Herrenknecht - Gregor Schöllgen - E-Book

Herrenknecht E-Book

Gregor Schöllgen

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Beschreibung

Biographie eines Pioniers

Wer bohrt, kommt weiter. So lautet sein Motto. Und Martin Herrenknecht ist sehr weit gekommen. 1975 mit der Eröffnung eines Ingenieurbüros beginnend, hat der Tunnelbauer einen Konzern aufgebaut, der mit etwa 5000 Mitarbeitern an weltweit rund 70 Standorten bis zu 1,14 Milliarden Euro umsetzt. Heute ist die Herrenknecht AG im badischen Schwanau-Allmannsweier nicht nur die weltweit führende Anbieterin für Vortriebstechnik. Sie ist auch das einzige Unternehmen dieser Branche, das sich noch vollständig in Familienbesitz befindet.

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Wer bohrt, kommt weiter. So lautet sein Motto. Und Martin Herrenknecht ist sehr weit gekommen. 1975 mit der Eröffnung eines Ingenieurbüros beginnend, hat der Tunnelbauer einen Konzern aufgebaut, der mit etwa 5000 Mitarbeitern an weltweit rund 70 Standorten bis zu 1,14 Milliarden Euro umsetzt. Heute ist die Herrenknecht AG im badischen Schwanau-Allmannsweier nicht nur die weltweit führende Anbieterin für Vortriebstechnik. Sie ist auch das einzige Unternehmen dieser Branche, das sich noch vollständig in Familienbesitz befindet.

Gregor Schöllgen

Herrenknecht

Biographie eines Pioniers

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2023 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Bildbearbeitung: Aigner, Berlin

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31210-7V001

www.dva.de

Vorwort

Wer bohrt, kommt weiter. So lautet sein Motto. Und Martin Herrenknecht ist weit gekommen. Sehr weit sogar. Innerhalb von nicht einmal fünf Jahrzehnten hat er aus einem Einmannbüro einen Konzern aufgebaut, der heute mit etwa 5000 Mitarbeitern an weltweit rund 70 Standorten bis zu 1,14 Milliarden Euro umsetzt. Im 80. Lebensjahr ihres Gründers ist die Herrenknecht AG im badischen Schwanau-Allmannsweier nicht nur die weltweit führende Anbieterin für Vortriebstechnik. Sie ist auch das einzige Unternehmen dieser Art in der Branche, das sich nach wie vor vollständig in Familienbesitz befindet. 1

Als ich Martin Herrenknecht erstmals begegnete und er mich unter anderem durch die imposante Fertigung seiner Firma führte, fand ich die Verbindung von zupackendem Unternehmer und engagiertem Zeitgenossen bemerkenswert und ungewöhnlich, seine direkte und in gewisser Weise kompromisslose Art gewöhnungsbedürftig, kurzum: eine Herausforderung der besonderen Art.

Die Einladung Martin Herrenknechts, seinen Spuren zu folgen, nahm ich wie in allen vergleichbaren Fällen unter der Bedingung an, dass er mir uneingeschränkten Zugang zu seinen persönlichen Papieren sowie zum Archiv seines Unternehmens gewähren und mir für Gespräche zu den Themen meiner Wahl zur Verfügung stehen würde. Das sagte er mir zu, und daran hat er sich ohne Wenn und Aber gehalten. Daher gilt Martin Herrenknecht mein besonderer Dank.

Für aufschlussreiche Gespräche, Informationen und Dokumente aller Art danken darf ich auch Mitgliedern seiner Familie, namentlich seinem Bruder Dieter und seinem Sohn Martin-Devid Herrenknecht, einer Reihe aktiver und ehemaliger Mitarbeiter sowie einigen Weggefährten, die Martin Herrenknecht mitunter seit Jahrzehnten eng begleiten.

Das gilt insbesondere für Werner Burger, Leiter der Abteilung Konstruktion und Entwicklung und Mitglied der Geschäftsleitung Traffic Tunnelling, und für Achim Kühn, Leiter Konzernmarketing und Unternehmenskommunikation, die erheblich dazu beigetragen haben, dass ich mich auf sicherem Terrain bewege. Die Verantwortung für das Folgende trage ich selbstverständlich allein.

Gregor Schöllgen

Erlangen, im Januar 2023

© Herrenknecht AG

Jeden Tag was Neues

Auf der Suche nach dem Traumberuf

1942–1975

Allmannsweier ist nicht gerade der Nabel der Welt. 2022 zählt die im badischen Ortenaukreis gelegene Gemeinde 1650 Einwohner. Viel mehr gäbe es kaum zu berichten, wäre hier nicht ein weltweit tätiger Konzern ansässig. Übersehen kann man den Betrieb nicht, wenn man sich Allmannsweier nähert. Das ist nicht selbstverständlich. Denn die Herrenknecht AG ist im Untergrund tätig. Allerdings werden die Maschinen, die sie unten einsetzt, oben gebaut. Und weil viele dieser Maschinen riesige Dimensionen haben und die Gegend ziemlich flach ist, sieht man die bis zu 20 Meter hohen und bis zu 200 Meter langen Kraftpakete, schon lange bevor man den Ort erreicht.

Es muss gute Gründe gegeben haben, warum Martin Herrenknecht sein Unternehmen für »die Entwicklung und den Vertrieb und den Service von Tunnelvortriebsmaschinen, Tunnelausrüstungen, ölhydraulischen Anlagen und maschinentechnischen Anlagen«, damals noch als GmbH, am 5. Dezember 1977 ausgerechnet hier ins Leben gerufen hat. Verstehen kann man das nur, wenn man die Historie von Allmannsweier kennt. Denn die Geschichten der Familie Herrenknecht und des Fleckens Allmannsweier sind zwei Seiten einer Medaille.

Urkundlich wird Allmannsweier erstmals 1016 erwähnt, damals noch unter dem Namen »Almensweier«. Wie vielerorts im süddeutschen Raum wechselt und zersplittert auch hier die Herrschaft über den Ort während der folgenden Jahrhunderte. Manche Herrschaften verschwinden spurlos, andere, wie die der Freien Reichsstadt Straßburg, haben weitreichende Folgen, denn mit ihr hält auch der Protestantismus Einzug. Von den Verwerfungen, die weite Teile des Elsass, Schwabens und Frankens infolge des Bauernkriegs erfassen, ist Allmannsweier 1525 nur am Rande betroffen, wenn auch einzelne Bewohner an Aufständen im Umland beteiligt gewesen sein sollen. 1

Schlimm trifft es die Ortschaft hingegen während des sogenannten langen 17. Jahrhunderts. Die Jahrzehnte zwischen 1618 und 1714, also vom Beginn des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, sind eine Art permanenter Kriegszustand. Das Dorf liegt mitten in der neuen weltpolitischen Konfliktzone, die am Oberrhein zwischen der französischen und der habsburgischen Großmacht verläuft. Erste kriegerische Scharmützel in Allmannsweier sind für 1622 und 1623 aktenkundig, 1624, 1627 und 1628 beziehen Armeen wechselnder Kriegsparteien Quartier.

Von 1632 an kommt es zur Plünderung durch schwedische Truppen, anschließend zur Besetzung durch das kaiserliche Heer. Mit dem Eingreifen Frankreichs spitzt sich die Lage im Bezirk Ortenau dramatisch zu. 1636 und in den folgenden Jahren verlassen praktisch alle dort Ansässigen ihre Heimat und suchen Schutz in der Reichsstadt Straßburg. 1649, ein Jahr nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, sind in Allmannsweier gerade noch 28 Bürger verzeichnet. Es kommt noch schlimmer. Während der neuerlichen französische Expansion werden die Gegend und der Ort seit 1675 in Wellen von Kriegszügen und Plünderungen überzogen, die erst enden, als Frankreich 1714 mit dem Frieden von Rastatt aus dem Krieg genommen wird.

Man mag es kaum glauben, aber offenbar sieht es andernorts noch trostloser aus als in Allmannsweier und Umgebung. Der Ackerbau des Alpenraums gibt einfach nicht genug her, um die rasch wachsende Bevölkerung ernähren zu können. Und so ziehen – in der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnend und bis in die Dreißigerjahre des 18. Jahrhunderts anhaltend – Schweizer Familien an den Oberrhein. Einige der Neuankömmlinge stranden in Allmannsweier und sind hier als Handwerker tätig. Auch wenn es keinen unmittelbaren, zumindest keinen greifbaren Zusammenhang zwischen den Ereignissen dieser Zeit und denen des 20. Jahrhunderts gibt, fällt die Verbundenheit zwischen der Schweiz und Allmannsweier auf. Noch die Herrenknechts der jüngeren Generationen fühlen sich offensichtlich von der Alpenrepublik angezogen.

Auf das kriegerische 17. Jahrhundert folgen auch für Allmannsweier ruhigere Jahrzehnte, den Eintritt in das sich formierende Großherzogtum Baden, der 1806 vollzogen wird, eingeschlossen. Erst mit der Revolution des Jahres 1848, so sie denn überhaupt eine gewesen ist, hält auch das Weltgeschehen wieder Einzug. Offenbar findet der begabte badische Agitator Friedrich Hecker in Allmannsweier derart viele Anhänger, dass der Bürgermeister, obgleich treu zum Großherzog stehend, abgesetzt wird. Die Allmannsweierer überleben auch diesen Akt und die neuerliche Einquartierung, eine Folge der Niederschlagung der Revolution durch preußische Truppen.

Bald stehen die Bewohner so gut da, dass sie sich Anfang der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts ein neues Rathaus, ein zweites Schulhaus und auch noch die Renovierung ihres Kirchturms leisten können. Die Gründung des zweiten deutschen Kaiserreichs, von der noch zu berichten ist, trägt das Ihre dazu bei, dass der innere und äußere Frieden Einzug in Allmannsweier hält und sich der neue Wohlstand stabilisiert.

