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Gregor Schöllgen

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Beschreibung

Ein deutscher Anlagenbauer in der Welt

Wie die Zukunft aussieht, weiß man nicht. Aber man kann sich ihr stellen. Wie das geht, zeigt ein Maschinen- und Anlagenbauer im Siegerland. 1871 von der Familie Weiss als »Werkzeug-Fabrik« ins Leben gerufen, hält das innovative Hightech-Unternehmen seither die Konkurrenz auf Distanz. 150 Jahre nach ihrer Gründung ist die SMS Group mit ihren weltweit 14.500 Mitarbeitern ein Pionier der smarten Fabrik und der Wegbereiter für eine umweltneutrale und nachhaltige Metallurgie. So schreibt man Geschichte.

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Seitenzahl: 861

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GREGOR SCHÖLLGEN

SMS

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Ditta Ahmadi, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung eines Fotos der vollkontinuierlichen Beizanlage im Werkskomplex Baoshan, Unternehmensarchiv SMS group

Typografie und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Bildbearbeitung: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-31599-3V002

www.dva.de

Inhalt

Vorwort

Weiss übernimmt

Die Formierung der Siemag

1871–1939

Volles Programm

Die Siemag im Krieg

1939–1945

Auf zwei Beinen

Bernhard Weiss ordnet das Portfolio

1945–1971

Mit Schloemann

Die Ära Heinrich Weiss beginnt

1971–1973

China zieht

Auf dem Weg zum Weltkonzern

1973–1990

Alles inklusive

SMS wird zum Komplettanbieter

1990–2007

Smarte Fabrik

Der Eintritt in die digitale Welt

2007–2021

Epilog

Anhang

Zur Quellenlage

Abkürzungen

Anmerkungen

Bildnachweis

Vorwort

150 Jahre sind eine lange Zeit. Wenige Unternehmen erreichen dieses Alter. Zu ihnen zählt SMS, wie das Unternehmen seit der Fusion der Siemag AG mit der Schloemann AG, also seit 1973 heißt. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich der 1871 gegründete Betrieb nach wie vor vollständig unter der Kontrolle der Familie Weiss befindet. Was die Frage aufwirft: Wie haben die das gemacht? Wie haben sie den Anlagen- und Maschinenbauer durch das turbulente 20. Jahrhundert navigiert?

Diese Frage zu beantworten, heißt sowohl der Geschichte des Unternehmens als auch der Biographie der Familie auf den Grund zu gehen. Und von der Familie zu berichten, bedeutet vor allem von Bernhard Weiss und seinem Sohn Heinrich zu sprechen, die das Gesicht der Firma seit 1927 beziehungsweise 1971 prägten. Während der Ältere, von seinem Auftritt im Rahmen des sogenannten Flick-Prozesses abgesehen, in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung trat, stand der Jüngere schon früh im Rampenlicht.

Denn nicht nur hat Heinrich Weiss aus dem bodenständigen Siegerländer Betrieb einen zukunftsfähig aufgestellten Weltmarktführer geformt. Sondern er hat in dieser Zeit auch im wirtschaftlichen und politischen Leben der Republik eine kaum noch überschaubare Fülle von Funktionen ausgeübt, gilt seit Mitte der Siebzigerjahre als ein, wenn nicht der Pionier im deutschen Chinageschäft und ist zudem ausgesprochen medienaffin. Daher ist dieses Buch beides: eine Geschichte der SMS und eine Biographie ihres langjährigen Protagonisten.

Als mich die Familie Weiss und die Führung ihres Unternehmens einluden, dieser Frage auf den Grund zu gehen, sagte ich ohne Zögern zu, verband meine Zusage allerdings mit der Bedingung, dass mir ein uneingeschränkter Zugang zu sämtlichen Papieren des Unternehmens und seiner Eigentümer gewährt würde. Das hat man mir garantiert. Dabei blieb es ohne Abstriche.

Heinrich Weiss danke ich für das große Vertrauen, das er mir entgegengebracht hat, und für die zahlreichen Gespräche, die ich mit ihm führen durfte. Dankbar bin ich auch einer Reihe von aktiven und ehemaligen Mitarbeitern für ihre Unterstützung und ihre Gesprächsbereitschaft. Ganz besonders gilt das für Kilian Rötzer, den Leiter Kommunikation und Marketing, und für Torsten Edelmann, den Leiter des Unternehmensarchivs. Sein Sachverstand, seine Umsicht und sein hoher Einsatz sind meiner Arbeit und damit diesem Buch sehr zugutegekommen. Dass ich für dieses die alleinige Verantwortung trage, versteht sich von selbst.1

Erlangen, im Juni 2023

Gregor Schöllgen

Weiss übernimmt

DIE FORMIERUNG DER SIEMAG

1871–1939

Das Jahr 1871 hat es in sich. Als Wilhelm I., König von Preußen, am 18. Januar 1871 ausgerechnet im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen wird, verschiebt sich mit einem Schlag das Gleichgewicht der Kräfte auf dem europäischen Kontinent. Welche Konsequenzen das haben wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt nicht einmal Otto von Bismarck – preußischer Ministerpräsident, erster Kanzler des neuen Reiches und dessen eigentlicher Architekt. Fortan wird Bismarck damit beschäftigt sein, sein Geschöpf vor den »bedrohlichen Folgen seiner Gründung zu bewahren«. Das gelingt weder ihm noch einem seiner Nachfolger.1

Das Deutsche Reich ist gerade aus der Taufe gehoben, da erwirbt Karl Eberhard Weiß, wie er sich damals noch schreibt, an der Rosterstraße 3 in Siegen ein Haus und eröffnet dort einen Handwerksbetrieb. Dass die Gründung seiner »Werkzeug-Fabrik« und die Gründung des Deutschen Reiches zusammenfallen, ist ein historischer Zufall mit einiger Symbolkraft. Denn auch das vorläufige Ende des Unternehmens, manifestiert in der Verhaftung, Verurteilung und Inhaftierung seines Enkels Bernhard Weiss, und der Untergang dieses Deutschen Reiches im Frühjahr 1945 fallen zusammen.

Der Schmied Karl Eberhard Weiss ist am 21. Februar 1841 im württembergischen Obertürkheim als Sohn des Weingärtners Johann Friedrich Weiß und dessen Frau Christine Katharina, geborene Lang, zur Welt gekommen. Vieles ist über seine frühen Jahre nicht bekannt. Gesichert ist, dass er nach der Konfirmation bei einem Schmied in Mergelstetten, unweit von Heidenheim, in die Lehre geht, sich hernach, wie damals üblich, auf Wanderschaft begibt und bis 1862 auch seinen »activen Dienst beim Militair« abgeleistet hat. Die Stationen seiner Reise, darunter Ungarn und Frankreich, deuten darauf hin, dass es sich um einen neugierigen, nach fernen Horizonten strebenden Mann gehandelt haben muss.2

Warum es Karl Eberhard Weiss 1864 nach Siegen verschlägt und warum er hier ansässig wird, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Nach der familieninternen Überlieferung hat der junge Schmied auf dem Rückweg aus Frankreich in Siegen Station gemacht und dort seine künftige Frau kennengelernt. Das klingt plausibel. Jedenfalls stellt Karl Eberhard Weiss am 31. Juli 1866 bei der Stadt den Antrag, sich niederlassen zu dürfen und in den »Preussischen Unterthanenverband« aufgenommen zu werden. Seit Mitte Januar ist er bei der »Fabrik der Herren Ad. & Heinr. Oechelhäuser« beschäftigt, verdient dort durchschnittlich 15 bis 30 preußische Silbergroschen pro Tag und kann, wiewohl noch unverheiratet, eine Familie seinem »Stande gemäß ernähren«.3

Als Karl Eberhard Weiss bei den Herren Oechelhäuser seine berufliche Laufbahn beginnt, ahnt er nicht, dass seine Söhne dieses Unternehmen 50 Jahre später übernehmen werden. Die Übernahme der »Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. H. Oechelhäuser«, wie sie 1916 heißen wird, ist der erste von zwei großen Schritten auf einem Weg, der das Unternehmen der Familie Weiss an die Spitze der Siegerländer Anlagenbauer führen wird. Den zweiten und entscheidenden Schritt tun die beiden Söhne des Firmengründers 1927, als sie die »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« übernehmen, wie dieses Unternehmen bei der Übernahme firmiert.

Die Basis dieser spektakulären Karriere wird gelegt, als Karl Eberhard Weiss 1871 in Siegen sein Gewerbe anmeldet. An welchem Tag genau das geschieht und wann der Betrieb ins Handelsregister eingetragen wird, ist nicht bekannt. In den Gewerbesteuerlisten firmiert »Carl Eberhard Weiss«, wie er sich nach der Gründung seines Unternehmens schreibt, Mitte der Siebzigerjahre als »Fabrikant« mit einer »Werkzeug-Fabrik«. Sitz der Fabrik ist seit 1873 der Kirchweg in Siegen. Ende der Siebzigerjahre beschäftigt der Maschinenbetrieb »ca. 8 Arbeiter«; nach wie vor fällt ein Gewerbesteuersatz von 36 Mark an.4

Kaum dass er die Niederlassungsgenehmigung in Händen hat, heiratet Carl Eberhard Weiss am 11. September 1866 Marie Judith Donsbach. Die junge Frau, die am 4. Dezember 1844 in Siegen geboren wurde, ist die Tochter des Siegener Metzgermeisters Philipp Donsbach und seiner Ehefrau Marie Elisabeth, geborene Melmer. Aus der Ehe gehen vier Töchter – Ida, Hedwig, Minna und Emmi – sowie die beiden Söhne Carl und Ernst Heinrich Weiss hervor.

Gründer mit Gemahlin: Nach der Aufnahme in den »Preussischen Unterthanenverband« heiratet Carl Eberhard Weiss am 11. September 1866 in Siegen Marie Judith Donsbach.

