Sommer 1908 zieht sich der Metzgermeister mit 52 Jahren aufs Altenteil zurück.

Seit dem 14. Juli 1880 ist Wilhelm Weissmann mit der fünf Jahre jüngeren Carolina, geborene Heß, verheiratet, über deren Herkunft wir so gut wie nichts wissen. Aus der Ehe gehen sieben Kinder hervor, darunter Tochter Anna Carolina, die am 10. Dezember 1882 zur Welt kommt. Sie ist nicht das älteste der Geschwister, doch stellt sie im elterlichen Geschäft schon früh »Umsicht, Einsatzbereitschaft und Tatkraft« unter Beweis. Das bleibt so, auch wenn Anna Carolina im Unternehmen des Vaters wie später in den Betrieben ihres Mannes und ihrer Söhne zumeist im Hintergrund wirkt. Als sie im Oktober 1963 einundachtzigjährig in Erlangen stirbt, würdigt der Betriebsratsvorsitzende des INA-Werkes Herzogenaurach sie nicht ohne Grund als »Mutter aller Werke«.12

Gute Partie: Am 14. März 1905 ehelicht der Inspektor auf Gut Marimont, Georg Jakob Schaeffler, in Metz Anna Carolina, Tochter des Metzgermeisters, Hoflieferanten und Stadtrats Wilhelm Weissmann.

Wie und wo Anna Carolina und Georg Jakob Schaeffler sich erstmals begegnet sind, wissen wir nicht. Obgleich Marimont fast 70 Kilometer von Metz entfernt liegt, scheint der Landwirt ihr jeden Sonntag den Hof gemacht zu haben, wie der von ihrer Tochter überlieferten Erzählung der Familie zu entnehmen ist. Für den aufstrebenden Mann ist die Hochzeit mit der Tochter des Metzgermeisters, Hoflieferanten und Stadtrats Wilhelm Weissmann eine gute Partie. Offensichtlich bildet die Mitgift einen Gutteil jenes Vermögens, mit dem Georg Jakob und Anna Carolina Schaeffler Jahrzehnte später ihren Söhnen den Weg in die Unternehmerlaufbahn ebnen werden.

Vier Kinder sind aus der Ehe hervorgegangen. Sie alle erblicken auf Schloss Marimont das Licht der Welt, als erstes Tochter Elisabeth, genannt »Lisbeth«, die am 26. Januar 1906 geboren wird. Gut zwei Jahre später, am 3. April 1908, folgt ihr Bruder Wilhelm, und am 8. August 1909 erhält die Familie mit Tochter Katharina, die sich später »Käthe« schreiben wird, erneut Zuwachs. Offenbar ist damit die Familienplanung abgeschlossen. Jedenfalls gehen gut sieben Jahre ins Land und das Familienoberhaupt hat die 50 bereits überschritten, als Georg Schaeffler am 4. Januar 1917 geboren wird.

Es ist die Zeit, als »unsere Artilleriegeschosse nach Westen eilten« und das »Geburtshaus erschütterten«, wie sich Georg Jakob anlässlich des 30. Geburtstags seines Jüngsten erinnert.13 Seit mehr als zwei Jahren befinden sich die Völker Europas in einem der schwersten Konflikte ihrer an Kriegen nicht gerade armen Geschichte. Auslöser des Dramas, an dessen Ende man 14 Millionen Tote zählen wird, sind die Entwicklungen auf dem Balkan. Hier branden die zum Teil in der außereuropäischen Welt entstandenen Gegensätze zwischen den Großmächten an und verdichten sich – zusätzlich aufgeladen durch die Ambitionen und Aktionen der Balkanvölker – zu schweren Unwettern. Der Sturm bricht los, als der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin am 28. Juni 1914 in Sarajevo ermordet werden.

Nachdem sich Deutschland bedingungslos hinter seinen einzig verbliebenen zuverlässigen Partner Österreich-Ungarn gestellt und Russland nicht minder konsequent die Position Serbiens bezogen hat, dem man in Wien eine Mitverantwortung an dem Mord anlastet, wächst die Kriegsgefahr von Tag zu Tag. Die Nerven liegen blank, und es sind die Deutschen, die sie als Erste verlieren: Am 1. August 1914 erklärt das Deutsche Reich Russland und am 3. August auch dessen Bündnispartner Frankreich den Krieg.

Es gibt kaum eine Familie in Frankreich oder Deutschland, die im Laufe der Jahre nicht direkt oder indirekt von diesem jüngsten Ausbruch der »Erbfeindschaft« betroffen gewesen wäre, schon gar nicht im Grenzgebiet. Denn hier geht die deutsche Offensive schon nach wenigen Wochen in einen Stellungskrieg über, dem in den kommenden Jahren Millionen zum Opfer fallen, ohne dass es zu einer Entscheidung kommt.

Das alles betrifft auch die Familie Schaeffler. Einerseits hat sie Glück, weil kein Mitglied aus dem engeren Familienkreis ins Feld ziehen muss. Georg Jakob Schaeffler ist unabkömmlich, denn je länger der Krieg dauert und je schlechter die Versorgungslage Deutschlands wird, um so wichtiger wird die Produktion der landwirtschaftlichen Güter; außerdem geht er, als der Krieg ausbricht, auf die 50 zu, ist also für den Kriegsdienst zu alt. Das gilt auch für Schwiegervater Wilhelm Weissmann.14 Andererseits lernt die Familie gleich in den ersten Tagen die brutale Wirklichkeit des Krieges kennen: In der Nacht vom 10. auf den 11. August eröffnet das XV. Armeekorps der 2. französischen Armee bei Lagarde, nur anderthalb Kilometer von der Grenze entfernt, das erste große Gefecht dieses Krieges. Die deutschen Truppen müssen sich auf die Gemeinde Bourdonnaye zurückziehen, zu der das Gut Marimont gehört. Der Gegenangriff fordert allein auf deutscher Seite 400 Tote.

Was diese Zeit für den Verwalter des Gutes und seine Familie bedeutet, geht aus einem Schreiben Wilhelm Funckes an die Erbengemeinschaft von Ende Oktober 1914 hervor, in dem der Besitzer Marimonts von »ganz besonderem Dank« spricht, den man »Herrn Schaeffler und seiner Frau« – »unseren beiden Verwaltern« – schuldig sei: »Es ist gewiss nicht leicht, und für einen Altdeutschen doch immerhin keine gefahrlose Lage, mit Frau und Kind in einer solchen Zeit auf dem Kriegsschauplatz auszuhalten, bei derartigen Masseneinquartierungen die Ordnung zu bewahren und die vielen Ansprüche der Truppen mit den Interessen des Gutes in Einklang zu bringen.«15

Die unmittelbare Bedrohung nimmt zwar bald ab, weil sich die Kämpfe auf französisches Territorium verlagern. Aber natürlich bleiben das Grenzgebiet und damit auch Gut Marimont gefährdet. Vieles deutet darauf hin, dass Georg Jakob Schaeffler angesichts dieser unsicheren Lage daran denkt, sich aus Marimont zurückzuziehen und seine inzwischen sechsköpfige Familie in Sicherheit zu bringen. Jedenfalls lässt er von Mitte Januar bis Ende Februar 1917, also unmittelbar nach der Geburt seines Jüngsten, in der Landwirtschaftlichen Zeitung für Elsass-Lothringen wiederholt eine Anzeige schalten, in der er für Marimont einen »praktischen, erfahrenen Landwirt (Verwalter)«, also wohl einen Nachfolger, sucht.16 Wenig später zieht Anna Carolina mit der ältesten Tochter Elisabeth und dem Säugling Georg zu ihren Eltern nach Metz. Seit dem 22. April 1917 sind die drei am dortigen Kaiser-Wilhelm-Ring 35 gemeldet.17 Wie lange die Familie getrennt sein wird, vermag niemand zu sagen.