Diese Entwicklung kommt gerade zur rechten Zeit, denn die Bevölkerung wächst stetig. Damit wird eine auffallende Trendwende eingeleitet. Seit dem frühen 18. Jahrhundert hatten viele Bewohner der dörflichen Enge, den wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen und immer wieder auch den Begleiterscheinungen und Folgen des Kriegs durch Auswanderung zu entkommen versucht. Anfänglich zog es sie vor allem nach Siebenbürgen. Unter den Aussiedlern waren 1770 und 1771 auch mehrere Männer mit Namen »Herrenknecht«, die Allmannsweier mit ihren Familien und dem Versprechen auf Landzuweisung und Verdienst in Richtung Transsilvanien verließen. Später wurden dann die USA zum bevorzugten Ziel der Auswanderer. Allein zwischen 1840 und 1850 zog es insgesamt 146 Allmannsweierer nach Nordamerika. Mit der wirtschaftlichen Prosperität versiegt dieser Strom. Neue Einnahmequellen wie der Tabakanbau tun ein Übriges.

Der Tabakanbau ist nicht nur für die Landbevölkerung, sondern auch für Handwerker wie den Polsterer Emil Herrenknecht attraktiv, der sich mit dem Nähen von Tabakgurten eine zusätzliche Einkommensquelle erschließt. Auch der technische Fortschritt nimmt Fahrt auf. Zwar wird Allmannsweier erst 1911 an das Stromnetz angeschlossen, doch schon seit 1894 verbindet eine dampfgetriebene Schmalspurbahn die Ortschaft mit Lahr, der nächstgelegenen größeren Stadt. Mit der Bahn werden Emil Herrenknechts Söhne Dieter und Martin zur Schule fahren.

Seit wann die Herrenknechts in Allmannsweier ansässig sind, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Sicher ist, dass sie zu den alteingesessenen Familien dieser Ortschaft zählen und dass sie – wie die meisten anderen auch – evangelischer Konfession sind. Daher spiegelt sich ihre Geschichte nicht zuletzt in den Kirchenbüchern insbesondere der evangelischen Gemeinde Allmannsweier wider. Darin wurden von den Ortspfarrern Ereignisse festgehalten, die mit christlichen Amtshandlungen in Verbindung stehen, soweit sie in der Gemeinde vollzogen wurden: Taufe, Konfirmation, Eheschließung, Beerdigung. 2

Johann Georg Herrenknecht, Martin Herrenknechts Urgroßvater, der am 14. Februar 1829 in Allmannsweier geboren wird, ist wie die meisten Angehörigen der Familie Landwirt. Und er ist offenbar in Allmannsweier eine bekannte Persönlichkeit, versieht unter anderem das Amt des Straßenwarts. Johann Georg Herrenknecht ist zweimal verheiratet. Am 14. Oktober 1856 ehelicht er Magdalena Hundertpfund, die am 15. Mai 1830 das Licht der Welt erblickt hat. Aus der Ehe sind zwei Söhne, der am 15. November 1856 geborene Johann Georg (»Georg«) sowie der am 2. März 1858 geborene Johannes, hervorgegangen. Ein drittes Kind, die am 2. August 1863 geborene Tochter Maria Salome, verstirbt nach acht Monaten, ein Jahr vor ihrer Mutter.

Nach dem Tod seiner Frau 1865 heiratete Johann Georg Herrenknecht am 30. Oktober 1866 erneut. Mit Anna Maria Schillinger, die am 27. Februar 1834 im Nachbarort Wittenweier zur Welt gekommen ist, hat Johann Georg Herrenknecht vier weitere Kinder. Der älteste Sohn Wilhelm, Martin Herrenknechts Großvater, wird am 2. September 1867 geboren, die Töchter Anna Maria und Christina am 12. Dezember 1869 beziehungsweise am 14. Oktober 1874, Sohn Karl schließlich am 15. Dezember 1877. Wie ihre ältere Halbschwester Maria Salome verstirbt auch Christina Herrenknecht bereits im Kleinkindalter. 3

Die Jahre, in denen Johann Georg Herrenknecht seine zweite Familie gründet, fallen in eine für Deutschland und damit zwangsläufig auch für Europa außerordentlich bewegte Zeit. Nur wenige Jahre hat es gedauert, bis der preußische Ministerpräsident und erste Reichskanzler Otto von Bismarck mit dem Deutschen Reich einen Nationalstaat auf deutschem Boden und mit diesem ein neues Kraftzentrum in der Mitte Europas etabliert hatte. Der Weg dorthin führte über Kriege gegen Dänemark, Österreich und zuletzt Frankreich. Der Abschluss des Ganzen, die Proklamation des Deutschen Reichs im Schloss Versailles am 18. Januar 1871, war eine Machtdemonstration und eine Demütigung des französischen Nachbarn, zumal der auch noch Elsass und Lothringen an das Kaiserreich abzutreten hatte.

Fortan und bis zum Untergang des Deutschen Reichs im Frühjahr 1945 bildet der Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich eine Konstante europäischer Politik. Andere Faktoren und Entwicklungen kommen erschwerend hinzu und lassen schon bald erkennen, dass der neue Nationalstaat wegen seines wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gewichts, aber auch wegen seiner exponierten geostrategischen Lage und seiner hohen Bevölkerungszahl mit dem überkommenen Gleichgewicht der Kräfte in Europa kaum vereinbar ist. Zweimal, 1914 und 1939, eskaliert die Lage, beide Male ist es Deutschland, das den ersten Schritt in einen großen europäischen Krieg tut.

Auch die Familie Johann Georg Herrenknechts bleibt von diesen Zeitläuften, insbesondere von den beiden Weltkriegen, nicht verschont. Das hat zum einen mit der Lage von Allmannsweier zu tun; der deutsch-französische Gegensatz ist, wie schon so oft in der Geschichte, in dieser Gegend unmittelbarer spürbar als andernorts. Und ein großer Krieg berührt so oder so jede einzelne Familie. Besonders hart trifft es Karl Herrenknecht, das jüngste der sieben Kinder Johann Georg Herrenknechts. Der Großonkel Martin Herrenknechts verbringt den Ersten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag im Feld und verliert im Zweiten Weltkrieg, von dem noch zu berichten ist, seine drei Söhne. Er selbst stirbt am 7. September 1944.

Das Verhältnis der Kinder aus den beiden Ehen Georg Johann Herrenknechts untereinander ist offenkundig nicht ungetrübt. Wie so oft spielen auch hier Vermögens- beziehungsweise Erbschaftsfragen eine Rolle. Vier Jahre nach dem Tod des Vaters Johann Georg Herrenknecht stehen sich die Halbgeschwister vor dem Großherzoglichen Landgericht Offenburg »wegen Erbteilung« gegenüber. Vertreten durch den Lahrer Rechtsanwalt Strohmeyer, werden die beiden älteren Halbgeschwister, also Georg Herrenknecht und sein jüngerer Bruder Johannes (»Johann«) Herrenknecht, »Bierbrauer in Allmannsweier«, als Kläger vorstellig. Georg Herrenknecht erscheint nicht persönlich, sondern wird durch den ebenfalls aus Allmannsweier stammenden Polizeidiener Karl Dürr als »Pfleger« vertreten. Sein Aufenthaltsort ist zum Zeitpunkt der Verhandlung nicht bekannt. 4

Als Beklagte stehen die drei Halbgeschwister aus der zweiten Ehe von Vater Johann Georg Herrenknecht vor Gericht, nämlich Martin Herrenknechts Großvater, der Landwirt Wilhelm Herrenknecht, sein Bruder, der Schmied Karl Herrenknecht, sowie deren ledige Schwester Anna Maria Herrenknecht, alle aus Allmannsweier. An insgesamt drei Verhandlungstagen im Juni, September und November 1901 wird der Fall »Herrenknecht gegen Herrenknecht« vor der Zivilkammer II des Großherzoglichen Landgerichts Offenburg verhandelt.

Dabei geht es um das Erbe des am 4. März 1897 verstorbenen Vaters Johann Georg Herrenknecht – »Schneiders Sohn« und verwitweter Landwirt in Allmannsweier –, genauer gesagt um die Frage, in welchem Maße die drei Kinder aus zweiter Ehe vom Vater schon vor seinem Ableben bedacht, also bevorzugt behandelt worden sind. Obgleich der älteste Sohn aus erster Ehe, der bei den Verhandlungen nicht anwesende Georg Herrenknecht, nach dem Tod des Vaters den größten Einzelbetrag erhalten hatte, fühlt sich dessen Bruder Johannes durch seine drei Halbgeschwister aus des Vaters zweiter Ehe, die »Vorempfänger«, übervorteilt.

Tatsächlich scheinen Karl, Anna Maria und insbesondere Wilhelm Herrenknecht vom Vater mit deutlich mehr Vermögen ausgestattet worden zu sein, als sie zunächst angegeben hatten. Das wirft ihr älterer Halbbruder Johannes Herrenknecht ihnen jetzt vor Gericht vor. So habe Wilhelm, Martin Herrenknechts Großvater, einen Acker samt Erträgen, eine Wiese sowie zwei Wagenladungen Stroh nicht als Erbe des Vaters deklariert. Damit nicht genug, habe der Vater 1885 und 1895 zwei Grundstücke in Allmannsweier erworben und seinem Sohn Wilhelm geschenkt. Ähnlich seien auch Anna Maria und Karl Herrenknecht, Martin Herrenknechts Großtante und Großonkel, vor dem Tod des Vaters mit Land bedacht worden. So sei Anna Maria in den Besitz zweier Grundstücke im Nachbardorf Langenwinkel gelangt, die der Vater 1891 und 1893 gekauft und anschließend seiner Tochter geschenkt habe. Und schließlich sei das Wohnhaus des Vaters, das er Wilhelm im Oktober 1893 inklusive des Gartens geschenkt hatte, mit einem zu niedrigen Wert in die Vermögensaufstellung eingegangen.

Aus alledem folgt für den klagenden älteren Halbruder, den Bierbrauer Johannes Herrenknecht, dass sein Erbteil zu niedrig ausgefallen sei. Sein Ziel ist nicht nur die Anerkennung der früheren Schenkungen als vorab ausbezahlte Anteile des Gesamterbes, sondern auch der Ausschluss seiner Halbgeschwister in Höhe der geschenkten Vermögenswerte bei der Neuverteilung des Nachlasses.