Carl, der am 30. Oktober 1872 geboren wird, besucht in Köln die Maschinenbauschule, anschließend als Hospitant die Technische Hochschule in Stuttgart; Ernst Heinrich, der am 27. Dezember 1875 zur Welt kommt, absolviert in Düsseldorf eine kaufmännische Lehre und erweitert danach seinen Horizont in Belgien, Frankreich und England, wo er, durch Bruder Carl unterstützt, von der in Coventry ansässigen Brett’s Patent Lifter C. Ltd. das Patent Nr. 98401 auf einen Dampfhammer erwirbt.5

In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre treten die Söhne – der Ältere am 1. Oktober 1896 – in das väterliche Unternehmen ein, das sich jetzt »Dampfschmiede-Werkzeugfabrik und Dampfschleiferei von Carl Weiss in Siegen (Westfalen)« nennt, etwa 40 Mitarbeiter beschäftigt und sein Angebot konsequent erweitert. Am 11. Dezember 1901 wird der Betrieb, der sich nach wie vor vollständig im Besitz der Familie befindet, in eine offene Handelsgesellschaft überführt. Seither firmieren Carl und Ernst Heinrich Weiss als Gesellschafter. Als der Gründer am 8. Mai 1904 stirbt, ist sein Unternehmen für die Zukunft aufgestellt.6

Einer der ersten Kunden des gut drei Jahrzehnte zuvor gegründeten Unternehmens ist der Ingenieur Julius Pohlig. Pohlig, Jahrgang 1842, hat am Polytechnikum Karlsruhe studiert, es dort allerdings nicht bis zum Abschluss gebracht, ist danach als Lehrer für Mathematik, Maschinen- und Mühlenbau und seit 1868 im Hauptberuf als Zivilingenieur tätig und gründet 1874 in Siegen eine Firma zur Herstellung von Bergwerks- und Hüttenanlagen. Das macht ihn zum natürlichen Partner von Carl Eberhard Weiss, dessen Produkte maßgeblichen Anteil an Pohligs Erfolgen haben.

Ihren frühen Durchbruch erlebt Pohligs Firma mit der ersten Seilbahn, die seit 1879 die Grube Alte Dreisbach mit dem Bahnhof bei Siegen verbindet. Den Gipfel des internationalen Erfolgs erklimmt Pohlig mit der Personendrahtseilbahn, die er 1912 auf dem Zuckerhut in Rio de Janeiro baut. In gewisser Weise sind Pohligs Erfolge auch Komplimente an die Adresse der Firma Carl Weiss. Folglich behalten Aufträge von Julius Pohlig für die Dampfschmiede-Werkzeugfabrik am Siegener Kirchweg auch dann noch einen hohen Wert, als der Ingenieur 1890 sein Konstruktionsbüro nach Köln verlegt und dort seine eigene Fabrik für Eisenkonstruktionen errichtet.

Mit dem Einstieg der Brüder Carl und Ernst Heinrich Weiss ins väterliche Unternehmen erfährt das Produktprogramm einen signifikanten Ausbau. Wurden zunächst Grubenwerkzeuge, speziell Schiebkarren aller Art, gefertigt, kommen jetzt »Fördereinrichtungen für den Bergbau«, später dann »Spezial-Schienenfahrzeuge für die Eisen- und Stahlindustrie sowie Eisenbahn-Drehscheiben und -Schiebebühnen« hinzu, wie Bernhard Weiss, der Enkel des Gründers und Sohn von Ernst Heinrich Weiss, 1948 notiert.7

Bis zur Jahrhundertwende hat sich der Kundenkreis von Carl Eberhard Weiss und seinen Söhnen um namhafte Unternehmen erweitert, darunter Buderus, Krupp, Mannesmann, die Rheinischen Stahlwerke, Stumm und Thyssen. Bemerkenswert früh gehen in Siegen auch Aufträge aus dem Ausland ein, darunter im Juli 1897 eine Bestellung auf 25 Gichtwagen zum Preis von 208 Reichsmark pro Stück für die japanischen Imperial Steel-Works.8

Schon damals lassen Carl Eberhard Weiss und seine Söhne jene Eigenschaften erkennen, die Unternehmer mit diesem Profil haben müssen, wenn sie auf Dauer erfolgreich sein wollen. Dazu gehören Bodenhaftung und die unablässige Suche nach neuen technischen und betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten. Die feste Verwurzelung, die ihnen Halt gewährt, bringt es mit sich, dass die Siegener Unternehmer sich auch von Rückschlägen nicht unterkriegen lassen.

Weil sich in Deutschland niemand für das in England erworbene Dampfhammer-Patent interessiert, schreiten Carl Eberhard Weiss und seine Söhne zur Tat, verwerten es selbst und gründen am 22. Dezember 1899 ein Hammerwerk. Beinahe die Hälfte des Stammkapitals der »Siegener Stanz- und Hammerwerke GmbH« in Höhe von 200000 Reichsmark bringt die Familie Weiss selbst ein, darunter ein Grundstück in Siegen und eben den Lizenzvertrag für besagtes Patent im Wert von 20000 Reichsmark. Im Übrigen sind sieben Investoren mit Beträgen zwischen 5000 und 40000 Reichsmark am neuen Hammerwerk beteiligt. Die Geschäftsführung liegt bei Ernst Heinrich Weiss. Am 19. September 1900 nimmt die Firma – unter anderem mit zwei Dampfreck- und zwei Fallhämmern – den Betrieb auf.9

Während die Werkzeugfabrik Carl Weiss »Maschinen und Einrichtungen für den Bergbau« produziert, beschäftigt sich das Siegener Stanz- und Hammerwerk »mit der Herstellung von Gesenk- und Pressschmiedestücken, insbesondere für den Waggonbau«. Das notiert Bernhard Weiss im Juni 1945 und erklärt damit auch, warum sein Onkel Carl und sein Vater Ernst Heinrich Weiss 1905 mit dem Aufbau einer Waggonbau-Fertigung beginnen.10

Anlass für diese folgenreiche Weichenstellung ist ein Auftrag der Pingsiang-Siangtau Railway, der am Jahresende 1904 über Gustav Leinung – ein Freund der Familie, der in China als Bergwerksdirektor tätig ist – in Siegen eintrifft. Geordert werden 40 für den Kohletransport vorgesehene Waggons mit einem Fassungsvermögen von 40 Tonnen. Wagen dieser Größe und Konstruktion sind damals in Deutschland unbekannt. Die Träger aus Pressstahl fertigt Krupp; der Zusammenbau erfolgt auf dem Werksgelände von Weiss am Siegener Kirchweg. Die Premiere auf neuem Terrain ist so erfolgreich, dass bald ein weiterer Auftrag aus China über 20 Waggons und 1907 ein Probeauftrag der Preußischen Staatsbahn für zehn eiserne Kastenwagen von 20 Tonnen Tragfähigkeit mit Türen und Wänden aus Pressblech eintreffen.11

Inzwischen hat die Werkzeugfabrik der Brüder Weiss in der Gemeinde Dreis-Tiefenbach, gelegen an der im Bau befindlichen Kleinbahn Weidenau–Deuz, für den geplanten Fabrikbau geeignete Grundstücke erworben. Am 20. Januar 1908 tun Carl und Ernst Heinrich Weiss den naheliegenden nächsten Schritt und heben dort die »Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft« (SEAG) aus der Taufe. Gegenstand des Unternehmens ist die Herstellung von Eisenbahnbedarf aller Art, Eisenbahnfahrzeugen, Eisenkonstruktionen, Brücken und Maschinen.

Unternehmer mit Familie: Carl Eberhard Weiss (links) und die Belegschaft der »Dampfschmiede-Werkzeugfabrik und Dampfschleiferei von Carl Weiss in Siegen (Westfalen)« um 1895. Mit von der Partie sind seine beiden Söhne Carl (rechts stehend) und Ernst Heinrich Weiss (neben dem Vater sitzend).

Der Erfolg ist durchschlagend. Nachdem die noch bei der Firma Carl Weiss in Auftrag gegebenen zehn Kohlewagen Ende März an die Preußische Staatsbahn übergeben worden sind, geht bei der SEAG ein Folgeauftrag über 120 Waggons für 15 Tonnen Tragfähigkeit ein. Am 2. Mai 1908 wird das Aktienkapital auf 750000 Reichsmark erhöht, von denen die Werkzeugfabrik Carl Weiss knapp die Hälfte hält. Am Jahresende beschäftigt die SEAG 76 Arbeiter und sieben Angestellte. Dass 1910 eine Betriebskrankenkasse eingerichtet wird, zeigt an, dass der Waggonbau keine Eintagsfliege ist.12

Tatsächlich wird die Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft (SEAG) für einige Jahre zum Zentrum der unternehmerischen Aktivitäten der Familie Weiss. Am 26. September 1910 beschließt die Generalversammlung der SEAG eine Fusion der drei Betriebe. Im Zuge dieser Neuordnung übernimmt die neue Gesellschaft zum einen die Aktiva und Passiva der Siegener Stanz- und Hammerwerk GmbH und gewährt ihr dafür Aktien im Wert von 300000 Reichsmark. Zum anderen verkauft die Firma Carl Weiss ihre am Kirchweg gelegenen Anlagen nebst Vorräten für knapp 871000 Reichsmark an die SEAG, die damit auch sämtliche Bankschulden, nicht aber die Außenstände übernimmt. Etwa die Hälfte des Kaufpreises wird durch alte und neue Aktien der SEAG abgegolten. Um das stemmen zu können, wird das Aktienkapital um 500000 auf 1250000 Reichsmark erhöht.13

Fortan hat die SEAG drei »Betriebsabteilungen«, die intern als »Stanzwerk«, »Carl Weiss« und »Tiefenbach« firmieren. Der Ausbau der Werke, die Erweiterung der Produktpalette und der Aufbau der Belegschaft gehen zügig voran und machen im Herbst 1912 und im Herbst 1917 neuerliche Erhöhungen des Aktienkapitals um insgesamt 1,05 Millionen Reichsmark erforderlich. Mit der zweiten Aufstockung finanziert die SEAG im Oktober 1917 die Übernahme der Elisenhütte in Nassau an der Lahn, die seit 1910 im Waggonbau tätig ist. Das Unternehmen fertigt mit rund 200 Arbeitskräften vor allem offene Güterwagen für die Staatsbahn und erfreut sich, wie die Werkschronik vermerkt, »der Gunst des Eisenbahnministers Breitenbach«. Die Elisenhütte hatte bis 1901 Werner von Siemens, dann der Gewerkschaft Käfernburg gehört, die sich wiederum mehrheitlich im Besitz der Société Anonyme Métallurgique et Minière du Nassau à Bruxelles befindet. Mit der Elisenhütte erwirbt die SEAG auch ein Röhrenwerk und damit eine weitere Fertigungslinie. Am Ende des Ersten Weltkriegs produziert die SEAG rund 1200 Waggons jährlich.14

Von alledem trennen sich die Brüder Weiss im Frühjahr 1918, als sie die Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft (SEAG) zehn Jahre nach der Gründung verkaufen. Was genau hinter dieser Entscheidung steckt, lässt sich nicht in allen Facetten rekonstruieren. Natürlich denken die beiden nicht daran, sich ins Privatierdasein zurückzuziehen, im Gegenteil: Sie wollen sich wieder ganz auf ihre Kernkompetenz, also die Maschinenfabrik, konzentrieren und sich im Zuge des Verkaufs von sämtlichen Investoren beziehungsweise Teilhabern trennen. Um das zu schaffen, soll zunächst der Mischkonzern, zu dem sich die SEAG inzwischen entwickelt hat, komplett verkauft werden. Sofern sich ein Käufer findet. In einem zweiten Schritt wollen die Brüder dann alles bis auf den Eisenbahnbedarf wieder in ihren Besitz bringen.