Solange der Krieg zu Deutschlands Gunsten verläuft, kann es an der Zukunft Elsass-Lothringens keinen Zweifel geben. Die Deutschen intensivieren ihre Germanisierungspolitik sogar noch und versehen zum Beispiel alle Orte mit deutschen Namen. So heißt Marimont bei der Geburt Georg Schaefflers »Gut Reichsmark«.18 Aber im Sommer 1917 beginnt sich die Lage zu ändern. Während die deutschen Truppen – jetzt auch begünstigt durch die Folgen der bolschewistischen Revolution in Russland – im Osten unaufhaltsam vorrücken, geraten sie auf dem westlichen Kriegsschauplatz zusehends in die Defensive. Denn hier macht sich seit dem 6. April 1917 der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika bemerkbar. Die Frühjahrsoffensive der gut 70 erschöpften deutschen Divisionen, die am 21. März 1918 beginnt, scheitert an der Übermacht eines Gegners, dessen Reihen monatlich um bis zu 250000 frische Soldaten verstärkt werden und für den Versorgungsschwierigkeiten ein Fremdwort ist.

Mit dem Beginn der alliierten Gegenoffensive am 18. Juli und insbesondere mit der verlorenen Schlacht von Amiens drei Wochen darauf wird offenbar, dass das Deutsche Reich und seine Verbündeten den Krieg nicht mehr gewinnen können. Am 11. November 1918 wird unweit von Paris, im Wald von Compiègne, der Waffenstillstand zwischen Deutschland und den alliierten Gegnern unterzeichnet. Er sieht unter anderem die »sofortige Räumung« Elsass-Lothringens vor; mit dem Friedensvertrag von Versailles wird das vormalige Reichsland am 28. Juni 1919 endgültig wieder an Frankreich abgetreten.

Haben Georg Jakob Schaeffler, seine Familie und seine Schwiegereltern hier noch eine Zukunft? Was ihnen während der kommenden Jahre widerfährt, lässt sich nicht mehr in allen Einzelheiten feststellen. Sicher ist, dass die Familie Opfer der Flucht beziehungsweise Vertreibung der Deutschen aus Elsass-Lothringen wird. Sie beginnt unmittelbar nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes. Grundlage sind die arrêtés d’expulsion, die bis zu 100000 Deutsche zur »Rückwanderung«, also zum Verlassen ihrer Heimat zwingen.19

Wie sich Georg Jakob Schaeffler anlässlich des 30. Geburtstages seines Sohnes Georg erinnerte, wird die Familie zu Weihnachten 1918 »durch 20 berittene Franzosen innerhalb einer Stunde 14 Tage in Haft genommen«. Am 27. Juli 1919 unterschreibt der Commissaire der Republik den Ausweisungsbeschluss für »Georges Schaeffler, gérant du domaine de Marimont«. Zum Glück gelingt es der Familie, einen beträchtlichen Teil des »in jahrzehntelanger Arbeit erworbenen Vermögens« zu retten. Solange es geht, tauschen die Eltern auf der Gemeindeverwaltung in Dieuze Papiermark gegen Goldstücke und bringen diese dann, in einem Klavier versteckt, in Sicherheit.20

Georg Jakob Schaeffler bleibt offensichtlich noch eine Zeitlang auf Marimont. Denn die französische Verwaltung mag vorerst nicht auf die Erfahrungen des »exzellenten Landwirts« verzichten, als der Georg Jakob Schaeffler in den Papieren der Bürokraten firmiert. Für die Familie bedeutet das Jahre der Trennung. Während seine Frau mit Tochter Elisabeth und Sohn Georg nach wie vor bei ihren Eltern in Metz wohnt, hält das Familienoberhaupt mit Wilhelm und Katharina auf Marimont die Stellung und zieht erst Mitte Juni 1920 in die Avenue Maréchal Foch, wie der vormalige Kaiser-Wilhelm-Ring in Metz jetzt heißt.21

Auch gegen den Schwiegervater Wilhelm Weissmann und seine Frau liegt seit dem Sommer 1919 ein arrêté d’expulsion vor. Allerdings wird die Ausweisung nicht vollzogen. Zwar werden die beiden schikaniert, auch wird ihr Besitz sequestriert, doch bleibt der Rentner bis zu seinem Lebensende am 27. Dezember 1937 in Metz wohnhaft. Neben seinem gesundheitlichen Zustand hat Wilhelm Weissmann wohl die hohe Reputation, die er auch unter den Franzosen genießt, vor der Durchführung des Ausweisungsbeschlusses bewahrt. »Guillaume« Weissmann, wie er auf seinem Grabstein heißt, war ein »Metzer Patriot«. So erinnert sich sein Enkel Wolfgang, ein Vetter von Wilhelm und Georg Schaeffler.22

Verglichen mit der Zeit des Kaiserreichs sind die Lebensumstände der betagten Eheleute Weissmann allerdings bescheiden. Später helfen Tochter Anna Carolina und ihre Familie gelegentlich mit Lebensmittelpaketen aus, die über einen befreundeten Pfarrer zugestellt werden. Den größten Teil seines Vermögens hat Wilhelm Weissmann bei deutschen Banken im Reichsgebiet angelegt, so dass die Kinder nach seinem Ableben Zugriff darauf haben und die Erbschaft antreten können.23

Die Schaefflers wohnen inzwischen im Saarland. Selbstverständlich ist das nicht, denn auch dieses Gebiet steht seit Kriegsende nicht mehr unter deutscher Kontrolle, allerdings – von den Saargruben, dem Zollsystem und anderem abgesehen – auch nicht unter französischer, sondern unter Verwaltung des neu eingerichteten Völkerbundes in Genf. 15 Jahre nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages soll eine Volksabstimmung über das weitere Schicksal entscheiden.

Seit wann die gesamte sechsköpfige Familie in der saarländischen Gemeinde Wiebelskirchen wohnt, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Das Melderegister der Stadt Metz hält fest, dass Georg Jakob Schaeffler dort bis in den Sommer 1924 hinein ein logement unterhalten und die Familie sich am 6. November 1926 endgültig aus der Stadt abgemeldet hat. Tatsächlich lebt sie da schon einige Zeit auf dem Baltersbacher Hof im Kreis Ottweiler, wo Georg Jakob Schaeffler seit Januar 1921 als Gutsverwalter tätig ist.24 Wieder einmal haben er und seine Familie Glück im Unglück. Wie viele andere Deutsche verlieren auch sie ihre Heimat. Aber die Anstellung des Vaters bewahrt die sechs auch in den Nachkriegsjahren davor, Not zu leiden.

Wohl im 14. Jahrhundert angelegt und 1490 erstmals urkundlich erwähnt, wird der Baltersbacher Hof im Januar 1921 durch die Stadt Neunkirchen erworben. Auf dem etwa 150 Hektar großen Gut gibt es neben Schafen, Pferden, Zug- und Schlachtochsen auch einige Milchkühe, deren Bestand deutlich erhöht werden soll. Denn die Stadt will in den schwierigen Jahren nach Ende des Krieges die Versorgung der Mütter, Kleinkinder und Kranken mit frischer Milch sicherstellen. Später liegt der Schwerpunkt auf der Landwirtschaft, insbesondere auf dem Obstanbau; immerhin zählen zum Bestand des Gutes bis zu 3000 Obstbäume. Schließlich kommt die Schweinezucht hinzu. Noch anlässlich des 90. Geburtstags von Georg Jakob Schaeffler erinnert man sich der Verdienste, die er sich um die »Veredelung des deutschen Landschweins« erworben hat.25

Die frühen zwanziger Jahre sind eine außerordentlich unruhige, unsichere Zeit. Eine Fülle unterschiedlicher innerer und äußerer Entwicklungen führt dazu, dass sich die Lage in Deutschland während des Jahres 1923 politisch und wirtschaftlich dramatisch verschlechtert. Den Anfang macht am 9. Januar 1923 die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen, durch die eine der schwersten inneren Krisen der Weimarer Republik ausgelöst wird. Der Nachfolgestaat des am 9. November 1918 untergegangenen deutschen Kaiserreichs wird so bezeichnet, weil die Nationalversammlung, welche die Verfassung der neuen Republik beraten und verabschiedet hat, in Weimar tagte. Berlin, nach wie vor die Hauptstadt des Deutschen Reiches, war zu unsicher. Die Lage beruhigte sich zwar nach wenigen Wochen wieder, doch dann stürzen die der Ruhrbesetzung folgenden Ereignisse das Land erneut ins Chaos. Am Ende des Jahres 1923 steht die deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch. Die Arbeitslosigkeit nimmt dramatisch zu, und der Dollarkurs steigt von rund 18000 Mark Mitte Januar auf 4,2 Billionen Mark Ende November.