Am 29. November 1901 endet der Streit mit einem Sühnetermin und einem Vergleich. Danach wird Johannes Herrenknechts Erbanspruch um 500 Mark erhöht, die Erbanteile Wilhelms werden um 300 Mark und die seiner beiden Geschwister um jeweils 100 Mark reduziert. Der abwesende älteste Bruder Georg bleibt ungenannt, wenn auch sein Pfleger die Vereinbarung in dessen Namen unterzeichnet. Die Verfahrenskosten gehen zu Lasten der beklagten drei Geschwister aus zweiter Ehe.

Der Fall »Herrenknecht gegen Herrenknecht« ist nicht nur in einem allgemeinen familiengeschichtlichen Zusammenhang von Interesse, sondern er dokumentiert auch, dass Wilhelm Herrenknecht, der Großvater Martin Herrenknechts, nicht zuletzt dank der väterlichen Schenkungen ein ziemlich wohlhabender Mann gewesen ist. Dieser Wohlstand ist eine Voraussetzung für die Gründung seiner großen Familie.

Am 7. Mai 1903 heiratet der Landwirt Wilhelm Herrenknecht die ebenfalls aus einer Allmannsweier Bauernfamilie stammende, am 20. Juni 1878 geborene Wilhelmine Barbara (»Wilhelmine«) Wenz. Insgesamt zwölf Kinder gehen aus dieser Ehe hervor. Nach zwei Söhnen und drei Töchtern erblickt am 18. Dezember 1910 Johann Emil (»Emil«), der Vater von Dieter und Martin Herrenknecht, in Allmannsweier das Licht der Welt. Wilhelm Herrenknecht stirbt 1932, 33 Jahre vor seiner Frau Wilhelmine, in Allmannsweier.

Über die Kindheit und frühe Jugend von Emil Herrenknecht ist wenig bekannt. Wahrscheinlich hat er wie alle Herrenknechts vor ihm die Volksschule in Allmannsweier besucht. Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs, der auch in dieser Ortschaft seine Spuren hinterlässt. In den Wochen, Monaten und schließlich gut vier Jahren, die der Kriegserklärung Deutschlands an Russland und Frankreich vom 1. beziehungsweise 3. August 1914 folgen, wird die Aufwärtsentwicklung des Ortes unterbrochen, Männer wie Emil Herrenknechts Onkel Karl werden zum Kriegsdienst eingezogen, Pferde werden requiriert und fehlen jetzt natürlich in der Landwirtschaft. In welchem Maße die Familie Wilhelm Herrenknechts von der Kriegs- und dann auch von den folgenden turbulenten Nachkriegsjahren betroffen ist, wissen wir nicht.

Aber wir wissen, dass Emil Herrenknechts Lehrjahre in eine Zeit fallen, in der es dem Land insgesamt recht gut geht und es so aussieht, als könne die Weimarer Republik Fuß fassen. So nennt sich das Deutsche Reich, seit es sich Anfang Februar 1919 mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung in Weimar als Republik neu konstituiert hat. Das war eine von mehreren Konsequenzen aus dem politischen Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Proklamation einer Republik am 9. November 1918.

Die Nationalversammlung tagte in Weimar und verabschiedete dort auch Ende Juli 1919 die Verfassung der neuen Republik, weil Berlin, nach wie vor die Hauptstadt des Deutschen Reichs, zu unsicher war. Die Lage beruhigte sich dann zwar wieder, doch stürzen die Ereignisse, die der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen folgen, das Land 1923 erneut ins Chaos. Am Ende dieses Jahres steht die deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch.

Als all das schließlich überstanden ist, als die Währung reformiert, die Wirtschaft weitgehend in Ordnung und die Republik auch außenpolitisch auf Kurs gebracht ist, tritt Emil Herrenknecht ins Berufsleben ein. Von Frühjahr 1925 bis Herbst 1928 absolviert er bei Hermann Vieser in Lahr eine dreieinhalbjährige Lehre als Sattler und besucht zudem von Mitte Mai 1925 bis Ende März 1928 die Klassen I bis III der Gewerbeschule in Lahr. Mit insgesamt ordentlichem Erfolg.

Das Entlassungszeugnis attestiert ihm durchweg »gute« Leistungen. »Gut« bis »ziemlich gut«, was dem heutigen »befriedigend« entspricht, schneidet er lediglich in den Fächern »Deutsch mit Schriftverkehr« sowie »Werkzeug- und Maschinenlehre« ab, ein »ziemlich gut« bescheinigen ihm die Lehrer in der Geometrie. Zu Ostern 1927 und ebenso 1928 gibt’s jeweils eine »Belobung«. Und am 16. Oktober 1928 stellt der Gesellen-Prüfungs-Ausschuss der Handwerkskammer zu Freiburg im Breisgau dem nicht einmal Achtzehnjährigen die Urkunde über die bestandene Gesellenprüfung im Sattlerhandwerk aus. 5

Ähnlich zügig absolviert Emil Herrenknecht die nächste Etappe, die knapp zweieinhalbjährige Weiterbildung zum Tapezierer, die der junge Geselle bei seinem ersten Arbeitgeber, Albert Wöhrle in Hornberg, absolviert. Am 31. Dezember 1931 bescheinigt dieser seinem Gesellen, »mit seinen Leistungen u. Fleiss in jeden Beziehungen zufrieden gewesen« zu sein und ihm daher »das allerbeste Zeugnis ausstellen« zu können. 6

Als ihm schließlich die Meister-Prüfungskommission der Handwerkskammer Freiburg im Breisgau am 18. April 1933 den Meisterbrief für das Sattlerhandwerk ausstellt, ist Emil Herrenknecht am Ziel. Schon am 13. Februar 1933 hat er seinen Allmannsweierer Sattler- und Tapezierbetrieb in die Handwerksrolle eintragen lassen und ist damit zur Führung des Meistertitels im Sattler- und Tapezierhandwerk befugt. So sagt es die Handwerkskarte, die ihm am 11. Juni 1936 durch die Badische Handwerkskammer in Karlsruhe ausgestellt worden ist. 7

Zu diesem Zeitpunkt ist Emil Herrenknecht bereits im Besitz eines Motorrads und wenig später sogar eines ersten Pkw. Das ist nicht selbstverständlich. 1938 sind im Deutschen Reich gerade einmal 857000 Motorräder und 715000 Pkw zugelassen. Verglichen mit der Zahl der Motorräder und Pkw, die gut zehn oder gar 20 Jahre später in der Bundesrepublik gemeldet sind, ist das bescheiden. Bei dem Kraftrad, das am 9. April auf Emil Herrenknecht zugelassen wird, handelt es sich um eine Triumph mit 343 Kubikzentimeter Hubraum, bei dem am 29. Juli 1937 zugelassenen Pkw um ein viersitziges Adler-Cabriolet mit 996 Kubikzentimeter Hubraum. Es ist das erste Auto in Allmannsweier. Und es überlebt den Krieg. Das ist ungewöhnlich, denn eigentlich ist alles, was fahrtauglich war, von der Wehrmacht requiriert worden. Weil Emil Herrenknecht das ahnt, nimmt er die Räder ab, versteckt sie und bockt den Wagen auf Backsteinen hoch. 8

Die frühe Motorisierung deutet darauf hin, dass Emil Herrenknecht ausgesprochen technikaffin ist. Das muss er sein, denn wer in dieser Zeit ein Motorrad oder einen Pkw besitzt, sollte diese reparieren können. Reparaturwerkstätten im heutigen Sinne gibt es noch nicht. Doch Emil Herrenknecht hat eine Werkstatt, in der nicht nur Lederwaren und Möbel hergestellt und gerichtet, sondern bei Bedarf auch die eigenen sowie die Fahrzeuge von Kunden repariert werden. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die inzwischen in der dritten Generation betriebene Polsterei der Herrenknechts an der Allmannsweier Hauptstraße in Schwanau ist zwar nicht mehr auf technische Reparaturen, wohl aber neben der Raumausstattung auf die Autosattlerei spezialisiert. In den Dreißigerjahren bringt die technische Kompetenz einige Vorteile mit sich. 9

Als Kfz-Enthusiast gehört Emil Herrenknecht zu den Spezialisten, die von der »Wehrmacht« gesucht werden. So heißt die vormalige »Reichswehr«, seit die deutschen Streitkräfte am 2. August 1934 auf die Person des »Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler« vereidigt worden sind. Und als am 16. März 1935 auch die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt wird, weiß man oder ahnt es doch, welche Rolle das Militär im »Dritten Reich« spielen wird.

Mehr als 6 Millionen Arbeitslose waren eine – wenn auch nicht die einzige – Erklärung für den steilen Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), die in der Reichstagswahl des Juli 1932 gut 37 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Obgleich Ende 1932 beziehungsweise Anfang 1933 erste Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft und zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu greifen beginnen und die NSDAP bei der Novemberwahl 1932 rund 4 Prozent der Stimmen und mehr als 30 Sitze im Reichstag wieder verliert, bleibt sie die mit Abstand stärkste Kraft. Nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg ihren Anführer Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt hat, ergreift der die Chance und gibt die Macht nicht mehr aus der Hand. Für diese erstaunliche Karriere gibt es viele Gründe, nicht zuletzt Hitlers frühe Erfolge. Nach zwei Jahren hat die neue Reichsregierung die Zahl der Arbeitslosen halbiert; im Herbst 1937 ist praktisch die Vollbeschäftigung erreicht. Mit welchen Mitteln und zu welchen Kosten, interessiert vorerst kaum jemanden.