Käufer der SEAG ist die Aktiengesellschaft Charlottenhütte Niederschelden, die inzwischen zu großen Teilen Friedrich Flick gehört. Friedrich Flick, der am 10. Juli 1883 im siegerländischen Kreuztal das Licht der Welt erblickt hat, zählt zu den umtriebigsten und erfolgreichsten Industriellen seiner Generation. Wie andere seines Schlages hat Flick nach einer kaufmännischen Lehre und dem einjährig-freiwilligen Militärdienst von 1905 bis 1907 unter anderem bei Eugen Schmalenbach studiert, dem Direktor des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsprüfung an der Handelshochschule Köln. Schmalenbach, Jahrgang 1873, ist nicht nur Akademiker, sondern auch Praktiker, arbeitet als Bilanzprüfer und Unternehmer und gibt seinen Schülern dieses Rüstzeug mit auf den Weg in ihre Karrieren. Wie nachhaltig der Einfluss des jungen Schmalenbach, der unter anderem von 1911 bis 1933 als Aufsichtsratsvorsitzender der Kölner Treuhand-Gesellschaft Generationen heranwachsender Wissenschaftler und Unternehmer geprägt hat, auf Friedrich Flick tatsächlich gewesen ist, lässt sich nicht sicher sagen.

Anders sieht es mit seiner sich daran anschließenden fünfjährigen Tätigkeit als kaufmännischer Leiter und Prokurist bei der Aktien-Gesellschaft Bremer Hütte in Geisweid am Rande von Siegen aus. Hier hatte Flick schon seine zweijährige kaufmännische Lehre absolviert, und auch während des stark praxisorientierten Studiums hielt er engen Kontakt zu der Eisenhütte. Das Fundament seines Erfolgs als selbstständiger Unternehmer legt Friedrich Flick allerdings – nach einer Zwischenstation als Vorstand bei der sauerländischen Eisenindustrie zu Menden und Schwerte AG – seit 1915 als kaufmännischer Direktor bei der Aktiengesellschaft Charlottenhütte. Binnen weniger Jahre formt er den kleinen Betrieb zu einem nennenswerten Akteur der deutschen Stahlindustrie – und bringt ihn schrittweise in seinen Besitz.

Dabei spielen die Hochkonjunktur der Stahlindustrie – eine Hauptlieferantin der Rüstungsindustrie während des Ersten Weltkriegs –, ferner profitable Geschäfte mit Schrott und nicht zuletzt das zügig verfeinerte »Arsenal an Taktiken und Methoden« eine Rolle, mit dem Flick die rasante Expansion vorantreibt. So lässt er zweimal Vorzugsaktien ausgeben, um vermeintliche Übernahmedrohungen abzuwehren, die er in Wahrheit selbst in Szene gesetzt hat. Trotz alledem ist nach Auskunft seiner Biographen »bis heute ungeklärt«, wie es dem kaufmännischen Direktor gelungen ist, »binnen kürzester Zeit zum Hauptaktionär seines Unternehmens aufzusteigen« und bis spätestens 1921 die Kapitalmehrheit unter seine Kontrolle zu bringen.15

Heinrich Weiss, der Sohn von Bernhard Weiss, der seinen angeheirateten Großonkel Flick Anfang der Fünfzigerjahre nach dessen Entlassung aus der Landsberger Haft kennenlernt und ihn hernach immer wieder einmal trifft, beschreibt diesen im Rückblick als »große Autoritätsperson«, als »spröden Menschen ohne wirkliche Freunde«, als »Einzelkämpfer und Machtmenschen – aber in einer bäuerlichen Tarnkleidung«.16

Die faktische Übernahme der Charlottenhütte ist der erste Schritt auf einem Weg, der Friedrich Flick mit Geschick, Skrupellosigkeit und erheblichem Durchsetzungsvermögen innerhalb von anderthalb Jahrzehnten zum Ziel führen wird: Am 10. Juli 1937 wird die Dachgesellschaft seiner Unternehmensgruppe in die »Friedrich Flick KG« umgewandelt. Die Holding, eine Personengesellschaft, trägt nicht nur erstmals den Namen des Konzernarchitekten »Flick«, sondern sie befindet sich auch vollständig im Besitz der Familie.

Auf dem Weg Friedrich Flicks hin zum Hauptaktionär der Charlottenhütte spielt der Kauf der Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft (SEAG) von den Brüdern Weiss im Frühjahr 1918 auch deshalb eine wichtige Rolle, weil dieser Schritt als einer der Anlässe für die neuerliche Kapitalanhebung der Charlottenhütte dient. Dass Flick den Aktionären der SEAG einen Preis zahlt, der immerhin 400 Prozent des Nominalkapitals beträgt, sorgt dafür, dass die Transaktion im preußischen Handelsministerium noch Jahre später unter dem Verdacht der Vetternwirtschaft steht – zu Unrecht, wie man heute weiß.17

Die Familie Weiss muss das nicht interessieren. Für sie zählt, dass Friedrich Flick ihr in einem entscheidenden Moment unter die Arme greift. Es wird nicht das letzte Mal sein. Natürlich ist das kein karitativer Akt. Auch Flick profitiert von der Transaktion. Allerdings ist er nicht auf dieses Geschäft angewiesen. Die Brüder Weiss hingegen brauchen Flick für ihr ambitioniertes Vorhaben. Die Übernahme ihrer SEAG-Aktien hilft ihnen, den Ausbau des eigenen Unternehmens voranzutreiben, ohne sich finanziell zu verheben.

Denn 1916 haben sie, wie erwähnt, die »Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser« (SMAG) übernommen. Diese geht in Betrieb, als Johannes Oechelhäuser 1818 im Leimbachtal eine Walkmühle erwirbt und sie zu einer Papiermühle umbaut. 1820 läuft die Papierfabrikation an, wenig später folgt der Einstieg in die Maschinenfertigung zunächst für die Papierfabrikation: Patente auf eine Kautschmaschine, eine hydraulische Presse, einen Lumpenreißer und ein Stampfwerk zeugen von der Innovationskraft des Unternehmens und erklären, warum sich die »Maschinenbau-Werkstatt A. & H. Oechelhäuser« im Laufe der Jahrzehnte zu einem führenden Unternehmen im deutschen Maschinenbau entwickeln wird.

So firmiert der Betrieb, seit Adolf Oechelhäuser, ältester Sohn des Firmengründers, 1860 seinen Bruder Heinrich in die Firma aufgenommen hat. Hinter ihr liegen gute und schlechte Zeiten, am 24. März 1848 kommt es gar zum Konkurs, der zum 1. Januar 1852 durch einen Vergleich beendet wird. Für diesen Rückschlag gibt es eine Reihe von Gründen, nicht zuletzt die zögerliche Industrialisierung des Siegerlandes, die im Prinzip erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt, also etwa drei Jahrzehnte später als im benachbarten Rhein-Ruhr-Gebiet.18

Eine Erklärung für diesen erstaunlichen Befund ist die schlechte Verkehrsanbindung der Region. Der Rhein fließt eben nicht durch Siegen, und die Stadt hat jahrzehntelang keine angemessene Anbindung an das überregionale Eisenbahnnetz, eine der Schlagadern der Industrialisierung. Erst mit Beginn der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts ändert sich das, als zunächst auf der Strecke Siegen–Köln der durchgehende Eisenbahnverkehr eröffnet und dann die Ruhr-Siegbahn dem Verkehr übergeben wird.

Dass die Industrialisierung im Siegerland nur zögernd Fuß fasst, heißt natürlich nicht, dass sie nicht stattfindet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es hier sechs Maschinenwerkstätten. Auch 1865 hat sich daran noch nichts geändert. Inzwischen erwirtschaften insgesamt 216 Arbeiter 134500 Taler. Zwei dieser Werkstätten werden im Adressbuch der Kaufleute, Fabrikanten und Gewerbeleute von Rhein-Preußen und Westfalen besonders hervorgehoben: die der Gebrüder Oechelhäuser und die der Brüder Klein, die noch vorzustellen ist. Beide zählen zu den Pionieren des Maschinenbaus im Siegerland, beide werden bekanntlich von den Brüdern Weiss übernommen, die erste 1916, die zweite 1927.19

Schon Mitte der Vierzigerjahre hat die Firma Oechelhäuser eine eigene Dampfmaschine zum Bau einer Papiermaschine konstruiert. Im November 1875 nehmen Adolf und Heinrich Oechelhäuser ihre erste eigene Eisengießerei in Betrieb, 1910 folgen der Kauf und die Erweiterung einer zweiten in Buschhütten. Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft firmiert das Unternehmen seit 1890 als »Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser« (SMAG). Zur Jahrhundertwende steigt die SMAG in den Bau von Großgasmaschinen ein, die das im Hochofen anfallende Gicht- oder auch Kokereigas als Energiequelle etwa zum Antrieb von Maschinen nutzen.