Georg Jakob Schaeffler hat vorgesorgt. Das gepachtete Gut sichert den Lebensunterhalt der sechsköpfigen Familie, und dann gibt es ja noch den Wohnsitz in Metz. Offenbar bleiben die Schaefflers bis Mitte der zwanziger Jahre deshalb bei den Eltern Anna Carolinas gemeldet, um im Fall des Falles ausweichen zu können. Man ahnt, wie dramatisch die Lage in Deutschland gewesen sein muss, wenn ein in Frankreich von Ausweisung bedrohter Reichsdeutscher sich veranlasst sieht, ausgerechnet dort einen Fuß in der Tür zu halten.

Bis in den Oktober 1930 bewirtschaftet Georg Jakob Schaeffler den Baltersbacher Hof, dann wendet sich der inzwischen fünfundsechzigjährige Landwirt noch einmal neuen beruflichen Horizonten zu. Am 1. November 1930 pachtet er von der Stadt Neunkirchen Haus Furpach, wo die Familie von Anfang April 1931 an gemeldet ist. Offenbar ist das im 11. Jahrhundert entstandene und im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnte Hofgut26 mit einer reinen Wirtschaftsgröße von 265 Morgen bei der Übernahme durch Georg Jakob Schaeffler nicht in der besten Verfassung. Eine Übersicht über die »Einnahmen und Ausgaben von Haus Furpach in den ersten 10 Monaten 1930/31« weist einen Verlust von über 45000 französischen Franc aus; der Franc ist damals im Saargebiet neben der deutschen Reichsmark gültiges Zahlungsmittel.

Georg Jakob Schaeffler führt rasch eine wirtschaftliche Wende herbei. Schon im folgenden Betriebsjahr schlägt ein bescheidener Gewinn zu Buche. Entsprechend nimmt auch das ohnehin nicht unbeträchtliche Vermögen der Familie wieder zu. Am Ende des Jahres 1933 hat der Landwirt allein bei der Bank Gebr. Röchling Neunkirchen ein Guthaben von gut 70000 Reichsmark. Das ist den »Kassenbüchern« von Haus Furpach zu entnehmen, von denen einige die Zeitläufte überstanden haben.27 Äußerlich zeigt sich der Erfolg an der Zahl der Mitarbeiter, die von anfänglich drei schließlich auf 13 steigt. Haus Furpach ist jetzt eine »Anerkannte Saatgutwirtschaft. Speise- und Saatkartoffeln der beliebtesten Sorten. Zucht- und Mastferkel, schnellwachsend aus gesunder Stammzucht«.28

Bürger mit Bodenhaftung: Anna Carolina und Georg Jakob Schaeffler mit ihren Kindern (von links) Elisabeth (»Lisbeth«), Georg, Wilhelm und Katharina (»Käthe«) Schaeffler, Mitte der zwanziger Jahre auf dem Baltersbacher Hof im Saarland.

Keine Frage, der soziale Hintergrund namentlich von Anna Carolina Schaeffler, die privilegierte gesellschaftliche Stellung Georg Jakob Schaefflers in Lothringen wie im Saarland, der gediegene Wohlstand der Familie, aber auch die Ausbildung, welche die Eltern ihren Kindern zukommen lassen, und die Weltgewandtheit, die sie ihnen mit auf ihren Lebensweg geben, deuten darauf hin, dass Bodenhaftung und großbürgerliches Selbstverständnis bei den Schaefflers eine geglückte Verbindung eingegangen sind.

Im November 1936 kündigt die Stadt Neunkirchen den bis 1941 geschlossenen Vertrag und findet den Pächter ab, da auf dem Gelände eine Großsiedlung, der heutige Stadtteil Furpach, errichtet werden soll. Der Landwirt und seine Familie bleiben vorerst hier wohnen, bis sie im Dezember 1938 nach Köln ziehen. An der dortigen Universität hat sich soeben Sohn Georg, das jüngste der Schaeffler-Kinder, immatrikuliert.29

Damit haben alle vier die Schulzeit hinter sich. Über ihre Kindheit ist wenig bekannt. Wir wissen, dass sie, der Konfession der Eltern entsprechend, evangelisch erzogen worden sind. Von einer engen religiösen oder kirchlichen Bindung kann man aber nicht sprechen. Das gilt zumindest für die Söhne, deren Werdegang wir einigermaßen eng begleiten können, ganz im Gegensatz zu Elisabeth und Katharina, deren Lebenswege gerade in diesen frühen Jahren weitgehend im Dunkeln bleiben.

Die drei Älteren sind noch in Lothringen eingeschult worden, und natürlich hat die Umsiedlung der Familie ins Saargebiet auch für sie Konsequenzen. Sohn Wilhelm, der seine Schullaufbahn zu Ostern 1914 in Bourdonnaye beginnt, hat es besonders schwer: Nach nur einem Jahr wechselt er die Anstalt zum ersten Mal und geht fortan in die Vorschule der Dieuzer Oberrealschule. Nach der zeitweiligen Inhaftierung der Familie werden er und seine beiden Schwestern einige Zeit durch eine Hauslehrerin unterrichtet, und 1920/21 besucht der ältere der Schaeffler-Söhne die dritte Klasse der Oberrealschule in Zweibrücken, wo ihm ein Großonkel und pensionierter Gymnasialkonrektor ein Dach über dem Kopf bietet.30

Als der den entfernten Neffen nicht länger beherbergen kann und der Übertritt auf die Oberrealschule in Neunkirchen an den fehlenden Lateinkenntnissen gescheitert ist, qualifiziert sich der Dreizehnjährige im Mai 1921 mit einer »Prüfungsarbeit aus dem Deutschen« zum Thema »Der Nutzen des Waldes« für die Aufnahme an der »Heimschule Weiherhof« oder auch »Realanstalt am Donnersberg« in der Pfalz, eines der bedeutendsten Privatschulinternate in Süddeutschland.

Die Jahre Wilhelm Schaefflers am Donnersberg sind schon deshalb von Interesse, weil die jährlichen Einschätzungen von »Sittlichen Anlagen. Betragen. Gemütsart« durch seine Lehrer die unruhigen Zeiten überstanden haben. Nach einem Jahr halten sie fest: »gut erzogen, anständiges und taktvolles Benehmen, sehr empfindlich gegen Tadel, ehrgeizig«; unter seinen Mitschülern ist Wilhelm Schaeffler »wohl gelitten«. 1923 beziehungsweise 1924 vermerken die Pädagogen die »lebensgewandte Art«, die ihn auch »schwierigen … Verhältnissen gewachsen sein lässt«; allerdings sei er ein »Egoist, bloß auf wirtschaftliche Dinge eingestellt, vorlaut«. In späteren Jahren fühlt man sich immer wieder einmal an diese frühen Beurteilungen erinnert. Das gilt für die Fixierung auf »wirtschaftliche Dinge«, es gilt aber auch für seine »lebensgewandte Art«, die den älteren der beiden Schaeffler-Brüder unter anderem die »schwierigen Verhältnisse« jahrelanger Haft in Polen überstehen lässt.31

Nach drei Jahren in der Pfalz wird Wilhelm zu Ostern 1924 von der Oberrealschule in Saarbrücken aufgenommen und ist damit endgültig in der neuen Heimat der Eltern angekommen. Drei Jahre später erhält er das Reifezeugnis. Der Notenspiegel ist durchwachsen; sehr gut sind seine Leistungen im Frühjahr 1927 in Mathematik, Physik, Linearzeichnen und Turnen; als Berufswunsch gibt Wilhelm Schaeffler »Kaufmann« an.32

Gerader als Wilhelms verläuft die schulische Laufbahn des deutlich jüngeren Bruders Georg. Der Umzug von Lothringen ins Saarland erfolgt vor seiner Einschulung. Von der frühen Zeit bleiben die Französischkenntnisse. Während er im Sommer 1940 am Frankreichfeldzug teilnimmt, merkt er »auf einmal wieder, dass ich ja franz[ösisch] spreche. Man gewöhnt sich so leicht daran. Sobald ich ins Haus komme, spreche ich automatisch fr[anzösisch]«.33

Als Georg Schaeffler zu Ostern 1923 in die evangelische Volksschule Ottweiler eingeschult wird, hat die Familie in ihrer neuen saarländischen Heimat Fuß gefasst. Auch deshalb ist die Schulzeit des Jüngsten unauffällig: Seit Ostern 1927 geht er auf das Reformrealgymnasium in Neunkirchen, am 1. Dezember 1935 meldet er sich dort schriftlich zur Reifeprüfung an.