Emil Herrenknecht nimmt die Dinge, wie sie sind. Der Sattlermeister ist zeitlebens ein unpolitischer Mensch. Als er nach dem Krieg den obligatorischen Fragebogen zu seinen politischen Aktivitäten und Verbindungen speziell in der Zeit des »Dritten Reichs« ausfüllt, gibt er an, vor 1933 keiner Partei oder Gewerkschaft angehört zu haben. Das bezieht sich auch – in diesem Falle bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – auf die NSDAP und trifft so nicht zu. Tatsächlich hat Emil Herrenknecht am 1. Juni 1939 den Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt und ist zum 1. Januar 1940 mit einer Mitgliedsnummer jenseits der 8,3 Millionen in die Partei aufgenommen worden. Es bleibt bei der Mitgliedschaft. Äußerungen oder Aktivitäten Emil Herrenknechts innerhalb oder außerhalb der NSDAP, die eine Nähe zum Nationalsozialismus erkennen lassen, sind nirgends überliefert, auch nicht in der Korrespondenz mit seiner Frau. 10

Das Anspringen der Konjunktur, die ja mit seinem Einstieg in die Selbstständigkeit als Unternehmer einhergeht, wird er begrüßt haben, aber Adolf Hitler, dessen Partei und Weltanschauung interessieren Emil Herrenknecht nicht. Das gilt auch umgekehrt. Herrenknechts Gewerbe ist für die Rüstungswirtschaft, die seit Verkündung des sogenannten Vierjahresplans im September 1936 unverhohlen hochgefahren wird, von nachgeordneter Bedeutung, und weil er keine nennenswerte Zahl von Mitarbeitern beschäftigt, also über keine »Gefolgschaft« herrscht, rückt der Sattlermeister nicht ins Visier der staatlichen Bürokratie.

Anders sieht es mit der Wehrmacht aus. Zwar werden mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zunächst die aktuellen Jahrgänge gemustert und eingezogen. Doch nach und nach kommen auch die älteren an die Reihe. Für Emil Herrenknecht wird am 12. März 1937 ein Wehrpass angelegt. Daraus geht hervor, dass er auf dem rechten Auge blind ist. Ob dieses Handicap seit der Geburt nachweisbar ist oder auf eine Erkrankung beziehungsweise einen Unfall zurückgeht, ist nicht bekannt. Jedenfalls wird Emil Herrenknecht als »beschränkt tauglich« eingestuft und der »Ersatz Reserve II« zugeteilt. 11

Daher überrascht es doch, dass er am 27. August 1939, also dem Tag der Absage des Nürnberger »Reichsparteitages des Friedens« und vier Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen, eingezogen und der 1. Kompanie des Bau-Bataillons 54 zugeteilt wird. Die einen Tag zuvor aus Verbänden des Reichsarbeitsdienstes aufgestellte Einheit kommt zunächst ausschließlich an der Westfront zum Einsatz, die am 10. Mai mit dem deutschen Überfall auf Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande eröffnet worden ist. Als in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 drei Millionen deutsche Soldaten zum Angriff auf die Sowjetunion antreten, ist auch Herrenknechts Einheit, die jetzt als »Brücken-Bau-Bataillon 45« firmiert, dabei. Aber dann erkrankt Herrenknecht während der Schlacht um Smolensk an der Ruhr, so dass er am 24. Juli 1941 ins Lazarett verlegt und von dort zum Brückenbau-Ersatz-Bataillon 4, einer Ausbildungseinheit in Schwäbisch Gmünd, versetzt wird.

Zum endgültigen Standort Emil Herrenknechts wird die Pionierschule in Speyer. Zwar wechselt er zeitweilig zum Beispiel zum Stab des Bataillons, auch wird die Pionierschule Ende 1943 nach Rosenheim verlegt, aber er bleibt in Speyer oder kehrt doch regelmäßig dorthin zurück. Daran ändert sich bis Kriegsende nichts. Entsprechend unauffällig ist seine militärische Karriere. Im Februar 1942 wird Herrenknecht zum Gefreiten, vier Monate später zum Obergefreiten und im Dezember 1942 zum Unteroffizier befördert. 12

Warum Herrenknecht zum 1. September 1944 mit dem Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet wird, wissen wir nicht. Vielleicht ist es eine Anerkennung, fünf Jahre gedient und überlebt zu haben, vielleicht wird damit aber auch eine ganz spezielle Verwendung gewürdigt. Von Anfang Dezember 1941 bis Mitte Januar 1942 absolviert er an der Reichssportschule des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps in Dietz an der Lahn die Ausbildung zum Wehrmachtkraftfahrer. Das liegt durchaus nahe, denn Emil Herrenknecht ist ja schon im Zivilleben Kraftfahrer und Wagenbesitzer gewesen. Aber dabei bleibt es nicht.

Offensichtlich fallen den Ausbildern seine Affinität zum Automobil und seine Routine im Umgang mit Kraftfahrzeugen auf. Jedenfalls wird Emil Herrenknecht nach einem entsprechenden Lehrgang die Befähigung zur »Ausbildung von Führern auf Kraftfahrzeugen der Wehrmacht mit Antrieb durch Verbrennungskraftmaschine der Klasse 1, 2, 3« testiert. Diese bildet wiederum die Grundlage für die Teilnahme am »Fahrlehrer-Lehrgang für Halbkettenfahrzeuge« der Klasse II über 10 Tonnen Gewicht, den Herrenknecht von Anfang Juni bis Anfang Juli 1944 im thüringischen Rudolstadt absolviert und mit einer Prüfung erfolgreich abschließt. 13

Die Verwendung in der Pionierschule und sein Einsatz als Fahrlehrer der Wehrmacht haben zur Folge, dass Emil Herrenknecht seit dem Sommer 1941 nicht mehr an die Front kommt und zudem gerade einmal 150 Kilometer von Allmannsweier entfernt stationiert ist. Besser hätte er es unter den obwaltenden äußeren Umständen kaum treffen können, denn inzwischen hat er in seiner Heimatstadt eine Familie gegründet.

Am 3. Februar 1940 heiratet Emil Herrenknecht die am 8. Januar 1910 ebenfalls in Allmannsweier geborene Mina Elsa (»Elsa«) Heitz. Die beiden gehören also demselben Jahrgang an. Elsa ist die Tochter des Landwirts und Polizeidieners Johann August Heitz, Jahrgang 1881, und seiner Frau Christina, geborene Schäfer, die 1884 das Licht der Welt erblickt hat. Insgesamt 14 Kinder gehen aus der Ehe von August Johann und Christina Heitz hervor, zwei mehr als aus der Ehe von Wilhelm und Wilhelmine Herrenknecht. Zählt man die Geschwister von Emil und Elsa Herrenknecht zusammen, hatten ihre Söhne Dieter und Martin ursprünglich einmal 24 Onkel und Tanten. Nicht alle leben noch bei ihrer Geburt, ein Bruder der Mutter verstirbt im Kleinkindalter, ein anderer fällt im Zweiten Weltkrieg. Die meisten Brüder von Elsa sind in Lahr oder Allmannsweier als Bäcker, Elektriker oder auch Leichenwagenfahrer tätig, einige zudem als Ortsvorsteher politisch aktiv. 14

Über die frühen Jahre von Elsa Heitz ist wenig bekannt. Sicher ist, dass sie in Allmannsweier aufwächst. Gesichert ist auch, dass sie eine Lehre als Damenschneiderin absolviert und diese am 21. März 1928 mit der Gesellenprüfung vor der Handwerkskammer Freiburg im Breisgau abschließt. Offensichtlich arbeitet sie später einige Jahre – wie zu vermuten steht, in ihrem erlernten Beruf – in Basel und wohnt in dieser Zeit in der Gemeinde Steinen im Wiesenthal unweit der Schweizer Grenze, wo ihr ältester Bruder Georg als Schuhmacher tätig ist. Wie lange sie dort gelebt hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Jedenfalls überweist sie am 5. Mai 1937 (»Pfingst-Ueberweisung«) 100 Reichsmark, umgerechnet 91,50 Schweizer Franken, von der Peter-Merian-Straße 52 in Basel an ihren Wohnort Steinen. 15

Spätestens seit der Hochzeit mit Emil wohnt Elsa Herrenknecht mit ihrer verwitweten Schwiegermutter Wilhelmine Herrenknecht, dann auch mit ihren beiden Söhnen Dieter und Martin im Haus der Herrenknechts an der Allmannsweierer Hauptstraße 50–52. Die Söhne werden in Lahr geboren, Dieter am 30. April 1940, sein Bruder Martin am 24. Juni 1942. 16

Die wirtschaftliche Situation der Familie während des Krieges ist nicht einfach. Zwar ist die Grundversorgung sichergestellt, weil der Sattlermeister Emil Herrenknecht – wenn auch in bescheidenem Umfang und im Nebenerwerb – den landwirtschaftlichen Betrieb von Vater Wilhelm fortführt. Aber er selbst kann während des Krieges, der sich schließlich bis zum Frühjahr 1945 hinzieht, kaum mit anpacken. Im ersten Kriegsjahr war das noch anders: Im September, Oktober und November 1939 verbrachte Herrenknecht jeweils einige Tage in Allmannsweier und half beim Einbringen der Ernte. In den folgenden Jahren ist er auf die ihm zustehenden Jahres-, Sonder- oder Erholungsurlaube angewiesen, die er praktisch ausnahmslos zuhause verbringt. Offensichtlich ist die Familie jetzt teilweise auf staatliche Unterstützung angewiesen. So zahlt das Landratsamt Lahr Anfang Mai 1940 eine Wirtschaftsbeihilfe aus. 17

© Privatarchiv Familie Herrenknecht

Schwere Zeiten, starke Frau: Emil Herrenknecht steht im Feld, als seine Söhne Dieter (links) und Martin in Lahr zur Welt kommen. Mutter Elsa zieht die beiden groß und kümmert sich ums Geschäft. Emil Herrenknecht trägt das Bild immer bei sich.

Wie es Emil Herrenknecht während der Jahre bei der Wehrmacht in Speyer ergeht, wissen wir aus den Briefen, die er in dichter Taktung an seine Frau Elsa schickt. Sie zeigen einen Mann, der mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht, genau weiß, was er will, allerdings auch einige Probleme hat, das zu Papier zu bringen. Emil Herrenknecht tut sich in der Schriftform mit der Sprache schwer.

Bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend, sind die Themen, die ihn beschäftigen. Die politische und militärische Entwicklung spielt in den Briefen an seine Frau so gut wie keine Rolle. Es geht mehr oder weniger ausschließlich um persönliche beziehungsweise private Themen, also um die Gesundheit und die Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Letztere lässt Emil seiner Frau zukommen, die wiederum ihren Mann nach Kräften mit Lebensmitteln versorgt. »Du wenn es geht schicke mir ein oder 2 Büchsen oder hast noch ein bisschen Speck. Ich bin eben selbst verpfleger und komme nicht gut zu recht«, bittet Emil Ende September 1944 seine Frau. 18

Vor allem anfänglich geht es auch um den Ausbau des Hauses und der Werkstatt in Allmannsweier, der zwangsläufig von Elsa Herrenknecht koordiniert wird: »Wenn man ein Schönes Bad bekämme kann man dies auch noch mit machen«, schreibt Emil Anfang Mai 1941 an seine Frau, »allerdings muss es kein Krigszeug sein, so das man sagen kann das es etwas ist, und auch hält. Diese Sachen kann man eines nach dem anderen anschaffen.« 19

Mit der Geburt des ersten Sohnes Dieter (»Ditter«) nimmt die Sorge um die Sicherheit der Familie zu. Emil Herrenknecht weiß, dass die Westfront nach der alliierten Landung in der Normandie Anfang Juni 1944 Schritt um Schritt zurückgenommen werden muss: »Was machen die Flieger?«, fragt er am Jahresende 1944 seine Frau und prognostiziert: »Es werden Flieger noch und noch kommen … Es wäre ja gut wenn Du in das untere Zimmer gehst mit Deinem kleinen.« Und er geht davon aus, dass über kurz oder lang Soldaten, die von der Front zurückkehren, bei seiner Familie einquartiert werden. Für diesen Fall gibt’s eine klare Anweisung: »Da in die Werkstätte kannst keine rein nehmen, und in den Laden nicht.« 20

Das Kriegsende erlebt Emil Herrenknecht vermutlich in Oberbayern. Offiziell ist der Krieg für ihn am 1. Mai 1945 vorbei. Zu vermuten steht, dass er kurzzeitig in amerikanischer Kriegsgefangenschaft ist. Spätestens am Jahresende 1945 lebt er wieder in Allmannsweier. Insgesamt kommt die engere Familie des Emil Herrenknecht ohne körperliche und – soweit erkennbar – auch ohne schwere seelische Schäden durch die große Katastrophe. Das ist ein Glücksfall und die Ausnahme in einem Krieg, der allenthalben sichtbare Spuren hinterlässt. Was hätte passieren können, zeigt die unmittelbare Nachbarschaft, in der ein Haus durch einen Volltreffer zerstört wird. 21

Schlimmeres erleben einige der zahlreichen Geschwister von Emil und Elsa Herrenknecht. Emils zwei Jahre jüngerer Bruder Julius Herrenknecht kommt nicht aus dem Feld zurück. Über sein Schicksal ist nichts bekannt. Hans Heitz, ein Bruder von Elsa, fällt im November 1943; ein anderer, Emil Artur Heitz, gilt seit dem 26. August 1943 als an der Ostfront gefallen. Seiner wird am 27. Februar 1944 in einem Trauergottesdienst gedacht, doch dann steht er plötzlich vor der Tür. Eine unglaubliche Geschichte, findet sein Neffe Martin Herrenknecht, zu der auch gehört, dass der Onkel, kaum zurück in der Heimat, wieder eine Uniform anzieht: Seit 1950 tut er als Polizist Dienst im württembergischen Amberg. 22

Ohne nennenswerte Folgen kann Emil Herrenknecht das sogenannte Entnazifizierungsverfahren hinter sich bringen. Nach Kriegsende gehören – den alliierten Absprachen folgend – Südbaden und damit auch Lahr, Schwanau und Allmannsweier zur französischen Besatzungszone in Deutschland. Früher als die Amerikaner in ihrer benachbarten Besatzungszone erlässt das Gouvernement militaire en Allemagne bereits am 19. September und 31. Oktober 1945 Richtlinien für die Spruchkammerverfahren. Anders als in der amerikanischen müssen in der französischen Besatzungszone nicht alle volljährigen Deutschen einen entsprechenden Fragebogen ausfüllen, sondern nur Beschäftigte im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft sowie Freiberufler. 23

Zu diesen zählt auch der badische Staatsangehörige und »Sattlermeister« Emil Herrenknecht, der seinen Fragebogen am 28. Dezember 1945 ausfüllt und darin erklärt, dass er nie der NSDAP angehört habe und nicht Mitglied einer parteinahen Organisation wie der Deutschen Arbeitsfront (DAF) oder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) gewesen sei. Bei der Beantwortung einiger Fragen tut sich Herrenknecht offenbar auch deshalb schwer, weil sich ihm ihr Sinn nicht erschließt. So beantwortet er die Frage »Wurden Sie jemals aus rassischen oder religiösen Gründen, oder weil Sie aktiv oder passiv den Nationalsozialistischen Widerstand leisteten, in Haft genommen oder in Ihrer Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit oder sonst wie in Ihrer gewerblichen oder beruflichen Freiheit beschränkt? Ja, nein:« zunächst mit »nein«, dann mit »ja«, ohne allerdings die geforderten näheren Angaben zu machen. 24

Auf Basis dieser Angaben fällt der »Ermittlungsausschuss für Industrie, Handel und Gewerbe des Kreises Lahr« unter Vorsitz des Prokuristen Otto Hüglin sein Urteil. Dem achtköpfigen Ausschuss gehören mit Sigmund Laufer ein Mitglied der jüdischen Gemeinde sowie mit dem Fabrikanten Paul Waeldin ein über die Region hinaus bekannter Politiker an. Von 1929 bis 1933 saß er als Abgeordneter der linksliberalen Deutschen Demokratischen Volkspartei (DDP) im Badischen Landtag. Da er dem Nationalsozialismus nach allem, was man weiß, fernstand, setzt ihn die französische Besatzungsmacht bereits im April 1945, also noch vor Beendigung des Krieges, als ehrenamtlichen Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Lahr ein. 25

Am 11. Dezember 1946 stuft der Ermittlungsausschuss für Industrie, Handel und Gewerbe des Kreises Lahr den Sattlermeister Emil Herrenknecht in die Gruppe C ein, also als Sympathisant, was dem Status des »Mitläufers« in der amerikanischen Zone entspricht. Begründet wird das Urteil, das mit einer »Ordnungsstrafe« einhergeht, mit falschen Angaben Emil Herrenknechts. Tatsächlich habe der Ausschuss nach »eingehenden Ermittlungen« herausgefunden, dass Herrenknecht »in den Jahren 1940/41 der Partei angehört«, diesen Sachverhalt jedoch in seinem Fragebogen »verschwiegen« habe. Das trifft, wie berichtet, zu. Herrenknechts Rückkehr ins Zivilleben beeinflussen das Spruchkammerverfahren und sein Ergebnis jedoch nicht. 26

Als die Franzosen in Allmannsweier einrücken, sind Elsa Herrenknecht, ihre beiden Söhne Dieter und Martin sowie einige Nachbarn, darunter die Kindergärtnerin von der Diakonie, im Keller der »Linde«, einem Gasthaus gleich um die Ecke, untergebracht. Das Verhältnis zu den Besatzern ist erträglich, aber schwierig; immerhin haben die Franzosen zum dritten Mal seit 1871, also innerhalb von gerade einmal 70 Jahren, ihre Erfahrungen mit einem deutschen Angriffskrieg machen müssen. Kinder können sich grundsätzlich sicher fühlen, Frauen gehen französischen Soldaten im Zweifelsfall lieber aus dem Weg. Systematische und massenhafte Übergriffe oder Vergewaltigungen, von denen aus der Sowjetischen Besatzungszone berichtet wird, gibt es nicht. Unter den Besatzern sind auch einige Soldaten aus den afrikanischen Kolonien Frankreichs. Für die fünf- beziehungsweise dreijährigen Brüder Dieter und Martin Herrenknecht ist das eine bislang unbekannte Welt. 27

Erhebliche Schwierigkeiten gibt es hier wie überall mit der Versorgung. Vergleichsweise gut stehen die Bauern da. Zu ihnen gehören auch einige Angehörige der Großfamilie Herrenknecht. Emil führt nebenher und in bescheidenem Umfang den väterlichen Betrieb fort, und seine jüngste Schwester Elsa Ziegler ist mit einem Bauern verheiratet. Einiges Vieh und ein paar Schweine haben den Krieg überstanden; der Grundbedarf an Weizen und Gerste ist sichergestellt. Dieter und Martin Herrenknecht helfen bei der Ernte und dürfen hernach auf dem Acker benachbarter Landwirte die Ähren auflesen, die liegen geblieben sind. Sie werden an die hauseigenen Hühner verfüttert.

Elsa Herrenknecht hat als Näherin eine treue Kundschaft, wird mit Geld oder, wichtiger noch, mit Naturalien entlohnt und kann zuhause arbeiten. Emil Herrenknecht konzentriert sich darauf, den während des Krieges eingestellten Hausbau zu vollenden, die Polsterei in Betrieb zu nehmen und die Kontakte zu den Kunden zu aktivieren. Das gelingt vergleichsweise schnell, weil die französische Besatzungsmacht dem Tapezierer und Polsterer einen Führerschein sowie einen Ausweis zum Treibstofferwerb ausstellt. So kommt die Familie insgesamt ganz gut über die Runden. Nicht weniger, allerdings auch nicht mehr: »Wir sind ja relativ arm aufgewachsen«, erzählt Martin Herrenknecht heute: »Wenn mein Bruder und ich im eigenen Firmenflugzeug sitzen, wundern wir uns. Hätten wir das mit 12 oder 14 jemandem erzählt, hätte der uns für verrückt erklärt.« 28

© Privatarchiv Familie Herrenknecht

»Mit dem Kopf durch die Wand«: Martin Herrenknecht weiß schon als Kind, wie man sich durchsetzt. Sagt Bruder Dieter.