Auch die Entwicklung der Großgasmaschine ist aufs Engste verbunden mit dem Namen »Oechelhäuser«: Wilhelm Oechelhäuser junior, Jahrgang 1854 und Sohn von Wilhelm Oechelhäuser senior – einem Sohn des Firmengründers, der Siegen nach dem Konkurs des Unternehmens verlassen hatte –, ist der Erfinder des sogenannten Oechelhäuser-Motors, der von der Berlin-Anhaltischen Maschinenbau A.-G. gebaut und auf dem Hüttenwerk zu Hörde in Westfalen aufgestellt wird.

Die Einführung dieser Großgasmaschine in das Produktportefeuille der Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser ist Hermann Majert zu danken, der im Direktorium des Unternehmens seit 1882 die Stelle des »ersten Ingenieurs« einnimmt. Die Nachfrage ist so groß, dass die Fertigung trotz Tag- und Nachtschicht nicht nachkommt. 1902 wird das Unternehmen auf der Düsseldorfer Ausstellung für eine 500 PS starke Großgasmaschine mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet. Dieses zukunftsträchtige Geschäft übernehmen die Brüder Weiss 1916 mit dem Betrieb der Oechelhäusers und bauen es konsequent aus.20

Ohne den Ersten Weltkrieg ist diese Geschichte nicht zu verstehen. Auslöser des Dramas, an dessen Ende man 14 Millionen Tote zählen wird, sind die Entwicklungen auf dem Balkan. Hier verdichten sich die zum Teil in der außereuropäischen Welt entstandenen Gegensätze zwischen den Großmächten, verschärft durch die Ambitionen und Aktionen der Balkanvölker, zu schweren Unwettern. Der Sturm bricht los, als der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin am 28. Juni 1914 in Sarajevo ermordet werden.

Nachdem sich Deutschland bedingungslos hinter seinen einzig verbliebenen zuverlässigen Partner Österreich-Ungarn gestellt und Russland nicht minder konsequent die Position Serbiens bezogen hat, dem man in Wien eine Mitverantwortung an dem Mord anlastet, wächst die Kriegsgefahr von Tag zu Tag. Die Nerven liegen blank, und es sind die Deutschen, die sie als Erste verlieren: Am 1. August erklärt das Deutsche Reich Russland und am 3. August 1914 auch dessen Bündnispartner Frankreich den Krieg. Gehen alle kriegsteilnehmenden Staaten zunächst davon aus, dass ihre Soldaten zu Weihnachten 1914 wieder aus dem Feld zurückgekehrt sein werden, zeichnet sich bald ab, dass der Krieg zur bislang verlustreichsten Abnutzungsschlacht werden wird. Entsprechend gefragt ist der Nachschub von Rüstungsgütern aller Art.

Davon profitieren auch die Betriebe von Carl und Ernst Heinrich Weiss im Siegerland. Zum einen steigen sie in die lohnende Rüstungsfertigung ein. Zum anderen gelangen sie im Jahr 1916 über diesen Umweg in den Besitz der Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser (SMAG). In diesem komplexen Prozess spielt die in Eiserfeld ansässige Maschinenbaufabrik Paul Hoffmann GmbH eine Schlüsselrolle. Denn Hoffmann hat, was Oechelhäuser und Weiss brauchen: das Know-how in der Rüstungsfertigung.

Um sicherzustellen, dass die Fertigung von Rüstungsgütern – insbesondere von Torpedorohren und Granaten – nicht sämtliche Ressourcen bindet und damit zwangsläufig auch die zivile Produktion gefährdet, holt Oechelhäuser die Maschinenfabrik ins Boot. Hoffmann ergreift die Chance und übernimmt nicht nur das Fertigungsprogramm für militärisches Gerät der Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser (SMAG), sondern bei dieser Gelegenheit auch deren gesamtes Aktienkapital von nominell 1,25 Millionen Reichsmark.21

Inzwischen ist Hoffmann auch mit den Brüdern Weiss im Geschäft. Denn auch die sind nach Ausbruch des Krieges auf der Suche nach einem Unternehmen, das ihnen beim Einstieg in die Rüstungsproduktion – vor allem bei der Fertigung von Granatzündern – helfen kann, und werden – wie zuvor schon Oechelhäuser – nicht zufällig bei der im benachbarten Eiserfeld tätigen Maschinenfabrik Hoffmann fündig. Wie im Fall Oechelhäuser geht auch im Fall Weiss die Vereinbarung mit der Übernahme von Anteilen einher. Allerdings übernimmt jetzt nicht Hoffmann Anteile des Partners, sondern Carl und Ernst Heinrich Weiss übernehmen ihrerseits schrittweise die Maschinenfabrik Hoffmann GmbH, der inzwischen auch die Mehrheit an Oechelhäuser gehört.22

Auf diesem Weg, also gewissermaßen durch die Hintertür, bringen die Brüder Weiss bis Ende November 1916 sämtliche Anteile an der Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser (SMAG) in ihren Besitz. Damit schließen sie 45 Jahre nach der Gründung des Unternehmens durch ihren Vater die erste Erweiterungsrunde ab. Wie bedeutend die Übernahme der Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser (SMAG) ist, zeigt das Überleben des Namens. Fortan heißt die Firma der Familie Weiss »Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft« (SMAG). 30 Jahre später bezeichnet Bernhard Weiss die SMAG als die »eigentliche Rechtsvorgängerin der Siemag«.23

Heeresaufträge sind im Ersten Weltkrieg eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Grundlage des wirtschaftlichen Erfolgs. Entsprechend tief sind die Spuren, die das Kriegsende in der Bilanz hinterlässt: »Durch die Waffenstillstandsbedingungen war es erforderlich, die Herstellung von Kriegsmaterial fast plötzlich aufzugeben«, stellt man im Geschäftsbericht der Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft (SMAG) 1918/19 nüchtern fest: Eine »große Anzahl der für die Fertigung von Heeresbedarf eingestellten Arbeiter, namentlich Frauen und Mädchen, musste entlassen werden … Die Zufuhren an Rohmaterial, Kohlen und sonstigen Betriebsstoffen haben sich von Monat zu Monat weiter verschlechtert.« Unter diesen Voraussetzungen stellt »die Erneuerung und Instandhaltung der in der langen Kriegszeit herunter gekommenen Anlagen«, von denen der Geschäftsbericht für das Folgejahr spricht, eine besondere Herausforderung dar.24

Ob die neuen politischen Rahmenbedingungen daran etwas ändern werden? Jedenfalls ist am 11. August 1919 die Verfassung der Weimarer Republik in Kraft getreten. So heißt der Nachfolgestaat des am 9. November 1918 untergegangenen deutschen Kaiserreichs, weil die Nationalversammlung, welche die Verfassung beraten und verabschiedet hat, in Weimar tagte: Berlin, nach wie vor die Hauptstadt des Deutschen Reiches, war zu unsicher. Trotz einiger Lichtblicke bleibt die Lage angespannt. Drastische Maßnahmen der alliierten Sieger, wie die Besetzung von Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf im März 1921 und vor allem die Besetzung des Rheinlandes durch französische und belgische Truppen im Januar 1923, verschärfen sie weiter.

Von diesen Verwerfungen wird auch die SMAG schwer getroffen. Denn die Besetzungen des Rheinlandes und des Ruhrgebietes schnüren das Siegerland wirtschaftlich von einigen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Märkten ab. Insbesondere das Geschäft mit den Bergwerksmaschinen nimmt einen nachhaltigen Schaden. Auch deshalb spürt das Unternehmen die allgemeine wirtschaftliche Erholung des Landes, die der Währungsreform vom 15. November 1923 folgt, erst geraume Zeit später. Noch im Geschäftsjahr 1925/26 sieht man sich gezwungen, die Betriebe infolge der anhaltenden »ungünstigen Wirtschaftslage« zeitweise stillzulegen.25

Hoffnung auf eine durchgreifende Besserung der Lage kommt erst mit dem Geschäftsjahr 1926/27 auf. Zwar steht der Betriebsüberschuss noch »in keinem Verhältnis zu den Arbeitsleistungen«, doch sind die beiden Maschinenfabriken und die Gießerei immerhin »befriedigend beschäftigt«. In dieser Zeit nimmt die Familie Weiss die zweite große und vorerst letzte Ausbau- und Übernahmerunde in Angriff.

Mit »Wirkung ab 1. Juli 1927«, also rund 11 Jahre nach Übernahme der Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser (SMAG), geht die »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« durch Fusion auf die Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft über. Das ist ohne Zweifel die bedeutendste Akquisition in der Geschichte des Unternehmens der Familie Weiss von seiner Gründung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Denn die Firma Klein ist nicht nur das älteste und zugleich letzte der drei Unternehmen, welche die Familie Weiss bis 1927 übernimmt, sondern sie bringt den Standort Dahlbruch, den Walzwerksbau und nicht zuletzt das Auslandsgeschäft in großem Maßstab in das Familienunternehmen ein.26

Die Anfänge der »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« und damit der Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft liegen im Jahr 1790, als Johannes Klein am 6. April um 10 Uhr im siegerländischen Dahlbruch für 1600 Taler einen wassergetriebenen Reckhammer ersteigert. Am 8. November 1834 erhalten August und Wilhelm Klein, die Enkel des Firmengründers, die Konzession für die Umwandlung des Reckhammers in eine Eisengießerei. Von da an firmiert das Unternehmen als »Dahlbrucher Eisengiesserei Gebrüder Klein«. 1837 nimmt man in der angegliederten Werkstatt die Maschinenfabrikation auf. Produziert werden Öfen, Herde und Kunstguss. Danach geht es Schlag auf Schlag. 1846, also mehr oder weniger zeitgleich mit den Brüdern Oechelhäuser, nehmen die Brüder Klein die erste, im Werk selbst konstruierte und hergestellte Dampfmaschine in Betrieb und steigen in die Herstellung von Werkzeugmaschinen, Walzwerkteilen und Dampfhämmern ein. 1856 arbeitet das erste komplette Walzwerk für Luppen und Bleche.