Das Dokument zeichnet das Bild eines selbstbewussten jungen Mannes, der am Ende seiner schulischen Laufbahn weiß, was er kann und was er will: »Von Jugend an«, schreibt der knapp Neunzehnjährige, »galt mein Interesse stets in geistiger Beziehung der Technik und in körperlicher dem Sport; hier fast ausschließlich der Leichtathletik … Durch die Vorliebe für technische Dinge habe ich in der Schule viel Zuneigung zu Mathematik und besonders Physik und Chemie. Auch an den Sprachen habe ich viel Freude. Seit einigen Jahren habe ich die Möglichkeit, meinem Vater innerhalb seines Betriebes behilflich zu sein, wodurch ich Einblick erhielt in das geschäftliche Leben und Treiben. Hierdurch veranlasst befasse ich mich heute gerne außer mit technischen auch mit wirtschaftlichen Fragen und habe nach der Reifeprüfung die Absicht, das Studium eines Betriebswirtschaftlers aufzunehmen.«34

Die Lehrer zählen Georg Schaeffler zu jenen Schülern, bei denen »nach ihrer ganzen Persönlichkeit und ihren Leistungen« von einer »besonderen Begründung« abgesehen werden kann, lassen ihn zur Reifeprüfung zu und fügen dem Selbstzeugnis des Kandidaten einige bemerkenswerte Facetten hinzu: Georg Schaeffler, so die Klassenkonferenz Mitte Dezember 1935, »besitzt bei seiner vorwiegend technischen Veranlagung eine gute Beobachtungsgabe, die sich auch auf die Fehler seiner Mitmenschen erstreckt. Wo er Zweifel hegt, spricht er sie offenherzig aus.« Am 6. März 1936 legt er das Abitur ab. Von lediglich genügenden Leistungen in Musik und Religion abgesehen, sind die Noten durchweg gut und sehr gut; als Berufsziel gibt Georg Schaeffler »Wirtschaftsingenieur« an.35

In dieser Zeit befindet sich Deutschland in einem Prozess stürmischen Wandels – politisch, militärisch, wirtschaftlich, sozial, weltanschaulich. Ausgelöst durch einen Zusammenbruch der Kurse an der New Yorker Börse wird Deutschland seit dem Herbst 1929 von einer Banken- und Wirtschaftskrise zunächst noch ungeahnten Ausmaßes erfasst. Dass ausgerechnet in dieser Zeit, nämlich am 27. März 1930, in Berlin auch das letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Kabinett demissioniert, macht die Lage nicht besser. Für junge Deutsche wie den dreizehnjährigen Georg Schaeffler heißt das übrigens, dass er erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, also mit 32 Jahren, ein funktionierendes parlamentarisches System kennenlernen wird.

Mehr als 6 Millionen Arbeitslose sind eine, wenn auch nicht die einzige Erklärung für den steilen Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), die bei der Reichstagswahl im Juli 1932 gut 37 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann. Obgleich Ende 1932 beziehungsweise Anfang 1933 erste Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft und zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu greifen beginnen und die NSDAP bei der Novemberwahl 1932 rund 4 Prozent der Stimmen und mehr als 30 Sitze im Reichstag wieder verliert, führt bei der nächsten Regierungsbildung kein Weg an ihr und ihrem »Führer« vorbei – meint jedenfalls Reichspräsident Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernennt.

Der ergreift die Chance und gibt die Macht nicht mehr aus der Hand, bis die alliierten Sieger des Zweiten Weltkriegs – knapp zwölfeinhalb Jahre nach der Machtübernahme durch Hitler und gut fünf Wochen nach dessen Suizid – Anfang Juni 1945 die Oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernehmen und damit dem Terrorregime ein Ende setzen.

Für die erstaunliche Karriere Adolf Hitlers gibt es viele Gründe, nicht zuletzt seine frühen Erfolge. Nach zwei Jahren hat die neue Reichsregierung die Zahl der Arbeitslosen halbiert; im Herbst 1937 ist praktisch die Vollbeschäftigung erreicht. Mit welchen Mitteln und zu welchen Kosten, interessiert vorerst kaum jemanden. Auch auf dem Feld der Außenpolitik erreicht die Regierung Hitler innerhalb weniger Jahre, was keiner Regierung der Weimarer Republik gelungen ist: die weitgehende Revision des Versailler »Schanddiktats«, mit dem die alliierten Sieger im Juni 1919 die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg besiegelt hatten. Dass das Saargebiet, die neue Heimat der Schaefflers, Mitte Januar 1935 nach einer Volksabstimmung ins Reich zurückkehrt, ist zwar im Versailler Vertrag vorgesehen, wird aber von den Nationalsozialisten als Ergebnis ihrer Politik vermarktet.

In diesen Jahren des nationalsozialistischen Aufstiegs wächst Georg Schaeffler heran, und natürlich zieht der Geist der Zeit auch an ihm nicht spurlos vorüber. Als Zwölfjähriger hatte er sich 1929 zunächst der Wandervogelbewegung angeschlossen, die um die Jahrhundertwende gegründet worden war und sich zum Motor der deutschen Jugendbewegung entwickelt hatte. Hinter dem Beitritt stand die Aussicht, hier seinen sportlichen Neigungen nachgehen zu können. Wegen der »Abgelegenheit« von Haus Furpach scheidet er aber schon wenig später wieder aus der Bewegung aus.36

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten tritt Georg Schaeffler dem an seiner Schule neu gegründeten Nationalsozialistischen Schülerbund (NSS) bei. Für den Sechzehnjährigen ist das eine naheliegende Etappe seiner jugendbewegten Zeit. Doch ist auch sie nur von kurzer Dauer, weil der NSS nach der Machtübernahme aufgelöst wird und im März 1933 in der Hitler-Jugend (HJ) aufgeht. Bei Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 hat sie einschließlich des Bundes Deutscher Mädel fast 9 Millionen Mitglieder. Georg Schaeffler tritt der HJ, Standort Neunkirchen, im Juni 1933 bei: Einige Monate nach Auflösung des NSS, so schreibt er in seinem Lebenslauf, »kam es zur Gründung einer H.J.-Kameradschaft in dem nahe des elterlichen Betriebes liegenden Orte. Nach dem Ausscheiden eines älteren Kameraden übernahm ich späterhin die Führung der Kameradschaft. In Anbetracht der bevorstehenden Reifeprüfung bin ich augenblicklich von dieser Tätigkeit beurlaubt.«37

Verlorene Zeit: Fast zehn Jahre verbringt Georg Schaeffler im Arbeits-, Wehr- und Kriegsdienst, im Lazarett und in Gefangenschaft.