Dieter und Martin besuchen zunächst den benachbarten Kindergarten, dann die Volksschule. Den kurzen Schulweg legen sie mit jener erwähnten dampfgetriebenen Bahn zurück, die, von Altenheim kommend, die Hauptstraße in Allmannsweier entlang nach Lahr, später auch weiter bis Seelbach fährt. Weil der Bruder mit Beginn seiner Schulzeit täglich mit dieser Bahn das heimische Umfeld verlässt, will auch Martin nicht länger den Kindergarten besuchen, überredet den ebenfalls die Bahn nutzenden Volksschullehrer mitfahren zu dürfen und sitzt jetzt gelegentlich in der hintersten Bank: »Wenn er was will«, sagt der Ältere, »dann geht er mit dem Kopf durch die Wand. Das ist bis heute so.« 29

Nach der Volksschule trennen sich die schulischen Wege der Brüder. Eine weiterführende Schule kommt nicht in Betracht. Jedenfalls nicht für beide, wie Martin Herrenknecht betont: Zum einen reicht das Geld nicht, zum anderen hat Emil Herrenknecht, ein Mann der Praxis, »wenig Interesse an einer höheren Ausbildung«. Anders die Mutter, die sehr darauf bedacht war, »dass wir eine gute Ausbildung bekamen«. Dazu gehört auch der Klavierunterricht, den Elsa Herrenknecht ihrem Jüngsten verordnet. Der scheitert allerdings schon in den Anfängen, weil er »absolut unmusikalisch« ist. Immerhin setzt die Mutter durch, dass Martin das Gymnasium besucht. 30

Damit steht auch fest, dass Bruder Dieter in die Fußstapfen des Vaters treten, nach Abschluss der Hauptschule eine Lehre als Raumausstatter und Autosattler machen, seine Meisterprüfung ablegen, einmal die Polsterei übernehmen und diese dann seinerseits an die nächste Generation weitergeben wird. So kommt es dann auch. 2009 übernehmen Dieter Herrenknechts Sohn Ralf und Tochter Daniela, die dritte Generation, von ihren Eltern den Betrieb. Der Kreis der Stammkundschaft ist groß, reicht bis nach Freiburg und Baden-Baden. Und selbstverständlich ist Dieter Herrenknecht auch nach seinem Achtzigsten noch »jeden Tag in der Werkstatt«. 31

Am 24. April 1952 tritt Martin Herrenknecht, Sohn des Sattler- und Tapeziermeisters Emil Herrenknecht, in die Klasse VI b des Max-Planck-Gymnasiums in Lahr ein. Mit der Mittleren Reife ist Schluss: Am 29. März 1958 kehrt der noch nicht Sechzehnjährige der Schule den Rücken. Den Abschluss schafft er, weil seine Lehrer ihm einige »wohlwollende Noten geben«, wie er im Rückblick bekennt. Befriedigend bis gut sind seine Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern und der Mathematik, mit »gut« bewerten die Lehrer sein Betragen, seine Mitarbeit und die »Leibesübungen«, also seine sportlichen Leistungen. Deutsch ist nicht unbedingt sein Fall, die Leistungen in den Fremdsprachen Englisch und Französisch sind bestenfalls ausreichend, wenn nicht mangelhaft, kurzum ein »Fiasko«. Sagt Martin Herrenknecht heute. 32

Im Englischen ändert sich das; im Französischen bleibt es dabei. Was angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft des französischen Sprach- und Kulturraums überrascht – und Folgen hat: Seit Herrenknecht Anfang der Achtzigerjahre in Vertragsverhandlungen mit einem französischen Kunden lediglich ein »Oui« zur Konversation beitragen konnte und es fortan nicht mehr mit Ingenieuren, sondern Anwälten zu tun hatte, überlässt er die Konversation anderen. 33

Im Rückblick hat Martin Herrenknecht keinen Zweifel: »Das Abitur hätte ich nicht machen können.« Das liegt nicht nur an den Herausforderungen der gymnasialen Ausbildung, sondern auch am Vater, zu dem er ein gespaltenes Verhältnis hat. Emil Herrenknecht ist ein »kommunikativer« Mann, singt leidenschaftlich gern, wenn auch meistens falsch, und ist am Stammtisch willkommen, aber kein Vereinstyp. Er ist ein ziemlich erfolgreicher Handwerker, hat einige Mitarbeiter, vergisst allerdings manchmal die Rechnungen zu schreiben. Wäre er »kaufmännisch besser aufgestellt« gewesen, hätte Emil Herrenknecht es durchaus weiter bringen können. Denn die Unternehmergene, sagt sein Sohn, hatte er. Und was macht den Unternehmer aus? »Ein Risiko einzugehen. Geschäfte anzubahnen und keine Angst zu haben, dass es schiefgehen könnte. Auch schon einmal kontrolliert eine Grenze überschreiten«, sagt Martin Herrenknecht heute über den Vater und spricht dabei ausdrücklich auch über sein eigenes Verständnis vom Unternehmertum. 34

Das ist die eine Seite des Vaters. Es gibt eine andere. Emil Herrenknecht ist ein »strenger Mann«, und das heißt: Es gibt gelegentlich »Dresche«. »Wenn zwei Jungs auf der Piste sind«, sagt Martin Herrenknecht heute, »dann bauen sie eben auch mal Mist«, gehen zum Beispiel mit dem Hund auf Fasanenjagd, werden vom Jäger geschnappt und nach Hause getrieben. Dort gibt es Wasser für den Hund und eine Tracht Prügel für die Brüder, die anschließend auf der Diele eingesperrt werden. Nachdem sich der Jüngere erholt hat, sagt er zum Vater, dass er später doppelt so viele Leute einstellen werde, wie der jetzt habe – und bezieht noch einmal Dresche: »Deshalb haben wir jetzt ein paar Leute mehr als der Vater damals.« 35

Gut möglich, dass sich manches in der Rückschau verklärt. Die Prügel waren ja die Ausnahme, nicht die Regel – und sie waren aus Sicht des Vaters »gerechtfertigt«, sagen die Brüder heute, wohl wissend, dass solche erzieherischen Ausschreitungen heute sanktioniert werden. »Es gab eben immer einen Grund.« Das unterscheidet die gelegentliche Dresche des Vaters von den Strafen durch den Pfarrer: »Der hatte einen Rosenholzstock und hat uns damit auf die Pfoten gehauen. Fragen Sie nicht, warum.« 36

Allerdings lässt der Vater seinen Söhnen auch manche Freiheit. So dürfen die beiden mit seinem Motorrad fahren. Der Ältere, gerade einmal zwölf Jahre alt, am Lenker, der Jüngere als Sozius. Keinen Spielraum lässt Emil Herrenknecht seinen Söhnen, wenn es um die Mitarbeit in der Polsterei geht. Nach der Schule müssen sie mit anpacken. Jeden Tag. Anfänglich werden die Brüder vor allem in der Fertigung lederner Schließen, der erwähnten Tabakgurte, eingesetzt. Die Gegend ist reich an Tabak, der nach der Ernte mit den Gurten zu Bündeln gepackt und von den Bauern zu den Händlern gefahren wird. Für das Nähen eines Tabakgurtes gibt es einen Pfennig, für 400 folglich 4 D-Mark. Geht eine Nadel kaputt, werden dem Sohn 40 Pfennige vom Lohn abgezogen. 37

Im Laufe der Jahre ändern sich die Tätigkeiten und die Einsätze Martin Herrenknechts in der väterlichen Fertigung. Nachdem er früh den Führerschein gemacht hat, fährt er gelegentlich Ware für den Vater aus. In Erinnerung geblieben ist ihm die Lieferung einer Couch für den Bischof in Freiburg. Es ist Abendzeit, und das Essen ist angerichtet. Der Bischof auf der einen Seite des Tisches schlägt das Kreuz zum Gebet, der junge Herrenknecht auf der anderen Seite tut das nicht. Womit klar ist, dass der Sohn des Sattlers nicht katholisch, sondern anders ist. »Ich bin dann hungrig nach Hause gefahren.« 38

© Privatarchiv Familie Herrenknecht

Immer ran: Nach der Schule ruft die Werkstatt. Einen Pfennig erhalten Martin (hier 1954) und Bruder Dieter Herrenknecht für das Nähen eines Tabakgurtes in der Polsterei des Vaters.

Diese frühe Biographie in Rechnung gestellt, ist es nicht selbstverständlich, dass Martin Herrenknecht nach der Mittleren Reife weiter dem Bildungspfad folgt. Dass er das tut und die Hochschule besucht, ist auch einer zufälligen Begegnung zu verdanken. Die Herrenknechts haben immer wieder einmal zahlende Gäste im Haus. Einer von ihnen ist der Ingenieur Helmut Röpke, der sich 1952 mit seiner Frau Hannelore einquartiert.

Röpke leitet für die Baufirma Hochtief den Ausbau des Flughafens in Lahr. Der zählt zu den ältesten Flugfeldern in Deutschland. Schon im Ersten Weltkrieg wird er von einer Jagdeinsatzstaffel und als Landeplatz für Zeppeline genutzt, nach dem Zweiten Weltkrieg machen sich die Franzosen dort breit. Es ist ein überschaubarer Betrieb. Landet oder startet eine Maschine, wird die querende Straße in Langewinkel per Schranke gesperrt.