Bald entwickelte sich die Firma Klein zur »Konkurrenz von Oechelhäuser auf dem Gebiet der Dampfmaschinen, Pumpen und Großgasmaschinen, bevorzugte allerdings bei letzteren im Gegensatz zu Oechelhaeuser die Viertaktmaschine«, wie Bernhard Weiss nach dem Zweiten Weltkrieg festhält: »Schon in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wandte sie sich mehr und mehr dem Bau von Walzwerksanlagen zu«, die auch Mitte der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts, als Klein längst im Unternehmen der Familie Weiss aufgegangen war, noch das »Hauptbetätigungsgebiet dieser Abteilung sind«.27

Einen Durchbruch markiert 1886 die erste Walzwerksanlage mit mechanischer Bewegung des Walzgutes, 1888 folgt die Umbenennung in »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein«. Auf der Düsseldorfer Ausstellung des Jahres 1902, also auch hier zeitgleich mit Oechelhäuser, zeigt Klein seine erste Großgasmaschine als Walzenzugmaschine für ein Gruben-Zinn-Walzwerk und erhält dafür ebenfalls eine Goldene Medaille.28

Ein besonderes Merkmal des Unternehmens ist der frühe Einstieg in den russischen und den chinesischen Markt: 1896 wird in Riga ein Zweigwerk zur Bearbeitung des russischen Marktes errichtet, 1904 erhält die Firma Klein von der Hanyang Iron & Steel Works in China den Auftrag zum Bau eines kompletten Blockwalzwerks als Duo-Reversieranlage mit Rollgängen, Scheren und Nebeneinrichtungen. Nachdem das Werk 1940 wegen der drohenden japanischen Invasion demontiert und in Chongquing wieder aufgebaut worden ist, bleibt es bis Mitte der Sechzigerjahre in Betrieb. Der gute Ruf eilt der Firma noch Jahre später voraus und ist einer der Gründe, warum Heinrich Weiss, der Urenkel des Firmengründers, 1974 den Zuschlag für ein Kaltwalzwerk in China erhält.29

Wie die Firma der Brüder Weiss und die von ihr übernommenen Unternehmen profitiert auch die »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« während des Ersten Weltkriegs von Rüstungsaufträgen, in diesem Falle für die Produktion von Granaten, Flugzeugmotoren-Zylindern, Pressen und Geschützteilen; wie die Firmen der Brüder Weiss wird auch die der Brüder Klein von den Turbulenzen der Nachkriegszeit erfasst, allerdings treffen sie dieses Unternehmen besonders hart. Zum einen zwingen schwerwiegende kaufmännische Fehldispositionen während der Inflation von 1923 und die anschließende Krise des Maschinenbaus das angeschlagene Unternehmen in die Knie.30

Zum anderen geht das Werk in Riga verloren. Schon am 10. August 1904 war es durch eine Brandkatastrophe vernichtet, aber sogleich wieder aufgebaut worden. Wie die spätere Besitzerin, also die Siemag, im Sommer 1942 erfährt, wurden die Maschinen dann während des Ersten Weltkriegs »zum größten Teil von den Russen ausgebaut und verschleppt«; nicht vor 1927 wird eine Entschädigung von gut 240000 Reichsmark ins Reichsschuldbuch eingetragen, aber erst mit Fälligkeit 1944/45.31

Ende April 1926 wird bekannt, dass einer der Hauptaktionäre der schwer angeschlagenen »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« sein Unternehmen mit der Demag fusioniert hat. Damit sind auch die im Besitz des Hauptaktionärs befindlichen Aktien der Gesellschaft Klein indirekt in den Besitz der Demag übergegangen. Die Demag ist damals der bedeutendste und mächtigste Wettbewerber der Maschinenfabrik Klein. Mit den Weichen, die jetzt gestellt werden, übernimmt die Familie Weiss diese Rivalität zur Demag. Daran wird sich nichts ändern, bis sie ihr Unternehmen, die SMS Schloemann-Siemag AG, 1999 mit der Metallurgie von Mannesmann Demag fusioniert. Wovon noch zu berichten ist.

1926 hat wieder einmal Friedrich Flick beziehungsweise seine Charlottenhütte, eine andere Großaktionärin der Firma Klein, die Hände im Spiel. Nach dem erwähnten Kauf der Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft (SEAG) im Frühjahr 1918 ist es das zweite Mal, dass Flick den Brüdern Weiss unter die Arme greift. In einem ersten Schritt gelingt es Flick, die Führung der Demag zur Abgabe der gerade erworbenen Klein-Aktien zu bewegen. Im zweiten Schritt überzeugt er die Brüder Carl und Ernst Heinrich Weiss, ihre »Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft« (SMAG) mit der »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« zusammenzulegen. Der Weg dorthin muss nicht näher beleuchtet werden. Wohl aber das Ergebnis, zu dem auch der Eintritt Friedrich Flicks in den sechsköpfigen Aufsichtsrat des Unternehmens der Brüder Weiss gehört.32

Mit der Fusion der beiden Unternehmen ist die »Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft« der Brüder Weiss 1927 zu einem der größten, wenn nicht das größte Unternehmen im Siegerland geworden. Ihr Fabrikationsprogramm, das neben Walzwerken für die Stahl- und Nichteisen-Metallindustrie auch Ausrüstungen für den Bergbau und die Eisenbahn sowie Großkolbenmaschinen umfasst, macht die Familie Weiss zu einem auch auf nationaler Ebene beachteten Spieler. »Siemag« nennt sie ihr Unternehmen seit dem Geschäftsbericht 1927/28 der Einfachheit halber; seit 1939 firmiert es offiziell als »Siemag Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft«.33

Angesichts des vielfältigen Angebots ist es naheliegend, dass »neben der Reichsbahn … die Eisen- und Stahlwerke sowie der Kohlen- und Erzbergbau an der Ruhr, im Siegerland, an der Saar und in Oberschlesien« die Hauptkunden der Siemag in Deutschland sind. Vor allem aber ist auch »ein Teil der Flick’schen« Unternehmungen, soweit es sich um Eisenhüttenwerke und Steinkohlezechen handelt, »langjähriger Abnehmer der Erzeugnisse der Siemag oder ihrer Rechtsvorgängerinnen«.

Als Bernhard Weiss das im Sommer 1946 notiert, muss er sich mit dem Vorwurf des Nürnberger Militärtribunals auseinandersetzen, »wegen der Tatsache, dass Herr Dr. Flick bis zu seiner Verhaftung dem Aufsichtsrat der Siemag als stellvertretender Vorsitzender angehört hat«, könne »vermutet werden, dass eine besonders enge geschäftliche Verbindung zwischen Siemag und der Flick-Gruppe bestehe, evtl. sogar so weitgehend, dass die Siemag ohne diese Verbindung nicht selbständig lebensfähig sei«.34

Mit der Fusion des Jahres 1927 ist das Unternehmen der Brüder Weiss breit aufgestellt und für kommende Aufgaben gut gerüstet. Auf die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen können die Siemag und ihre Eigentümer naturgemäß keinen unmittelbaren Einfluss nehmen. Und die gestalten sich bald außerordentlich ungünstig, denn die Folge- und Begleiterscheinungen der Weltwirtschaftskrise, die durch den Zusammenbruch der Kurse an der New Yorker Börse im Oktober 1929 ausgelöst wird, treffen Deutschland und Europa erst mit einiger Verzögerung, dann aber heftig.

Im Geschäftsjahr 1929/30 ist es wegen der schlechten Verfassung des Inlandsmarktes »nicht möglich, eine einigermaßen genügende und nutzbringende Beschäftigung der Betriebe zu erzielen«. Im folgenden Jahr lässt der Neuzugang von Aufträgen »derartig nach, dass wir schon zu Beginn des Geschäftsjahres wesentliche Betriebseinschränkungen vornehmen und sowohl Angestellte als Arbeiter entlassen müssen«. Und im Geschäftsjahr 1931/32 ist die Lage so düster, dass man sich genötigt sieht, »eine Konzentration der Betriebe vorzunehmen«. Das heißt im Klartext, dass 1932 die vormals zu Oechelhäuser und Weiss gehörenden Werke in Siegen und damit zwei der bislang fünf Fertigungsstätten stillgelegt werden.35

Erhalten und um- beziehungsweise ausgebaut werden die Werke in Buschhütten, Dahlbruch und Eiserfeld. Schon im Geschäftsjahr 1928/29 hatte die »seit langer Zeit unbefriedigende Lage des Fahrradmarktes« am Standort Eiserfeld »eine Entwicklung genommen, die uns gleich vielen anderen Fahrradfabriken zwingt, die Herstellung von Fahrrädern einstweilen stillzulegen«, wie es im Geschäftsbericht heißt. Tatsächlich bedeutet die Entscheidung das endgültige Aus für die Produktion von Fahrrädern der Marke »INGO« in Eiserfeld, welche die Gebrüder Weiss 1922/23 aufgenommen hatten. Diese Entscheidung ist weniger in betriebswirtschaftlicher als vielmehr in industriegeschichtlicher Hinsicht von einiger Bedeutung. Denn im ausgehenden 19. Jahrhundert war das Fahrrad der Inbegriff des modernen Verkehrsmittels geworden, gewissermaßen das Scharnier zwischen Kutsche und Automobil. Nicht zufällig gehen die Entwicklung des Fahrrads und des Kugellagers, ohne das sich seither nichts bewegt, Hand in Hand.36

Das Zentrum der Siemag liegt im Werk Dahlbruch. Die Maschinenfabrik ist in drei Abteilungen gegliedert, die sich im Zuge der geschilderten Fusionen gebildet haben: Die Abteilung Oechelhäuser produziert Kraft- und Arbeitsmaschinen; die Abteilung Klein stellt komplette Walzwerksanlagen her; die Abteilung Weiss steht für Bergwerkseinrichtungen, Förder- und Transportanlagen. In Dahlbruch, dem größten Standort, befindet sich auch die Firmenzentrale der Siemag.37

Die Wiege aller Werke: Infolge der Weltwirtschaftskrise wird das Mutterwerk der Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft (Siemag) – hier etwa 1918 – 61 Jahre nach der Gründung des Unternehmens stillgelegt. Zum Zentrum der unternehmerischen Tätigkeit wird jetzt der Standort Dahlbruch, der 1927 mit der »Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein« zur Familie Weiss gekommen ist. Der Name »Siegen« lebt bis heute im Namen des Unternehmens SMS fort.