Eine deutsche Biographie. Nichts deutet darauf hin, dass der Beitritt zum NSS und zur HJ politisch motiviert gewesen ist. Den jungen Georg Schaeffler begeistern die Technik und die Wirtschaft; Sport und Sprachen haben es ihm angetan. Den Jugendorganisationen der NSDAP tritt er bei, weil sie ihm Möglichkeiten bieten, seinen Neigungen nachzugehen, und weil es für jemanden, der vorwärtskommen will, kaum eine Alternative gibt. Dass der im Saarland aufwachsende Junge zunächst von der nationalen Tonlage, dann von den Erfolgen der neuen Machthaber nicht unbeeindruckt geblieben ist, steht zu vermuten. Aber die Politik an und für sich interessiert den Jugendlichen nicht, und daran wird sich auch in den kommenden Jahrzehnten wenig ändern.

Sicher ist, dass Georg Schaeffler einer Generation angehört, die fast ein Jahrzehnt ihres Lebens verliert – im Arbeits- und Wehrdienst, im Kriegsdienst, im Lazarett und in Gefangenschaft. Denn kaum hat Georg Schaeffler das Abitur in der Tasche, tritt er Anfang April 1936 in Eschwege zum Arbeitsdienst an. Die knapp sechs Monate bis Ende September nutzt er unter anderem, um die Prüfungen für das Deutsche Reichssportabzeichen in Bronze abzulegen. Gerade zwei Wochen bleiben ihm, bevor am 15. Oktober 1936 der Militärdienst beginnt. Georg Schaeffler hat sich freiwillig gemeldet, um diese Etappe möglichst bald hinter sich bringen und dann das Studium aufnehmen zu können. Da wenige Wochen zuvor die zweijährige Dienstzeit eingeführt worden ist, kann der inzwischen Einundzwanzigjährige erst Ende Oktober 1938 die Kaserne in Leipzig wieder verlassen. Dort hat er bei der Nachrichtenabteilung 14 als »Funker und Ausbilder« seinen Wehrdienst abgeleistet.38

Am 3. November 1938 schreibt er sich an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln ein – »Fachschaft: Volkswirtschaft, Fachabteilung: Kaufm. Diplom«. Als Studien- und Berufsziel gibt er »Industriekaufmann« an.39 Zu den erstaunlichen Befunden in der Überlieferungsgeschichte dieser Familie gehört, dass ausgerechnet Dokumente, von denen man das nicht für möglich gehalten hätte, die Wirren der ersten Jahrhunderthälfte überlebten. So sind neben den schon erwähnten Kassenbüchern von Haus Furpach auch zahlreiche Vorlesungsmitschriften sowohl Georg Schaefflers als auch seines älteren Bruders Wilhelm erhalten, aus denen sich ziemlich genau ersehen lässt, was sie an der Kölner Universität gehört und wie sie sich das Gehörte notiert haben.40

Am 20. November 1938, also ganz offenkundig mit Blick auf Studium und Beruf, stellt der Student Georg Schaeffler einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP, dem innerhalb einer Woche stattgegeben wird. Seit dem 1. Dezember 1938 ist er mit einer Mitgliedsnummer jenseits der 7 Millionen Mitglied der Partei; dem NSDStB, dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, gehört er seit dem 11. November 1938 an.41

Georg Schaeffler verbringt sein Studium nicht durchgängig an der Kölner Universität. Abgesehen von seinem langjährigen Fronteinsatz als Soldat der Wehrmacht, von dem noch zu berichten ist, arbeitet er im Frühjahr 1939 zunächst als Werkstudent beim Westdeutschen Kaufhof, im Hochsommer des Jahres bei der Maschinenfabrik Sürth, beide in Köln; das anschließende Semester sieht ihn an der Wirtschaftshochschule in Berlin, wo Bruder Wilhelm inzwischen beruflich Fuß gefasst hat.42

Mit dem Studienbeginn des jüngeren Sohnes in Köln beginnt auch ein neues Kapitel in der Geschichte der Familie. Denn, wie erwähnt, ziehen mit Georg Schaeffler auch seine Eltern Georg Jakob und Anna Carolina im Dezember 1938 vom Saarland an den Rhein. Das Haus in Köln-Junkersdorf, Frankenstraße 46, dürften die Schaefflers da bereits besessen haben. Es gehört zu jenem Immobilienbesitz, den sie zwei Jahre später bei der Firmengründung ihres älteren Sohnes in Oberschlesien einsetzen werden.

Als Georg Jakob und Anna Carolina Schaeffler mit ihrem Sohn Georg an den Rhein kommen, ist Wilhelm schon wieder fort. Anders als sein jüngerer Bruder hat sich Wilhelm Schaeffler gleich nach dem Abitur auf seine berufliche Zukunft konzentrieren können. Von Arbeits- und Wehrdienst, also von zweieinhalb mehr oder weniger verlorenen Jahren, ist zu Ostern 1927 noch nicht die Rede. Der nächste Abschnitt auf Wilhelm Schaefflers Lebensweg ist eine bemerkenswerte Kombination aus praktischen und akademischen Etappen.

Kaum dass er das Reifezeugnis in der Hand hält, ist Wilhelm Schaeffler für ein Dreivierteljahr im Eisen- und Haushaltswarengeschäft Ludwig Becker in Neunkirchen an der Saar tätig, »um im Einzelhandel die Einstellung des Verbrauchers kennen zu lernen«. Gleich anschließend absolviert er ein Praktikum bei der Neunkirchener Eisenwerk AG. Das traditionsreiche Unternehmen gehört seit 1926 zur Kölner Eisen- und Hüttenwerke AG. Deren Besitzer, Otto Wolff, unterzieht das Unternehmen in den folgenden Jahren einem millionenschweren Modernisierungsprogramm. In dieser Zeit, das heißt vor Aufnahme seines Studiums und dann noch zweimal während der Semesterferien, erhält Wilhelm Schaeffler hier Einblick in die »wesentlichsten kaufmännischen Abteilungen«.43

Am 27. April 1928 schreibt sich der Zwanzigjährige – wie gut zehn Jahre später auch sein Bruder Georg – an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Fach Volkswirtschaft mit dem Berufsziel Diplomkaufmann ein. Als Staatsangehörigkeit gibt er – wie seinerzeit der Vater in Metz – »Bayer« an; nach Rückkehr von einem Auslandsjahr wird die Karte mit »Saarländer« gestempelt.44 Sein akademischer Lehrer ist Eugen Schmalenbach. Der Direktor des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsprüfung, Jahrgang 1873, ist nicht nur Akademiker, sondern auch Praktiker, arbeitet als Bilanzprüfer und Unternehmer und ist unter anderem von 1911 bis 1933 Aufsichtsratsvorsitzender der Kölner Treuhand-Gesellschaft. Wilhelm Schaeffler hat in seinem Lehrer Schmalenbach zeitlebens ein Vorbild gesehen.

Erst einmal verlässt er aber dessen betriebswirtschaftliches Seminar und geht für das Wintersemester 1928/29 als Gaststudent an die Pariser Sorbonne. In der französischen Hauptstadt betreibt er »Sprachstudien«, hört »insbesondere rechtswissenschaftliche und volkswirtschaftliche Vorlesungen« und absolviert dort auch bei einer »Kohlengroßhandlung« ein dreimonatiges Praktikum. Ende April 1929 kehrt Wilhelm Schaeffler nach Köln zurück und legt im Sommer 1931 nach sieben Semestern seine Diplomprüfung mit dem Gesamturteil »sehr gut« ab. So wird auch seine Hausarbeit über »Deutsche industrielle Anleihen mit Zusatzrechten« bewertet.45

Mitte April 1932 tritt der Diplomkaufmann als Revisionsbeamter in die Kölner Treuhand-Gesellschaft seines akademischen Lehrers Schmalenbach ein und ist dort im Außendienst tätig. Schon nach einem Jahr, im April 1933, wechselt er als Revisor zur Treuhand Vereinigung A.G. in Dresden. Hier nimmt er nicht nur an den »üblichen Revisionen im Rahmen der Pflichtprüfungen« teil, sondern ist in den folgenden zweieinhalb Jahren auch verschiedentlich beratend in der Industrie tätig.46 Warum Wilhelm Schaeffler die Kölner Treuhand-Gesellschaft nach so kurzer Zeit verlassen hat, ist nicht sicher zu sagen. Womöglich hat es mit dem Rückzug seines Mentors zu tun. Mit einer Jüdin verheiratet, die 1944 knapp der Deportation entgehen wird, kommt Schmalenbach seiner Zwangsemeritierung zuvor und zieht sich aus der Universität und der Treuhand-Gesellschaft zurück