Das ändert sich, als der Platz 1952 zum NATO-Militärflughafen ausgebaut wird. Als Frankreich aus der integrierten Militärstruktur des Bündnisses austritt, übernehmen die Kanadier 1966 die Anlage. Und nachdem auch diese infolge der Vereinigung Deutschlands abgezogen sind und die Canadian Forces Base aufgelöst worden ist, wird das Feld Ende August 1994 der Bundesrepublik übergeben. Danach versuchen mehrere Investoren, einen rentablen Flugbetrieb für die zivile Luftfahrt auf die Beine zu stellen, und scheitern allesamt. 39

Dabei ist der Flughafen mit seiner 3000 Meter langen Startbahn auch für Großraumflugzeuge interessant, so dass gelegentlich eine Antonow An-124 hier landet, um Teile einer Tunnelvortriebsmaschine aus dem Hause Herrenknecht aufzunehmen. Im Dezember 2012 kauft die Stadt Lahr das Gelände, seit dem 1. Oktober 2013 betreibt die Lahrer Flugbetriebs GmbH & Co. KG den Flughafen. Die Firma gehört Martin Herrenknecht, der überzeugt ist, dass ein Flughafen vor dem Firmentor »langfristig eine große Chance für den Export ist«. 40

Im Zuge der Übernahme des Flughafens durch die NATO kommt der Ingenieur Helmut Röpke nach Allmannsweier, zeigt dem zehnjährigen Martin die Baustelle, erklärt, was dort vor sich geht, und weckt auf Anhieb das Interesse des Jungen. »Ich war fasziniert, wie das läuft, und wusste bald, dass ich entweder Bau- oder Maschinenbauingenieur werden wollte.« Helmut Röpke ist der Mann, der Martin Herrenknecht den Weg »in Richtung Studium« weist. Nicht nur der junge Herrenknecht, auch die Eltern bleiben mit den Röpkes in Verbindung. Man besucht sich gelegentlich, gratuliert einander zum Geburtstag und erinnert sich der gemeinsamen Zeit »anfangs der Fünfzigerjahre«. 41

Um ohne Abitur am Staatstechnikum, der heutigen Fachhochschule Konstanz, studieren zu können, besucht Martin Herrenknecht zunächst von Mitte April 1958 bis Ende März 1960 die Gewerblich-Technische Schule in Offenburg, absolviert parallel bei der Deutschen Bundesbahn ein Praktikum, legt in Konstanz die Aufnahmeprüfung ab und schreibt sich dort 1961 für das Studium des Allgemeinen Maschinenbaus ein. 42

Damals werden noch Studiengebühren, sogenannte Hörergelder, fällig. Um diese aufbringen, vor allem aber den Lebensunterhalt finanzieren zu können, arbeitet Herrenknecht in den Semesterferien bei einem Heizungsbauer und lernt dort unter anderem das Schweißen. Es bleibt also dabei: Er muss anpacken – in der Polsterei des Vaters, im Praktikum, im Studium. Das kommt ihm im Berufsleben sehr zugute: »Dann hast du eben auch mal ein Hydraulikventil wechseln können.« Nichts überzeugt die Mitarbeiter mehr als die Bereitschaft und die Fähigkeit des Chefs und Eigentümers, im Falle eines Falles selbst nach dem Rechten zu sehen, Schwachstellen zu beheben und einen Fehler zu beseitigen.

Konstanz liegt Martin Herrenknecht, ist eine Art »erweiterte Heimat«. Der See lädt zum Rudern ein, und das wiederum kommt seinen Neigungen entgegen. Martin Herrenknecht ist zeitlebens ein sehr sportlicher Mann. In seiner Jugend treibt er Leistungsport, ist ein guter Schwimmer und Leichtathlet, läuft die 100 Meter handgestoppt unter 11 Sekunden, spielt Fußball in der lokalen Liga. Mit dem Studium muss er den Leistungssport aufgeben, bleibt aber aktiv, schwimmt regelmäßig und spielt Tennis. Ohne dieses Training, sagt er heute, hätte er dem mitunter brutalen Stress des beruflichen Alltags auf Dauer kaum standgehalten. 43

© Privatarchiv Familie Herrenknecht

Willensstark und ehrgeizig: Auch im Sport – hier Ende der Fünfzigerjahre beim Sportfest in Allmannsweier – geht Martin Herrenknecht an seine Grenze.

Nach sechs Semestern, also in der kürzest möglichen Zeit, ist er mit dem Studium durch und graduierter Maschinenbauingenieur. Der Notenspiegel ist ähnlich wie schon in der Schule durchweg befriedigend mit einigen Ausschlägen nach oben. Gute Leistungen werden ihm in dem am 19. Februar 1964 ausgestellten »Ingenieur-Zeugnis« in den Fächern Regelungstechnik, Kältetechnik und »Konstruktionsübungen Hebetechnik« attestiert, sehr gute in den Fächern Brennkraftmaschinen und – als Spitzenleistung und mit der Note 1,1 – Werkzeugmaschinen.

Ruhelos wie er schon damals ist, besucht der nicht einmal Zweiundzwanzigjährige gleich anschließend bei der Schweißtechnischen Lehr- und Versuchsanstalt Mannheim einen Sonderlehrgang für die Ausbildung zum Schweißfachingenieur, bewirbt sich überdies auf seine erste Stelle, wird gleich genommen und geht in die Schweiz. Schon seine Mutter Elsa und ihr ältester Bruder Georg Heitz waren einige Jahre als Schneiderin beziehungsweise als Schuhmacher in der Schweiz tätig. Die Karriere von Elsas jüngerem Sohn Martin ist ohne dieses Land im Grunde gar nicht vorstellbar. 44

Dass er ins Ausland geht, hat mehrere Gründe. Einer, und gewiss nicht der letzte, ist ein lebenspraktischer: Martin Herrenknecht ist ein ehrgeiziger Mann, der nach vorne will. Dem steht eine Hürde im Weg: Als Angehöriger des Jahrgang 1942 fällt er unter die allgemeine Wehrpflicht. Sie ist infolge der angespannten Lage in dieser Hochzeit des Kalten Krieges und des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zur NATO am 21. Juli 1956 eingeführt worden und betrifft alle jungen Männer mit Erreichen des 18. Lebensjahrs – sofern sie nicht im Ausland oder in West-Berlin leben. Da Herrenknecht mit West-Berlin nichts anfangen kann, geht er ins Ausland: Die Schweiz liegt vor der Haustür und ist neutral. 45

Die Schweizer Amman AG in Langenthal ist ein Baumaschinenhersteller mit breitem Portfolio und gutem Ruf. 1869 gegründet, nach wie vor familiengeführt und seit 1931 auch im Ausland tätig, beschäftigt das Unternehmen inzwischen fast 3000 Mitarbeiter, von denen wiederum 800 für Caterpillar tätig sind. Amman hat die Vertretung des amerikanischen Baumaschinenherstellers für die Schweiz und andere Staaten, unter anderem im Nahen Osten.

Zuständig ist Herrenknecht zum einen für den Bau von Vibrationswalzen, mit denen im Straßenbau der Boden verdichtet und der Asphalt abgewalzt wird. Zum anderen konstruiert er Streuer für den Winterbetrieb – und kommt hier erstmals mit elektronischen Steuerungen in Kontakt. Es ist eine harte, aber wichtige Zeit. Herrenknecht fühlt sich angenommen und wertgeschätzt; das ist nicht nur ein Gefühl, wie das Arbeitszeugnis belegt. Schritt für Schritt wird er mit anspruchsvolleren Aufgaben betraut und lernt, wie man mit Fehlern umgeht. Ein solcher passiert, als die von ihm für einen Streuteller neu konstruierte Hydraulikpumpe platzt, und das ausgerechnet bei der Vorführung vor dem Eigentümer. Es ist nicht das letzte Mal, dass Martin Herrenknecht die Hydraulik zu schaffen macht. Und immer lernt er dazu, weil er sich selbst auf die Suche nach dem Fehler macht und ihn behebt. Und weil er nebenher – in diesem Fall beim Schweizerischen Verband für Betriebsfachschulen – weiterbildende Kurse besucht. 46

Die vier Jahre von Anfang Juni 1964 bis Ende Juli 1968, die Martin Herrenknecht als Konstruktionsingenieur bei der Amman AG tätig ist, lassen sich in ihrer Bedeutung für den weiteren beruflichen Lebensweg schwerlich überschätzen. Zum einen wird ihn die Schweiz nicht mehr loslassen. Mit keinem zweiten Land verbinden ihn bis heute derart viele Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnisse wie mit der Alpenrepublik – von Deutschland einmal abgesehen. Zum anderen legt er sich hier das »Rüstzeug für das Ingenieurswesen« zu.

Wohlhabend wird er in der Schweiz nicht. Der Lohn ist relativ gering. Damit er über die Runden kommt und sich sein erstes Auto, einen VW Käfer, leisten kann, greift ihm der Vater finanziell unter die Arme. Nebenbei unterrichtet Martin Herrenknecht von Herbst 1965 bis Frühjahr 1968 abends an der Gewerbeschule Langenthal und verdient sich so ein Zubrot. Ein bemerkenswertes Kapitel in der frühen Biographie des Mannes. Martin Herrenknecht bildet sich nicht nur selbst konsequent weiter, sondern er vermittelt sein Wissen auch an die nachfolgende Generation. Dabei bleibt es. Dass der Schritt in die Selbstständigkeit auf Anhieb gelingen wird, liegt auch an seiner Bereitschaft, sein Wissen an die Mitarbeiter weiterzugeben: »Herr Herrenknecht hat es verstanden«, so attestiert ihm das Zeugnis der Gewerbeschule, »durch sein Lehrgeschick, seine ruhige und bestimmte Art und seinen Einsatz die Zuneigung der Schüler und die Wertschätzung seiner Kollegen zu gewinnen«. 47

Was vom Lohn und vom Unterrichtsentgelt übrig bleibt, geht aufs Sparbuch. Martin Herrenknecht spart für eine Reise nach Kanada, auf die er sich unmittelbar nach seinem Ausscheiden bei Amman im August 1968 begibt. Es ist eine weitreichende Entscheidung. Wie lange er bleiben wird, weiß er nicht. Aber er weiß, warum es ihn nach Amerika zieht: Herrenknecht will sich »komplett verändern«, eine Sprache lernen, die er nicht beherrscht, und sich »durchboxen«.