Dem sechsköpfigen Aufsichtsrat gehört nach wie vor Friedrich Flick an. Der führende Kopf im Unternehmen ist Bernhard Weiss, der nach dem Tod seines Vaters Ernst Heinrich am 20. Februar 1933 dessen Nachfolge als stellvertretendes Vorstandsmitglied der Siemag angetreten hat. Dass die Übernahme der Verantwortung im Betrieb der Familie ziemlich genau mit der Übernahme der Macht in Deutschland durch die Nationalsozialisten zusammenfällt, ist ein historischer Zufall. Bernhard Weiss kann damals nicht ahnen, welche tiefen Spuren die gut zwölfjährige Herrschaft Adolf Hitlers in seinem Leben hinterlassen wird.

Bernhard Weiss kommt am 26. März 1904 als Sohn von Ernst Heinrich Weiss und dessen Ehefrau Helene, geborene Schuß, in Siegen zur Welt. Die schwierigen Zeitläufte – der Erste Weltkrieg und die komplizierten Nachkriegsjahre in Deutschland – hinterlassen in der frühen Biographie keine erkennbaren Spuren. Nachdem er vier Jahre die Volksschule und anschließend für neun Jahre das Realgymnasium in Siegen besucht hat, legt Bernhard Weiss zu Ostern 1923 die Reifeprüfung ab.

So unkompliziert die Jugend des Bernhard Weiss verläuft, so verwickelt und folgenreich sind die verwandtschaftlichen Verhältnisse, in die er hineingeboren wird beziehungsweise hineinheiratet. Bernhards Mutter Helene Weiss, geborene Schuß, die am 11. August 1877 in Siegen das Licht der Welt erblickt hat, ist die Tochter des Siegener Textilhändlers und Ratsherrn Robert Schuß, Jahrgang 1840, und seiner 1855 geborenen Ehefrau Lina, geborene Keller.

Helenes deutlich ältere Schwester Maria (»Marie«) Schuß ist seit 1913 mit Friedrich Flick verheiratet. Mithin ist Ernst Heinrich Weiss ein Schwager Friedrich Flicks und sein Sohn Bernhard Weiss ein Neffe des Großindustriellen: Die »beiden Schwäger, Herr Flick und mein Vater, verstanden sich gut und hatten auch manche geschäftlichen Berührungspunkte«, erinnerte sich Bernhard Weiss Anfang 1969 anlässlich einer filmischen Dokumentation über seinen Onkel: Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1932 »war mir Flick ein väterlicher Freund und Berater«.38

Die Verbindung von Onkel und Neffe kann man kaum überschätzen. Friedrich Flick und Bernhard Weiss verstehen sich persönlich sehr gut, überdies verbindet die beiden eine Fülle gemeinsamer wirtschaftlicher und beruflicher Interessen. Zum einen unterstützt Friedrich Flick, wie gesehen, seinen Neffen beziehungsweise dessen Vater wiederholt in entscheidenden Situationen beim Ausbau der Siemag. Zum anderen nimmt Bernhard Weiss, wie noch zu berichten ist, während des Zweiten Weltkriegs im Konzern seines Onkels eine Vertrauensstellung ein. Und schließlich müssen sich die beiden nach Ende des Krieges gemeinsam vor dem Nürnberger Militärtribunal verantworten und sitzen dann auch Zelle an Zelle in Landsberg ein.

Die enge Beziehung zwischen Bernhard Weiss und Friedrich Flick (»Onkel Fritz«) ist im dichten Briefwechsel der beiden dokumentiert, ergänzt durch die Korrespondenz zwischen Bernhard Weiss und Marie Flick sowie deren Söhnen. Eine vergleichbar geschlossene geschäftliche wie private Korrespondenz zwischen zwei derart exponierten Unternehmerpersönlichkeiten dürfte man kaum finden. Einen Schwerpunkt bilden die Jahre 1949 und 1950, also die Zeit zwischen den Entlassungen zunächst von Weiss, dann von Flick aus der Landsberger Haft, weil sich die beiden hier im Wochenrhythmus, mitunter sogar täglich über den Prozess, das Urteil, Möglichkeiten seiner Revision oder auch über das Spruchkammerverfahren Flicks austauschen.

Vergleichbar folgenreich ist auch die Verbindung von Bernhard Weiss zur Familie Schuß. Sein Großvater mütterlicherseits, Robert Schuß, gehört wie Carl Eberhard Weiss, sein Großvater väterlicherseits, am 9. November 1893 zu den Gründern der Siegener Bank für Handel und Gewerbe. Nach dem Tod von Robert Schuß wird sein Schwiegersohn Ernst Heinrich Weiss, der Vater von Bernhard Weiss, 1923 in den Aufsichtsrat der Siegener Bank berufen. Nachdem diese am 1. Mai 1925 auf die Deutsche Bank übergegangen ist, ist Ernst Heinrich Weiss Mitglied des Siegener Ortsausschusses der Deutschen Bank und nach dessen Auflösung 1929 Mitglied des Rheinisch-Westfälischen Beirats der Hauptfiliale der Deutschen Bank in Köln. Nach dem Tod von Ernst Heinrich Weiss wird sein Sohn Bernhard als Nachfolger in diesen Beirat berufen.39

Auch von dieser Geschichte wird Bernhard Weiss nach dem Zweiten Weltkrieg eingeholt. Denn jetzt muss er nachweisen, dass seine Berufung in diesen Beirat »nicht wegen politischer Aktivität erfolgte, sondern ausschließlich auf einer Jahrzehnte alten geschäftlichen Verbindung zwischen dem Bankinstitut und seiner Rechtsvorgängerin … und meiner Familie bzw. deren Unternehmungen andererseits beruhte«.40

Und dann ist da noch die Familie Schilling. Seit dem 8. Juni 1932 ist Bernhard Weiss mit »Herta« Ilse, geborene Schilling, verheiratet, die am 13. September 1911 in Siegen zur Welt kommt. Ihr Vater Ernst Joachim »Hans« Schilling, geboren am 20. Mai 1878 in der Altmark, hat im Mai 1908 die neun Jahre jüngere, aus Gelsenkirchen stammende Elisabeth Bertenburg geheiratet und 1909 im Siegerland Fuß gefasst. Zunächst mit Hermann Bongers als Geschäftsführer der neu gegründeten Siegener Stahlröhrenwerke GmbH in Weidenau tätig, geht Hans Schilling 1912 als alleiniges Vorstandsmitglied zur Press- und Walzwerk AG nach Reisholz.41

Die entscheidende Sprosse auf der Karriereleiter nimmt Hans Schilling im Herbst 1919, als er zum Technischen Vorstand der Siegener Eisenbahn-Bedarf Aktiengesellschaft SEAG berufen wird, die, wie gesehen, von den Brüdern Weiss gegründet und 1918 von Friedrich Flicks Charlottenhütte übernommen worden ist. Seit 1925 ist Hans Schilling zugleich Direktor und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AG Charlottenhütte. Die Stellung bei der SEAG hat Schilling bis kurz vor Kriegsende 1945 inne. Das erklärt, warum er eine wichtige Kontaktperson seines Schwiegersohns Bernhard Weiss ist, als der sich während des noch zu schildernden Nürnberger Prozesses wegen der Beschäftigung von russischen Kriegsgefangenen im Waggonbau des Flick-Konzerns zu verantworten hat.42

Herta Schilling hat von Ostern 1921 bis Ostern 1928 das Städtische Oberlyzeum in Siegen und anschließend bis Ende März 1929 die Haushaltungsschule der Stadt besucht, ist dann, um die französische Sprache zu erlernen, für ein Jahr auf das Gymnase de jeunes filles nach Lausanne gegangen und hat ihre Ausbildung Ende März mit einem einjährigen Besuch der Höheren Handelsschule in Siegen abgeschlossen.43

Als Bernhard Weiss die Einundzwanzigjährige wenige Wochen später heiratet, steht er selbst beruflich mit beiden Beinen fest im Leben. Gleich nach dem Abitur zu Ostern 1923 ist er »zum Zwecke der Ausbildung zum Industriekaufmann … als Volontär ein Jahr bei der Siegener Eisenbahnbedarf AG in Dreis-Tiefenbach …, ein weiteres Jahr in den Berliner Büros der damaligen Linke-Hofmann-Lauchhammer AG sowie den Werken Riesa, Gröditz und Lauchhammer dieser Firma und anschließend noch ein halbes Jahr im Werk Breslau der gleichen Gesellschaft tätig« gewesen. Die Ausbildung ist umfassend und bezieht sich auf den Waggonbau, Pressteile und Gesenkschmiedestücke, auf das Stabeisen-, Blech- und Röhrengeschäft sowie auf den Dieselmotorenbau. Das berichtet Bernhard Weiss nach dem Krieg in verschiedenen Lebensläufen.44

Die Zeit bei Linke-Hofmann nutzt er zudem, um an der Berliner Universität Abendvorlesungen in Betriebswirtschaftslehre zu hören. Nach der Zeit bei Linke-Hofmann schreibt er sich für zwei Semester an der Kölner Handelshochschule ein. Weiss hätte das Studium wohl gern zu Ende gebracht. Da der Vater aber »meinen möglichst frühzeitigen Eintritt in unser Familienunternehmen wünschte, nahm ich mir nicht die 6≈Semester Zeit, die für den Diplom-Kaufmann erforderlich gewesen wären, sondern konzentrierte mich in den 2 Kölner Semestern auf Betriebswirtschaft und etwas Juristerei«.45

Anschließend geht es für ein halbes Jahr ins Eiserfelder Werk der Familie und von dort 1927 als Volontär zu einer Londoner Eisenhandelsfirma. Dieses englische Jahr ist für den weiteren Lebensweg des inzwischen Mittzwanzigers in mehrfacher Hinsicht von erheblicher Bedeutung. Zum einen erweitert er jetzt seinen ohnehin schon weit gespannten beruflichen Horizont um die internationale Dimension; zum zweiten sucht er, wie die erhalten gebliebene Korrespondenz mit dem Vater zeigt, den Kontakt zu jenen Geschäftspartnern, die vor dem Ersten Weltkrieg beim Einstieg der Firma Klein in den chinesischen und den russischen Markt eine Rolle gespielt haben.46

Nicht zuletzt aber »vervollkommnet« Bernhard Weiss in London seine »englischen Sprachkenntnisse«. Sie spielen schon 1934 eine Rolle bei Friedrich Flicks »Aufforderung, ihn und seine Gattin auf einer kurzen Reise nach U.S.A. zu begleiten«. Vor allem aber helfen ihm die Sprachkenntnisse während der Haftzeiten in Frankfurt, Nürnberg und Landsberg und natürlich während des Prozesses vor dem Nürnberger Tribunal, kann er doch den auf Englisch geführten Verhandlungen folgen, die Gespräche in der Sprache der Ankläger und Richter führen und nicht zuletzt schriftlich vorgelegte Fragen auf Englisch beantworten.47

Nimm mich mit Kapitän auf die Reise: 1934 begleiten Bernhard Weiss und seine Frau Herta (rechts und links vom Kapitän der »Europa«) Friedrich Flick und dessen Frau Marie in die USA.