Wahrscheinlich ist es aber so, dass der ehrgeizige und ambitionierte Aufsteiger Wilhelm Schaeffler die Tätigkeiten in den Treuhandgesellschaften von Köln und Dresden lediglich als Stufen auf der Karriereleiter betrachtet hat. Ein regelrechter Karrieresprung ist der nächste Schritt: Am 1. September 1935 wechselt Wilhelm Schaeffler zur »Stellungsverbesserung« in das Industriebüro der Dresdner-Bank-Zentrale nach Berlin. Dort wird Gustav Overbeck sein Mentor, der ihm ein »anziehendes Angebot« unterbreitet hat.47 In ihrer Bedeutung für die berufliche Entwicklung Wilhelms wie auch für die Zukunft der Unternehmerfamilie Schaeffler ist diese Etappe seiner frühen Laufbahn kaum hoch genug zu veranschlagen. Denn hier gibt er seinem beruflichen Profil einen letzten Schliff; hier knüpft er offenbar die Verbindungen, die ihn auf den Weg zum selbstständigen Unternehmer führen; hier kommt er auch in engen Kontakt mit einigen seiner späteren Geschäftspartner.

Im Industriebüro der Dresdner Bank für die »praktische Kreditprüfung in betriebswirtschaftlicher Hinsicht« zuständig, prüft Wilhelm Schaeffler insgesamt 65 Firmen aus verschiedenen Bereichen, knapp die Hälfte davon aus der Textilindustrie. Dazu gehören die »Davistan Krimmer-, Plüsch- und Teppich-Fabriken AG, Berlin – Katscher O.S. und Kaldenkirchen« und »Gebr. Fritsch, Tuchfabrik, Cottbus«.48 Inhaber dieses 1882 gegründeten, seit dem 30. September 1921 als OHG firmierenden Unternehmens sind der Kaufmann Hans Georg Fritsch und sein Bruder, der Textilfabrikant Heinrich Albert – genannt »Heinz« – Fritsch. Heinz Fritsch ist zudem in der Dresdner Bank für die Bewertung der technischen Ausstattung und der Fertigung der zu prüfenden Betriebe zuständig.

Gut anderthalb Jahrzehnte lang werden Wilhelm Schaeffler und Heinz Fritsch in enger beruflicher Partnerschaft und wohl auch persönlicher Freundschaft verbunden sein – in guten wie in schlechten Zeiten. Gemeinsam werden sie nach dem Krieg verhaftet und sitzen jahrelang in einem polnischen Gefängnis, gemeinsam stehen sie dort vor Gericht, gemeinsam wird ihr Fall nach dem Krieg vor der zuständigen Spruchkammer in Wunsiedel verhandelt. Offensichtlich ist Fritsch in vielem die treibende Kraft. Jedenfalls gilt er den polnischen Richtern als »Haupttäter«, Schaeffler hingegen als »zweitrangige Persönlichkeit«. Davon ist noch zu berichten.

Am 3. Februar 1939 erhält Wilhelm Schaeffler die Prokura für die Tuchfabrik der Brüder Fritsch, am 15. August die Einzelprokura. Er ist für den Export zuständig. Vom 31. Dezember 1939 an ist »Herr Georg Schaeffler« mit 200000 Reichsmark an der »Gebr. Fritsch OHG, Cottbus« beteiligt. Ungeklärt ist, ob es sich dabei um Wilhelms Bruder Georg Schaeffler oder, was naheliegt, um seinen Vater Georg Jakob Schaeffler handelt. Fest steht, dass die Familie Schaeffler spätestens seit Jahresende 1939 an der Firma der Brüder Fritsch beteiligt ist. Das gilt wenig später auch umgekehrt: Als sich Wilhelm Schaeffler selbstständig macht, ist Heinz Fritsch in der einen oder anderen Form in den Unternehmen der Schaefflers engagiert. Im Spätsommer 1946, also kurz vor der Verhaftung von Heinz Fritsch und Wilhelm Schaeffler, wird Fritschs Tuchfabrik in Cottbus aus dem Handelsregister gelöscht.49

Da er seinen Posten im Industriebüro der Dresdner Bank nicht als Endstation, sondern lediglich als Etappe seiner beruflichen Laufbahn versteht, lässt sich Wilhelm Schaeffler im Winter 1936 beurlauben, kehrt an die Kölner Universität zurück und meldet sich Mitte Februar 1937 zur Doktorprüfung an, die er im Dezember ablegt. Als Berufsziel gibt Wilhelm Schaeffler jetzt »selbständig« an. Da Eugen Schmalenbach die Universität verlassen musste, wird Franz Helpenstein zu seinem Doktorvater. Eine Buchhandelsausgabe seiner Dissertation erscheint 1941 bei Meiner in Leipzig – herausgegeben von der Schmalenbach-Vereinigung unter dem Titel »Dynamische Bilanz in Beispielen«.50

Als Wilhelm Schaefflers Doktorarbeit im Druck erscheint, ist die Welt das zweite Jahr im Krieg. Hitler hat ihn gewollt. Die Deutschen sind ihm gefolgt. Der sogenannte Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 und die bis März 1939 schrittweise vollzogene Zerschlagung der Tschechoslowakei waren erste Etappen auf einem Weg, der mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 zielgerichtet in den europäischen Krieg und mit der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die USA am 11. Dezember 1941 endgültig in den Weltkrieg führte.

Wie schon im Ersten blieben die Schaefflers auch in diesem Zweiten Weltkrieg von schweren Schlägen verschont. Vor allem müssen sie im engeren Familienkreis keine Opfer beklagen. In einer globalen Katastrophe bis dahin nicht gekannten Ausmaßes, an deren Ende man weltweit bis zu 60 Millionen Tote zählen wird, ist das nicht selbstverständlich. Wilhelm wird nicht einmal zum Kriegsdienst eingezogen. Auch das ist, je länger der Krieg dauert und je verlustreicher er wird, für einen Mann des Jahrgangs 1908 nicht selbstverständlich. Weil Wilhelm Schaeffler aber zunächst in der Firma Gebrüder Fritsch für den Export und damit für die Devisenbeschaffung zuständig, dann Leiter eines »kriegswichtigen« Betriebes ist, wird er als »unabkömmlich« eingestuft.51

Bei seinem jüngeren Bruder sieht das anders aus. Ende Januar 1940 wird Georg Schaeffler »wieder zum aktiven Wehrdienst einberufen«. Einem Antrag auf »Beschaffung von Wehrdienstzeitunterlagen«, den er im August 1968 bei der Zentralnachweisstelle des Bundesarchivs stellt, und der Antwort darauf ist zu entnehmen, dass er von Januar 1940 bis Frühjahr 1943 bei der Nachrichtenabteilung des 41. Panzerkorps eingesetzt ist und an den Feldzügen gegen Frankreich, Jugoslawien und die Sowjetunion teilnimmt. Am 1. August 1940 wird Georg Schaeffler zum Leutnant und 1942 zum Oberleutnant befördert. Ausgezeichnet wird er mit der sogenannten Ostmedaille und dem Eisernen Kreuz 2. Klasse.52

Offenbar wird Georg Schaeffler an der Ostfront verwundet und verbringt danach einige Zeit in einem Kölner Lazarett. Von Frühjahr 1943 an tut er als Ausbildungskompaniechef bei der Panzer-Nachrichtenabteilung in Köln-Lindenthal Dienst, kommt im August 1944, also nach der Landung der Alliierten in der Normandie, als Führer einer gemischten Nachrichtenkompanie an der Westfront zum Einsatz und wird anschließend dem 13. Armeekorps unterstellt. Die Kapitulation der Wehrmacht erlebt er bei der Nachrichtenkompanie Eingreifgruppe Süd und »kommt« am 8. Mai 1945 »in amerikanische Gefangenschaft«, wie er wenige Tage später seinen Eltern und Geschwistern schreibt.53 Nach kurzer Internierung im Lager Bad Wiessee/Rottach-Egern wird er bereits im Juni 1945 auf freien Fuß gesetzt.