Schwierig ist die Trennung für die Familie. Die Mutter ist »sehr enttäuscht«, weint beim Abschied am Frankfurter Flughafen. Der Vater nimmt es einigermaßen gelassen. Er hat ja den älteren Sohn, der jetzt ganz ins Geschäft einsteigt. »Das hat sicher geholfen«, erinnern sich die Brüder heute. Auch Briefe helfen; Telefonate sind eine große Ausnahme. Allerdings kommt Martin über Ostern 1969 für elf Tage zu Besuch, sieben Tage sind Urlaub, die restlichen vier Tage hat er vorgearbeitet. 48

Sechs Wochen dauert es, bis der Sechsundzwanzigjährige über eine Agentur einen Job und in Toronto eine Wohnung gefunden hat. Um die Sprache richtig lernen und dann beherrschen zu können, belegt er an der Universität Abendkurse in Englisch und Mathematik. Sein Arbeitgeber ist Anthes Eastern Ltd., ein junges, gerade erst gegründetes Unternehmen, das unter anderem Wasserboiler entwickelt und fertigt. Herrenknecht ist auch hier ziemlich erfolgreich, erhält bald eine »sehr interessante Arbeit«, bei der er »seinen Grips gebrauchen kann«, und hätte wohl auch dauerhaft bleiben können. Die Social Insurance Number hat er ohnehin, die Einbürgerung wäre kein Problem. Aber daraus wird dann nichts. 49

Vom 6. September 1968 bis 20. Juni 1969, also gut neun Monate, bleibt er in Toronto. Dann packt Martin Herrenknecht, mit einem exzellenten Arbeitszeugnis ausgestattet, wieder seine Koffer, schaut sich noch Cape Canaveral, Washington und New York an und ist am 5. Juli zurück in Deutschland. Für ihn war der Aufenthalt das Erlebnis einer Gegenwelt: Nach der »unwahrscheinlich konservativen« Schweiz jetzt das progressive Nordamerika. Er mag diese andere Welt, aber die »Basis« ist hier, in der Schweiz und natürlich in Baden: »Ich bin heimatverbunden.« 50

Allerdings ist auch in der Heimat nicht alles Gold, was glänzt. Der Einstieg bei der deutschen Tochter von John Deere & Co., einem 1837 gegründeten traditionsreichen Unternehmen, das sich zu einem der größten Landmaschinenproduzenten der Welt entwickelt hat, erweist sich bald als Fehlentscheidung. Herrenknecht will »etwas machen, etwas entwickeln, etwas unternehmen«, findet sich aber in einem bürokratischen Apparat wieder, der ihm die Luft nimmt. Nach knapp 15 Monaten verlässt er Mannheim Ende März 1971 und tritt Mitte April als Leiter der Konstruktionsabteilung beim Elba-Werk in Ettlingen ein, wo es ihn gerade einmal bis zum 31. August 1971 hält. 51

© Privatarchiv Familie Herrenknecht

Abschied: Mit dem Aufbruch nach Kanada löst sich Martin Herrenknecht aus dem engen Verbund seiner Familie. Die Aufnahme zeigt ihn (links im Bild) 1958 mit Vater Emil, Bruder Dieter und Mutter Elsa hinter ihrem Haus in Allmannsweier.

Martin Herrenknecht fühlt sich unterfordert und weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Beruflich, aber wohl auch privat. Auf die dreißig zugehend, denkt er über eine feste Bindung, vielleicht auch über die Gründung einer Familie nach. So genau weiß er das heute nicht mehr, und auch an seine chiffrierte Kontaktanzeige, die am 19. Juni 1971 in der Badischen Zeitung erscheint, kann er sich nicht mehr erinnern. Der Zuspruch ist jedenfalls nennenswert. Neben einem »Institut für erfolgreiche individuelle Eheanbindung« mit »44jähriger Erfahrung« sowie »zahlreichen und besten Verbindungen im In- und Ausland« melden sich verschiedene Damen aus der Region. Die Schreiben werden von der Zeitung nach Allmannsweier weitergeleitet.

»Ich bin Sekretärin, 26 Jahre, 168 cm groß, mittelblonder Typ u. gute Figur«, schreibt Wiebke L. aus Freiburg: »Eine Brille trage ich, die ich in eine andere ändern möchte … Wenn wir zueinander passen, könnten wir ja auch zusammen Urlaub machen … Habe heute schon mehrere Hotels in Timmendorfer Strand angeschrieben, ob noch Zimmer frei sind … PS: Sie möchten auch ein Bild, ich habe noch eins aus meiner Serie herausgefunden. Auf das Kleid müssen Sie nicht besonders schauen, denn es gehört meiner Freundin u. daher sitzt es auch nicht richtig.« 52

Zum Urlaub in Timmendorfer Strand kommt es nicht. Überhaupt hat die Episode keine Folgen. Vielleicht ist nicht die Richtige dabei. Wahrscheinlich ist es aber so, dass Martin Herrenknecht in dieser Lebensphase andere Prioritäten setzt. Was er vor allem braucht und sucht, sind ein Arbeitsplatz und eine Tätigkeit, die ihn ausfüllen. Die findet er wenig später. Unter der Erde.

Seit Herbst 1971 bohrt Martin Herrenknecht Tunnel. Ahnung von dem Geschäft hat er damals nicht. Aber er ist neugierig und lernfähig, couragiert und selbstbewusst. Also hat der Neunundzwanzigjährige auf eine Stellenanzeige geantwortet und dann die sich daraus ergebende Chance ergriffen, bei der Schweizer Firma Losinger am Bau des Seelisbergtunnels mitzuarbeiten. Eigentlich hatte er schon eine Zusage der in Düsseldorf ansässigen Wilhelm Weller GmbH, die auf die Herstellung und den Vertrieb von Straßenwalzen spezialisiert ist. Aber der Zuschlag durch Losinger bedeutet eine andere Herausforderung und erschließt ihm eine neue Welt. Das weiß er sofort. 53

Losinger, 1917 von zwei Brüdern gegründet, 1922 in eine AG umgewandelt und seit 1968 an der Börse notiert, hat sich – Anfang der Zwanzigerjahre mit dem Bau eines gut 3 Kilometer langen Kraftwerkstollens in Klosters beginnend – auf diesem Feld einen guten Namen gemacht. Jetzt ist Losinger Partner der aus drei Bauunternehmen bestehenden Arbeitsgemeinschaft Seelisbergtunnel, Los Huttegg (Mitte), in Bauen, Kanton Uri. Herrenknecht wiederum kennt die Schweiz, seit er von 1964 bis 1968 als Konstruktionsingenieur für die Amman AG in Langenthal tätig war.

Der nach dem gleichnamigen Ort am Vierwaldstättersee im Kanton Uri benannte Seelisbergtunnel ist Teil der Nationalstraße A 2. Diese verbindet Basel mit Chiasso und bildet damit zugleich einen zentralen Abschnitt innerhalb des europäischen Autobahnnetzes zwischen Deutschland, der Schweiz und Italien. Als Herrenknecht seine Mitarbeit an diesem Projekt zusagt, ahnt er noch nicht, dass er sich Jahrzehnte später in dieser Gegend beruflich auf eine Art und Weise entfalten wird wie kaum jemals zuvor: Die beiden 57 Kilometer langen Hauptröhren des Gotthard-Basistunnels, die Ende 2016 in Betrieb gehen, sind fraglos ein Höhepunkt seiner Laufbahn. Dagegen ist der Seelisbergtunnel zwischen Rütenen und Büel aus heutiger Sicht ein Projekt von überschaubarer Dimension; damals allerdings ist er mit seinen beiden jeweils knapp 9,3 Kilometer langen Röhren und den insgesamt 29 Querschlägen der weltweit längste seiner Art.

Verantwortlicher Baustellenleiter vor Ort ist Fritz Buri. Buri, Jahrgang 1929, hat nach der schulischen Sekundarstufe bei einem Bauern in der französischen Schweiz gearbeitet, um auch diese Sprache zu erlernen, und dann bei Losinger eine dreijährige Lehre als Tiefbauzeichner absolviert. Die sich daran anschließende Ausbildung am damaligen Technikum Burgdorf unterbricht Buri nach einem Jahr, um beim Schweizer Militär, das er von der Rekrutenschule kennt, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Wie sich Martin Herrenknecht erinnert, kommt Buri die Etappe beim Militär auch in seiner späteren beruflichen Laufbahn zugute. Da praktisch alle potentiellen Mitarbeiter, soweit sie Schweizer sind, dort ihren Wehrdienst abgeleistet haben, weiß Buri, wen er fragen muss, wenn er einen Bewerber einschätzen will. 54

Nachdem er die Offiziersaubildung mit Erfolg abgeschlossen hat, geht er zurück nach Burgdorf, macht dort 1955 sein Diplom als Bauingenieur und beginnt dann seine berufliche Laufbahn bei seinem Lehrmeister Losinger, dem damals größten Bauunternehmen in der Schweiz, dem er treu bleibt, bis er 1994 als verantwortlicher Leiter der Tunnelbauabteilung in den Ruhestand geht.

In der Person des Ingenieurs Fritz Buri verbinden sich militärisch geschulte »knallharte« mit »sehr menschlichen« Zügen. Sagt Martin Herrenknecht im Rückblick. Taucht ein Fehler auf, und das ist bei Großprojekten wie diesem Tunnel nun einmal nicht zu vermeiden, macht Buri nicht die verantwortlichen Mitarbeiter zur Schnecke, sondern geht mit ihnen gemeinsam der Sache auf den Grund und behebt das Problem im Team: »So eine Baustelle«, sagt Buri noch heute, »ist immer Teamarbeit. Es kann nicht anders sein.«

Wird der Fehler aber ein zweites Mal gemacht, kann er ungemütlich werden. Fritz Buri »gehört zu den Ingenieuren, die keiner Herausforderung aus dem Weg gehen und ihre Mitarbeiter zu führen verstehen«. So Herrenknecht über Buri – und Buri über Herrenknecht. Die beiden haben tatsächlich vieles gemeinsam. Allerdings ist Herrenknecht nicht nur ein Vollblutingenieur, sondern auch ein Vollblutunternehmer, und das mit durchschlagendem Erfolg. Eine äußerst seltene Verbindung. 55

© Privatarchiv Fritz Buri