Am 1. Januar 1928, also unmittelbar nach der Fusion des elterlichen Unternehmens mit der Maschinenbau Aktien-Gesellschaft vormals Gebrüder Klein, tritt Bernhard Weiss »endgültig als Prokurist« in das Unternehmen der Familie ein, übernimmt dort zunächst die kaufmännische Leitung des Eiserfelder Werks und ist dann »im Vertrieb für Bergwerksmaschinen, Walzwerksanlagen und sonstigen Hüttenwerkseinrichtungen tätig«. Nach dem Tod des Vaters Ernst Heinrich wird Bernhard Weiss, wie bereits erwähnt, am 20. Februar 1933 dessen Nachfolger als stellvertretendes Vorstandsmitglied der Siemag.48

Zeitgleich tritt sein Cousin, Carl Weiss junior, die Nachfolge seines gleichnamigen Vaters an, der in den Aufsichtsrat wechselt. Carl Weiss junior, am 9. März 1900 als jüngster von fünf Brüdern in Siegen geboren, hat nach dem Besuch der Volksschule und des Realgymnasiums in seiner Heimatstadt sowie einer zweijährigen »Lehr- und Volontärzeit« von 1922 bis 1926 in München, Wien, Lausanne und Köln Volkswirtschaft studiert und sich danach in Paris und London umgetan. Im Oktober 1926 tritt er als Angestellter ins Unternehmen der Familie ein, zu Beginn des Jahres 1931 wird er Direktor.49

Carl Weiss junior ist der wichtigste Ansprechpartner seines Vetters Bernhard, als der sich daranmacht, zunächst die Regie bei der Siemag zu übernehmen und dann das Unternehmen mehrheitlich in seinen Besitz zu bringen. Das ist die Alternative zu einer zwischenzeitlich erwogenen Aufteilung der Siemag zwischen den beiden Familienstämmen. Sie scheidet aus, weil man die warnenden Beispiele der Maschinenfabriken Oechelhäuser und Klein vor Augen hat.

Dieser Kraftakt einer vollständigen Übernahme der Siemag erfolgt in mehreren Schritten. Schon nach dem Tod des Vaters hat Bernhard Weiss damit begonnen, seinen Anteil durch Zukauf von Aktien namentlich seiner beiden Schwestern Margret Altenhein und Anneliese Dango zu verstärken. Darauf verwendet er sämtliche Ersparnisse und Vermögenswerte. Als ihm sein Onkel Carl Weiss dann Ende 1938 seine Siemag-Aktien zum Kauf anbietet, ist Bernhard Weiss auf Unterstützung angewiesen.

Sie kommt einmal mehr von Friedrich Flick, der diese Aktien durch seine Firma »vorläufig« kaufen lässt und seinem Neffen Bernhard Weiss, wie dieser acht Jahre später notiert, »gleichzeitig die Zusicherung« gibt, sie »von dieser Gesellschaft«, also von Flick, »jederzeit zurückkaufen« zu können, »und zwar zum tatsächlichen Gestehungspreis«. Abgeschlossen wird der Prozess in den Jahren 1940 bis 1942 durch zwei weitere Kapitalrückzahlungen in Höhe von 400000 und 1,05 Millionen Reichsmark. Damit übernimmt die Siemag die bislang noch von Margret Altenhein, Anneliese Dango und vor allem von der Friedrich Flick KG gehaltenen Aktien.

Finanziert wird der Aktienkauf unter anderem durch den Verkauf der beiden stillgelegten Betriebe und des gesamten übrigen Haus- und Grundbesitzes im Gebiet der Stadt Siegen. Den Vorschriften des deutschen Aktienrechts entsprechend wird im Zuge dieser Aktion das Aktienkapital der Siemag von 2,45 auf eine Million Reichsmark herabgesetzt, wovon sich 84,2 Prozent im Besitz von Bernhard Weiss und 15,8 Prozent im Besitz der Siemag befinden, was bedeutet: »Die Firma besitzt Aktien der eigenen Gesellschaft.« Man versteht, warum Bernhard Weiss seinem Onkel Friedrich Flick tief verbunden ist.50

Zu diesem Zeitpunkt sind im Deutschen Reich längst die Folgen des Krieges spürbar, in den das von Adolf Hitler geführte Land Europa und die Welt gestürzt hat. Der Mann, dem die Deutschen schließlich bis in den Untergang folgen werden, ist zum Jahresende 1941 »Führer« der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Reichskanzler, Reichspräsident, Oberbefehlshaber der Wehrmacht und des Heeres.

Für diese erstaunliche Karriere eines Aufsteigers ohne berufliches Profil und nennenswerte politische Erfahrung gibt es eine Reihe von Gründen, darunter die Selbstlähmung der politischen Parteien der Weimarer Republik und die Defizite eines parlamentarischen Systems, das keine flexiblen Reaktionen auf schwere innere Krisen vorsieht. Eine solche zieht auf, als Ende Oktober 1929 die Kurse an der New Yorker Börse kollabieren: Im Februar 1932 werden in Deutschland fast 6,13 Millionen Arbeitslose gezählt.

Obgleich Ende 1932 beziehungsweise Anfang 1933 erste Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft und zum Abbau der Arbeitslosigkeit Wirkung entfalten und die NSDAP bei der Novemberwahl 1932 rund 4 Prozent der Stimmen und mehr als 30 Sitze im Reichstag wieder verliert, führt bei der nächsten Regierungsbildung kein Weg an ihr und ihrem »Führer« vorbei. Meint jedenfalls Reichspräsident Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernennt. Der ergreift erst die Chance, dann die Macht und baut sie in den kommenden Wochen und Monaten konsequent aus. Dabei helfen ihm seine rasch erzielten außen- und innenpolitischen Erfolge. Nach zwei Jahren hat die neue Reichsregierung die Zahl der Arbeitslosen halbiert; im Herbst 1937 ist praktisch die Vollbeschäftigung erreicht.

Schon bald zeichnet sich ab, dass Hitler die übernommene Macht nicht mehr aus der Hand geben wird, und so müssen alle Deutschen – über kurz oder lang, ob sie das wollen oder nicht – Farbe bekennen. Das gilt vor allem für diejenigen, die in Politik und Gesellschaft, Kirche und Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft exponierte Positionen bekleiden. Also auch für den »Fabrikanten« Bernhard Weiss.

Zeitgenössische direkte oder indirekte Äußerungen von Bernhard Weiss zum Nationalsozialismus sind so gut wie keine überliefert. Das sagt auch einiges über sein Verhältnis zum Regime und dessen Protagonisten aus. In deren Papieren taucht der Siegener Fabrikant – von unmittelbaren geschäftlichen Zusammenhängen abgesehen – praktisch nicht auf. Dass er ein überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie und namentlich der rassenideologischen Vernichtungsstrategie gewesen sei, haben ihm auch die Ankläger und Richter in Nürnberg nicht vorgehalten. Sein Spruchkammerverfahren ist binnen weniger Tage abgeschlossen.

Nach dem Krieg, also im Rückblick, hat Bernhard Weiss wiederholt seine Haltung zum »Dritten Reich« beschrieben. In einer Aufzeichnung »Meine Einstellung zur Politik« bringt er sie während der Nürnberger Haft am 25. September 1947 im Zusammenhang zu Papier. Seine Interessen sieht Bernhard Weiss am ehesten in der nationalliberalen Deutschen Volkspartei des vormaligen Industriellen Gustav Stresemann vertreten, die er auch bis zu ihrer Selbstauflösung Ende Juni 1933 wählt. Allerdings hat er »niemals einer politischen Partei angehört«. Dass er – in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs der Nationalsozialisten mit der kaufmännischen Leitung des Eiserfelder Werkes beschäftigt – »weder Zeit noch Interesse« hat, sich »mit politischen Dingen zu beschäftigen«, nimmt man ihm ab. Das gilt auch für die Dreißiger- und Vierzigerjahre.51

Dass Bernhard Weiss nicht in die NSDAP eintritt und auch keiner der radikalen Organisationen des Nationalsozialismus wie der SA oder der SS angehört, ist für einen Mann, der nicht nur Vorstandsvorsitzender und »Betriebsführer« seines eigenen Unternehmens ist, sondern auch im Flick-Konzern eine exponierte Stellung einnimmt, nicht selbstverständlich. Zumal er »wiederholt Aufforderungen, in die Partei einzutreten, welche zum Teil von Seiten der Vertreter der NSDAP, zum Teil von Seiten der Deutschen Arbeitsfront an ihn herangetragen« werden, ablehnt, wie Walter Heringlake, Gauinspekteur der NSDAP für die Kreise Siegen und Wittgenstein, nach dem Krieg zu Protokoll gibt. Weiss und Heringlake, von Beruf Einzelhändler, sind seit Schulzeiten Freunde und bleiben es ein Leben lang. Als die Partei Druck macht, bittet Bernhard Weiss seinen Freund, ihn vor dem Eintritt in die Partei zu bewahren. Und der schafft das auch. Was angesichts der herausgehobenen Position des Unternehmers nicht selbstverständlich ist.52