Keine Frage, Georg Schaeffler hat die brutale Wirklichkeit des Krieges kennengelernt, wenn auch die Feldzüge gegen Frankreich und Jugoslawien im Mai und Juni 1940 beziehungsweise April 1941 jeweils nach wenigen Wochen abgeschlossen waren. Aber der Vierundzwanzigjährige hat eben auch an der ersten Phase des sogenannten Russlandfeldzuges teilgenommen, mit dem Hitler am 22. Juni 1941 zugleich einen rassenideologischen Vernichtungskrieg bis dahin nicht bekannter Dimensionen eröffnete. Was Georg Schaeffler dabei erlebt und gesehen hat, wissen wir nicht. Jedenfalls kämpfte seine Einheit in der Schlacht um Moskau, die im Winter 1941/42 die Kriegswende an dieser Front herbeiführte.

Für Georg Schaeffler sind die Kriegsjahre eine verlorene Zeit. Das Studium zieht sich in die Länge. Immerhin wechseln sich die Einsätze an der Front mit Heimataufenthalten ab. So wird er von Mitte Oktober 1940 bis Mitte April 1941 »zum Studium beurlaubt«, ersucht Anfang Februar 1941 um Zulassung zur Kaufmännischen Diplomprüfung und bittet bei der Gelegenheit, die »vorgeschriebene freie wissenschaftliche Arbeit … nach Kriegsende nachliefern« zu dürfen. Dass dieses Ende noch mehr als vier Jahre auf sich warten lassen wird, hat sich kaum jemand vorstellen können; dass ihm der Abschluss dann doch noch während des Krieges gelingt, hat mit seinem Lazarettaufenthalt zu tun.

Am 24. Oktober 1944 kann Georg Schaeffler das Studium mit gutem Erfolg abschließen. In seiner Diplomarbeit befasst er sich mit der »Betriebswirtschaftlichen und steuerlichen Betrachtung der Kriegsbetriebsgemeinschaften in Handel und Industrie unter besonderer Berücksichtigung der Vertragsgestaltung«. Der Gutachter attestiert ihm eine »straffe sprachliche Formulierung« sowie eine »klare Gliederung und Ausführung« und beurteilt die Arbeit mit »gut«.54

Als Georg Schaeffler sein Studium beendet, ist er bereits Teilhaber jener beiden Unternehmen, die sein Bruder in Oberschlesien übernommen beziehungsweise gegründet hat. Wilhelm Schaeffler beginnt seine Unternehmerlaufbahn, als er am 1. Oktober 1940 die Mehrheit der Davistan Krimmer-, Plüsch- und Teppichfabriken Aktiengesellschaft mit Sitz in Berlin und mehreren Werken im oberschlesischen Katscher erwirbt. Man muss diese Geschichte und das, was aus ihr folgt, im Einzelnen erzählen. Zum einen liegt hier der Nukleus des späteren Weltkonzerns, und zum anderen spielt dieses Kapitel in der existenziellen Krise eine Rolle, in die das von Wilhelm und Georg Schaeffler gegründete Unternehmen 2008 geraten wird.

»Einzige reichsdeutsche Knüpfteppich-Weberei«: Die Textilfertigung der Davistan Krimmer-, Plüsch- und Teppichfabriken AG in Katscher gehört zu den größten ihrer Art in Deutschland.

Die komplexe Geschichte lässt sich nicht ganz lückenlos, aber doch insgesamt geschlossen darstellen, weil die meisten Akten in den deutschen und polnischen öffentlichen und privaten Archiven den Krieg und die Nachkriegszeit überdauert haben. Das gilt für die hier infrage kommenden Akten des Militärarchivs, die im Bundesarchiv aufgehoben werden, für die Bestände der Dresdner Bank, für die Akten des Staatsarchivs in Oppeln und des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau, in dem die Akten von Polens Oberstem Gericht aufbewahrt werden, für die Akten der Spruchkammerverfahren gegen Wilhelm und Georg Schaeffler sowie nicht zuletzt für die Bestände des Archivs der Familie Schaeffler. Was auch deshalb erstaunt, weil diese Papiere 1945 zunächst die Flucht aus Katscher und danach einige Umzüge im Fränkischen überstanden haben.

In unmittelbarer Nähe von Leobschütz gelegen, ist der vorwiegend von Katholiken besiedelte Ort Katscher 1321 durch den Bischof von Olmütz zur Stadt erhoben worden. Seit der Gründung zu Mähren gehörend, fällt er 1742 infolge des Ersten Schlesischen Krieges an Preußen. Als nach dem Ersten Weltkrieg dieser Teil Oberschlesiens über seine politische Zukunft entscheiden kann, votieren am 20. März 1921 praktisch alle Stimmberechtigten unter den knapp 8500 Einwohnern für den Verbleib beim Deutschen Reich.

Wirtschaftlich ist Katscher schon seit dem frühen 19. Jahrhundert durch die Textilindustrie geprägt, macht sich auch als Weberstadt einen Namen, der aber mit der Zeit verblasst, weil man mit der technischen Entwicklung nicht Schritt halten kann. Mit der Eröffnung der Kleinbahnstrecke Katscher–Großpeterwitz, die den direkten Transport der Waren nach Berlin möglich und die Stadt auch für Fabrikanten aus der Hauptstadt interessant macht, gelangt die Produktion von Plüsch, Teppichen, Gobelins, Krimmer, Tisch- und Diwandecken in Katscher nach der Wende zum 20. Jahrhundert zu neuer Blüte. Die größte und modernste Textilfabrik am Ort ist die Plüsch- und Teppichweberei David & Co.

Die Firma ist 1850 als David & Co. in Berlin gegründet worden. Der Gegenstand des Unternehmens ist ebenso unbekannt wie seine Entwicklung in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens. Dokumentiert ist, dass es mit verschiedenen Zusätzen firmiert, Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts als »Plüsch-, Krimmer-, Möbelstoff-, Decken- und Teppichfabriken. Gegründet 1850«. Schon zur Jahrhundertwende hat David & Co. im oberschlesischen Katscher Grundstücke erworben und dort 1905 eine eigene Fertigung in Betrieb genommen. 1923 und 1933 kauft die Firma in der Stadt acht weitere Grundstücke, die meisten inklusive Werken und Wohnungen, und baut ihre Betriebe zu einem »Riesenunternehmen« aus, wie es in einem zeitgenössischen Bericht über die Lage der Handwerker in Katscher heißt.55

Als Wilhelm Schaeffler die Firma 1940 übernimmt, beläuft sich die gesamte Produktionsfläche auf 40000 Quadratmeter. Mit den markanten, bis zu 50 Meter hohen Schornsteinen der vier Werke, dem Bahnanschluss mit eigenem Gebäude von Werk I und dem siebenstöckigen Eisenbetonhochbau von Werk II drückt das Unternehmen der Stadt seinen Stempel auf. Was in der Firma steckt, lässt eine Aufzeichnung erkennen, die Wilhelm Schaeffler im Herbst 1951 angefertigt hat: »Teppichweberei … mit großer Färberei, Weberei und allen Trocken- und Nass-Appretureinrichtungen. Außerdem die einzige reichsdeutsche mechanische Knüpfteppich-Weberei, deren Maschinenpark nach dem ersten Weltkrieg allein den Anschaffungswert von über 1 Million Mark kostete … Herstellung von gewebten Pelzen aller Art, insbesondere Persianerimitationen. Diese Produktion erreichte mehr als die Hälfte der gesamtdeutschen Produktion dieser Art. Große Spezialfärberei, Weberei und komplette Appretur. Einschließlich der Teppichweberei waren mehr als 300 Webstühle vorhanden.« Und so weiter und so fort. Da Wilhelm Schaeffler zunächst mit der Abzahlung des Kredits, dann mit dem Einstieg in die Rüstungsfertigung beschäftigt war, ist das im Wesentlichen eine Bestandsaufnahme dessen, was der vormalige jüdische Eigentümer Ernst Frank hinterlassen hat.56

4 Werke, 40000 Quadratmeter, 1400 Mitarbeiter: In Werk I (oben) fertigt die Wilhelm Schaeffler AG bis März 1945 Textilien. In Werk IV produziert die Wilhelm Schaeffler KG seit März 1943 Rüstungsgüter.

Ernst Franks Vater Georg Frank hatte in die Familie David eingeheiratet. Seit 1923 betreiben die Franks das Unternehmen als Kommanditgesellschaft. Einige Jahre gehen die Geschäfte sehr gut, dann wird auch diese Firma von den Folgen der Weltwirtschaftskrise erfasst. Setzen David & Co. 1928 – dem »maßgebenden Geschäftsjahr für die Berechnung des Betriebsrückganges« – noch gut 6,5 Millionen Reichsmark um, sind es 1933 nur noch 4 Millionen.57 Zu den wirtschaftlichen gesellen sich mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 politische und gesellschaftliche Probleme, die den Eigentümern von David & Co. spätestens mit dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 in aller Deutlichkeit vor Augen treten.

Vor diesem Hintergrund verlässt Ernst Frank im Sommer 1933 Deutschland, das er nicht wiedersehen wird. Das gilt auch für Vater Georg Frank, der seinen Wohnsitz schon Ende der zwanziger Jahre nach Paris verlegt hat. Zurück bleiben das Unternehmen in Katscher und Schulden in erheblichem Umfang. »Der gesamte Grundbesitz der Firma«, heißt es in einem Schreiben der Firma an die Behörden vom November 1941, »wurde mit Eigentümergrundschulden auf den Namen Georg Frank, Ernst Frank und auch die Firma David & Co. belastet. Als Sicherheit für Kredite wurden die Eigentümergrundschulden den kreditgebenden Banken, und zwar der Dresdner Bank und dem Bankhaus Mendelssohn & Co., verpfändet … Während der ganzen Jahre konnte keine Dividende bezahlt werden.« Da die Banken zu dem Schluss kommen, dass der Schuldner nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wird, lassen sie seine Firma am 9. Dezember 1933 in Konkurs gehen.58

Die Konkursverwalter übernehmen einen Betrieb, dessen Geschäfte zuletzt zwar schlecht gelaufen sind, der sich aber insgesamt in einem guten Zustand befindet. Das zeigen die beträchtlichen Aktiva, über die das Unternehmen verfügt. Insgesamt handelt es sich um Vermögen im Wert von fast 4 Millionen, inklusive jener 224000 Reichsmark, die aus der Konkursmasse des Inhabers Ernst Frank stammen. Diese »gesamten … Aktivmassen einschließlich des laufenden Fabrikations- und Handelsgeschäftes« erwirbt die Nachfolgegesellschaft Davistan Krimmer-, Plüsch- und Teppichfabriken Aktiengesellschaft, die am 29. Mai 1934 aus der Taufe gehoben und im Folgenden als »Davistan AG« zitiert wird. Die Übernahme erfolgt »mit Rückwirkung vom 9. 12. 1933«, dem Tag des Konkurses, womit zugleich das kurze Kapitel einer Auffanggesellschaft aus den Annalen des Unternehmens gestrichen wird. Zum Jahresende 1934 zählt die »Gefolgschaft 590 Personen«.59

Zweck der Davistan AG bleibt die »Herstellung von Krimmer, Plüsch und Teppichen, überhaupt Textilien jeder Art und der Vertrieb sämtlicher Erzeugnisse«. Das Grundkapital beträgt eine Million Reichsmark. Die Dresdner Bank kontrolliert Aktien im Nominalwert von 735000, das Bankhaus Mendelssohn & Co. im Nominalwert von 245000, Direktor Franz Breitschädel im Nominalwert von 20000 Reichsmark, also 2 Prozent,60 die er bis 1940 zunächst auf 10 Prozent aufstocken wird.

Breitschädel, in Katscher geboren, ist seit Aufnahme der Produktion im Jahr 1905 im Betrieb, erhält 1922 als Technischer Leiter der Werke Prokura und ist eine der Schlüsselfiguren in dieser Geschichte. Offensichtlich besitzt er das Vertrauen der Eigentümerfamilie und versteht sich, nachdem Ernst Frank Deutschland verlassen hat, als dessen Nachfolger und Sachwalter. Während sich die Kaufmännischen Leiter des Unternehmens von 1934 an die Klinke in die Hand geben, bleibt Breitschädel als Technischer Direktor und Vorstand schon deshalb an Bord, weil er das Unternehmen so gut kennt wie niemand sonst.

Auch die neue Gesellschaft muss ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. Kann die Davistan AG 1934 noch einen geringfügigen Überschuss von gut 25000 Reichsmark ausweisen, steht im folgenden Jahr trotz erheblicher Einsparungen ein Verlust von 225000 Reichsmark in den Büchern.61 Die Probleme des Unternehmens sind ein Spiegel der Schwierigkeiten, in denen sich die Stadt Katscher befindet. Wie dramatisch die Lage ist, schildert der Bürgermeister dem Landrat in Leobschütz Mitte Juli 1934 in einem Brandbrief. Danach begann die Misere im Sommer 1919 mit dem Friedensvertrag von Versailles, der das sogenannte Hultschiner Ländchen der gerade gegründeten Tschechoslowakei zuschlug. Seither verläuft die Grenze zwei Kilometer südlich der Stadt, der jetzt das »Hinterland« fehlt. »Von der einst blühenden Plüsch-, Krimmer- und Teppichindustrie sind 7 Fabriken eingegangen … Fast jeder 2. Einwohner ist auf öffentliche Unterstützung angewiesen.« 1934 hat die Stadt fast 1,5 Millionen Reichsmark Schulden.

Gleichsam nebenher macht der Bürgermeister darauf aufmerksam, dass »sich in den von den Davistan-Werken hergestellten Artikeln das Geschäft mit dem Groß- und Einzelhandel auf einige wenige Monate im Sommer und Herbst konzentriert, dass das Unternehmen also ein ausgesprochener Sommerbetrieb ist«.62 Und dann ist da noch die Devisenbewirtschaftung. Schon 1931 ist in Deutschland eine begrenzte Devisenkontrolle eingeführt worden. Seit 1933 wird diese von den Nationalsozialisten konsequent als Mittel zur Finanzierung ihres Aufrüstungsprogramms und als Instrument zur Enteignung Auswanderungswilliger, vor allem deutscher Juden, eingesetzt. Vordergründig verfolgt Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht damit das Ziel, das Außenhandelsdefizit des Reiches in den Griff zu bekommen.

Die Importbeschränkungen vom Frühjahr 1934 haben zur Folge, dass die für die Krimmer-, Plüsch- und Teppichproduktion notwendigen Garne nicht mehr ohne weiteres aus England eingeführt werden können. Schon im Mai 1934 hatte die damalige Davistan-Auffanggesellschaft an die Devisenstelle des Landesfinanzamtes Berlin geschrieben: »Falls wir nicht die Genehmigung zum Import bezw. zur Bezahlung englischer Garne in ausreichender Menge erhalten, muss unser Betrieb in Kürze zum Erliegen kommen.« Die Alternative, nämlich die Umstellung der Produktion durch »Beimischung von Zellwolle und Kunstseide«, genügt nicht den Ansprüchen, die die Kundschaft an die Firma stellt, und braucht zudem ihre Zeit.63

Schließlich wird ein Vorwurf laut, der auch erklärt, warum Ernst Frank unabhängig von der schwierigen Geschäftslage Deutschland verlassen hat: Die Davistan AG