Schon weil Bernhard Weiss der Partei fernbleibt, gehören die Mitgliedschaften in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) zum Pflichtprogramm des Unternehmers; die Mitgliedschaften im Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) sowie im Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) dienen ihm wie manchem anderen offenbar auch als Vorwand, den Eintritt in die SA oder die SS zu vermeiden. An den Übungen des NSKK nimmt Weiss am Anfang gelegentlich, an denen des NSFK nie teil.53

In seiner schon zitierten Aufzeichnung »Meine Einstellung zur Politik« hält Bernhard Weiss im September 1947, also während der Nürnberger Haft, fest, dass ihm die »sehr extreme und radikale Haltung der NSDAP« und ihres »Führers« – jedenfalls anfänglich – »nicht zugesagt« habe. Das klingt plausibel. Wie es auch nicht überrascht, dass er der »Koalitions-Regierung« Hitlers, die Ende Januar 1933 »auf legalem Wege zur Macht gekommen ist«, eine »Chance« geben wollte »zu zeigen, was sie leisten kann«. Anerkennung verdienen in seinen Augen auch »Leistungen auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet in den ersten Jahren …, insbesondere die erfolgreiche Lösung des drückenden Arbeitslosenproblems«. Vergleichbares gilt für die anfänglichen außenpolitischen Erfolge, von denen Bernhard Weiss zu Recht feststellt, dass sie ohne tatkräftige Unterstützung der Westmächte und namentlich der Briten nicht zustande gekommen wären.

Da drückt so mancher, auch Bernhard Weiss, ein Auge zu und hält der Regierung zugute, »dass die Bekämpfung der politischen Gegner und auch der Juden sowie die Kämpfe gegen die Kirche sich in den ersten Jahren in einem verhältnismäßig maßvollen Rahmen« hielten – ein Satz, den er im Sommer 1947 im Manuskript wieder streicht. Stehen bleibt hingegen der Hinweis, dass sich viele Juden bis zum Jahresende 1938 nicht zur Auswanderung entschließen konnten, weil sie »ebenso wie ich« glaubten, »dass mit der Zeit auch die Haltung der Regierung zur jüdischen Frage maßvoll werden würde«. Als es anders kommt, hilft er den befreundeten »Inhabern der jüdischen Firma E. Bergmann Stahl- und Maschinen GmbH, welche die Vertretung der Siemag für das sehr bedeutsame Russlandgeschäft seit langem in Händen hatte«, bei der Finanzierung der Auswanderung, wie Dritte nach dem Krieg bestätigt haben.54

Insgesamt lassen weder Vorstand noch Belegschaft der Siemag eine ausgeprägte Affinität zum Nationalsozialismus erkennen, im Gegenteil. Unstrittig ist auch, dass weder Bernhard Weiss noch ein anderes Vorstandsmitglied bezogen auf einen Parteieintritt oder irgendwelche Aktivitäten innerhalb der NSDAP oder einer ihrer Organisationen Druck auf die Belegschaft ausüben. Das bescheinigen ihnen im Januar 1949 die Betriebsräte von Dahlbruch, Buschhütten und Eiserfeld, die überdies zu Protokoll geben, dass bei Beendigung des Krieges von den deutschen Angestellten und Arbeitern in Eiserfeld lediglich 15, in Dahlbruch 11,2 und in Buschhütten 9,8 Prozent der NSDAP angehört haben.55

Am 1. Juli 1941 tritt Carl Weiss junior, Bernhards Vetter, der NSDAP bei. Nach eigenem Bekunden steht er der Partei und ihrem »Führer« schon deshalb ablehnend gegenüber, weil er als Student in München mehrere Veranstaltungen der NSDAP besucht und dabei auch Hitler erlebt hat. Aktivitäten in der Partei oder in ihrem Umfeld entwickelt Carl Weiss junior nicht. Nach dem Krieg geht die Spruchkammer davon aus, »dass der Betroffene nicht mehr als nominell am Nationalsozialismus teilgenommen hat«. Offensichtlich gibt Carl Weiss junior mit seinem Parteieintritt dem Drängen der örtlichen NSDAP nach, weil es als untragbar gilt, dass kein Vorstandsmitglied der Siemag der Partei angehört. Da der Vorstand nur aus ihm und Bernhard Weiss besteht und der sich nach wie vor weigert, in die Partei einzutreten, entlastet Carl Weiss junior mit diesem Schritt seinen Vetter und dessen Unternehmen, obgleich er nicht mehr Miteigentümer ist.56

Diese Haltung zeugt von einem ausgeprägten Familiensinn. Daran ändert sich auch nach Kriegsende nichts. Carl Weiss junior bleibt der Siemag verbunden und widmet sich, wie Bernhard Weiss beim Tod des Vetters am 25. Dezember 1958 schreibt, weiterhin »den sozialen Fragen unserer Firma«. Schon seit 1928 ist Carl Weiss junior als Arbeitgebervertreter in der Betriebskrankenkasse des Unternehmens tätig; seit Ende 1955 amtiert er zudem als Vorstandsvorsitzender der Siegener Arbeitsgemeinschaft der Betriebskrankenkassen.57

Schon bevor die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kommen, kann die Siemag von der Fahrt aufnehmenden Konjunktur profitieren und wieder Tritt fassen. Das liegt nicht zuletzt am Produktportfolio, das auch in konjunkturschwachen Zeiten nicht vernachlässigt, sondern ganz im Gegenteil konsequent weiterentwickelt worden ist. Ein 1933/34 veröffentlichtes Fabrikationsprogramm ermöglicht einen detaillierten Einblick in das umfangreiche Produktions- und Leistungssortiment des Unternehmens.

Danach liefert die »Abteilung Oechelhäuser« vor allem »Kraft- und Arbeitsmaschinen« aller Art einschließlich der entsprechenden Ersatz- und Reserveteile, »Maschinelle Einrichtungen für die Berg- und Hüttenindustrie«, außerdem Umbauten von Fördermaschinen und Bremseinrichtungen, Kompressoren und Gebläsen. Die »Abteilung Weiss«, also die vormalige »Werkzeugfabrik Carl Weiss«, hat ein umfassendes Sortiment von »Berg- und Hüttenwerkseinrichtungen« sowie »Förder- und Transportanlagen« im Programm. Besonders eindrucksvoll liest sich das Sortiment der »Abteilung Klein«, darunter vor allem »Walzwerke aller Art« einschließlich entsprechender »Hilfseinrichtungen«, zudem Antriebsvorgelege, Hilfs- und Adjustagemaschinen, Blechbearbeitungsmaschinen und nicht zuletzt Krananlagen.58

Volles Programm: Zum Portfolio der 1916 übernommenen Siegener Maschinenbau-Aktiengesellschaft vormals A. & H. Oechelhäuser gehören unter anderem gewaltige Seilscheiben, die in Fördereinrichtungen des Bergbaus zum Einsatz kommen.

Mitte der Dreißigerjahre erfährt diese Produktpalette nochmals eine erhebliche Erweiterung. Das liegt auch an den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Nachdem Hitler seine Herrschaft gefestigt hat, macht er sich – zunächst noch hinter den Kulissen, seit dem Frühjahr 1935 auch unverhohlen öffentlich – an die Vorbereitung des Krieges. Im Vordergrund stehen dabei der Aufbau der »Wehrmacht«, wie die Reichswehr heißt, seit Hitler nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 auch dieses Amt übernommen und die Streitkräfte am selben Tag als »Oberster Befehlshaber« auf seine Person vereidigt hat.

Am 16. März 1935 werden die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Reich wieder eingeführt und die militärischen Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags, den Deutschland am 28. Juni 1919 hatte unterschreiben müssen, einseitig aufgehoben. Und am 9. September 1936 wird auf dem Nürnberger Reichsparteitag der sogenannte Vierjahresplan verkündet. Offiziell dienen die dort formulierten Maßnahmen der Sicherung der wirtschaftlichen Autarkie des Landes. Die eigentlichen Ziele sind in einer streng geheimen Denkschrift formuliert: »I. Die deutsche Armee muss in 4 Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muss in 4 Jahren kriegsfähig sein.«59

Was das für die deutsche Wirtschaft und namentlich die deutsche Industrie bedeutet, erläutert Hermann Göring, der jetzt neben all seinen anderen Funktionen auch als »Beauftragter für den Vierjahresplan« amtiert, ihren führenden Vertretern am 17. Dezember 1936 so: »Es ist kein Ende der Aufrüstung abzusehen. Allein entscheidend ist hier der Sieg oder Untergang. Wenn wir siegen, wird die Wirtschaft genug entschädigt werden. Man kann sich hier nicht richten nach buchmäßiger Gewinnrechnung, sondern nur nach den Bedürfnissen der Politik. Es darf nicht kalkuliert werden, was kostet es. Ich verlange, dass Sie alles tun und beweisen, dass Ihnen ein Teil des Volksvermögens anvertraut ist. Ob sich in jedem Fall die Neuanlagen abschreiben lassen, ist völlig gleichgültig. Wir spielen jetzt um den höchsten Einsatz. Was würde sich wohl mehr lohnen als Aufträge für die Aufrüstung?«60

»Was würde sich wohl mehr lohnen als Aufträge für die Aufrüstung?« Die Konstruktionsabteilung der Siemag Mitte der Dreißigerjahre. In der Bildmitte (links sitzend) Bernhard Weiss.

Das ist Drohung und Einladung zugleich. Die allermeisten Vertreter der Wirtschaft verstehen die Botschaft und nehmen die Einladung an. Auch Bernhard Weiss, der inzwischen die maßgebliche Figur bei der Siemag ist. So gesehen ist es kein Zufall, dass die Produktion im Geschäftsjahr 1935/36 Fahrt aufnimmt. Die Verbesserung der Infrastruktur tut ein Übriges: Bis Ende 1936 erhält das Dahlbrucher Werk einen neuen Bahnanschluss, außerdem wird ein Gebäude für die Aufnahme der Zentralen für Ferngas, Pressluft und Elektrizität fertiggestellt.61